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BERNHARD JUSSEN<br />

kirchlichen, ostkirchlichen, jüdischen und jüdisch-karäischen Tradition gesucht hat). 64)<br />

Aus dieser Perspektive gew<strong>in</strong>nen bislang zwei Deutungen an Profil: Mayke de Jong sieht<br />

das Motiv für die Inzestregeln – gewissermaßen mit <strong>der</strong> Brille von Mary Douglas’ Purity<br />

and Danger – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst vor Pollution. Eheverbote sollten die Vermischung des Heiligen<br />

mit dem Sexuellen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Es sei nicht darum gegangen, legitime Erben zu<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n legitime Sexualität zu restr<strong>in</strong>gieren. 65) So wie sexuelle Beziehungen<br />

mit geweihten Jungfrauen und <strong>der</strong> Bruch <strong>der</strong> klerikalen Enthaltsamkeit <strong>als</strong> <strong>in</strong>cestum begriffen<br />

worden seien, so verweise, de Jong zufolge, etwa die karol<strong>in</strong>gische Inzestgesetzgebung<br />

auf die Gefahr <strong>der</strong> pollutio bei nahen Heiraten. 66)<br />

Rég<strong>in</strong>e Le Jan hat beobachtet, daß die Verbote sich kaum gegen die Ehe unter Nahverwandten<br />

richteten, und unterstellt, daß <strong>der</strong>en Verbot den Franken gegenüber nicht<br />

erst durchgesetzt werden mußte. Vielmehr hätten sie sich gegen die Praxis gerichtet,<br />

Allianzen zwischen Verwandtengruppen über Generationen h<strong>in</strong>weg durch immer neue<br />

Heiraten zu stabilisieren. Eheverbote zwischen Nahverwandten waren für diese Allianzpolitik<br />

zwischen Verwandtengruppen ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong><strong>der</strong>nis, aber die weit ausgreifenden, auch<br />

Paten e<strong>in</strong>schließenden Verbote blockierten die Allianzstrategien. Die Frage nach <strong>der</strong><br />

Motivation für e<strong>in</strong>e solche Gesetzgebung gegen stabile <strong>Verwandtschaft</strong>sallianzen beantwortet<br />

Le Jan mit <strong>der</strong> Hypothese, daß »die Kirche gegen alle Praktiken gekämpft hat, die<br />

die familialen Solidaritäten stärkten, um [stattdessen] das monogame und unlösbare eheliche<br />

Paar zu isolieren und zu stärken«. 67) Auch wenn diese Deutung auf den ersten Blick<br />

jener von Jack Goody ähnelt, da durch die Zerstörung verwandtschaftlicher Solidaritäten<br />

Besitzsicherung schwieriger gewesen se<strong>in</strong> mag, unterstellt Rég<strong>in</strong>e Le Jan nicht diesen<br />

(möglichen) Effekt <strong>als</strong> Motiv, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Kirche zur Durchsetzung <strong>der</strong><br />

auf das konjugale Paar zentrierten Eheauffassung. Michael Mitterauers großer Neuentwurf<br />

f<strong>in</strong>det für diese E<strong>in</strong>zelbeobachtung den umfassenden Rahmen: Se<strong>in</strong>e Gesamtdeutung<br />

<strong>der</strong> kirchlichen Politik arbeitet heraus, daß die kirchlichen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> das <strong>Verwandtschaft</strong>ssystem<br />

an allen Stellen darauf zielten, Zwang zu beseitigen. Alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Zwang habe die Kirche durchgesetzt, nämlich den zur monogamen, lebenslänglichen,<br />

gattenzentrierten Ehe. Nicht die <strong>Verwandtschaft</strong>, so Mitterauers Kernthese, son<strong>der</strong>n die<br />

Ehe sei – unter massiver Abwertung <strong>der</strong> <strong>Verwandtschaft</strong> – religiös prämiert worden.<br />

Dieser religiös motivierte Schutz <strong>der</strong> Ehe, dar<strong>in</strong> liegt <strong>der</strong> Erkenntnisgew<strong>in</strong>n von Le Jan<br />

und beson<strong>der</strong>s Mitterauer, konterkarierte die Ausbildung von Systemen, die an <strong>der</strong> langfristigen<br />

Stabilisierung verwandtschaftlicher Allianzen über Generationen h<strong>in</strong>weg<br />

64) Mitterauer, Christentum (wie Anm. 35); Ders., Christianity and endogamy, <strong>in</strong>: Cont<strong>in</strong>uity and<br />

Change 6 (1991), S. 295–333.<br />

65) de Jong, Unsolved Riddle (wie Anm. 59), S. 117.<br />

66) Ebenda, S. 118.<br />

67) Rég<strong>in</strong>e Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde Franc (VII e –X e siècle): Essai d’anthropologie sociale,<br />

Paris 1995, S. 314f., Zitat S. 315; zustimmend de Jong, Unsolved Riddle (wie Anm. 59), S. 120.<br />

68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 294 16.09.09 12:48

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