Opferschutz
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Veranstalter:<br />
O p f e r s c h u t z<br />
Nachhaltiger <strong>Opferschutz</strong> durch interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />
Institut für Sozialdienste<br />
Fachtagung Dienstag, 30. September 2003<br />
Vorarlberger Medienhaus Schwarzach<br />
IfS-Fachgruppe <strong>Opferschutz</strong> (Frauennotwohnung, Interventionsstelle, Kinderschutz,<br />
Prozessbegleitung)<br />
www.ifs.at<br />
1
Einmal Opfer – immer Opfer?<br />
Bei der ersten interdisziplinären Tagung zum Thema <strong>Opferschutz</strong> in Vorarlberg suchten<br />
Expertinnen und Experten gemeinsam mit einem interessierten Fachpublikum nach<br />
Möglichkeiten, den <strong>Opferschutz</strong> weiter zu verbessern.<br />
Die Ausgangssituation: Opfer von Gewalttaten leiden häufig noch lange Zeit nach der Tat<br />
unter Krisen, Verunsicherung und Stigmatisierung. Aus dieser Situation allein<br />
herauszufinden ist schwer. Betroffene Menschen bedürfen umfassender Hilfe und<br />
Unterstützung. Nachhaltige Unterstützung ist aber nur möglich, wenn alle beteiligten<br />
Personen und Institutionen fachlich fundiert zusammenarbeiten.<br />
Mit dieser Fachtagung wurde nicht nur ein Beitrag zur fachübergreifenden Weiterbildung<br />
geleistet, sondern auch eine Möglichkeit zum Austausch, zur Vernetzung gegeben.<br />
Schwerpunktthema der Referate war neben der Verbesserung des <strong>Opferschutz</strong>es im<br />
rechtlichen Prozess die sekundäre Traumatisierung von Opfern und Helferinnen.<br />
An der Tagung nahmen Mitarbeitende aus Justiz, Exekutive, Jugendwohlfahrt,<br />
psychosozialen, medizinischen und pädagogischen Institutionen ebenso teil, wie<br />
VertreterInnen politischer Organisationen und Medien.<br />
Vorwort<br />
Landesrätin Dr. Greti Schmid<br />
Gewalt ist ein Thema, mit dem wir leider immer wieder konfrontiert sind. Gewalt – ob<br />
ökonomische, psychische, körperliche, sexuelle Gewalt – trifft fast immer Frauen und Kinder.<br />
Wir sind gefordert, die Mittel und Wege zu finden, die Betroffenen bestmöglich zu<br />
unterstützen. Es braucht nicht nur das Engagement in der Sache, wir brauchen höchste<br />
Professionalität. In Vorarlberg ist sie dank unterschiedlicher Systempartner, die von der<br />
Exekutive über die Justiz bis zu den professionellen Diensten und das Amt der Vorarlberger<br />
Landesregierung reicht, gegeben. Damit haben wir die Voraussetzungen, das Thema<br />
<strong>Opferschutz</strong> offensiv, aber auch sensibel angehen zu können. Ich möchte mich beim IfS für<br />
den Impuls zu dieser wichtigen Tagung bedanken.<br />
2
Dr. Greti Schmid (ÖVP) ist Mitglied der Vorarlberger Landesregierung. Sie betreut die<br />
Ressorts Soziales, Frauen, Jugend, Familie, Senioren und Entwicklungshilfe.<br />
Vorwort<br />
Dr. Stefan Allgäuer, IfS-Geschäftsführer<br />
<strong>Opferschutz</strong> ist eine Querschnittsdisziplin und damit eine große Herausforderung, die es<br />
fachübergreifend zu bewältigen gilt. Schutz und Hilfe für Opfer ist zwar ein Thema, dass in<br />
der allgemeinen Meinung als unumstritten gilt, dennoch sind wir uns alle einig, dass wir noch<br />
mehr tun sollten und tun könnten. Denn wenn man sich tiefer mit dem Thema beschäftigt,<br />
erkennt man auch die Notwendigkeit, die verschiedenen Aspekte des <strong>Opferschutz</strong>es in den<br />
unterschiedlichen Berufen und Institutionen verstehen zu lernen.<br />
<strong>Opferschutz</strong> ist aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten:<br />
Wer ist wann Opfer und wie lange, soll wie lange als Opfer betrachtet werden?<br />
Wie geht man mit Unterschieden zwischen dem subjektiven Sich-als-Opfer-Fühlen und dem<br />
objektiven Opfersein um?<br />
Wer hat welche Rolle im Helfersystem, welche Prioritäten und welche Kompetenzen?<br />
Welche Maßnahmen sind in der Täterarbeit zu setzen?<br />
Welche Rolle haben Öffentlichkeit und Medien?<br />
Wenn wir das Tagungsziel „Nachhaltiger <strong>Opferschutz</strong> durch interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit“ erreichen wollen, müssen wir uns auch mit berufsbedingten,<br />
unterschiedlichen Sichtweisen auseinander setzen. Es ist wichtig, die unterschiedlichen<br />
Aspekte kennen zu lernen, um sie dann auch einordnen zu können und es ist wichtig, sich<br />
gegenseitig kennen zu lernen.<br />
Wir stehen nicht am Anfang unserer Arbeit, diese Tagung ist eine Chance zur effektiven<br />
Qualitätsverbesserung. Sie bietet uns die Chance gemeinsam mit den Systempartnerinnen<br />
und –partnern aus Politik, Verwaltung, Justiz und Exekutive nach neuen Lösungsansätzen<br />
zu suchen, aber auch Einblick in die jeweiligen Arbeitsbedingungen zu bekommen.<br />
Meine Erwartung an uns alle, die sich dem Thema Gewalt stellen, ist, dass es uns auch<br />
gelingen muss, sich dem Thema offensiv zu stellen.<br />
3
Dr. Stefan Allgäuer ist Psychologe und Geschäftsführer des Instituts für Sozialdienste<br />
Inhalt<br />
Einmal Opfer – immer Opfer? .................................................................................................... 2<br />
Vorworte<br />
von Landesrätin Dr. Greti Schmid.............................................................................................. 2<br />
von Dr.Stefan Allgäuer, IfS-Geschäftsführer ............................................................................. 3<br />
Inhalt .......................................................................................................................................... 4<br />
Vorträge<br />
Dr. Albin Dearing<br />
"Grundsätze des Gewaltschutzgesetzes”.................................................................................. 5<br />
Mag a Petra Smuty<br />
"<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen” ....................................................... 15<br />
Diskussion ............................................................................................................................. 27<br />
Vorträge<br />
Sabine Rupp<br />
"Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse” ........................................................ 30<br />
Dr. Jürg Haefliger<br />
"Die Traumatisierung der HelferInnen - Diagnose und Prävention“........................................ 53<br />
Diskussion ............................................................................................................................. 56<br />
Resümee ................................................................................................................................ 54<br />
Impressum:............................................................................................................................... 60<br />
4
Grundsätze des Gewaltschutzgesetzes<br />
Dr. Albin Dearing<br />
Am 1. Mai 1997 ist das Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten als der sichtbare und<br />
verbindliche Ausdruck eines grundsätzlich anderen Umgangs mit der Gewalt in der<br />
Privatsphäre.<br />
Das Reformmodell ruht auf drei Säulen, nämlich auf einer deutlichen sicherheitspolizeilichen<br />
Reaktion der Exekutive, auf der Stärkung und Ermutigung der von Gewalt betroffenen<br />
Person (meist einer Frau) durch die Interventionsstelle, und schließlich auf der einstweiligen<br />
Verfügung des Familiengerichts als dem wichtigen Anschlussstück zur Fortsetzung des<br />
sicherheitspolizeilichen Betretungsverbots.<br />
Am besten lässt sich das neue Modell in der Gegenüberstellung von alter und neuer Routine<br />
anhand eines durchschnittlichen Falles von Gewalt in der Familie verdeutlichen. Dabei wähle<br />
ich einen Fall, in dem ein Mann seine Frau schlägt; denn diese Konstellation deckt etwa<br />
90 Prozent jener Fälle ab, in denen heute das neue Modell zur Anwendung gelangt.<br />
Vor dem 1. Mai 1997 ist ein solcher Polizeieinsatz etwa wie folgt abgelaufen:<br />
Aufgrund eines Anrufs beim Polizei-Notruf – die Anruferin beschwert sich über den Lärm in<br />
der Nachbarwohnung - begibt sich die Besatzung eines Streifenfahrzeugs zur Wohnung, aus<br />
der der Lärm gedrungen ist.<br />
In der Wohnung finden sie einen Mann und eine Frau vor. Der Mann ist sehr erregt, die Frau<br />
wirkt überaus verunsichert und nervös. Getrennt werden der Mann und die Frau befragt.<br />
Darauf angesprochen, dass die Nachbarn angerufen hätten, weil es in der Wohnung so laut<br />
zugegangen sei, und dass die Frau ja offensichtlich nicht in guter Verfassung sei, erzählt der<br />
Mann, dass es zum Streit gekommen sei, weil die Frau nicht in der Lage wäre, ihre<br />
einfachsten Verpflichtungen als Hausfrau zu erfüllen, und ihn auch noch dadurch provoziere,<br />
dass sie andauernd irgendwelche Freundinnen einladen wolle oder bei denen zu Besuch sei.<br />
Außerdem habe sie die Kinder überhaupt nicht unter Kontrolle, er könne nicht einmal in<br />
Ruhe fernsehen.<br />
5
Die Frau sagt wenig und meint, die Polizisten sollten besser wieder gehen. Darauf<br />
angesprochen, dass sie an der Stirn eine Aufschürfung aufweise, sagt die Frau, dass es zum<br />
6
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Streit gekommen sei, ihr Mann habe wieder einmal zu viel getrunken. Die Beamten erzählen<br />
ihr, was ihr Mann gesagt habe, und raten ihr, ihn besser nicht zu provozieren. Da die<br />
Beamten um die Sicherheit der Frau fürchten, legen sie ihr auch nahe, die Nacht anderswo<br />
zu verbringen, etwa bei einer Freundin oder der Mutter, nötigenfalls im Frauenhaus.<br />
Zur Dienststelle zurückgekehrt, verfassen die Beamten einen Bericht darüber, dass sie nach<br />
einem ehelichen Konflikt den Streit geschlichtet hätten, die Frau habe sich bereit erklärt, die<br />
Wohnung vorübergehend zu verlassen.<br />
Nach dem 1. Mai 1997 könnte sich derselbe Einsatz wie folgt abgespielt haben:<br />
In der Wohnung angelangt, trennen die Beamten den Mann von der Frau, so dass kein<br />
Sichtkontakt besteht. Sie erkunden den Zustand der Wohnung und stellen Spuren einer<br />
tätlichen Auseinandersetzung sicher, sie informieren sich per Funk über frühere Vorfälle und<br />
erfahren, dass eine frühere Anzeige wegen einer Körperverletzung von der Staats-<br />
anwaltschaft eingestellt worden ist, sie befragen die Nachbarn über Wahrnehmungen und<br />
sprechen behutsam mit der Frau.<br />
Da sie zur Auffassung kommen, dass es vor ihrem Eintreffen in der Wohnung zu einem<br />
tätlichen Angriff des Mannes auf seine Frau gekommen ist und um deren Sicherheit fürchten,<br />
ordnen sie gegenüber dem Mann ein Betretungsverbot an. Dieses bedeutet, dass sich der<br />
Mann für die Dauer von zehn Tagen von der Wohnung fernhalten muss.<br />
Zur Dienststelle zurückgekehrt, verfassen die Beamten eine genaue Dokumentation ihres<br />
Einsatzes und faxen diese Dokumentation an eine private Einrichtung, die „Inter-<br />
ventionsstelle“ heißt. Diese kontaktiert am folgenden Tag die Frau, um ihr Beratung und<br />
Unterstützung anzubieten.<br />
Innerhalb von zehn Tagen nach dem Polizeieinsatz stellt die Frau, mit Unterstützung der<br />
Mitarbeiterin der Interventionsstelle, beim Familiengericht einen Antrag auf Erlassung einer<br />
einstweiligen Verfügung. Durch diesen Antrag verlängert sich die Geltungsdauer des<br />
polizeilichen Betretungsverbots um weitere zehn Tage. Innerhalb dieser Frist erlässt das<br />
Gericht eine Verfügung, die das polizeiliche Betretungsverbot ablöst und deren Wirkungen<br />
um weitere drei Monate erstreckt.<br />
Der erste, ganz grundsätzliche Unterschied zwischen der alten und der neuen<br />
Routine besteht darin, dass die Polizeibeamten heute nicht mehr an ihrer Zuständigkeit zur<br />
7
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Verhinderung von Gewalt in der Privatsphäre zweifeln. Ihre frühere Zurückhaltung war ja aus<br />
der Annahme gespeist, dass es nicht wirklich die Polizei angehe, was sich in Familien<br />
abspielt, und dass im Übrigen die Polizei auch gar nicht die Mittel habe, um in Familien zu<br />
intervenieren. Demgegenüber ist heute allen in der Polizei klar, dass Gewalt auch dann eine<br />
öffentliche Angelegenheit ist, wenn sie sich in der Privatsphäre abspielt.<br />
Natürlich hat sich der Staat an sich nicht dafür zu interessieren, wie Menschen zusammen<br />
leben und wohnen. Dieser Anspruch der Privatsphäre, der Familie und der Wohnsphäre auf<br />
staatliche Non-Intervention findet jedoch dort eine klare Grenze, wo es der staatlichen<br />
Intervention bedarf, um Menschen vor Gewalt zu schützen, um mithin das Recht jedes<br />
Menschen auf Sicherheit zu gewährleisten.<br />
Dieses Recht auf Sicherheit ist schwerer einzulösen und verlangt eine längere<br />
Intervention, wenn es um eine Gewaltbeziehung geht, mithin um eine relativ stabile<br />
Beziehung, in der einem Menschen die Gewalt eines anderen droht. Solange eine solche<br />
Beziehung besteht, droht weiterhin Gewalt. Die neue Routine unterscheidet sich von der<br />
alten Geschichte durch einen weiteren Zeithorizont. Es geht nun nicht mehr darum, dass es<br />
in dieser Nacht nicht wieder zur Gewalt kommt, sondern auch noch um die nächsten<br />
Wochen und Monate. Deshalb ist damit, dass die Situation kurzfristig beruhigt wird, gar<br />
nichts gewonnen. Vielmehr braucht es längerfristige Interventionen, um der Frau einen<br />
Ausstieg aus der Gewaltbeziehung zu ermöglichen und dem Täter die Chance zu geben, das<br />
Unrecht seines Verhaltens einzusehen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.<br />
Dieses Ziel kann die Polizei allerdings nicht aus eigenem verwirklichen; es bedarf zwar<br />
unbedingt der Polizei, um den Kreislauf der Gewaltbeziehung erst einmal zu unterbrechen;<br />
