Download als .pdf-Datei - Verwandtschaft in der Vormoderne
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BERNHARD JUSSEN<br />
ja sogar die Aufgabe generationenlang gepflegter Klostergrablegen zugunsten neuer<br />
Stiftsgrablegen beobachten. 121)<br />
(3) Was beweist die Gedächtnisvorsorge im Testament? Bereits lange vor 1800 rückte<br />
<strong>in</strong> Testamenten die Totensorge <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Mit <strong>der</strong> Reformation verschwanden<br />
die Seelenheilvermächtnisse weitgehend aus den Testamenten, und <strong>in</strong> sehr viel weniger<br />
Testamenten f<strong>in</strong>den sich Verfügungen zu Ort und Ausgestaltung des Begräbnisses. Die<br />
Sorge um die materielle Zukunft <strong>der</strong> Lebenden stand bereits im Zentrum, auch wenn<br />
durchaus mit bestimmten Legaten an Nahestehende das Andenken explizit verbunden<br />
werden konnte. Das Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Gedächtnisvorsorge aus den Testamenten seit<br />
dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t mag auf den ersten Blick für e<strong>in</strong>e enge Verb<strong>in</strong>dung von <strong>Verwandtschaft</strong><br />
und Totenmemoria vor dem Bruch durch die Reformation sprechen. Tatsächlich<br />
war über Jahrhun<strong>der</strong>te die Sorge für das eigene Seelenheil e<strong>in</strong> wesentlicher Bestandteil<br />
des Testaments, Gedächtnisvorsorge und Weitergabe des Erbes wurden im selben Dokument<br />
geregelt. Doch diese Verkoppelung muß ke<strong>in</strong>eswegs <strong>als</strong> Zeichen für das Ine<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
von Memoria und <strong>Verwandtschaft</strong> gelesen werde, vielleicht eher gegenteilig: Sie kann<br />
anzeigen, daß Memorialpraxis und <strong>Verwandtschaft</strong> gerade nicht eng gekoppelt waren,<br />
daß die Totensorge <strong>der</strong> Verwandten sich nicht von selbst verstand. Das Fehlen e<strong>in</strong>er<br />
fraglos durch ius und mos zur Memoria verpflicheten Person <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie machte e<strong>in</strong>e<br />
Vorsorge des E<strong>in</strong>zelnen für se<strong>in</strong> eigenes Seelenheil überhaupt erst nötig.<br />
(4) Spätmittelalterliche Ehegerichtsakten kümmerten sich nicht um tote Rechtssubjekte.<br />
Gerichte des späten Mittelalters hatten regelmäßig darüber zu entscheiden, wann<br />
e<strong>in</strong> verschwundener Ehemann für tot zu gelten hatte und die Ehefrau neu heiraten durfte.<br />
Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> diesem Textgenre hielt man sich nicht damit auf, ob <strong>der</strong> Tote gegenwärtig<br />
war o<strong>der</strong> nicht, ob er Rechtsperson war o<strong>der</strong> nicht. Man regelte trocken die Bed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>heirat. 122) Offenbar verstand es sich, daß Totengedenken zwar <strong>in</strong> Sonntagspredigten<br />
und Testamenten, nicht aber <strong>in</strong> diesen Gerichtsakten zu diskutieren war. Haben<br />
die Zeitgenossen solche Inkohärenz zwischen verschiedenen sozialen Regelungsbereichen<br />
nicht wahrgenommen? Haben sie sich nicht dafür <strong>in</strong>teressiert?<br />
Man könnte weitere Aspekte <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Memorialkultur anfügen, <strong>in</strong> denen<br />
Gedenken gefährdet war o<strong>der</strong> verschwand, ohne daß <strong>Verwandtschaft</strong> dabei e<strong>in</strong>e Rolle<br />
spielte. E<strong>in</strong>ige Aspekte seien noch genannt. Zunächst: Stiftungen waren nicht so ewig,<br />
wie sie nach dem Stifterwillen se<strong>in</strong> sollten. Daß sie oft erloschen o<strong>der</strong> umgewidmet wurden,<br />
kann <strong>in</strong>teressierten Lebenden nicht verborgen geblieben se<strong>in</strong>. Sahen sie dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e<br />
Frühen Neuzeit, hg. von Werner Rösener (Formen <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung 8), Gött<strong>in</strong>gen 2000, S. 97–123 im<br />
nichtfürstlichen Adel; Steffen Krieb, Er<strong>in</strong>nerungskultur und adliges Selbstverständnis im Spätmittelalter,<br />
<strong>in</strong>: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 60 (2001), S. 59–75 im fränkischen Nie<strong>der</strong>adel.<br />
121) Auf diese Praxis macht Karl-He<strong>in</strong>z Spieß aufmerksam; vgl. Spieß, Memoria (wie Anm. 119).<br />
122) Dazu Christ<strong>in</strong>a Deutsch, Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg (1480–1538), Köln u. a. 2005.<br />
68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 316 16.09.09 12:48