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322<br />

BERNHARD JUSSEN<br />

<strong>der</strong> Alpen gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>en Gelehrtenzölibat, <strong>der</strong> erst im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

erodierte zugunsten e<strong>in</strong>er Praxis akademischer Endogamie. Demgegenüber waren zur<br />

gleichen Zeit, Algazi zufolge, Gelehrte im mittelalterlichen Irak, Andalusien und Ägypten<br />

ke<strong>in</strong>e abgegrenzte Gruppe, Gelehrtheit war vere<strong>in</strong>bar mit e<strong>in</strong>em ökonomischen Leben,<br />

die Familie – nicht e<strong>in</strong>e ständische Institution wie die Universität – war Ort <strong>der</strong><br />

Wissensvermittlung. 132) Deutlich ist auch <strong>in</strong> den ersten Abschnitten schon geworden<br />

(S. 312), daß sich die gesellschaftliche Verteilung <strong>der</strong> Totensorge im late<strong>in</strong>europäischen<br />

Mittelalter fundamental etwa von <strong>der</strong> <strong>der</strong> römischen Gesellschaft unterschied.<br />

E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s unübersichtlicher Bereich ist die Übertragung von materiellen Gütern.<br />

Auf diesem Forschungsfeld dürfte nicht zuletzt die Diskussion ausgetragen werden, ob<br />

das late<strong>in</strong>europäische <strong>Verwandtschaft</strong>ssystem seit dem Hochmittelalter kollateral o<strong>der</strong><br />

agnatisch war. Hier auch wird sich erweisen müssen, wie weit <strong>der</strong> zur Verteidigung des<br />

Bildes vom durchgängig kollateralen Mittelalter <strong>in</strong>s Spiel gebrachte Versuch trägt, Erbe<br />

und Sukzession zu trennen (vgl. oben S. 307f.). Weiterführend können hier Untersuchungen<br />

se<strong>in</strong>, die den Stellenwert von Geburtsrang und Geschlechterdifferenz, das Verhältnis<br />

von familialer Besitzb<strong>in</strong>dung und Testierfreiheit, den Zusammenhang von Ehe und<br />

Besitztransfer (z. B. Ehegattenerbrecht o<strong>der</strong> Nutznießungsrecht <strong>als</strong> Störungen <strong>in</strong>tergenerationeller<br />

Übertragung) sowie die Relevanz von Zeugungsverwandtschaft und Legitimität<br />

des Erben für die Erbfolge systematisch auf den Zusammenhang von <strong>Verwandtschaft</strong>skonzeption<br />

und Erbfolge h<strong>in</strong> befragen. 133)<br />

Delegierung: Die normale bzw. normative Verteilung <strong>der</strong> genannten Aufgaben wird<br />

immer wie<strong>der</strong> gestört, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e durch den biologischen Zufall. Hier ist natürlich<br />

zunächst an K<strong>in</strong><strong>der</strong>losigkeit, an das Fehlen männlicher Nachkommen o<strong>der</strong> Verwaisung<br />

zu denken. Es ist spezifisch für e<strong>in</strong> <strong>Verwandtschaft</strong>ssystem, welche Lösungen für <strong>der</strong>artige<br />

Problemsituationen vorgesehen s<strong>in</strong>d. Wie werden die Aufgaben <strong>in</strong>tergenerationeller<br />

Übertragung delegiert, wenn die normale Verteilung gestört ist? Das am nächsten liegende<br />

Beispiel ist die Existenz o<strong>der</strong> das Fehlen von Adoptionspraktiken, <strong>als</strong>o <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Korrektur verwandt schaftlicher Statusidentität. Auch die heute verbreitete<br />

Vorstellung, daß Elternaufgaben im Falle <strong>der</strong> Verwaisung an Paten delegiert wurden, ist<br />

historisch (nicht nur im late<strong>in</strong>ischen Mittelalter, son<strong>der</strong>n durchweg) nicht nachweisbar.<br />

Für das Problem <strong>der</strong> Verwaisung ist <strong>als</strong>o nach an<strong>der</strong>en Delegierungs<strong>in</strong>stitutionen zu<br />

132) Gadi Algazi, Habitus, familia und formae vitae: Die Lebensweisen mittelalterlicher Gelehrter <strong>in</strong><br />

muslimischen, christlichen und jüdischen Geme<strong>in</strong>den – vergleichend betrachtet, <strong>in</strong>: Zur Kulturgeschichte<br />

<strong>der</strong> Gelehrten im Mittelalter, hg. von Frank Rexroth (Vorträge und Forschungen), Ostfil<strong>der</strong>n<br />

(im Druck); zum Verschw<strong>in</strong>den des Gelehrtenzölibats im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t vgl. bereits Gadi Algazi,<br />

Scholars <strong>in</strong> Households. Refigur<strong>in</strong>g the learned Habitus 1480–1550, <strong>in</strong>: Science <strong>in</strong> Context 16 (2003),<br />

S. 9–42.<br />

133) Vgl. demnächst: Kar<strong>in</strong> Gottschalk: Recht – Erbfolge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>: Erbe. Übertragungskonzepte<br />

zwischen Natur und Kultur <strong>in</strong> historischer Perspektive, hg. von Kar<strong>in</strong> Gottschalk/<br />

Bernhard Jussen/Urban Kress<strong>in</strong>/Ohad Parnes/Ulrike Ved<strong>der</strong>/Sigrid Weigel/Stefan Willer (im Druck).<br />

68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 322 16.09.09 12:48

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