dann jedoch müssen andere Institutionen nachfolgen, um längerfristig das entstandene<br />
Machtungleichgewicht zu mildern, indem die Position der Frau gestärkt und der Gefährder<br />
wirksam in seine Schranken gewiesen wird.<br />
Kriminelles Verhalten. Der nächste Unterschied besteht darin, dass die neue Routine<br />
Gewalt als Gewalt behandelt, also damit aufhört, Gewalt dann, wenn sie sich in der<br />
Wohnsphäre ereignet, als Familienstreitigkeit, als eheliche Auseinandersetzung oder als<br />
einen privaten Konflikt herunterzuspielen. Diese Verharmlosung beginnt allemal bei der<br />
Sprache, die das Problem definiert und dabei so zurichtet, wie es zur anschließenden<br />
Intervention passt. Der Streit verlangt nach Schlichtung, der Konflikt nach Deeskalation.<br />
Gewalt braucht hingegen eine klare Missbilligung, am besten durch ein Strafgericht. Die<br />
8
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
österreichische Reform war insofern ein Kriminalisierungsprojekt, als sie bewirken wollte,<br />
dass mehr Strafverfahren wegen Gewalttaten in der Wohnsphäre initiiert und auch<br />
tatsächlich bis zu einer Verurteilung des Täters vorangetrieben werden.<br />
Doch nicht nur die Strafjustiz, auch das Einschreiten der Polizei muss reflektieren, dass es<br />
sich bei Gewalttaten in der häuslichen Sphäre nicht um Kavaliersdelikte, sondern um ein<br />
kriminelles Verhalten handelt.<br />
Damit wird zugleich jene falsche Symmetrie zurückgewiesen, die von der alten falschen<br />
Sprache suggeriert worden ist: Zum Streiten gehören zwei, ein Konflikt hat seine Parteien.<br />
Zwischen den beiden Seiten einer Auseinandersetzung bestehen jedoch zunächst keine<br />
Unterschiede. Hingegen gibt es zu einer Straftat einen Täter und ein Opfer. Die künstliche<br />
normative Entladung, das Ausblenden des kriminellen Gehalts des Geschehens konnten<br />
diesen Unterschied, der grundsätzlicher nicht sein könnte, unsichtbar machen. Wenn wir<br />
hingegen die Gewalt bei ihrem Namen nennen, dann ist dies ein erster Schritt dazu, den<br />
Täter als „Gefährder“ oder als „Tatverdächtigen“ zu behandeln und das Opfer als Opfer.<br />
„Nicht das Opfer, der Täter muss gehen.“ Jeder und jede versteht diese Formel, und<br />
zwar nicht nur in dem, was sie beschreibt, sondern auch als eine normative Aussage: Es ist<br />
unfair, vom Opfer zu verlangen, etwas zu unternehmen (sein Verhalten zu ändern, sich in<br />
Sicherheit zu bringen), damit die Gewalt aufhöre. Denn es ist der Täter, der seine Gewalt-<br />
tätigkeit und die von dieser ausgehenden Gefahr verantwortet. Das Opfer hat einen<br />
Anspruch auf eine klare Verurteilung der Tat und auf eine ebenso klare Zuweisung der<br />
Verantwortung für die Tat zum Täter. Dies ist die besondere Stärke sowohl eines<br />
Betretungsverbotes als auch einer Verhaftung, als es die Verantwortung für die Gefährdung<br />
des Opfers zumindest vorläufig dem Täter zuweist.<br />
Diese Botschaft ist für das Opfer deshalb von so großer Bedeutung, weil es ihm hilft,<br />
Selbstvorwürfe zurückzudrängen. Diese resultieren aus der Übernahme der Perspektive des<br />
Täters und der Identifikation mit diesem. Die klare Botschaft, dass es der Täter und nicht das<br />
Opfer ist, der die Tat verantwortet, ist für das Opfer eine wesentliche Entlastung.<br />
Doch ebenso wichtig ist diese Botschaft für den Täter. Täter neigen dazu, ihr Verhalten zu<br />
verharmlosen oder sogar für richtig zu befinden, sie erfinden häufig Rationalisierungen für<br />
ihre Gewalttätigkeit, und nicht zuletzt schieben sie alle Verantwortung dem Opfer zu. Diesen<br />
9
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Tendenzen gegenüber hat die klare Botschaft an den Täter, dass er Unrecht begangen und<br />
dieses auch selbst zu verantworten hat, eine wichtige spezialpräventive Funktion.<br />
Freilich kann die Polizei diese Funktion nur vorläufig erfüllen, der Schwerpunkt ihres<br />
Handelns liegt auf der Gefahrenabwehr, nicht auf der Beurteilung des Geschehens. Dafür ist<br />
primär die Strafjustiz zuständig. Die Frage ist also, welchen Beitrag die Strafjustiz zur<br />
Umsetzung der Reform in Österreich leistet. Die Antwort ist leider sehr ernüchternd.<br />
Bei der Erarbeitung der Reform hat es neben jenen drei Arbeitsgruppen, die an den<br />
genannten drei Säulen gearbeitet haben, noch eine vierte, nämlich strafrechtliche Gruppe<br />
gegeben, die jedoch in wesentlichen Fragen keinen Konsens erzielen konnte.<br />
Dies ist nicht erstaunlich. Denn auf Österreich hatte der Opfer-Rechte-Diskurs zu diesem<br />
Zeitpunkt nicht übergegriffen. Dieser hatte zwar im Jahre 1985 sowohl zu einer<br />
grundlegenden Deklaration der UN als auch zu einer wichtigen Resolution des Europarates<br />
geführt. Doch waren diese Dokumente von der österreichischen Fachöffentlichkeit kaum<br />
wahrgenommen worden und jedenfalls ohne jede Wirkung geblieben. Der dringend<br />
erforderliche grundsätzliche Umdenkprozess der österreichischen Strafjustiz hat damals<br />
nicht stattgefunden und steht in Wahrheit bis heute aus.<br />
Strafrecht und Menschenrechte. Im Kern geht es um die Frage, was eine Straftat ist.<br />
Dem überkommenen Strafrechtsverständnis gilt eine Straftat als die Missachtung einer<br />
staatlichen Norm durch einen Straftäter. Es gilt, also die staatliche Rechtsordnung gegen<br />
ihre Missachtung zu bestätigen. Der Strafprozess ist dann die Durchsetzung eines<br />
staatlichen Strafanspruchs gegen den Täter. Wegen dieser grundlegenden Annahme, dass<br />
die Strafjustiz staatliche Ansprüche zu verwirklichen habe, werde ich diese Auffassung als<br />
etatistisch bezeichnen.<br />
Hingegen ist in der menschrechtlichen Perspektive eine Straftat eine Missachtung der<br />
Rechte des Opfers. Diese Perspektive macht also nicht bei der staatlichen Rechtsordnung<br />
Halt, sondern sieht diese als ein bloßes Mittel zum Schutz der subjektiven Rechte der in der<br />
Rechtsgemeinschaft lebenden Individuen. Auf eine knappe Formel gebracht, geht es in<br />
dieser Sicht nicht um das Recht im objektiven Sinne der abstrakten Normenordnung,<br />
sondern um das mit der Straftat missachtete Recht des Opfers auf Würde und auf die<br />
Integrität seiner Rechtssphäre. Aus dieser Beeinträchtigung erwächst dem Opfer ein<br />
doppelter Anspruch, nämlich auf die möglichste Begrenzung seiner Beeinträchtigung und auf<br />
einen fairen Ausgleich für die Schädigung.<br />
10
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Am Beispiel der Körperverletzung sei dies verdeutlicht: Für das traditionelle Verständnis ist<br />
eine Körperverletzung die Missachtung jener staatlichen Norm, die Körperverletzungen<br />
untersagt. Aus der Missachtung seiner Norm erwächst dem Staat ein Strafanspruch, den er<br />
gegen den Täter durchsetzt. Die Straftat und die justitielle Reaktion auf die Straftat bleiben<br />
eine Angelegenheit zwischen dem Staat und dem Straftäter, das Opfer gelangt nicht ins<br />
Blickfeld, es sei denn als Zeuge. Ein Zeuge ist jemand, der vom Staat im Interesse<br />
staatlicher Wahrheitserforschung in die Pflicht genommen wird, damit er ein Beweismittel<br />
liefert. So mutiert das Opfer zum Zeugen, von der Partei zum Beweismittel-Lieferanten. Der<br />
Frau, die vergewaltigt worden ist, wird bescheinigt, soeben Zeugin einer Vergewaltigung<br />
geworden zu sein. Man muss schon Jurist sein, um dies nicht als zynisch zu empfinden.<br />
Aber genau diese Entpersonalisierung und Instrumentalisierung von Opfern richtet tattäglich<br />
in österreichischen Gerichtssälen die schwersten Schäden an sekundären<br />
Traumatisierungen an.<br />
Aus menschenrechtlicher Perspektive ist eine Körperverletzung zunächst eine Missachtung<br />
des Anspruchs des Opfers auf Würde, welches das Recht einschließt, nicht am Körper<br />
verletzt zu werden. Dieser Anspruch richtet sich in erster Linie gegen den Täter, dieser trägt<br />
die primäre Verantwortung für die Tat und schuldet dem Opfer Genugtuung. Weil es sich<br />
jedoch nicht bloß um einen moralischen Anspruch handelt, sondern um ein Menschenrecht,<br />
muss auch die staatliche Verpflichtung zur Sprache kommen, dafür zu sorgen, dass die<br />
Würde des Opfers respektiert wird. In zweiter Linie ist die Straftat also eine Verletzung dieser<br />
Gewährleistungspflicht des Staates, dafür schuldet der Staat dem Opfer Rechenschaft.<br />
Deutlicher könnte der Gegensatz nicht sein: Während die Straftat für das traditionelle<br />
Verständnis eine Kränkung des Staates durch den Täter ist, erscheint sie in menschen-<br />
rechtlicher Perspektive als eine Verfehlung des Staates dem Opfer gegenüber, insofern der<br />
Staat seine Verheißung, das Opfer zu schützen, nicht erfüllt hat.<br />
Hier werden zwei verschiedene Staatsauffassungen sichtbar, die gegensätzlicher nicht sein<br />
könnten. In der Sicht des traditionellen Strafrechtsverständnisses handelt der Staat aus<br />
eigenem Recht. Er formuliert seine Strafansprüche und setzt sie durch. Für ein menschen-<br />
rechtliches Verständnis ist der Staat hingegen bloßes Mittel zum Zwecke der Realisierung<br />
der Menschenrechte der auf dem Staatsgebiet zusammen lebenden Menschen. Die<br />
Strafjustiz ist nicht ein Ausfluss von Strafrechten des Staates, sondern eine Aufgabe, mithin<br />
ein Bündel von Verpflichtungen des Staates den Menschen gegenüber, die sich auf seinem<br />
Gebiet befinden. Im Vordergrund dieser Aufgabe stehen die menschenrechtlichen<br />
11
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Ansprüche des Opfers, im Hintergrund das durch die Tat irritierte Sicherheitsgefühl anderer<br />
Menschen. Denn auch für die Strafjustiz gilt (wie für jede andere staatliche Institution), dass<br />
ihre Legitimität einzig in ihrer Fähigkeit begründet ist, menschenrechtlichen Ansprüchen zu<br />
genügen. Ohne einen klaren Rekurs auf die im Einzelfall auf dem Spiel stehenden<br />
menschenrechtlichen Ansprüche des Opfers läuft die Strafjustiz die Gefahr einer Erosion<br />
ihrer normativen Basis und damit ihrer Legitimität.<br />
Umgekehrt bin ich zwar der Meinung, dass der gegenwärtige Umgang der Strafjustiz mit<br />
Gewaltopfern eine permanente Gefahr der Instrumentalisierung und der sekundären<br />
Viktimisierung bildet und insgesamt die Dinge oft eher schlechter als besser macht. Ich bin<br />
aber ebenso der festen Überzeugung, dass eine Strafjustiz vorstellbar und machbar ist, die<br />
elementaren Bedürfnissen und Rechten von Gewaltopfern entspricht, nämlich darauf, gehört<br />
zu werden, als Opfer Anerkennung zu finden, zu erleben, dass die Tat verurteilt und dass die<br />
Verantwortung für die Tat unzweideutig dem Täter zugewiesen wird, letztlich auch darauf,<br />
dass eine Reaktion erfolgt, die vom Opfer als Genugtuung für das erlittene Unrecht und als<br />
Bestätigung seines Anspruchs auf Anerkennung empfunden werden kann.<br />
Was bedeutet Gewalt für das Opfer? Gewalt erfährt ein Opfer nicht, sondern sie<br />
widerfährt ihm. Es kann sie nicht begreifen und kann sie auch nicht als Stück der Biografie<br />
zusammenfassen. Sie bleibt als Fremdkörper stecken. Es kommt zu intrusivem<br />
Wiedererleben, was zur Vermeindung von Situationen kommt und damit verbunden zu<br />
geringen sozialen Kontakten. Diese Unfähigkeit, das Geschehene zu integrieren führt zu<br />
tiefer Verunsicherung des Betroffenen, da das Bild, das sie früher von sich selber hatten,<br />
zerstört wurde.<br />
Chronische Traumatisierung, das heißt, sich ständig wiederholende und anhaltende<br />
Traumatisierung, findet vor allem in Gewaltbeziehungen statt. Der Gewalttäter wird immer in<br />
diesen Beziehungen immer mächtiger, da meist auch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen<br />
dem Betroffenen und dem Täter besteht. Ein Phänomen hierbei ist die Identifikation des<br />
Opfers mit dem Täter. Dies kommt zustande, weil das Opfer annimmt, dass sein Verhalten<br />
Einfluss auf das Täterverhalten hat. Das Opfer übernimmt das schlechte Bild von sich selber,<br />
das der Täter ihm vermittelt.<br />
Als weitere Phänomene können das „Stockholm-Syndrom“ und „numbing“ genannt werden.<br />
Stockholm-Syndrom: Bei einem Banküberfall in Stockholm haben sich die Geiseln bei der<br />
Stürmung durch die Polizei schützend vor ihre Geiselnehmer gestellt. Die Erklärung wurde<br />
12
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
darin gesehen, dass die Geiselnehmer, die die Betroffenen ja in die Todessituation gestürzt<br />
haben, die einzigen sind, die sie auch wieder aus dieser Angst herausholen können.<br />
„numbing“: Manches Opfer wird nach einer solchen Tat moralisch taub.<br />
Eine zentrale Frage besteht darin, wie man nun besser auf die Bedürfnisse des Opfers<br />
eingehen kann. Ein Versuch bestand im Beschluss des Gewaltschutzgesetzes. Das<br />
Gewaltschutzgesetz wurde auf dem Hintergrund der Frauenbewegung beschlossen. Gewalt<br />
von Männern an Frauen folgt dem Machtgefälle und ist somit systemkonform. Gewalt von<br />
Frauen an Männern dagegen ist etwas Außergewöhnliches. Es gibt diese Form der Gewalt,<br />
doch sie ist selten. Karl Kraus hat gesagt: „Realität ist der beste Beweis für die Möglichkeit.“<br />
Das Gewaltschutzgesetz trat am 1.Mai 1997 in Kraft und beinhaltet ein drei Säulen-Modell:<br />
Polizei – Interventionsstelle – Familiengericht<br />
Die Interventionsstelle wird von der Exekutive benachrichtigt und hat die Aufgabe, dem Opfer<br />
zu helfen, ein realistisches Bild von dem zu bekommen, was passiert ist.<br />
Das Gewaltschutzgesetz versucht, die Sicherheitsansprüche von Frauen zu berücksichtigen,<br />
wobei die Auflösung der Gewaltbeziehung Aufgabe der Polizei ist.<br />
Andere Institutionen müssen nach der Exekutive nachkommen. Da die Exekutive als erste<br />
