Download als .pdf-Datei - Verwandtschaft in der Vormoderne
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BERNHARD JUSSEN<br />
entstandene, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Figur <strong>der</strong> vidua <strong>in</strong>stitutionalisierte Form <strong>der</strong> konjugalen statt familienväterlichen,<br />
auf den Gatten statt die Ahnen bezogenen Totensorge ist e<strong>in</strong> beredtes<br />
Zeichen dafür, daß nicht mehr Abstammung, son<strong>der</strong>n das lebenslange konjugale Paar im<br />
Zentrum <strong>der</strong> religiösen Schutzanstrengungen stand – zu Lasten <strong>der</strong> <strong>Verwandtschaft</strong>.<br />
Freilich war die E<strong>in</strong>setzung <strong>der</strong> Witwe (theoretisch auch umgekehrt des Witwers) <strong>in</strong> die<br />
Pflicht <strong>der</strong> konjugalen Memoria nicht mehr <strong>als</strong> e<strong>in</strong>e Angelegenheit <strong>der</strong> Rollenstilisierungen<br />
sowie <strong>der</strong> Traktate und Predigten. Sie sagt noch wenig darüber aus, wie das System<br />
funktionierte und welche Bedürfnisse tatsächlich durch <strong>in</strong>stitutionellen Aufwand<br />
(z. B. im Recht) gesichert wurden. Wie, so muß die nächste Frage lauten, waren die Memorialleistungen<br />
für die Verstorbenen tatsächlich organisiert? Wer war zuständig? Dies<br />
führt zum nächsten Punkt.<br />
(2) Das Christentum hat die Totensorge entfamiliarisiert. Unübersehbar gründet die<br />
Kirche auf dem Gedanken <strong>der</strong> Memoria (»Tut dies zu me<strong>in</strong>em Gedächtnis«), und ebenso<br />
unübersehbar galt im Mittelalter e<strong>in</strong> erheblicher Aufwand <strong>der</strong> Sorge um das Seelenheil<br />
<strong>der</strong> Verstorbenen. Aber wie war dieser Aufwand <strong>in</strong>stitutionalisiert? Der Gegensatz zu<br />
den Institutionen römischer Totensorge könnte kaum größer se<strong>in</strong>: Die Römer hatten<br />
e<strong>in</strong>en erheblichen Aufwand betrieben, um mit <strong>der</strong> Rechtsfigur <strong>der</strong> patria potestas das<br />
Fortleben <strong>der</strong> Memoria <strong>in</strong> agnatischer L<strong>in</strong>ie sicherzustellen. Der S<strong>in</strong>n des viel diskutierten,<br />
fest im klassischen Reichsrecht verankerten römischen Adoptions<strong>in</strong>stituts war die<br />
Aufrechterhaltung <strong>der</strong> patria potestas. Nichts von diesem Aufwand ist <strong>in</strong> den late<strong>in</strong>ischen<br />
christlichen Gesellschaften übrig geblieben: Die Witwe wurde zwar <strong>in</strong> Predigten<br />
und <strong>in</strong> populären Erzählstoffen <strong>als</strong> Figur des Totengedächtnisses entworfen, und Witwen<br />
konnten von <strong>der</strong> Möglichkeit Gebrauch machen, sich <strong>als</strong> christliche Witwe zu stilisieren<br />
und fortan ehelos zu leben. Aber dies war nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit für die H<strong>in</strong>terbliebene,<br />
ke<strong>in</strong>e Notwendigkeit. Die christlichen Gesellschaften des Mittelalters haben<br />
ke<strong>in</strong>erlei Maßnahmen ergriffen, um die von den Witwen erwarteten Totendienste sicherzustellen.<br />
Sie haben nirgends und zu ke<strong>in</strong>er Zeit etwas dagegen getan, daß viele Witwen<br />
ihren Gedenkaufgaben nicht nachkamen und stattdessen erneut heirateten. 118) Wenn e<strong>in</strong>e<br />
H<strong>in</strong>terbliebene erneut heiratete, dann hatte dies mit Blick auf ihre Gedenkpflichten ke<strong>in</strong>erlei<br />
Folgen. Ihr Platz blieb ganz e<strong>in</strong>fach leer. Und die Wie<strong>der</strong>heirat war nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit,<br />
den direkten Memorialzusammenhang zwischen <strong>Verwandtschaft</strong> und dem Toten<br />
zu beenden. Blieb e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terbliebene tatsächlich Witwe und def<strong>in</strong>ierte ihre<br />
ständische Position fortan durch Memoria für ihren toten Ehemann, so g<strong>in</strong>g diese Memoria<br />
mit <strong>in</strong>s Grab, wenn die Witwe starb. E<strong>in</strong> Problem war dies deshalb nicht, weil das<br />
Memori<strong>als</strong>ystem nicht wie im alten Rom von familialen Positionen abh<strong>in</strong>g. Memorialleistungen<br />
im Dienste des Toten wurden den Spezialisten <strong>in</strong> Klöstern und Kirchen an-<br />
118) Dieser Konflikt zwischen Memorialnorm und Wie<strong>der</strong>heiratspraxis ist immerh<strong>in</strong> thematisiert worden,<br />
und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> populärsten Erzählstoffe des Mittelalters; vgl. dazu Jussen, Lignage (wie<br />
Anm. 78) und Ders., Witwe (wie Anm. 74).<br />
68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 314 16.09.09 12:48