Download als .pdf-Datei - Verwandtschaft in der Vormoderne
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BERNHARD JUSSEN<br />
Bei genauem H<strong>in</strong>sehen aber sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong> Totensorge vom pater familias<br />
auf die vidua weit mehr zu <strong>in</strong>dizieren <strong>als</strong> die Transformation e<strong>in</strong>es ahnenzentrierten <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> auf das konjugale Paar zentriertes <strong>Verwandtschaft</strong>ssystem. Es dürfte e<strong>in</strong>e Entkopplung<br />
von <strong>Verwandtschaft</strong>ssystem und Memori<strong>als</strong>ystem anzeigen. Fortan – und dies wird<br />
noch zu beschreiben se<strong>in</strong> (S. 312) – sche<strong>in</strong>t Totensorge ke<strong>in</strong> Aspekt des <strong>Verwandtschaft</strong>ssystems<br />
mehr gewesen zu se<strong>in</strong>.<br />
Scheidung, Konkub<strong>in</strong>at, Polygynie<br />
Das Thema Scheidung ist <strong>in</strong>sofern <strong>in</strong>teressant, <strong>als</strong> <strong>der</strong> Diskussionsschub nach Goodys<br />
Buch die Scheidung kaum betroffen hat. Bis zum 9. Jahrhun<strong>der</strong>t, so mag man die op<strong>in</strong>io<br />
communis <strong>der</strong> Synthesen zusammenfassen, waren alle Scheidungsgründe bis auf Inzest<br />
beseitigt. Auch <strong>in</strong> Michael Mitterauers neuem Überblick wird Scheidung nicht <strong>als</strong> Problem<br />
diskutiert, son<strong>der</strong>n summarisch mit dem Satz kommentiert: »Scheidung wird nicht<br />
erlaubt«. 79) Die Beseitigung <strong>der</strong> Scheidung im frühen Mittelalter ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Pfeiler <strong>in</strong><br />
Goodys Deutung, <strong>der</strong> bislang ohne große Diskussion akzeptiert worden ist. Alle an<strong>der</strong>en<br />
Aspekte se<strong>in</strong>er Thesen wurden überprüft, zunächst Adoption und Inzest, nun verstärkt<br />
Illegitimität und Polygynie. Das erfolgreiche und zügige Verbot <strong>der</strong> Scheidung<br />
sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Forschung ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten zu bereiten, allerd<strong>in</strong>gs war es im frühen<br />
Mittelalter stets mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Monogamie verbunden, <strong>als</strong>o mit <strong>der</strong> Frage nach<br />
Konkub<strong>in</strong>at und Polygynie. Die Unterdrückung dieser B<strong>in</strong>dungen aber sche<strong>in</strong>t ke<strong>in</strong>eswegs<br />
e<strong>in</strong>e so erfolgreiche Geschichte gewesen zu se<strong>in</strong>, wie wir bislang lesen konnten.<br />
Nach gängiger Auffassung (auf die auch Jack Goody sich bezog) hat die Kirche vergleichsweise<br />
zügig die irreversible, lebenslängliche monogame Verb<strong>in</strong>dung von Mann<br />
und Frau <strong>als</strong> e<strong>in</strong>ziges Modell durchgesetzt. Konkub<strong>in</strong>at, Polygynie, Scheidung und Wie<strong>der</strong>heirat<br />
waren schnell verboten. 80)<br />
Michael Borgolte und Jan Rüdiger haben aus unterschiedlichen Perspektiven das Phänomen<br />
<strong>der</strong> Polygynie erneut untersucht und <strong>der</strong> bisherigen Forschung fundamental wi<strong>der</strong>sprochen.<br />
Borgolte zeichnet das Bild e<strong>in</strong>es Europa mit e<strong>in</strong>em »polygynen Kreis um<br />
die christlichen Kerne Europas, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> muslimischen Welt <strong>in</strong> Spanien und Sizilien<br />
zusammenschloss, wo die Mehrehe sogar durch religiöse Vorschriften erlaubt war«.<br />
Während die Zentren <strong>der</strong> orthodoxen und römisch-late<strong>in</strong>ischen Län<strong>der</strong> pr<strong>in</strong>zipiell monogam<br />
strukturiert waren, kann man Borgolte zufolge »geradezu von e<strong>in</strong>er Kultur <strong>der</strong><br />
Mehrfachbeweibung im Osten und Norden, im Westen und Süden sprechen«. Durch<br />
79) Mitterauer, Geschichte (wie Anm. 5), S. 263.<br />
80) Zum Konkub<strong>in</strong>at <strong>der</strong> Merow<strong>in</strong>ger- und Karol<strong>in</strong>gerzeit ausführlich Andrea Esmyol, Geliebte o<strong>der</strong><br />
Ehefrau? Konkub<strong>in</strong>en im frühen Mittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 52), Köln u. a.<br />
2002 (hier zur Diskussion um die sogenannte Friedelehe S. 9–36).<br />
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