zum Ort des Geschehens kommt, ist eine Schulung zum Phänomen Gewalt zentral, damit<br />
die Mitarbeiter besser verstehen, was es für das Opfer bedeutet.<br />
Wichtig in dem Bereich ist allgemein, dass die Gewalt beim Namen genannt wird. Es geht<br />
immer um Interventionen gegen Gewalt. In der Arbeit geht es auf der einen Seite um den<br />
Täter, auf der anderen Seite um das Opfer. Ein Opfer ist ein Mensch, dem von einem<br />
anderen Gewalt angetan wird. Es gibt daher immer einen Gefährder und eine gefährdete<br />
Person.<br />
Das bestehende Betretungsverbot richtet sich gegen den Gefährder und soll ihm dadurch<br />
auch seine Verantwortung vor Augen führen. Es verdeutlicht ihm, dass nicht das Opfer<br />
verantwortlich ist, für das, was passiert ist. Das Gewaltschutzgesetz baut auf Kooperation.<br />
Mit dem Beschluss des Gewaltschutzgesetzes kam ein wichtiger Prozess in Gang, der aber<br />
noch lange nicht abgeschlossen ist.<br />
13
Vortrag Dr. Albin Dearing „Grundsätze des Gewaltenschutzgesetzes“<br />
Drei Dinge sind zu beachten<br />
Gewalt an Kindern: Die Kooperation in diesem Bereich fehlt meist. Hier ist eher ein<br />
Nebeneinander der Behörden zu beobachten. Die Exekutive wird meist aus der Prävention<br />
ausgeschlossen.<br />
Gewalt an MigrantInnen: Wichtig wären in diesem Bereich mehr spezialisierte<br />
Einrichtungen und mehr an Kulturverständnis. Der Staat macht vieles hier noch schlimmer,<br />
da zum Beispiel durch das Fremdenrecht die Abhängigkeit der Frauen durch die Männer<br />
noch mehr steigt.<br />
Umgang der Strafjustiz mit Gewalt in der Familie: Nach dem Strafgesetz ist eine<br />
Straftat die Missachtung der rechtlichen Ordnung. In der Arbeit mit Gewaltopfern ist eine<br />
Straftat die Missachtung der Rechte des Opfers. Es reicht daher nicht aus, Richter zu<br />
schulen, sondern man muss dort beginnen, wo das Strafrecht konzipiert ist.<br />
Dr. Albin Dearing ist Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut in Warschau und<br />
langjähriger Vorsitzender der Präventionsbeirates im Bundesministerium für Inneres<br />
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<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen<br />
Mag a Petra Smutny<br />
Paradigmenwechsel im justitiellen <strong>Opferschutz</strong>. Nur wenige öffentliche oder im<br />
Sozialbereich tätige private Institutionen konnten sich in den letzten Jahren dem Thema<br />
<strong>Opferschutz</strong> verschließen. Man könnte sogar sagen, <strong>Opferschutz</strong> zählte rund ums<br />
Millennium zu den Top-Themen der Sicherheits-, Justiz- und Sozialpolitik. Auch rund um und<br />
innerhalb der Justiz gibt es seit geraumer Zeit eine intensive Hinwendung in Richtung<br />
<strong>Opferschutz</strong> – Neuerungen wie „schonende Vernehmung“ oder „Prozessbegleitung“ haben<br />
Platz gegriffen; dies in einem Umfang und mit einer Akzeptanz, die man sich vor wenigen<br />
Jahren noch nicht hätte träumen lassen. Denn es liegt immerhin erst rund eine Generation<br />
zurück, da gingen Zivil- und Strafrecht von einem „Recht der häuslichen Zucht“ aus und<br />
Körperverletzung an Kindern und Ehegatten war im Strafrecht ausdrücklich „privilegiert“.<br />
Schwerpunkte der rechtspolitischen und legistischen Arbeit im <strong>Opferschutz</strong>bereich lag unter<br />
anderem im Bereich des Kinderschutzes und der Bekämpfung häuslicher Gewalt. Als<br />
Eckpfeiler solcher seit 1975 gesetzter Maßnahmen gegen Gewalt in der Familie seien<br />
beispielsweise angeführt:<br />
- Das erstmals mit dem Bundesgesetz über die persönlichen Rechtswirkungen der Ehe<br />
1975 geschaffene Rechtsinstitut der einstweiligen Verfügung, mit dem einem<br />
gewalttätigen Ehegatten das Verlassen der Ehewohnung aufgetragen werden konnte.<br />
- Die Strafgesetznovelle 1989, die als ein wesentliches Ziel die Einbeziehung des<br />
bisher nur als Nötigung (und nach Maßgabe der im Zusammenhang damit verübten<br />
sonstigen strafbaren Handlungen) verfolgbaren Vergewaltigung und geschlechtlichen<br />
Nötigung durch Ehegatten in das Sexualstrafrecht verfolgte.<br />
- Das mit dem Kindschaftsrechtsänderungsgesetz 1989 geschaffene absolute<br />
Gewaltverbot bei der Erziehung von Kindern.<br />
- Die Einführung der schonenden Einvernahme von Sexualopfern mit dem<br />
Strafprozessänderungsgesetz 1993 (und deren Ausbau mit dem<br />
Strafrechtsänderungsgesetz 1998).<br />
- Das überwiegend am 1.5.1997 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz 1996, das<br />
einerseits rasche und effektive Interventionsmöglichkeiten der Exekutive nach dem<br />
Sicherheitspolizeigesetz (Wegweiserecht und Betretungsverbot) und andererseits<br />
15
selbstständige oder mit sicherheitsbehördlichen Betretungsverboten verbundene,<br />
längerfristige gerichtliche Schutzmaßnahmen nach der Exekutionsordnung<br />
16
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
- (einstweilige Verfügungen) schuf; auch die Verankerung des Rechts auf Ersatz des<br />
ideellen Schadens wegen sexuellen Missbrauchs geht auf das Gewaltschutzgesetz<br />
zurück.<br />
- Ausbau der schonenden Vernehmung, Verlängerung der Verjährungsfrist bei<br />
sexuellem Missbrauch von Minderjährigen mit dem Strafrechtsänderungsgesetz<br />
1998;<br />
- Die Spezialisierung ermöglichende Zuständigkeitskonzentration bei Sexualdelikten<br />
(alle einschlägigen Verfahren sind derselben Gerichtsabteilung zuzuweisen) seit<br />
1999 (Änderung des Gerichtsorganisationsgesetzes).<br />
- Die Zufügung körperlicher oder schwerer seelischer Gewalt als ausdrücklich<br />
genannter Scheidungsgrund seit dem Eherechts-Änderungsgesetz 1999.<br />
- Sondermaßnahmen bei der Behandlung von Gewaltfällen im häuslichen Bereich im<br />
Rahmen der Diversion; hier wurde im Zusammenhang mit der Beschlussfassung für<br />
die Strafprozessnovelle 1999 durch den Justizausschuss und in der Folge in einem<br />
umfangreichen Einführungserlass des Bundesministeriums für Justiz festgehalten,<br />
dass die gesetzliche Einführung von Diversionsmaßnahmen, insbesondere des<br />
außergerichtlichen Tatausgleichs, weder das Ziel hat noch dazu führen darf, dass<br />
strafbare Handlungen - insbesondere im Bereich der sogenannten "Gewalt in der<br />
Familie" - nicht mehr ausreichend als Verletzung von Rechtsnormen verdeutlicht.<br />
- Eine zur statistischen Erfassung von Gewaltfällen im häuslichen Bereich für die<br />
staatsanwaltschaftlichen und strafgerichtlichen Register eigens geschaffene<br />
Statuseintragung ("fam").<br />
- Die mit der Verbrechensopfergesetz-Novelle 1999 geschaffene Möglichkeit des<br />
staatlichen Ersatzes von Therapiekosten.<br />
- Die Förderung von Prozessbegleitung, im Bereich des BMJ seit dem mit dem<br />
Diversionspaket verbundenen gesetzlichen Auftrag zur Förderung von<br />
Opferhilfeeinrichtungen.<br />
- Die mit 1.1.2000 in Kraft getretenen Bestimmungen der Sicherheitspolizeigesetz-<br />
Novelle 1999, die den von Gewalt betroffenen Opfern im häuslichen Bereich für die<br />
Antragstellung auf einstweilige Verfügung beim Familiengericht einen in der Praxis<br />
angepassten verlängerten Zeitraum einräumen.<br />
- Die ausdrückliche Klarstellung, dass Genitalverstümmelung (FGM) selbst mit<br />
Zustimmung der betroffenen Person als Körperverletzung strafbar ist, mit dem<br />
Strafrechtsänderungsgesetz 2001.<br />
- Die Schaffung einer einheitlichen (das heißt ohne Bedachtnahme auf das Geschlecht<br />
oder die sexuelle Orientierung von Opfer oder Täter formulierten) Strafbestimmung<br />
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Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
gegen sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch das<br />
Strafrechtsänderungsgesetz 2002 (mit Schutzalter 16 bei sexuellem Missbrauch<br />
unter Ausnützung einer besonderen mangelnden Reife des Opfers und einer<br />
altersbedingten Überlegenheit des Täters sowie unter Ausnützung einer Zwangslage<br />
des Opfers; Schutzalter 18 bei geschlechtlichen Handlungen unmittelbar gegen<br />
Entgelt – dadurch wurden die Freier jugendlicher Prostituierter grundsätzlich<br />
strafbar).<br />
Dass es innerhalb von zwanzig Jahren – also ab der großen Strafrechtsreform 1974, mit der<br />
diese Kehrtwende in Bezug auf die Privilegierung familiärer Gewaltanwendung eingeleitet<br />
wurde – gelungen ist, Normen, wie sie das Gewaltschutzgesetz gebracht hat, nicht nur<br />
bekannt zu machen, sondern in der (Fach)Öffentlichkeit allgemein akzeptiert und zum<br />
Einsatz zu bringen, ist eine erfreuliche Tatsache. So beachtlich diese Reformschritte auch<br />
sind und so sehr sie den Bewusstseinswandel hin zum <strong>Opferschutz</strong> mitgeprägt haben, so ist<br />
damit der notwendige Handlungsbedarf auf gesetzlicher Ebene sicherlich noch nicht<br />
abgedeckt. Tragische – und möglicherweise auch verhinderbar gewesene – Todesfälle<br />
gewaltbetroffener Frauen 1 geben uns ein deutliches Signal, dass diese Arbeit noch nicht<br />
beendet ist. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass die Justiz – viel stärker als parteilich<br />
zugunsten des Opfers handeln könnende Hilfseinrichtungen, aber auch stärker als die<br />
Exekutive – gewissen Spannungsfeldern ausgesetzt ist, die nicht immer so leicht aufzulösen<br />
sind.<br />
<strong>Opferschutz</strong> durch Strafen?<br />
Wie insbesondere der Bereich häuslicher Gewalt als komplexes und vielschichtiges Problem<br />
zeigt, ist zu dessen effektiver Bekämpfung ein koordiniertes und ergebnisorientiertes<br />
Zusammenwirken aller hiermit befassten Stellen erforderlich. Die Justiz erfüllt in diesem<br />
System sicherlich auch die ganz wichtige Funktion, gesellschaftspolitische Markierungen und<br />
Grenzen im Einzelfall zu setzen und so die allgemeine Ächtung der Gewalt durch<br />
Zurverfügungstellung und Anwendung entsprechender Mittel zur Durchsetzung von Rechten<br />
und Interessen zu bekräftigen.<br />
1 Das am Tag der Fachtagung erscheinende Profil, 34. Jg, Nr. 40, berichtet in „Bis dass der Tod euch<br />
scheidet“, von fehlgeschlagenen Versuchen einer jüngst Ermordeten, sich durch behördliche Hilfe vor<br />
ihrem Exgatten zu schützen, 46 ff.<br />
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Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
Es fällt aber auf, dass in der (medialen) Öffentlichkeit <strong>Opferschutz</strong> und Opferhilfe fast<br />
ausschließlich im strafrechtlichen Kontext diskutiert werden. Im politischen Umfeld<br />
erschöpfen sich die Überlegungen letztlich sehr schnell in einem Ruf nach Strafverschärfung.<br />
Populär sind und waren insbesondere Kriminalisierungsforderungen und drakonische Strafen<br />
„zum Schutz der Kinder“. Mir – als sowohl mit den finanziellen Nöten verletzter Opfer als<br />
auch in Familienrechtssachen vielfach mit Gewalt innerhalb der Familien konfrontierten<br />
Richterin – scheint das entschieden zu wenig. Die Möglichkeiten, sich aus dem Opferstatus<br />
zu befreien, werden eben auch in ganz wesentlichem Ausmaß von dem dafür eingeräumten<br />
finanziellen Rahmen und vom Ausmaß der emotionalen Belastungen durch jahrelange<br />
Trennungs- und Besuchsrechtsstreitigkeiten bestimmt.<br />
Tatsächlich stehen ja selbst im Strafverfahren ganz andere als Vergeltungsbedürfnisse bei<br />
Opfern weitaus im Vordergrund; dazu zählen insbesondere Schutz und Sicherheit,<br />
Information, schonende und würdevolle Behandlung durch die BehördenvertreterInnen,<br />
Betreuung, Achtung der Privatsphäre und Entschädigung.<br />
Noch immer finden manche Opfer die Belastungen durch ein Gerichtsverfahren so groß,<br />
dass sie es bereuen, überhaupt zur Polizei gegangen zu sein. Werden diese Menschen dann<br />
in einer ähnlichen oder anderen Situation wieder Opfer, kann der Vorsatz, die Polizei nicht<br />
mehr einzuschalten, schlichtweg lebensgefährlich werden. Um die Stresssituation zu<br />
verringern, nehmen andere Zeugen und Zeuginnen wiederum – verständlicherweise – jede<br />
gesetzliche Möglichkeit wahr, nicht aussagen zu müssen; dies leider unabhängig davon, ob<br />
sie sich dadurch etwa bei der Durchsetzung ihrer finanziellen Ansprüche schaden. Hier<br />
müsste zur Abhilfe vor allem in Richtung ZeugInnenservice bzw. Prozessbegleitung noch<br />
Einiges geleistet werden.<br />
Wahrheitserforschung und Verteidigungsrechte versus <strong>Opferschutz</strong>?<br />
Opfern von Straftaten können aus Gründen der Verpflichtung zur Wahrheitserforschung und<br />
der Gewährung fundamentaler Verteidigungsrechte selbst mehrfache Befragungen vielfach<br />
nicht erspart werden. Sie können jedoch bei der Erfüllung ihrer ZeugInnenpflichten effektiv<br />
unterstützt und beraten werden. In jenem Bereich, in dem die Justiz <strong>Opferschutz</strong> in der Form<br />
von OpferzeugInnenschutz (wie etwa durch die videounterstützte schonende Einvernahme<br />
oder Verschleierung der Identität) betreibt, tut sie das in der Regel nicht zum Selbstzweck.<br />
Das Gericht benötigt gut verwertbare Aussagen als Grundlage der Wahrheitserforschung<br />
und im Regelfall wird sich dieses Ziel mit den Interessen des OpferzeugInnenschutzes<br />
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Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
weitgehend decken. Professionell betreute bzw. geschützte ZeugInnen machen ihre<br />
Aussage nachweislich angstfreier und mit geringerer nervlicher Anspannung. Sie sind daher<br />
präziser in ihrer Darstellung, konzentrierter in ihrer Erinnerung und liefern dem Gericht<br />
bessere Aussagen. Die Justiz ist schon alleine deshalb auf die Mitarbeit der ZeugInnen<br />
angewiesen, weil im Bereich der Alltagskriminalität Strafverfahren überwiegend von den<br />
