RÄUME LESEN, RÄUME SCHREIBEN
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JENSEITS DES HORIZONTS<br />
tergegeben werden konnte. Parallel zur Schrifter-<br />
� ndung vollzog sich eine andere, mit ihr engstens<br />
zusammenhängende Entwicklung: die Einrichtung<br />
eines schematischen Verwaltungsjahres zu 360 Tagen,<br />
das im Bereich der Wirtschaftsverwaltung verwendet<br />
wurde.<br />
Am Anfang war die Zahl. Mit aus Ton geformten<br />
Zählsteinen konnten einfache Güter und Haustiere<br />
dargestellt werden: Schweine, Schafe, Getreidesäcke,<br />
Bierkrüge. Als Könige und Tempel Steuern<br />
erhoben, reichten diese Zeichen zum Erfassen komplizierterer<br />
Sachverhalte nicht mehr aus. Die Bürokratie<br />
musste wissen, auf welchen Acker sich ihre<br />
Forderung bezog, wie viel Abgaben auf ihm lasteten,<br />
was angebaut wurde und wer dafür verantwortlich<br />
war. Die Schrift wurde zum Mittel politischer<br />
Kontrolle. Wortzeichen standen für Begri� e.<br />
In Listen – unseren Sachwörterbüchern vergleichbar<br />
– stellte man sie zusammen und lernte sie auswendig.<br />
Mit der Zeit kamen Varianten hinzu, etwa<br />
doppelte Bedeutungen. So konnte das Zeichen für<br />
„Fuß“ auch „gehen“ meinen. Weitere Möglichkeiten<br />
ergaben sich aus Kombinationen: „Brot“ und<br />
„Mund“ nebeneinander geschrieben, las sich als<br />
„essen“. Man wählte Ton als Schreibmaterial und<br />
Gri� el aus Schilfrohr als Schreibwerkzeug, denn<br />
beides war im Über� uss vorhanden. Was damit<br />
einsetzte, beschreibt die Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum<br />
als eine mediale Revolution von<br />
unglaublicher Reichweite. Die Sumerer hatten ihren<br />
Computer erfunden. Fortschrittsbesessen und<br />
innovativ verbesserten sie ihn laufend weiter.<br />
Der Schreibvorgang wurde beschleunigt, denn<br />
statt des spitzen Gri� els, mit dem man die Zeichen<br />
in den feuchten Ton ritzte, benutzte man nun die<br />
38<br />
19 Mathematischer Problemtext mit<br />
geometrischer Zeichnung.<br />
Uruk, altbabylonisch, 1894–1595 v. Chr.,<br />
Ton, gebrannt, 7,1 x 7,5 cm, Vorderasiatisches<br />
Museum, Staatliche Museen zu Berlin<br />
entsprechend schräg beschnittene Schmalseite des<br />
Gri� es als „Stempel“: Die Schriftzeichen entstanden<br />
als Kombination aus den keilförmigen Eindrücken.<br />
Und eine weitere, entscheidende Veränderung<br />
fand statt: Die frühe Schrift gab Informationen<br />
wieder, aber nicht lautgetreue Sprache. Dazu mussten<br />
zu den Wortzeichen Silbenzeichen treten bzw.<br />
sie ersetzen. So konnte man gesprochene Sprache<br />
relativ lautgetreu schreiben, egal, um welche es sich<br />
handelte, und damit eine große Vielfalt von Sachverhalten<br />
verbalisieren. Auf diese Weise erweiterten<br />
sich die Anwendungsmöglichkeiten der Schrift<br />
immens, umfassten Mythen, Königsinschriften, Beschwörungen,<br />
Gebete, das ganze Spektrum religiöser,<br />
literarischer und wissenschaftlicher Inhalte.<br />
Das Denken erhielt damit einen vollständig neuen<br />
Raum. Gleichzeitig di� erenzierte sich der Schriftgebrauch<br />
für die Belange der Verwaltung und des<br />
21 Henka, ein hoher<br />
Beamter und Vorsteher<br />
der Pyramidenstätte des<br />
über 100 Jahre früher<br />
verstorbenen Königs<br />
Snofru, sitzt mit untergeschlagenen<br />
Beinen<br />
und hat auf seinen Knien<br />
den eingerollten Teil des<br />
Papyrus liegen.<br />
VermutlichDahschur,<br />
5. Dynastie, um<br />
2450 v. Chr., Kalkstein,<br />
40 x 29 cm, Ägyptisches<br />
Museum und Papyrussammlung,<br />
Staatliche<br />
Museen zu Berlins<br />
20 Elfenbeinetikett mit<br />
Angabe des Inhalts und<br />
des Fülldatums eines<br />
Ölgefäßes.<br />
Abydos, 2999–2952 v. Chr.,<br />
Elfenbein, 4,7 x 4,3 cm,<br />
Ägyptisches Museum<br />
und Papyrussammlung,<br />
Staatliche Museen zu<br />
Berlin