Download als .pdf-Datei - Verwandtschaft in der Vormoderne
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282<br />
BERNHARD JUSSEN<br />
Man weiß sich mit dieser Ansicht <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit Georges Duby, <strong>der</strong> immer<br />
wie<strong>der</strong> auf Karl Schmid verwiesen hatte und – wenn auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, nämlich<br />
anthropologischen Forschungskontext – Schmids Entwicklungsgeschichte von <strong>der</strong> frühmittelalterlichen<br />
Sippe zum hochmittelalterlichen Agnatenverband akzeptiert hat. Michael<br />
Mitterauer bezeichnet diese Deutung deshalb nach den beiden Spitzenahnen <strong>als</strong><br />
Schmid-Duby-These und hat <strong>der</strong>en kompakteste Formulierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Passage<br />
aus Dubys Ritter, Frau und Priester von 1981 ausgemacht:<br />
»Anknüpfend an die Forschungen von Karl Schmid und an<strong>der</strong>en Schülern Gerd Tellenbachs habe<br />
ich viel über e<strong>in</strong> folgenschweres Phänomen geschrieben: über den Übergang e<strong>in</strong>er Familienstruktur<br />
zu e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en. Am Ende des 9. Jahrhun<strong>der</strong>ts wurde <strong>Verwandtschaft</strong> sozusagen horizontal<br />
erlebt, <strong>als</strong> e<strong>in</strong>e soziale E<strong>in</strong>heit, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tiefe von lediglich zwei o<strong>der</strong> drei Generationen alle<br />
Verwandten und Verschwägerten, Männer und Frauen, auf <strong>der</strong>selben Ebene zusammenschloß.<br />
Zeugnisse dessen s<strong>in</strong>d das ›Manuale Dhuodas‹, aber auch die ›Libri Memoriales‹, die Register zur<br />
pünktlichen Abhaltung <strong>der</strong> Seelenmessen, <strong>in</strong> denen Gruppen von beispielsweise e<strong>in</strong>em Dutzend<br />
Verstorbenen und 30 Lebenden durch die Pflicht zum Gebet und durch dieselbe Heilshoffnung<br />
<strong>in</strong> geistlicher Geme<strong>in</strong>schaft vere<strong>in</strong>igt s<strong>in</strong>d. Mit <strong>der</strong> Zeit jedoch schob sich an die Stelle e<strong>in</strong>es<br />
solchen Verbandes unmerklich e<strong>in</strong> neuer Typ, <strong>der</strong> nunmehr vertikal, alle<strong>in</strong> auf die ›agnatio‹ h<strong>in</strong><br />
organisiert war. Zur maßgeblichen <strong>Verwandtschaft</strong>se<strong>in</strong>heit wurde jetzt e<strong>in</strong>e Abstammungsl<strong>in</strong>ie<br />
von Männern, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Stellung und das Recht <strong>der</strong> Frauen immer schwächer wurde und an <strong>der</strong><br />
entlang das Gedächtnis immer mehr Tote umfaßte, bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em Stammvater, dem heldenhaften<br />
Begrün<strong>der</strong> des Geschlechts, <strong>der</strong> von Generation zu Generation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e immer fernere<br />
Vergangenheit rückte. Seit langem schon stellte sich das Königshaus <strong>in</strong> diesem Bilde dar. Während<br />
<strong>der</strong> ersten Phase <strong>der</strong> Feudalisierung, im 10. Jahrhun<strong>der</strong>t, wurde es von den Inhabern <strong>der</strong><br />
mächtigen Fürstentümer, die sich dam<strong>als</strong> bildeten, übernommen. Dann verbreitete es sich durch<br />
Nachahmung, und diesmal sehr rasch, im Zuge <strong>der</strong> großen Umwälzung um das Jahr 1000, <strong>als</strong><br />
sich mit <strong>der</strong> Grundherrschaft (seigneurie) e<strong>in</strong> neues System <strong>der</strong> Ausbeutung etablierte, über die<br />
ganze Gesellschaftsschicht h<strong>in</strong>, die durch dieses System fortan strikt vom Volk geschieden<br />
war.« 29)<br />
Zwar gab es schon Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre e<strong>in</strong>e umfassende empirische Studie zum<br />
deutschen Hochadel, die dieser op<strong>in</strong>io communis nicht folgte und gewissermaßen <strong>in</strong><br />
franko- und anglophonen Parametern ge dacht war – Karl-He<strong>in</strong>z Spieß’ Familie und <strong>Verwandtschaft</strong><br />
im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. Se<strong>in</strong> Ergebnis trug deutlich die<br />
Handschrift <strong>der</strong> Debatte um Jack Goodys Thesen:<br />
29) Georges Duby, Le chevalier, la femme et le prêtre: le mariage dans la France féodale, Paris 1981,<br />
S. 106f.<br />
68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 282 16.09.09 12:48