Geschädigten selbst durch Anzeigen eingeleitet werden.<br />
Vom Kern her bleibt jedoch die unterschiedliche Ausgangslage bestehen, dass aus dem<br />
Blickwinkel der Wahrheitserforschung sämtliche erforderlichen Maßnahmen im besten Fall<br />
„schonend“ durchgeführt werden, während es aus dem Blickwinkel des <strong>Opferschutz</strong>es<br />
primäres Bestreben ist, ZeugInnen durch Behördenprozesse nicht sekundär zu<br />
traumatisieren bzw. zu gefährden. Somit bleibt ein Spannungsfeld vorhanden, das im<br />
Prozessrecht beispielsweise durch die Einräumung von Entschlagungsrechten oder der<br />
Möglichkeit, erteilte Ermächtigungen zur Strafverfolgung zurückzuziehen, zu Lasten der<br />
Wahrheitsfindung Anerkennung findet. Einschlägig tätige Anwältinnen haben mir versichert,<br />
dass es auch für diese Berufsgruppe eine schwierige Aufgabe darstellt, die psychischen und<br />
physischen Belastungsgefahren von Opfern gegen die mögliche Rechtsdurchsetzung vor<br />
Gericht in ihren Entscheidungen abzuwägen.<br />
<strong>Opferschutz</strong> versus Objektivität?<br />
Verfassungsrechtliche Garantien und strenge Bestimmungen über die Befangenheit und den<br />
Ausschluss von gerichtlichen Organen haben zum Ziel, die Unabhängigkeit, Objektivität und<br />
Unparteilichkeit von RichterInnen bei ihrer Entscheidung im Einzelfall zu gewährleisten.<br />
Dieser wesentliche Pfeiler unabhängiger Rechtsprechung, der die allgemeine Anerkennung<br />
gerichtlicher Entscheidungen in der Bevölkerung überhaupt erst ermöglicht, ist im Alltag im<br />
Wesentlichen bestimmt vom professionellen Umgang mit persönlichen Interessen und<br />
Vorlieben, äußeren Einflussnahmeversuchen jeglicher Art und der Kenntnis von<br />
entscheidungswesentlichen Strukturen und Abläufen, um vorliegende Sachverhalte auf ihre<br />
Plausibilität, mögliche Ursachen und Folgen beurteilen zu können.<br />
Die notwendige Objektivität darf jedoch weder zur Interesselosigkeit an den – zumindest für<br />
bestimmte Zeit – anvertrauten Personen noch zu einer Scheinobjektivität führen, die – um<br />
nur ja den Anschein der „Gleichbehandlung“ zu wahren – den Blick vor tatsächlichen<br />
Verhältnissen einfach verschließt.<br />
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Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
Belegt ist, dass Frauen etwa dreimal häufiger Opfer als Täterinnen gerichtlich strafbarer<br />
Gewalthandlungen werden. Die eheliche Wohnung ist dabei ein besonders gefährlicher Ort,<br />
es scheint, dass Dauersingles dagegen relativ sicher leben. Aber auch trotz fortlaufender<br />
Berichte über grausamste Gewalttaten gegenüber Frauen durch ihre Männer und Exmänner<br />
in den Medien – die freilich häufig noch immer die ebenfalls faktenverschleiernde Überschrift<br />
„Familientragödie“ tragen – und der mit dieser Wahrnehmung übereinstimmenden<br />
Kriminalitätszahlen 2 wird das Selbstschutzpotential von Frauen (erst recht wenn Kinder<br />
vorhanden sind) von den Strafverfolgungsbehörden noch wesentlich über-, das<br />
Gefährdungspotential aber offenbar noch wesentlich unterschätzt. 3 Die Beurteilung der<br />
Gefährdung von Frauen und Kindern ohne das Wissen über das tatsächliche Ausmaß und<br />
die Häufigkeit von Eskalationen ist jedoch keineswegs ein Zeichen von Unparteilichkeit,<br />
sondern bloße Scheinobjektivität.<br />
Während Strafverschärfung mit dem Ziel (oder unter dem Vorwand) des <strong>Opferschutz</strong>es noch<br />
nachvollziehbar ohne wesentliche Beachtung des Opfers selbst betrieben werden kann,<br />
erfordert die Befriedigung der wesentlichen Bedürfnisse eine viel stärkere Befassung mit der<br />
betroffenen Person selbst. Erst wenn über die unterschiedlichen Bedürfnisse und<br />
Abhilfemöglichkeiten – und diese können sich je nach Delikt, Alter, sozialer Herkunft etc<br />
beträchtlich unterscheiden – ausreichende Kenntnisse vorliegen, kann mit Hilfe allgemein<br />
gehaltener Bestimmungen den legistischen und praktischen Anforderungen entsprochen<br />
werden und können möglichst allgemein gehaltene Bestimmungen gesucht und formuliert<br />
und entsprechende organisatorische Maßnahmen gesetzt werden.<br />
Staatliche Fürsorge versus Empowerment?<br />
Seit Jahren werden Sicherheitspläne und Gefährlichkeitsprognosen vor allem nach<br />
Einsätzen im familiären Umfeld gefordert, zumal in diesem Bereich spätere Delikte ja<br />
besonders häufig direkt oder indirekt angekündigt werden, „gefährliche Drohungen“ daher<br />
tatsächlich als solche zu verstehen sind. Auch schlagen weitere <strong>Opferschutz</strong>maßnahmen in<br />
der Regel ins Leere, solange die Sicherheit der Betroffenen nicht bestmöglich gewährleistet<br />
2 Vom 1.1. bis 30.9.2003 wurden allein in Wien 11 sog. Beziehungsmorde registriert; vgl weitere Daten<br />
bei Smutny, Der – Die – Das Opfer; Genderaspekte im <strong>Opferschutz</strong>, in: Floßmann (Hg), Fragen zum<br />
Geschlechterrecht, Universitätsverlag R. Trauner, Linz 2002, 131, und Dearing in Dearing/Haller (Hg),<br />
Das österreichische Gewaltschutzgesetz, Verlag Österreich, Wien (2000) 59 f.<br />
3 Im Fall der am 1.6.1997 in Wien von ihrem Ehegatten ermordeten Mirjana T. hat diese<br />
Fehleinschätzung bereits zu einem Amtshaftungsanspruch, begründet durch die Nichtinhaftnahme<br />
des Täters nach einer Anzeige wegen Gefährlicher Drohung geführt, 32 Cg 2/98v, LG für ZRS Wien.<br />
21
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
ist. 4 Betretungsverbote im Sinne des Gewaltschutzgesetzes 1996 werden zwar häufig,<br />
sicherlich aber nicht in jedem Fall, als „Ersatz“ anstelle von notwendigen Sicherungen durch<br />
die Haft angesehen werden können. Schutz ist insbesondere in der explosiven Zeit nach der<br />
Entlassung aus einer kurzen Haft angezeigt. Unter sinngemäßer Anwendung der<br />
Weisungsmöglichkeit nach § 180 Abs 5 Z 4a StPO käme für den Fall, dass eine an sich<br />
angebrachte Haft durch die Anwendung eines oder mehrerer gelinderer Mittel ersetzt werden<br />
soll, zumindest ein Kontaktverbot – analog oder in Weiterführung eines bereits abgelaufenen<br />
Betretungsverbotes – in Betracht.<br />
In (teilweiser) Entsprechung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union<br />
vom 15. 3. 2001 betreffend die Stellung von Opfern im Strafverfahren und über vielfache<br />
Forderung von ExpertInnen und Opferhilfeeinrichtungen wurde in die Regierungsvorlage zu<br />
einem Strafprozessreformgesetz nunmehr auch die Verpflichtung aufgenommen wurde,<br />
Geschädigte über Antrag von einer Entlassung des Beschuldigten aus der Haft und in<br />
anderen Fällen vom Fortgang des Verfahrens zu verständigen (vgl §§ 25 Abs 3, 177 Abs 5,<br />
194, 197 Abs 3, 206, 208 Abs 2 und 213 Abs 1 StPRG-RV). Freilich sei dazu bemerkt, dass<br />
Österreich diese Verpflichtung aus dem Rahmenbeschluss – wie andere auch – bereits bis<br />
März 2002 umzusetzen gehabt hätte.<br />
Es ist nun aber neuerdings – für mich verdächtig – sehr modern geworden, von<br />
Empowerment, vor allem der von Gewalt betroffenen Frauen, zu sprechen, also der<br />
Stärkung von deren Selbstbehauptung und Eigenverantwortung. 5 Gefährlich wird dieser,<br />
grundsätzlich wohl gut gemeinte Ansatz, wenn er wieder ein Klischee bedient, dessen sich<br />
beispielsweise die Kirche schon bedient hat, als sie Frauen die Seele und die frühe<br />
Psychoanalyse, als sie Frauen vom Mann unabhängige Sexualfreuden abgesprochen hat:<br />
nämlich das Bild der Frau als defizitäres Wesen.<br />
Selbstverständlich befürworte ich, dass Kinder „Nein“ sagen lernen, vor allem, wenn es um<br />
ihr Recht auf ihre körperliche und sexuelle Integrität und Selbstbestimmung geht.<br />
Entschieden entgegentreten und den Anfängen wehren müssen wir jedoch jeglicher damit<br />
verbundener Verantwortungszuschreibung. Selbstverständlich gehören alle Maßnahmen<br />
ergriffen, um Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, sich aus Gewaltbeziehungen zu befreien<br />
(die aktuellen Versuche des Haltens an Heim und Herd sind dabei allerdings wohl mehr als<br />
4 Logar, Gewalt an Frauen in Familien, in: Gender - Aspekte in der sozialen Arbeit, Czernin Verlag,<br />
Wien 2001, 179 f.<br />
5 Vgl Floßmann (Hg), Probleme bei der Strafverfolgung von Gewalt in Familien; Empowerment der<br />
Opfer durch Sanktionssystem und Verfahrensrecht, Universitätsverlag R. Trauner, Linz 2003.<br />
22
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
kontraproduktiv). Wer jedoch glaubt, dass uns solche Maßnahmen von unverzüglichen und<br />
effektiven Schutzverpflichtungen befreien, leugnet strukturelle und faktische<br />
Machtverhältnisse sowie die körperlichen und emotionalen Schranken der<br />
Verteidigungsmöglichkeiten.<br />
Neue Aufgaben – weniger Ressourcen?<br />
Last but not least leiden derzeit alle <strong>Opferschutz</strong>bemühungen ganz vehement unter dem<br />
Sparstift. Auch die Arbeitsbelastung der Richterinnen und Richter, der Staatsanwältinnen<br />
und Staatsanwälte hat bereits ein Ausmaß erreicht, mit dem eine qualitätsvolle<br />
Rechtsprechung auf bisherigem Niveau auf Dauer kaum mehr gewährleistet ist. Seit dem<br />
Jahre 1999 wurden Österreichweit etwa 50 RichterInnenposten und über 400 Planposten bei<br />
den BeamtInnen und Vertragsbediensteten eingespart. Für die Jahre 2003 und 2004 sind die<br />
weiteren Kürzungen im Budgetgesetz beschlossen und werden auch bereits umgesetzt.<br />
Dabei hätte die Justiz neben dem noch zu ergänzenden legistischen Bereich vor allem in<br />
den Bereichen der statistischen Erfassung, der berufsbegleitenden Schulung und Fortbildung<br />
und der Umsetzungskontrolle und Evaluation durchaus aufzuholen. Denn gesetzliche<br />
<strong>Opferschutz</strong>maßnahmen schaffen zwar die Rahmenbedingungen für<br />
Unterstützungsmaßnahmen, wird jedoch kein weiteres Augenmerk auf die organisatorische<br />
Durchführung gelegt und der Erfolg nicht durch Evaluationsstudien geprüft, bleiben die<br />
Umsetzung und damit auch die Veränderungswirkung in der gesellschaftlichen Realität in<br />
wesentlichem Ausmaß der Initiative und dem Geschick einzelner Justizangehöriger<br />
überlassen. In diesem Sinn werden zum Beispiel diversionelle Maßnahmen im familiären<br />
Gewaltbereich weiterhin zu beobachten sein: Trotz mehrfacher gegenteiliger Bestrebungen<br />
des Gesetzgebers, der Legislative, wissenschaftlicher Studien und Empfehlungen<br />
interdisziplinär besetzter Arbeitsgruppen enden diese nämlich (weiterhin) in zu großer Zahl<br />
mit der bloßen Verhängung von Geldbußen, setzen jedoch insbesondere kaum Täterarbeit<br />
ein; nötigenfalls werden ergänzende, effizientere „Korrekturmaßnahmen“ gefordert werden<br />
müssen.<br />
Mehr als bisher sollte es daher auch als Aufgabe der Justiz angesehen werden, sich in<br />
Präventionskonzepte, Runde Tische und Vernetzungsträger einzubringen. In diesem Sinn<br />
sollten auch die Möglichkeiten aufgegriffen werden, dass die RichterInnen und<br />
StaatsanwältInnen, die täglich vor Ort mit den Ansprüchen nach vermehrtem <strong>Opferschutz</strong><br />
konfrontiert sind, in den diversen Gremien vermehrt gestalterisch im Interesse der von<br />
23
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
Gewalt Betroffenen und der Justiz vertreten sind. NGOs leisten auf diesem Feld ganz<br />
wesentliche Dienste und verfügen über große Erfahrung, auf die zu verzichten wir uns<br />
eigentlich nicht leisten sollten. Die umfassende Beschäftigung mit den Ursachen und den<br />
Auswirkungen von Gewalt sind somit nicht Abkehr von den übrigen gesetzlich festgelegten<br />
Aufgaben der Justiz, sondern deren Ergänzung und der Arbeitseinsatz hiefür eigentlich<br />
unverzichtbar, um dem Rechtsschutzauftrag der Justiz und ihren Präventionsaufgaben zu<br />
entsprechen.<br />
Wenn die Bekenntnisse zu weiterem <strong>Opferschutz</strong> durch die Justiz nicht bloße<br />
Lippenbekenntnisse bleiben sollen, dann muss für eine ausreichende personelle Vorsorge<br />
und sachgerechte Ausstattung zur zufriedenstellenden Umsetzung unverzüglich Sorge<br />
getragen werden. Effizienter <strong>Opferschutz</strong> ist eben – selbst bei bestmöglicher Organisation –<br />
extrem zeitaufwändig und derzeit – sowohl was die faktische Durchführung als auch die<br />
Fortbildung betrifft – (noch) absolut unbewertet.<br />
Ausblick<br />
Wie schon auf Grund dieser beispielsweise herausgegriffenen Spannungsfelder zu erkennen<br />
ist, habe ich meinen Titel „Justiz im Spannungsfeld der Interessen“ nicht ohne Grund<br />
gewählt.<br />
Im physikalischen Sinn versteht man unter Spannung die Kraft, die im Innern eines durch<br />
äußere Kräfte belasteten (elastischen) Körpers je Flächeneinheit auftritt. Zulässige<br />
Spannung ist die Spannung, bis zu der ein Körper belastet werden darf, ohne eine bleibende<br />
Formänderung zu erfahren. Auf Biegen und Brechen ist hier nicht gefragt, kontinuierliche<br />
Bewegung hingegen sehr.<br />
Die elektrische Spannung ist eine Voraussetzung dafür, dass unser Strom fließen kann. Die<br />
Spannung selbst wird dabei als "Maß für das Bestreben der Elektronen, sich von einem Pol<br />
zum anderen ausgleichen zu wollen" bezeichnet. Die Funktion eines Interessenausgleichs ist<br />
der Justiz zuzubilligen, ja ausdrücklich zuzuerkennen. Dann wird nicht nur die Justiz selbst,<br />
sondern auch durch sie in Sachen <strong>Opferschutz</strong> noch dauerhaft viel bewegt werden.<br />
<strong>Opferschutz</strong> ist das Topthema von Sicherheitsbehörden und sozialen Institutionen. Vor allem<br />
in der Justiz geht man immer mehr in Richtung schonende Vernehmung und<br />
Prozessbegleitung. Ein Problem besteht darin, dass <strong>Opferschutz</strong> in der Öffentlichkeit nur<br />
