RÄUME LESEN, RÄUME SCHREIBEN
RÄUME LESEN, RÄUME SCHREIBEN
RÄUME LESEN, RÄUME SCHREIBEN
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
an der natürlichen Grenze zweier unterschiedlicher<br />
Landschaftsformen: im Süden das ausgedehnte<br />
Schwemm gebiet des Spreewaldes, im Norden die<br />
sandigen Hö henrücken der Lausitz. Von der Kuppe<br />
des Wein bergs war dieser Übergang deutlich zu erkennen.<br />
In den Horten selbst, obwohl sie fast zeitgleich<br />
im 12. Jahrhundert v. Chr. in den Boden gebracht<br />
wurden, materialisieren sich zwei ganz<br />
unterschiedliche Formen des Wissens, wie mit den<br />
Göttern umzugehen sei und welche Räume man<br />
dazu benötigt. Der eine folgt dem „modernen“ Fragmentierungsmodell,<br />
weist siebzehn Objektkategorien<br />
auf und holt seine Opfergaben teilweise von<br />
weit her: Schwerter vom Oberrhein und aus dem<br />
Donauraum, Sicheln und Anhänger aus Ungarn. Der<br />
andere beschränkt sich auf Beile, Armringe, Lanzen<br />
und Spangenbarren, meist unversehrt und aus<br />
lokaler Produktion. Durchaus denkbar, dass der<br />
Weinberg und sein Umland als eine großräumige<br />
Sakrallandschaft fungierte, die inmitten der landwirtschaftlich<br />
genutzten Umgebung als eine herausgehobene,<br />
von überirdischen Mächten beseelte<br />
„Insel“ wahrgenommen wurde. Ein Raum, der dem<br />
bronzezeitlichen Betrachter real und imaginiert<br />
zugleich erschien. Das gleiche Muster einer rituellen<br />
Inszenierung � ndet sich in Nordböhmen, wo<br />
der Liščin (Goldberg) gleichsam von Horten eingerahmt<br />
erscheint. Auch hier wie am Weinberg liegen<br />
sie am Fuß und am Hang des au� älligen Basaltkegels,<br />
keiner auf seinem Gipfel, auf den sie sich beziehen.<br />
Ebenso deutlich ist auf alten Karten die<br />
Landschaftsgrenze zu erkennen, der Übergang von<br />
einer Talterrasse ins Mittelgebirge.<br />
Aber es müssen nicht unbedingt Berge sein. Sakrale<br />
Landschaften lassen sich auch entlang von<br />
<strong>RÄUME</strong> <strong>LESEN</strong>, <strong>RÄUME</strong> <strong>SCHREIBEN</strong><br />
Kommunikationslinien konstruieren. Im Salzkammergut<br />
in der Gegend von Bad Aussee hat man<br />
entlang des Flüsschens Traun auf einer Strecke von<br />
nur achtzehn Kilometern fast vierzig Horte lokalisiert.<br />
Die Fundstellen lagen allesamt auf halber<br />
Hanghöhe, in unmittelbarer Nachbarschaft eines<br />
alten alpinen Verkehrsweges. Oftmals � nden sich<br />
die Horte in direkter Nähe von großen Findlingen<br />
und erratischen Felsblöcken. Es liegt nahe, hier eine<br />
Tradition zu vermuten, wie sie uns später in Jupitersäulen<br />
oder Schutz gewährenden Kreuzen auf<br />
Passübergängen begegnet. In allen drei Fällen glaubte<br />
man, zum Durchqueren des gefährlichen Gebirges<br />
göttlichen Beistand zu benötigen.<br />
Der Raum der Schrift –<br />
die mediale Revolution<br />
18 Gesiegelte Zahlentafel<br />
Uruk, spätes 4. Jt. v. Chr., Ton, 4,2 cm,<br />
Berlin, Vorderasiatisches Museum,<br />
Staatliche Museen zu Berlin<br />
Als man im 4. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien<br />
die Schrift erfand, entstand sie nicht deshalb, weil<br />
ein Dichter sein Epos für die Ewigkeit aufbewahrt<br />
wissen wollte, sondern als Versuch, Wirtschaft und<br />
Gesellschaft zu organisieren. Im verdichteten Raum<br />
der im Zweistromland entstehenden Städte wurde<br />
die Schrift entwickelt, um zu kalkulieren und zu<br />
planen. Sie stellt eine Reaktion des Menschen auf<br />
die komplexer werdende Gesellschaft dar. Am Beginn<br />
war gar nicht abzusehen, welche kulturelle<br />
Dynamik aus der besonderen Interaktion zwischen<br />
Raum und Wissen in Schriftlichkeit entstehen würde.<br />
Am Ende dieses Prozesses steht eine Kulturtechnik,<br />
mit der sich der Mensch einen Sekundär-<br />
Raum, eine zweite Erde, erschuf, ein machtvolles<br />
Instrument, mit dem Informationen gespeichert<br />
und Wissen unabhängig von Raum und Zeit wei-<br />
37