24
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
vom strafrechtlichen Kontext her diskutiert wird. Es stehen dabei Schutz, Sicherheit,<br />
Information, schonende Behandlung, Achtung der Privatsphäre, Entschädigung im<br />
Vordergrund. Durch die steigende Auseinandersetzung mit diesem Thema kommt es immer<br />
mehr zu einer Übersättigung, was natürlich eine gewisse Gefahr in sich birgt. Sie kann unter<br />
anderem zum Stillstand führen und Stillstand bedeutet Rückschritt. Man kann sich im<br />
<strong>Opferschutz</strong> nicht zurücklehnen, denn es sollte zum Beispiel in der Justiz noch mehr zu<br />
Veränderungen kommen.<br />
<strong>Opferschutz</strong> kostet. Er kostet Achtung der Arbeit anderer. Er kostet Zeit und Geld. Er lässt<br />
sich auch nicht gewinnbringend vertreiben. Grundsätzlich ist bestmöglicher <strong>Opferschutz</strong> nicht<br />
durch eine einzelne Institution möglich. Es sollten mehr Personalressourcen zur Verfügung<br />
gestellt werden, denn <strong>Opferschutz</strong> ist zeit- und personalaufwendig.<br />
In der Justiz stellt sich immer die Frage, ob es vertretbar ist, dass Opfer zu Zeugen werden.<br />
Wenn dies notwendig wird, muss das Opfer gut betreut werden. Auf der einen Seite aus<br />
ethischen Gründen. Auf der anderen Seite aber auch, da betreute ZeugInnen<br />
aussagefreudiger und genauer sind, was für den Prozess und die Verurteilung des Täters<br />
vorteilhaft ist. Ob ein Opfer Zeugin/Zeuge sein muss unterliegt der Abwägungsfrage:<br />
Welchem Ziel gibt man Vorrang?<br />
Von Richtern wird immer Objektivität erwartet. Es stellt jedoch eine Scheinobjektivität dar,<br />
wenn man davon ausgeht, dass Männer und Frauen in gleichem Maße gefährdet sind, Opfer<br />
von Gewalt zu werden. Kriminalität ist männlich. Frauen sind drei Mal so häufig Opfer wie sie<br />
Täter sind.<br />
Ein häufig gebrauchter Slogan ist heute, dass ein Kind lernen muss, nein zu sagen. Damit<br />
vermittelt man dem Kind aber, dass es die Gewalt hätte verhindern können, wenn es nein<br />
gesagt hätte. Dies beinhaltet wiederum die Gefahr, dass man dem Kind die Verantwortung<br />
für das gibt, was passiert ist. Doch ein Kind trägt niemals die Verantwortung für erlebte<br />
Gewalt.<br />
Immer wieder spricht man auch von der Stärkung des Selbstvertrauens bei Frauen. Dies<br />
unterstreicht die Tradition, dass Frauen häufig als „defizitäre Wesen“ gesehen werden: Die<br />
Kirche sagte früher, Frauen fehlt die Seele. Sigmund Freud hat betont, Frauen fehlt der<br />
Penis, und heute wird gesagt, Frauen fehlt es an Selbstvertrauen.<br />
25
Vortrag Mag a Petra Smutny „<strong>Opferschutz</strong> – Justiz im Spannungsfeld der Interessen“<br />
Mag a Petra Smutny ist Richterin am Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien und<br />
Gleichbehandlungsbeauftragte. Sie war Legistin in der Straflegislativsektion des<br />
Bundesministeriums für Justiz<br />
26
Diskussion Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Diskussion<br />
Dr. Dearings kritische Auseinandersetzung mit der Justiz blieb in der anschließenden<br />
Diskussion nicht unwidersprochen. Ein weiterer Themenschwerpunkt war die Täterarbeit.<br />
Die fragmentarische Wiedergabe der Diskussion soll ein Schlaglicht auf die<br />
verschiedenen Positionen werfen.<br />
Dr. Alfons Dür, Präsident des Landesgerichts Feldkirch, langjähriger<br />
Familienrichter: „Die Strafjustiz hat sehr wohl eine Entwicklung mitgemacht. Die<br />
Sensibilität der Justiz ist in <strong>Opferschutz</strong>fragen ist gestiegen. Ein Paradigmenwechsel hat<br />
stattgefunden. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist der kritische Blick auf das Strafrecht<br />
verständlich. Wir haben jedoch ein normatives Verständnis.“ Zur Sicht Dearings, der<br />
Strafanspruch des Staates stehe zu sehr im Vordergrund, das Opfer würde in die Rolle<br />
der Zeugin gedrängt: „Ich denke es gibt keine Alternative. Unsere rechtsstaatliche<br />
Struktur sehe ich als Errungenschaft.“<br />
Dr. Albin Dearing: „Die einzige Berufung des Strafrechts ist der Schutz der<br />
Menschenrechte, sonst nichts. Wo es kein Opfer gibt, brauchen wir auch das Strafrecht<br />
nicht.“<br />
Auf Widerspruch stieß Familienrichter Dür mit seiner Aussage: „Ich hätte Bedenken zu<br />
sagen, Gewalt ist nur relational zu sehen, nie situativ.“ Gewalt sei zu sehen, „als das was<br />
sie sein soll, eine Episode, die es zu überwinden gilt“.<br />
Mag a Petra Smutny: „Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt an Frauen und Kindern.”<br />
Bei Gewalt in der Familie von situativer Gewalt zu sprechen, ist aus der Sicht von Dr.<br />
Dearing „ein Rückschritt“.<br />
Dr. Franz Pflanzner, Leitender Staatsanwalt: „Pro Jahr werden in Vorarlberg nur<br />
fünf bis zehn Fälle von Gewalt an Kindern angezeigt. Das heißt: Alle schauen weg.“<br />
Pflanzner kritisierte, dass Frauen immer wieder von ihrem Entschlagungsrecht Gebrauch<br />
machen. „Es passiert Gewalt und die Anzeigen versanden. Das ist die Realität und das<br />
ist unser Dilemma.“<br />
Dr. Gabriele Nussbaumer, Landtagsabgeordnete, Sozialsprecherin der<br />
ÖVP: „Durch unser tradiertes Familienbild wird es Frauen in unserer Gesellschaft sehr<br />
schwer gemacht, sich aus einer Gewaltbeziehung zu lösen.“<br />
27
Diskussion Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Dr. Albin Dearing: „Es ist notwendig, dass sich Strafrechtler auf die Opfer einlassen.“<br />
Dearing zitiert eine Studie des BKA Wiesbaden: Jedes zehnte Gewaltopfer sei der<br />
Meinung, „das Verfahren war schlimmer als die Tat“. Auf die Opfer dürfe in den<br />
Verfahren kein Druck ausgeübt werden. „Es kann doch nicht unser Konzept sein, Opfer<br />
zu Zeuginnen zu machen.“<br />
Mag a Petra Smutny forderte die Abkehr von Geldstrafen bei familiärer Gewalt: „Eine<br />
Geldbuße ist kein adäquates Mittel gegen Gewalt in der Familie.“ Eine weitere Forderung<br />
der Richterin: „Der Anspruch auf Prozessbegleitung muss auch für den zivilrechtlichen<br />
Bereich verankert werden.“<br />
Und wo bleiben die Täter?<br />
Mag. Stefan Schäfer, Leiter der Männerberatungsstelle IfS-Klartext: „Die<br />
Täterperspektive findet in der <strong>Opferschutz</strong>-Arbeit keinen Platz. Wir wissen viel über die<br />
Opfer, aber wir wissen wenig über die Täter. Man hat vergessen, dass auch Täter eine<br />
Interventionsstelle brauchen, eine Konfrontation mit dem, was sie getan haben. Die<br />
Justizschiene ist zuwenig.“ Schäfer gab zu bedenken, dass über „maximal zehn Prozent<br />
aller Gewalttaten gesprochen werde“, die Dunkelziffer sei weitaus höher. Schäfer:<br />
„Tätertherapie ist <strong>Opferschutz</strong>, weil es darum geht, klar Position gegen Gewalt zu<br />
beziehen.“<br />
Dr. Albin Dearing; „In der Täterarbeit ist die Normverdeutlichung notwendig. Der Mann<br />
muss damit konfrontiert werden, dass er als Gewalttäter zur Verantwortung gezogen wird.<br />
Man muss ihn verantwortlich machen für die Entscheidung zur Gewalttätigkeit.“<br />
Freiwillige Tätertherapieprogramme werden von den ExpertInnen am Podium und im<br />
Publikum skeptisch bis ablehnend gesehen:<br />
Elisabeth Kiesenebner-Bauer, Leiterin der Interventionsstelle: „Wenn ein Täter in<br />
Beratung ist, endet die Gefährdung nicht von heute auf morgen, auch nicht die<br />
Gewaltbereitschaft. So positiv es zu sehen ist, wenn sich Männer freiwillig zur Therapie<br />
entschließen: Der Freiwilligenkontext ist für einen nachhaltigen Schutz des Opfers zu<br />
wenig.“<br />
28
Diskussion Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Dr. Albin Dearing: „Freiwillige Täterarbeit wird häufig eingesetzt, um falsche Hoffnungen<br />
zu wecken. Wenn wir die Möglichkeit haben Männer zu verpflichten, dann sollen wir es<br />
auch tun.“ Dearing richtete einen „Appell an die Staatsanwaltschaft es auch zu tun“.<br />
Denn: „Diese Täterarbeit ist im Interesse der Opfer.“ Weil das Bild des Geschehenen –<br />
warum hat er das getan? – könne nur durch die Auseinandersetzung des Täters mit<br />
seiner Tat vervollständigt werden.<br />
Sabine Rupp: „Tätertherapieprogramme können die Wiederholungsgefahr gut<br />
reduzieren.“<br />
Wie kann die Vernetzung optimiert werden?<br />
Mag. Stefan Allgäuer: „Das Gewaltschutzgesetz definiert die Vernetzung. Wie kann<br />
diese Vernetzung aber optimiert werden, was brauchen wir zum Gelingen der<br />
Vernetzung?“<br />
Dr. Albin Dearing nannte fünf wesentliche Voraussetzungen<br />
1. ein hinlänglich überlappendes Bild des Problems: Das Bild müsse nicht<br />
deckungsgleich sein, aber es müsse sich in den meisten Punkten überschneiden.<br />
2. gemeinsame Zielvorstellung<br />
3. klare Aufgabenteilung: Es müsse geklärt sein, wo die Exekutive gefragt ist und wo<br />
nicht mehr. Grundsätzlich müsse geklärt werden, wer was in welcher Reihenfolge<br />
macht.<br />
4. Respekt voreinander<br />
5. Übergänge müssen organisiert sein: Wenn verschiedene Institutionen<br />
zusammenarbeiten, braucht es Brückenköpfe zur Koordination.<br />
Grundsätzlich sei wichtig zu erkennen, dass man für unterschiedliche Teilfunktionen<br />
unterschiedliche Institutionen benötige. Es sollte eine sinnvolle Arbeitsteilung gemacht<br />
werden.<br />
Der zweite Teil der Tagung war dem Themenbereich Traumatisierung gewidmet.<br />
Einerseits der sekundären Traumatisierung der Opfer durch die Verfahren, die eine<br />
Anzeige nach sich zieht, andererseits aber auch der traumatischen Belastung von<br />
helfenden und unterstützenden Personen.<br />
29
Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse<br />
Sabine Rupp<br />
Dieser Vortrag bezieht sich auf den Themenbereich der intrafamiliären sexuellen Gewalt<br />
an Kindern und Jugendlichen. Ich berichte aus der Perspektive der Opfer und werde<br />
deshalb – auch wenn der Terminus ungenau/juristisch falsch ist – oftmals den Begriff<br />
„Täter“ verwenden.<br />
Sekundärschädigungen – sekundäre Traumatisierung<br />
Unter Sekundärschädigungen verstehen wir all die Schädigungen, die nicht unmittelbar<br />
durch die sexuelle Gewalt des Täters, sondern mittelbar durch das Verhalten oder die<br />
Maßnahmen der involvierten Berufsgruppen, Bezugspersonen und/oder durch das<br />
Verhalten der Umwelt entsteht. Durch dieses Verhalten oder diese Maßnahmen können<br />
Teile der Dynamik der Missbrauchssituation wiederholt und verfestigt werden, was<br />
letztendlich eine Verstärkung der primären Schädigung bewirkt (beim Opfer Gefühle von<br />
Angst, Schuld, Hilflosigkeit, schutzloser Preisgabe, Entsetzen, Panik, Demütigung oder<br />
Scham).<br />
Sekundäre Traumatisierungen oder Schädigungen können im Behördenprozess nicht zur<br />
Gänze verhindert werden. Das wäre ein zu hoher Anspruch. Aber sie können in jedem<br />
Fall minimiert werden.<br />
Kinder, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, sind im Rahmen der Abklärung und der<br />
folgenden Interventionen in hohem Maß von Sekundärschädigungen bedroht.<br />
Aktives Handeln auf der Seite des Täters<br />
Machtausnutzung Ohnmacht<br />
Kontrolle Kontrollverlust<br />
Schädigende Folgen auf der Seite des<br />
Opfers<br />
Vertrauensbruch Enttäuschung, Misstrauen<br />
Verantwortungslosigkeit<br />
Übernahme von Verantwortung und Negieren<br />
der eigenen Bedürfnisse<br />
Verpflichtung zur Geheimhaltung Geheimhaltungsdruck und Loyalitätskonflikte<br />
Umkehr der Tatsachen<br />
Verlust der eigenen Wahrnehmung und<br />
Übernahme der Tätersicht<br />
Keine Empathie eigene Schuldzuschreibung<br />
Vgl.: Vienna Botens, „Präventive Maßnahmen zur Vermeidung und Minimierung von<br />
Sekundärschädigungen“, Hg.: Grundwasser e.V., Wiesbaden<br />
30
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Wie kann sekundären Schädigungen im Behördenprozess entgegengewirkt<br />
werden?<br />
Um den vom Täter direkt verursachten Schädigungen entgegenhandeln zu können, ist es<br />
u.a. notwendig, dass involvierte Berufsgruppen:<br />
- ein besseres Verständnis für Kinder und für Opfer von sexueller Gewalt haben,<br />
d.h. auf ein Wissen über die intrapsychische Dynamik traumatisierter Kinder und<br />
deren Auswirkungen zurückgegriffen werden kann<br />
- ein Stück weit den „neutralen“ Boden verlassen und sich von den Erzählungen<br />
berühren lassen<br />
- den eigenen Arbeitsbereich nach den jeweiligen Möglichkeiten prüfen, Freiräume<br />
für <strong>Opferschutz</strong> oder Opferschonung zu eröffnen<br />
- im gesamten Interventionsverlauf in Kooperation mit involvierten Berufsgruppen<br />
arbeiten<br />
Nachfolgend eine Skizze des Interventionsverlaufs:<br />
31
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Interventionsverlauf im Falle von sexueller Gewalt an Kindern/Jugendlichen<br />
Verdacht<br />
↓<br />
Abklärungsprozess<br />
in HelferInnenkonferenzen wird das Wissen zusammengetragen<br />
und Aufgaben erteilt<br />
prophylaktisch muss ein geschützter Ort für das Opfer geschaffen<br />
werden<br />
bei Erhärtung des Verdachts:<br />
↓<br />
Offenlegung durch das Kind<br />
Konfrontation des nicht-missbrauchenden Elternteiles<br />
Stabilisierung der familiären Situation<br />
Angebote von Ressourcen für das Kind und den nichtmissbrauchenden<br />
Elternteil<br />
Konfrontation des Beschuldigten<br />
je nach Situation des Falles zu diesem Zeitpunkt oder später<br />
↓<br />
Interventionen zum Schutz des Kindes<br />
z.B. Aussetzung von Besuchskontakten, Fremdunterbringung,<br />
Antrag auf Einstweilige Verfügung nach dem Gewaltschutzgesetz<br />
↓<br />
Einschaltung der psychosozialen und juristischen<br />
Prozessbegleitung:<br />
Anzeige<br />
abklären von Erwartungen und Wünschen, Konsequenzen einer<br />
Anzeige<br />
Überblick über gesamten Ablauf<br />
Absprachen beider ProzessbegleiterInnen (des Kindes und der<br />
Bezugsperson)<br />
Vorverfahren<br />
Vorbereitung (räumliche, zeitliche Orientierung)<br />
Absprachen mit AnwältInnen, U-RichterInnen, und<br />
Jugendwohlfahrt<br />
Begleitung zur kontradiktorischen Einvernahme als<br />
Vertrauensperson<br />
Nachbesprechung<br />
Hauptverfahren<br />
Absprachen mit Anwältin/Anwalt, HauptverhandlungsrichterIn und<br />
Jugendwohlfahrt<br />
Vorbereitung und Begleitung der Bezugsperson<br />
Nachbesprechung<br />
↓<br />
2 Monate bis ca. 1,5 Jahre später<br />
2-8 Wochen 2 Monate bis ca. 1,5 Jahre<br />
6 Wochen bis Jahr<br />
Beratungsstellen, Jugendwohlfahrt,<br />
Exekutive, Pflegschaftsgerichte<br />
Beratungsstellen, RechtsanwältInnen,<br />
Jugendwohlfahrt, Exekutive, Staatsanwaltschaft, Strafgericht<br />
32
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
evt. Aufarbeitung/Therapie<br />
Anregung und Vermittlung in ein entsprechendes Angebot<br />
idealerweise kann mit einer Aufarbeitung bereits nach dem<br />
Vorverfahren begonnen werden<br />
↓<br />
evt. Pflegschaftsgericht<br />
0,5 bis ca. 5 Jahre<br />
Beratungsstellen,<br />
Bundessozialämter,<br />
TherapeutInnen, JWF,<br />
Zivilgerichte<br />
Etwa 17 verschiedene Berufsgruppen mit verschiedenen Aufträgen und noch mehr<br />
Personen sind in einem gesamten Interventionsverlauf beteiligt:<br />
- KindergärtnerIn/LehrerIn/FreizeitpädagogIn – und KollegInnen<br />
- SonderkindergärtnerIn/BeratungslehrerIn<br />
- Leitung der entsprechenden Institution<br />
- SozialarbeiterIn<br />
- GutachterIn von der Jugendwohlfahrt<br />
- Beratungsstelle – oftmals 2 Personen (meist für Mütter)<br />
- Fremdunterbringung<br />
- Pflegschaftsgericht<br />
- Prozessbegleitung – 2 Personen<br />
- Kripo/Gendarmerie<br />
- U-RichterIn<br />
- Sachverständige – evt. Klinik<br />
- AnwältIn<br />
- Staatsanwaltschaft<br />
- HauptverhandlungsrichterIn<br />
- Evt. Nochmaliges Gutachten für Pflegschaftsgericht<br />
- PsychotherapeutIn<br />
Keine Person, und keine Institution kann allein sexuelle Gewalt an Kindern abklären,<br />
beenden und die Folgen tragen. Es ist immer interdisziplinäres Arbeiten mit anderen<br />
involvierten Berufsgruppen notwendig. Diese Kontakte müssen aufgebaut und gepflegt<br />
werden. Einige Berufsgruppen haben darin mehr Erfahrung, andere weniger. Einander<br />
persönlich kennen lernen hilft.<br />
33
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Wissen über Traumatisierung und Kooperation sind die Mittel der Wahl zur Reduzierung<br />
von Sekundärschädigungen. Aber es ist leichter gesagt als getan.<br />
Jede Berufsgruppe, die im Laufe eines Falles an die Kinder herantritt, hat Auswirkungen<br />
sowohl auf die Kinder wie auch auf das weitere Prozedere. Positive wie negative.<br />
Werden beispielsweise Kinder freundlich aufgenommen, so wirkt das enorm<br />
angstreduzierend auf den nächsten folgenden Schritt in der Interventionskette. Viele<br />
verschiedene Ebenen sind dabei zu berücksichtigen: persönliche (zum Beispiel bei der<br />
Begrüßung), strukturelle (zum Beispiel Räumlichkeiten, wie ZeugInnenschutzraum),<br />
empathische (lassen sich ZuhörerInnen/Befragende von den Erzählungen der Kinder<br />
berühren oder gehen sie in Abwehr) und sprachliche Ebene (kindgerechte Sprache).<br />
Was ist ein Trauma?<br />
Ein Trauma entsteht durch eine Gewalttat. Dabei wird ein Mensch von einer<br />
überwältigenden Macht hilflos gemacht. Der Zustand der Traumatisierung ist<br />
gekennzeichnet durch eine Überflutung von Affektstürmen, die diffus undifferenziert,<br />
konfus oder heftig widersprüchlich sind, so dass Gefühle von Todesangst, Ekel,<br />
Schmerz, Scham, Verzweiflung, Demütigung, Ohnmacht und Wut gleichzeitig oder in<br />
raschem Wechsel durchlitten werden.<br />
Die normalen Anpassungsstrategien des Menschen sind bei traumatischen Ereignissen<br />
überfordert. Sie bedeuten eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche<br />
Unversehrtheit und bringen die Begegnung mit Gewalt und Tod. Durch ein Trauma ist der<br />
Mensch in extremer Weise Hilflosigkeit und Angst ausgesetzt. Diese lebensbedrohlichen<br />
Situationen können nur beschränkt, nur geraume Zeit ausgehalten werden, dann drohen<br />
Überflutung durch Angst und das Gefühl ‘verrückt’ zu werden. Hinzu treten das Gefühl<br />
und das Bewusstsein völliger Ohnmacht und Hilflosigkeit, ohne Ausweg auf Veränderung<br />
in Form von Kampf oder Flucht. Die Fachsprache nennt diese Situation auch<br />
„inescapable shock“. (Ulrich Sachsse et al 1997, S. 12)<br />
34
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
1. Die zahlreichen Symptome der posttraumatischen Störungen werden in<br />
drei Hauptkategorien unterteilt:<br />
1.1. Übererregung<br />
Die Übererregung spiegelt die ständige Erwartung einer Gefahr wider. Sie wird etwa<br />
durch leichtes Erschrecken, überschießende Reaktionen, Schlafstörungen und/oder<br />
unerwartete Ausbrüche von Aggression deutlich.<br />
Menschen reagieren extrem schreckhaft auf unerwartete und vor allem auf spezifische<br />
Reize, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Die erhöhte Erregung<br />
hält im Schlaf- wie im Wachzustand an. Die Folgen sind zum Beispiel massive Einschlaf-<br />
und Schlafstörungen.<br />
1.2. Intrusion<br />
Selbst lange nachdem die traumatische Situation vorüber ist, wird sie wiederholt<br />
reaktualisiert. Traumatisierte erleben das Ereignis immer wieder in der Erinnerung oder in<br />
Träumen, so als geschähe es gerade eben. Sie werden durch Angst, Wut und<br />
Hilflosigkeit geschüttelt und finden dadurch nicht mehr in ihren normalen Lebensrhythmus<br />
zurück. Sie befinden sich sozusagen noch lange Zeit in höchst erregtem Zustand, in<br />
Alarmbereitschaft. Es scheint eine unauslöschliche Prägung durch den traumatischen<br />
Augenblick gegeben zu sein. Wiederkehrende ‘Flashbacks’, ungewollt sich aufdrängende<br />
Erinnerungen und Gedanken an das traumatische Ereignis, werden immer wieder mit<br />
einer so außergewöhnlichen (im wahrsten Sinn des Wortes) Macht ausgelöst, die das<br />
gewöhnliche Vermögen, Gefühle auszuhalten, völlig überfordert. Diese Erinnerungen<br />
gelangen spontan ins Bewusstsein, im Wachzustand als plötzliche Rückblende und im<br />
Schlaf als angsterfüllter Alptraum. Durch scheinbar kleine, unbedeutende Gegenstände,<br />
Atmosphären oder Gerüche kann eine Reaktualisierung ausgelöst werden. Für<br />
Traumatisierte fühlt es sich an, als ob sie an das Ereignis psychisch gefesselt wären.<br />
1.3. Konstriktion<br />
Die Konstriktion ist das dritte Symptom der posttraumatischen Störung. Der Zustand in<br />
der Konstriktion lässt sich am besten als Dumpfheit, Stumpfheit, Betäubung oder<br />
Erstarrung, als Reaktion der Niederlage beschreiben. In der traumatischen Situation<br />
erschien Widerstand zwecklos oder unmöglich, Kapitulation blieb die einzige Antwort, der<br />
35
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
einzige Ausweg. Das Opfer flieht nicht durch aktive Handlung, sondern durch eine<br />
Veränderung des Bewusstseinszustandes aus der Ohnmacht und der Hilflosigkeit.<br />
Auf der körperlichen Ebene kommt es in einer lebensbedrohlichen Situation durch die<br />
Übererregung zur Ausschüttung von Stresshormonen. Die normale Reaktion ist Flucht<br />
oder Angriff. Da keines von beiden möglich ist, kommt es zur Erstarrung, zum<br />
Gelähmtsein.<br />
Bei einer Offenlegung durch Kinder oder bei Befragungen (Kripo/Gericht) treten sehr<br />
starke Wiederholungen der Symptome auf. Es lässt sich nur Erzählen durch Erinnern,<br />
das heißt. innere Bilder entstehen, das Trauma wird reaktualisiert und die Symptome<br />
treten wieder stärker in den Vordergrund.<br />
Wenn keine Resonanz bei den fragenden Personen kommt, fühlen sich Opfer oftmals<br />
„benutzt“ (hier als Informationsquelle) und das Gefühl von „verrückt-sein“ kehrt wieder<br />
zurück (sekundäre Traumatisierung).<br />
2. Die Dialektik des Traumas<br />
Nach einem traumatischen Ereignis entsteht zwischen den beiden gegensätzlichen<br />
Reaktionsmustern der Intrusion (Zustand der ständigen Erregung - Weckerläuten) und<br />
Konstriktion (Dumpfheit) ein ständig wechselnder Rhythmus, ein Pendeln. Traumatisierte<br />
sind gefangen zwischen Gedächtnisverlust und Wiedererleben, überwältigenden<br />
Gefühlen und absoluter Gefühllosigkeit, impulsiver Aktion und totaler Blockade.<br />
Dieser Verarbeitungsprozess ist jedoch sehr störanfällig, da das innere Gleichgewicht<br />
fehlt (zum Beispiel wenn im sozialen Umfeld Gespräche verweigert, Wahrnehmungen<br />
nicht ernst genommen, Ereignisse negiert werden, etc.). Das Pendeln zwischen<br />
Gedächtnisverlust und Wiedererleben kann sich daher möglicherweise für immer<br />
fortsetzen.<br />
3. Strategien der Traumabewältigung<br />
Menschen reagieren in der bei einer Katastrophe üblichen Weise. Schon während der<br />
Traumatisierung, zumindest aber unmittelbar danach oder in Vorbereitung auf eine<br />
wiederkehrende, also absehbare Traumatisierung entwickeln sie Coping-Mechanismen<br />
36
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
(Bewältigungsversuche, die abhängig sind vom Entwicklungsstand des Selbst und dem<br />
Ausmaß einer unterstützenden Umgebung).<br />
Zu den wichtigsten Coping-Mechanismen zählen:<br />
- Dissoziation (aus dem eigenen Körper hinaustreten)<br />
- Identifikation mit dem Aggressor<br />
- Selbstverletzendes Verhalten<br />
3.1. Dissoziation<br />
Menschen, die stark dissoziieren, können Schmerzen ignorieren, Gefühle ignorieren,<br />
Teile ihres eigenen Körpers ignorieren, die eigene Geschichte vergessen oder ignorieren,<br />
folglich Gedanken, Verhalten und Gefühle nicht miteinander verbinden. Wenn man<br />
dissoziiert, tritt man sozusagen von Empfindungen, Gedanken oder dem Gefühl der<br />
Verbundenheit zurück. Es scheint so, als ob der psychische Apparat, der wahrnimmt,<br />
registriert und Erinnerungen speichert, (teilweise) außer Kraft gesetzt wäre.<br />
Die Dissoziation ist eine Form der Wehrhaftigkeit und eine Überlebensstrategie. Auch<br />
Kinder können in Sekundenschnelle dissoziative Zustände herstellen. Sie helfen zwar die<br />
traumatischen Situationen zu überleben, aber können sich langfristig schädlich<br />
auswirken.<br />
3.2. „Identifikation mit dem Aggressor“ 6<br />
Hilflosigkeit ist auf längere Dauer nicht aushaltbar. Mittels der Identifikation mit dem<br />
Aggressor kann sich die eigene Person in ein gefürchtetes Objekt verwandeln, denn<br />
durch die Übernahme von scheinbarer Macht wandelt sich Angst in Sicherheit um. Z.B.<br />
„Stockholmsyndrom“<br />
3.3. Selbstverletzendes Verhalten<br />
Im Allgemeinen gehen selbstverletzendem Verhalten Spannungszustände (oftmals<br />
basierend auf Konfusion) auf der körperlichen und/oder psychischen Ebene voran. Die<br />
Gründe dafür sind mannigfaltig. Die Gefahr liegt darin, dass sich die scheinbar ‘einfache’<br />
Lösung von Spannungsabfuhr durch selbstverletzendes Verhalten verselbständigt. So<br />
kann ein Streit schon ausreichend sein, die entstandene Spannung durch Ritzen,<br />
Schneiden oder Verbrennen aufzuheben.<br />
6 Ursprünglich „Identifikation mit dem Angreifer“ (Anna Freud 1984, S. 85).<br />
37
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Diese Spannungszustände, diese krass widersprüchlichen Situationen machen<br />
Menschen völlig konfus.<br />
Grundsätzlich werden Spannungszustände als diffuse Bedrohung erfahren. Ersehnt wird<br />
ein Zustand der Spannungs- und Bedürfnislosigkeit. Durch die Spannung, oft als völlige<br />
Konfusion beschrieben, geraten Klientinnen ‘außer sich’. Das Gefühl für den eigenen<br />
Leib kommt im Erleben abhanden. Oft und leider ist selbstverletzendes Verhalten die<br />
einzige Möglichkeit, wieder ein Grenzerleben zu schaffen und das Gefühl von<br />
Lebendigkeit zu vermitteln. Die anästhetische Haut wird wieder spürbar. Sie beginnen,<br />
sich selbst wieder zu spüren. Das warme, fließende Blut ist ein Zeichen dafür.<br />
4. Abwehrmechanismen<br />
Sexuell missbrauchte Kinder/Jugendliche sind durch eine Überflutung von schädigenden<br />
Berührungen, verletzendem Eindringen in ihre körperliche Grenze und durch<br />
Überstimulierungen geschädigt. Vielfältige Abwehrmechanismen dienen dazu, die<br />
überwältigenden Gefühle der Angst und des Schmerzes auszuhalten und letztendlich zu<br />
überleben.<br />
Obwohl grundsätzlich viele Mechanismen dem Ich zur Abwehr der Angst dienen können,<br />
beziehe ich mich auf folgende Abwehrmechanismen:<br />
4.1. Anästhesierung<br />
Anästhesierung bedeutet Betäubung, nicht mehr empfinden, nicht mehr wahrnehmen.<br />
Sie besteht aber vor allem im Abschalten der eigenleiblichen Empfindungen und Gefühle.<br />
Das Selbst-Gefühl wird gestört. Es kommt zu einer tief gehenden Entfremdung vom<br />
eigenen Leib. Anästhesierung ist gleichsam die Grundlage der Verdrängung: Nicht-Mehr-<br />
Wahrnehmen ist der erste, Nicht-Mehr-Erinnern der zweite Schritt.<br />
4.2. Spaltung<br />
Die Spaltung als Abwehrstrategie ist gekennzeichnet durch immer wieder<br />
traumatisierende Ereignisse und einen krassen Wechsel in der Qualität der Beziehungen.<br />
Beispielsweise, wenn der (lebens) bedrohende, in der Erregung kaum zu erkennende<br />
38
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Vater nach dem Missbrauch wieder zum guten, lieben, fürsorglichen Vater wird. Bei<br />
sexuellem Missbrauch findet ein Trauma statt und gleichzeitig wird Normalität gelebt.<br />
Es kann passieren, dass die nicht zu vereinbarenden oder ängstigenden Ereignisse<br />
einen „Extra-Kanal“ bilden und sozusagen auf ein „Abstellgleis“ kommen. Sie können<br />
nicht wirklich verdrängt, aber auch nicht integriert werden. Sie tauchen als Stimmungen,<br />
als diffuse Ängste, Träume, Bilder jederzeit wieder auf. Diese Form der Abwehr bewirkt<br />
eine labile Stimmungslage, eine Zwei- oder Mehrgleisigkeit des Selbst und ein Gefühl der<br />
Fragmentierung, wie es vor allem in den Borderline-Syndromen zu finden ist. (vgl.<br />
Dorothea Rahm et al 1993, S. 311)<br />
Spaltung verhindert, dass unvereinbare Dinge zusammentreffen. Sie bleiben zeitweilig<br />
oder abwechselnd bewusst, müssen zeitweilig oder abwechselnd geleugnet werden. Bei<br />
sexuell missbrauchten Frauen beispielsweise, ist es die Spaltung in Gut und Böse. Gut<br />
und Böse in einer Person ist undenkbar, ängstigend, verwirrend und vor allem fremd.<br />
Die Auswirkungen der Abwehrmechanismen und Copingstrategien wirken auf das<br />
professionelle System oftmals sehr befremdlich, sind anstrengend und können dazu<br />
führen (wenn es kein Wissen darüber gibt), dass den Opfern nicht geglaubt wird, weil wir<br />
ein anderes Bild von Opfern und deren Welt und Reaktionen haben.<br />
Kinder, die durch einen nahen Familienangehörigen sexuell missbraucht wurden, sind auf<br />
vielfache Art und Weise betroffen:<br />
- durch das Trauma selbst<br />
- Kinder haben nur kindliche Verarbeitungsmöglichkeiten („unreife“<br />
Abwehrmechanismen)<br />
- Sind abhängig vom Vater und den Bezugspersonen<br />
- Stehen unter dem Druck der Geheimhaltung.<br />
Accomodation-Syndrom (Gewöhnungssyndrom)<br />
Das Wissen um das „Accomodation-Syndrom“ ist wichtig, um Verständnis für die<br />
Bewältigungsmechanismen und Überlebensstrategien eines sexuell missbrauchten<br />
Kindes entwickeln zu können.<br />
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Beschreibung des Accomodation-<br />
oder Gewöhnungssyndroms von Roland Summit.<br />
39
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
40
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Die Rolle des Kindes<br />
Das „normale“ Verhalten eines Kindes, das in sexuelle Misshandlungen verwickelt<br />
worden ist, verursacht Abneigung und Vorurteile bei Bezugspersonen. Diese<br />
Einstellungseffekte und Verhaltensweisen müssen verstanden werden, bevor man dem<br />
Kind gegenübertritt.<br />
Die Kennzeichen treten am stärksten beim Vater-Tochter-Inzest auf, wenn der<br />
Missbrauch über eine längere Zeit stattfindet.<br />
Fünf Charakteristika sind kennzeichnend:<br />
1. Heimlichkeit<br />
Kinder erzählen es selten jemandem. Sie fühlen sich beschämt und schuldig, fürchten die<br />
Ablehnung, den Liebesverlust und die Strafen durch die Mutter, Vergeltung oder<br />
Liebesverlust durch den Täter und besonders stark den Verlust des Angenommenseins<br />
und der Sicherheit von zu Hause, was oft durch Drohungen verstärkt wird.<br />
Die Betonung der Heimlichkeit und der furchtbaren Isolation von der Mutter machen<br />
sexuelle Handlungen zu etwas Gefährlichem, Schlechtem, selbst wenn das Kind noch zu<br />
jung ist, um die gesellschaftlichen Tabus zu verstehen (das trifft auch zu, wenn z. B. das<br />
Kind ohne Gewalt und Schmerzen verführt wird).<br />
2. Hilflosigkeit<br />
Kinder fühlen sich durch die Autorität des Erwachsenen, dem es vertraut, verpflichtet,<br />
selbst wenn körperliche Gewalt oder Drohungen ausbleiben. Die Ohnmacht wird durch<br />
die Empfindung von Isolation, Heimlichkeit und Schuld verstärkt, aber auch durch die<br />
Unfähigkeit des Kindes, den Sinn im Verhalten des Täters zu verstehen.<br />
Die Hilflosigkeit kommt häufig in einer Ruhig-Stellung zum Ausdruck. Wenn ein Mädchen<br />
im Schlaf belästigt wird, wird sie sich typischerweise „schlafend stellen“. Sie wird nicht<br />
schreien, auch wenn ihre Mutter möglicherweise im anliegenden Raum ist. Es wird den<br />
kläglichen Versuch starten, sich die Decke über den Kopf zu ziehen - bei imaginären<br />
Monstern hat es ja auch immer gewirkt - und so wird es auch im Falle einer Annäherung<br />
durch den Missbraucher gemacht, um sich selbst zu schützen.<br />
Die Unfähigkeit zu schreien oder sich selbst zu beschützen, stellt den Kernpunkt des<br />
Missverständnisses zwischen dem Opfer und der Erwachsenengemeinschaft dar. Kaum<br />
41
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
jemand ist gewillt zu glauben, dass ein Opfer sich still verhalten würde. Es wird von ihm<br />
erwartet, dass es mit Tritten und Schreien reagiert.<br />
Die Verletzung des sichersten Zufluchtsortes einer Person - des „Zuhauses“ -, überwältigt<br />
eine normale Verteidigungshaltung und führt zu Desillusionierung, schwerster<br />
Verunsicherung und zu einem Prozess der Viktimisierung. Kinder haben wenig<br />
Verteidigungsmöglichkeiten und sind gegenüber dem Eindringen in ihre Intimsphäre<br />
weitaus verletzlicher als Erwachsene.<br />
Dies führt immer zu Selbstanklagen. Sie übernehmen die Schuld dafür, dass sie die<br />
Aufmerksamkeit des Täters herausgefordert haben und/oder für ihr Versagen, dessen<br />
Absichten nicht wirksam beendet zu haben.<br />
3. Verstrickung<br />
bedeutet, sich selbst zum Sündenbock zu machen, die eigene Verantwortung<br />
überzubetonen und sich im Laufe der Zeit selbst für die Schwäche zu verachten. Dieses<br />
„Sich-selbst-zum-Sündenbock-machen“ ist beinahe universell bei Opfern jeglicher Form<br />
elterlicher Misshandlungen anzutreffen. Es bildet das Fundament zu Selbsthass.<br />
Das Kind ist mit zwei offensichtlichen Realitäten konfrontiert: entweder es ist schlecht und<br />
verdient es, bestraft zu werden und es ist nicht wert, dass man sich um es kümmert –<br />
oder sein Vater ist schlecht, straft es zu Unrecht und ist nicht fähig, für es zu sorgen. Mit<br />
der zweiten Realität würde es keine Hoffnung auf Akzeptanz oder Überleben geben. So<br />
nimmt das Kind eher die aktive Rolle der Verantwortlichkeit an und hofft darauf, einen<br />
Weg heraus zu finden.<br />
Gut und Böse verdrehen sich<br />
Gut sein heißt, das Kind muss verfügbar sein, ohne sich über die sexuellen Forderungen<br />
zu beschweren. Es existiert ein explizites oder implizites Versprechen einer Belohnung:<br />
Wenn es gut ist und das Geheimnis für sich behält, kann es seine Geschwister vor einer<br />
sexuellen Beteiligung beschützen, seine Mutter vor einem Zusammenbruch bewahren<br />
(„Es würde sie umbringen“), den Vater vor Versuchungen schützen („Ansonsten muss ich<br />
mich nach anderen Frauen umsehen“) und was am wesentlichsten ist, die Sicherheit des<br />
42
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
„Daheims“ erhalten („Mich würden sie ins Gefängnis stecken und euch in ein<br />
Waisenhaus“).<br />
In dieser Rollenumkehr wird dem Kind die Macht gegeben, die Familie zu zerstören oder<br />
deren Zusammenhalt zu sichern. Böse sein heißt, die Wahrheit zu sagen. Das Kind wird<br />
unglaubwürdig, da es nicht sofort davon berichtet hat. Das Kind ist auf Dauer nicht in der<br />
Lage, durch psychische Kraftanstrengung die andauernden Gewalttätigkeiten<br />
innerpsychisch auszugleichen. So suchen die Ohnmacht und die anwachsenden<br />
Wutgefühle eine wirksame Ausdrucksform. Das heißt oftmals Selbstzerstörung und<br />
verstärkter Hass gegen sich selbst (Selbstverletzung, suizidales Verhalten, Promiskuität<br />
und Weglaufen, eventuell auch Drogen).<br />
4. Abgestrittene, widersprüchliche, verzögerte und nicht überzeugende<br />
Offenlegung<br />
Fortgesetzter sexueller Missbrauch wird sehr selten offengelegt, noch seltener, wenn er<br />
außerhalb der Familie stattfindet (Trainer, Lehrer).<br />
Behandelte, gemeldete und untersuchte Fälle sind die Ausnahme, nicht die Regel. Die<br />
Offenlegung ist entweder<br />
- eine Folge überwältigender Konflikte in der Familie,<br />
- eine zufällige Entdeckung durch eine dritte Person/Partei oder<br />
- findet statt durch sensible Herangehensweise von professionellen HelferInnen.<br />
Wird die Offenlegung durch den Familienkonflikt ausgelöst, so geschieht dies gewöhnlich<br />
nach einigen Jahren fortwährenden sexuellen Missbrauchs.<br />
Das Inzestopfer verhält sich schweigend bis zur Adoleszenz, in der es fähig wird, ein<br />
eigenständiges Leben für sich zu verlangen und die Autorität der Eltern herauszufordern.<br />
Der Vater wird zunehmend eifersüchtig und kontrollierend in dem Versuch, seine Tochter<br />
von „Gefahren“ fernzuhalten. Die Folgewirkungen der Akkommodation scheinen jede<br />
extreme Form der Bestrafung zu rechtfertigen. Welcher Elternteil würde nicht strenge<br />
Restriktionen einsetzen, um Weglaufen, Drogenmissbrauch, Promiskuität, Rebellion und<br />
Delinquenz zu bekämpfen?<br />
Mädchen werden in Folge schließlich durch ihre Wut dazu getrieben, das Geheimnis<br />
preiszugeben. Sie suchen Verständnis und Intervention zu genau dem Zeitpunkt, an dem<br />
43
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
sie am wenigsten damit rechnen können, diese auch zu finden. Die Verantwortlichen<br />
werden durch die delinquenten Verhaltensweisen und die rebellische Wut, die das<br />
Mädchen zeigt, abgeschreckt. Die meisten Erwachsenen, die mit solch einer<br />
Missbrauchsgeschichte konfrontiert werden, tendieren dazu, sich mit den Problemen der<br />
Eltern zu identifizieren, in dem Versuch, mit einem aufsässigen Teenager umzugehen.<br />
Sie nehmen an, dass solch eine phantastische Klage keine Wahrheit enthält, vor allem<br />
da das Mädchen sich nicht bereits vor Jahren beschwert hat, nämlich zu dem Zeitpunkt,<br />
von dem sie angibt, gewaltsam belästigt worden zu sein. So werden die Äußerungen des<br />
Kindes zu einer erfundenen Geschichte, oder zur Vergeltung gegen den Vater, der doch<br />
nur versucht, eine begründete Kontrolle und Disziplin zu erreichen.<br />
Wenn nicht besonders ausgebildet und sensibilisiert, können Durchschnittserwachsene,<br />
einschließlich Mutter, Verwandte, LehrerInnen, BeraterInnen, ÄrztInnen,<br />
PsychotherapeutInnen, Untersuchungspersonen und Geschworene nicht glauben, dass<br />
ein „normales vertrauensvolles“ Kind den Inzest tolerieren würde, ohne davon sofort zu<br />
berichten oder dass ein augenscheinlich „normaler“ Vater fähig sein sollte zu einer<br />
wiederholten, uneingeschränkten sexuellen Belästigung seiner eigenen Tochter. Die<br />
wütende Jugendliche, die in Schwierigkeiten steckt, riskiert nicht nur Unglauben, sondern<br />
ebenso, durch Demütigung und Bestrafung zum Sündenbock gestempelt zu werden.<br />
Nicht alle Jugendlichen, die sich beklagen, erscheinen wütend und unzuverlässig. Ein<br />
alternatives Akkommodationsmuster besteht darin, dass das Kind überlebt, indem es<br />
jedes Anzeichen für einen Konflikt versteckt (ungewöhnlich erfolgreich, beliebt, eifrig<br />
bemüht zu gefallen...). Die Reaktion der Erwachsenen wird umso ungläubiger sein, wenn<br />
ein so scheinbar unauffälliges Kind von sexuellen Gewalterfahrungen berichtet. „Wie<br />
kann solch eine Sache so einer netten jungen Person passiert sein?“ – „Niemand, der so<br />
talentiert und angesehen ist, hätte in etwas derartig Schmutziges verwickelt werden<br />
können.“ - „Offenbar ist es nicht geschehen oder, falls es doch passiert ist, hat es das<br />
Kind mit Sicherheit nicht verletzt.“<br />
So besteht - in beiden Fällen - für eine Anzeige/Klage kein wirklicher Grund, denn der<br />
unmittelbare Affekt und die Anpassungsmuster des Kindes werden von den<br />
Erwachsenen zur Entkräftigung der Klage interpretiert.<br />
44
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Im Gegensatz zum populären Mythos sind sich die meisten Mütter des fortgesetzten<br />
sexuellen Missbrauchs nicht bewusst. Pädophile Verwandte und Freunde haben eine Art<br />
und Weise, ein Gefühl von Vertrauen und Dankbarkeit zu erwecken, indem sie Liebe und<br />
Sorge für das Kind zeigen. Die Ehe fordert ein beträchtliches Maß an blindem Vertrauen<br />
und Verleugnung, um zu überleben. Eine Frau wird nicht einem Mann ihr Leben und ihre<br />
Sicherheit anvertrauen, den sie für fähig hält, seine eigenen Kinder zu belästigen<br />
(grundlegende Verleugnung).<br />
Die Annahme, dass die Mutter „davon gewusst haben muss“, entspricht lediglich dem<br />
Anspruch des Kindes, die Mutter hätte intuitiv das ersichtliche und verheimlichte<br />
Unbehagen in der Familie erfassen müssen. Für Mütter bedeutet die Tatsache des<br />
Missbrauchs die Vernichtung der Familie und die Vernichtung eines beträchtlichen<br />
Maßes eigener Identität akzeptieren zu müssen.<br />
5. Widerruf der Klage<br />
Was immer ein Kind über sexuellen Missbrauch (aus)sagt, es wird es wahrscheinlich<br />
wieder zurücknehmen. Als kleines Kind kann es die Frage nach dem Inzest verneinen,<br />
doch später kann es vielleicht durch die eigene Wut dazu bewegt werden, eine<br />
Strafanzeige zu machen.<br />
Unter der Wut bleibt die Ambivalenz von Schuld und der märtyrerhaften Verpflichtung, die<br />
Familie zu erhalten, bestehen. In der chaotischen Nachwirkung der Offenlegung entdeckt<br />
das Kind, dass die grundlegenden Befürchtungen und Drohungen, die das Geheimnis<br />
umgaben, wahr sind.<br />
- Ihr Vater verlässt sie und nennt sie eine Lügnerin.<br />
- Ihre Mutter glaubt ihr nicht oder sie bricht in Hysterie und Zorn aus.<br />
- Die Familie ist auseinandergebrochen.<br />
- Die Kinder werden meist fremduntergebracht.<br />
- Dem Vater droht Schande und Gefängnis.<br />
- Das Mädchen wird beschuldigt, den ganzen Schlamassel verursacht zu haben<br />
und alle scheinen sie wie ein Monster zu behandeln.<br />
- Sie wird über alle geschmacklosen Details verhört und ermutigt, ihren Vater<br />
bloßzustellen.<br />
45
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
- Doch der bleibt oft unangefochten und kann zu Hause in der Sicherheit der<br />
Familie verbleiben.<br />
- Das Kind ist weiterhin fremduntergebracht, ohne Hoffnung nach Hause<br />
zurückkehren zu können.<br />
Es scheint, als ob das Kind die Verantwortung sowohl dafür die Familie aufrecht zu<br />
erhalten, als auch sie zu zerstören trägt. Die Rollenumkehr bleibt bestehen mit der<br />
„schlechten“ Wahl, die Wahrheit zu sagen, oder der „guten“, zu kapitulieren und um der<br />
Familie willen wieder eine Lüge einzusetzen.<br />
Wenn dem Kind nicht eine besondere Unterstützung zuteil wird und eine unmittelbare<br />
Intervention den Vater zur Verantwortung zwingt, wird das Mädchen dem „normalen“<br />
Weg folgen und die Klage widerrufen (Geschichte erfunden).<br />
Wir alle hier in diesem Raum haben mit diesem Hintergrund von Kindern und somit mit<br />
den Auswirkungen der traumatischen Erfahrung zu tun. (Angst vor Verrat, Angst vor<br />
Hilflosigkeit, Angst vor Ausgeliefertsein, Angst davor, unglaubwürdig zu sein) Nach innen<br />
sind Kinder/Jugendliche meist sehr verunsichert, nach außen manchmal überraschend<br />
„normal“, aggressiv, cool oder sehr zurückgezogen – wie auch immer.<br />
Ich sage deswegen überraschend „normal“, weil wir in unserer Vorstellung oftmals ein<br />
bestimmtes Bild haben, wie sich sexuell missbrauchte Kinder verhalten, sein oder<br />
aussehen müssten. Doch sie entsprechen vielfach nicht unseren Erwartungen. Nur mit<br />
dem Hintergrund von Wissen über Trauma und der Dynamik von intrafamiliärem<br />
Missbrauch können die Verschiedenheit von Kindern und ihre Reaktionsweisen<br />
verstanden werden.<br />
Im Zuge jahrelanger Erfahrungen haben ExpertInnen erkannt, dass es im Interesse einer<br />
bestmöglichen Kinderschonung oder Kinderschutzes gilt, die Gefahr einer<br />
Sekundärschädigung zu reduzieren. Die folgenden Punkte stehen jetzt noch<br />
exemplarisch für Bedingungen die anzustreben und durch Kooperation zwischen den<br />
Berufsgruppen zu realisieren wären:<br />
Überstürzte Reaktionen sind zu vermeiden<br />
46
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Wird der Verdacht auf sexuellen Missbrauch geäußert, ist es angezeigt gegen das<br />
emotionale Empfinden des schnellen Reagierens zu handeln. Die Maxime „Wer schnell<br />
handelt, hilft doppelt“ gilt hier eher im umgekehrten Sinn: ExpertInnen wissen, dass sie in<br />
den Fällen von sexuellem Missbrauch planvoll und koordiniert handeln müssen.<br />
Es ist sinnvoller, durch gründliche Vorbereitung den sexuellen Missbrauch<br />
nachhaltig zu beenden, als vorschnell einzugreifen.<br />
Denn durch vorschnelles Eingreifen kann eine Lawine von Erhebungen und Befragungen<br />
losgetreten werden, die Kinder nicht verkraften können und deren Folgen sie bedrohen.<br />
Der Effekt ist, dass die Kinder verstummen und die Aussage bei der Polizei oder vor<br />
Gericht verweigern.<br />
Akzeptanz der verschiedenen Aufträge<br />
Unterschiedliche Systeme, Aufgaben und Aufträge prallen aufeinander. Am deutlichsten<br />
wird das in der Arbeit der Prozessbegleitung. Im Interesse der Kinderschonung müssen<br />
die Vorteile und Nachteile eines Gerichtsverfahrens, der Gewinn und die möglichen<br />
Schäden für das Opfer abgewogen und die Betroffenen mit der Dynamik eines<br />
Strafprozesses vertraut gemacht und darauf vorbereitet werden. Welche Vorgangsweise<br />
im Sinne der Kinderschonung angezeigt ist, lässt sich nicht generell beurteilen, sondern<br />
muss im einzelnen Fall im Austausch mit dem betroffenen Kind und dessen<br />
Bezugssystem entschieden werden.<br />
Die Prozessbegleitung bewegt sich innerhalb des Spannungsverhältnisses von<br />
Kinderschutz und Strafverfolgung, zwischen Institutionen mit unterschiedlichen<br />
Organisationsstrukturen und Wertesystemen. Da sich jede Intervention einer AkteurIn<br />
einer Institution auch auf die anderen auswirkt, können bei unabgesprochenen<br />
Interventionen kontraproduktive Effekte auftreten. So haben Mehrfacheinvernahmen nicht<br />
nur die Belastung der ZeugInnen zur Folge, sondern verändern auch direkt die Aussage,<br />
indem sie das Kind verunsichern.<br />
Prozessbegleitung im Spannungsfeld zwischen Kinderschutz und<br />
Strafverfolgung<br />
47
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Die Prozessbegleitung muss im Spannungsfeld zwischen Kinderschutz und<br />
Strafverfolgung arbeiten. Das heißt, ProzessbegleiterInnen, die in Institutionen oder<br />
Vereinen mit dem Hintergrund von Kinderschutz arbeiten, müssen sich aus diesem<br />
Rahmen herausbegeben und sich dem Arbeitsalltag der Strafverfolgung annähern. Der<br />
Bereich der Justiz muss, um Retraumatisierungen reduzieren zu können, bei Kindern und<br />
Jugendlichen neue Maßstäbe im Prozedere setzen. Es sollte eine Abkehr vom bloßen<br />
täterzentrierten Verfahren entwickelt werden, hin zu einer mehr am Opfer orientierten<br />
Vorgangsweise, die auch die aktive Rolle des „Opferzeugen“ als Partei im Strafverfahren<br />
(vertreten durch RechtsanwältInnen) mit entsprechend kindgerechten Bedingungen<br />
vorsieht. Weder Kinderschutz noch Strafverfolgung lassen sich stringent verfolgen. Hier<br />
muss ein Mittelweg gesucht und gefunden werden. Das Ziel der Arbeit in einer<br />
Prozessbegleitung kann wie folgt formuliert werden:<br />
Die Reduktion von Retraumatisierung als oberstes Ziel, operationalisierbar durch<br />
Kinderschonung bei der Justiz (fallspezifische, unmittelbare Prozessbegleitung), sowie<br />
Akzeptanz von Kinderschonung auf Seiten der Justiz durch die fallübergreifende<br />
Kooperation.<br />
Auftrag:<br />
Kinderschutz<br />
- Jugendwohlfahrt<br />
- div. Beratungsstellen<br />
→ Auftrag: ←<br />
→ Kinderschonung ←<br />
→ Prozessbegleitung: ←<br />
- psychosoziale<br />
ProzessbegleiterInnen<br />
- AnwältInnen<br />
Möglichst wenig Befragungen der betroffenen Kinder<br />
Auftrag:<br />
Strafverfolgung<br />
Kriminalpolizei<br />
- Staatsanwaltschaft<br />
- RichterInnen<br />
Die Erfahrungen aus der Beratungsstellenarbeit sind, dass jede Berufsgruppe den<br />
Wunsch hat, selbst hören zu wollen, was passiert ist. Dadurch entsteht die Gefahr, dass<br />
Kinder sich zum Objekt gemacht fühlen. Die Konsequenz ist oftmals, dass Kinder sich<br />
nicht ernst genommen und gequält fühlen und in folge immer weniger erzählen. Die<br />
48
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Maxime ist: „So wenige Befragungen der Kinder wie möglich und so viele wie<br />
notwendig“<br />
Kooperation<br />
Netzwerke bauen auf gegenseitiger Unterstützung, Interdependenz und Vertrauen auf,<br />
auch wenn Machtunterschiede bestehen können. Für die längerfristige Perspektive sind<br />
daher die Verankerung von Verantwortung und Kontrolle sowie Transparenz wichtig.<br />
Jede Berufsgruppe hat ganz spezifische Schwächen, die durch Kooperation<br />
ausgeglichen werden können. So kann zum Beispiel die Angst, die Kinder vor der Polizei<br />
haben, durch die ProzessbegleiterIn gemindert werden, wodurch wiederum für die<br />
Exekutive die Einvernahme erleichtert wird.<br />
Durch Kooperationen entstehen Synergieeffekte, das heißt, das Gesamte ist mehr als die<br />
Summe seiner einzelnen Teile. Unterschiedlicher Wissens- und Informationsstand<br />
ergänzen sich und verschiedenartige Fähigkeiten und Erfahrungen verbinden sich, was<br />
nicht nur zu Wissenstransfer und -austausch, sondern zu gegenseitiger Anregung und<br />
Weiterentwicklung führt. Der durch Kontakte und Kooperation erfolgte Know-how-<br />
Austausch führt zu einer Wissenserweiterung und verstärkt die eigene sowie die<br />
gemeinsame Wissensproduktion.<br />
„Kooperation kann gelingen, wenn diejenigen, die sich zum Vorteil einer bestimmten<br />
Zielgruppe und mit dem Ziel der Veränderung und Verbesserung ihrer Arbeitsweise<br />
vernetzen sollen, selbst etwas davon haben, wenn die Kooperation für sie nützlich ist.“<br />
(KAVEMANN 2001, S. 80).<br />
Kavemann weist darauf hin, dass Kooperationen nicht nur Vorteile bringen, sondern auch<br />
Risikobereitschaft, Offenheit und Zugeständnisse verlangen, und daher die Risiken<br />
erträglich gemacht werden müssen (KAVEMANN 2001, S.80). Für niemanden und keine<br />
Institution ist es leicht, Mängel oder Fehler zuzugeben. Dieses Risiko einzugehen muss<br />
sich lohnen, wobei die Gewinne individuell unterschiedlich sein können, wie z.B.<br />
Lernprozesse, Arbeitserleichterung, soziale Kontakte, Sicherheit oder Anerkennung,<br />
Aufheben der Isoliertheit oder Bewältigung der eigenen Hilflosigkeit.<br />
49
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Ermutigungen<br />
50
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Neun sichere Faktoren für das Gelingen einer Kooperation<br />
1. Kooperation braucht Struktur. Die Abläufe der Verfahren müssen klar sein.<br />
2. Risiken gehören zum Geschäft<br />
Nicht die Vermeidung aller Risiken, sondern das Beherrschen der erkennbaren<br />
Risiken ist die Kunst.<br />
3. Erfolg und Misserfolg von Kooperationen hängen auch von der Chemie zwischen den<br />
Menschen ab.<br />
4. Alle kooperierenden Stellen müssen Vorteile erkennen können.<br />
5. Die Entscheidungsmechanismen müssen klar und transparent sein.<br />
6. Die Macht muss gleichmäßig oder zumindest in gegenseitigem Respekt verteilt sein.<br />
7. Die Angebote der Partner müssen sich ergänzen oder verstärken.<br />
Herrscht direkter Wettbewerb, ist die Kooperation gefährdet.<br />
Bestehen kaum Übereinstimmungen, ist ebenfalls die Grundlage der Kooperation<br />
in Gefahr.<br />
8. Die Images der Partner am gemeinsamen Markt müssen zusammenpassen.<br />
9. Die Kooperation muss zumindest die Chance bieten, dass Synergien erzeugt werden.<br />
Zehn sichere Ratschläge für das Scheitern von Kooperationen<br />
1. Lassen sie alles offen; die Zeit wird schon Klärung bringen.<br />
2. Sichern sie nur alle denkbaren Erwägungen durch ein großes Vertragswerk ab.<br />
3. Lassen sie die Partner nur ja nicht in ihre Karten blicken.<br />
4. Behalten sie ihre wahren Motive für sich.<br />
5. Wenn der Vertrag einmal abgeschlossen ist, vergessen sie ihn!<br />
6. Machen Sie keinen Hehl daraus, dass ihnen die Kooperation nicht viel bedeutet!<br />
7. Sorgen sie für Unterschiede zwischen ihren MitarbeiterInnen und den<br />
MitarbeiterInnen der Partner.<br />
8. Lassen Sie sich ruhig Zeit bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen.<br />
9. Lassen sie durchblicken, dass Sie auch ohne die Kooperation gut zurecht kämen.<br />
10. Sorgen Sie mit allen Mitteln dafür, dass die Vorteile der Kooperation auf ihr Konto<br />
kommen.<br />
Literatur: Dipl.Bw. Martin Beck, Österreichisches Controller Institut 1998<br />
Sabine Rupp ist Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin. Sie leitet das Modellprojekt<br />
„Psychologische und juristische Prozessbegleitung bei sexuellem Missbrauch an<br />
51
Vortrag Sabine Rupp „Sekundäre Traumatisierung durch Behördenprozesse“<br />
Mädchen, Buben und Jugendlichen“, Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen<br />
und junge Frauen.<br />
Literatur:<br />
Freud, Anna 1984, Das Ich und die Abwehrmechanismen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt<br />
am Main<br />
Lewis Herman, Judith 1994, Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und<br />
überwinden, Kindler, München<br />
Lercher, Lisa /Kavemann, Barbara /Wohlatz, Sonja /Rupp, Sabine 2000, Psychologische und<br />
juristische Prozessbegleitung bei sexuellem Missbrauch an Mädchen, Buben und Jugendlichen,<br />
Wien<br />
Rahm, Dorothea /Otte, Hilka /Bosse, Susanne /Ruhe-Hollenbach, Hannelore 2. Aufl. 1993,<br />
Einführung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis, Jungfermann Verlag, Paderborn<br />
Reemtsma, Jan Philipp 1997, Im Keller, Hamburger Edition, Hamburg<br />
Rupp, Sabine /Wohlatz, Sonja (Projektteam) /Löw, Sylvia (Mitarbeiterin) /Brodil, Lieselotte /Reiter,<br />
Andrea (Begleitforschung) 2002, Prozessbegleitung von Kindern und Jugendlichen als Opfer von<br />
sexueller/körperlicher Gewalt, Hg. BMSG, BMI, Wien<br />
Sachsse, Ulrich 3. überarb. Aufl. 1996, Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik -<br />
Psychotherapie. Das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung, Vandenhoeck & Ruprecht,<br />
Göttingen,<br />
Sachsse, Ulrich /Venzlaff, Ulrich /Dulz, Birger 1997, 100 Jahre Traumaätiologie, in: Kernberg, Otto<br />
F./Dulz, Birger/Hoffmann, Sven Olaf/Sachsse, Ulrich/Zaudig, Michael (Hrsg.), PTT<br />
Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie, Heft 1, Schattauer, Stuttgart<br />
Kavemann, Barbara /Leopold, Beate /Schirrmacher, Gesa 2001, Modelle der Kooperation gegen<br />
häusliche Gewalt: „wir sind ein Kooperationsmodell, kein Konfrontationsmodell“, Hg.<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Stuttgart, Berlin, Köln<br />
52
Die Traumatisierung der HelferInnen - Diagnose und<br />
Prävention<br />
Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Jürg Haefliger<br />
Mit Dias, die verschiedene Helfergruppen im Katastropheneinsatz zeigen, eröffnet der<br />
Schweizer Psychiater Dr. Jürg Haefliger sein Referat. Die Beispiele Luxor, Bali, 9/11<br />
dienen Haefliger zur Untermauerung seiner These: „Menschen, die sich mit<br />
traumatisierten Menschen beschäftigen, leben gefährlich.“ Gefährlich deshalb, weil sie<br />
sich ständig am Rande der eigenen Belastbarkeit bewegen. Die Traumatisierungen der<br />
anderen „lassen einen mit der Zeit nicht unberührt, das hinterlässt Spuren.“<br />
Jürg Haefliger unterscheidet drei Helfergruppen:<br />
• Profis<br />
• Care-Teams (meist ausgebildete Laien)<br />
• Zufällige Helferinnen<br />
Während Profis, wie ÄrztInnen, Feuerwehrleute, SanitäterInnen „ihre Risiken<br />
berufshalber eingehen, sind sich die Laien oft nicht bewusst, dass sie einen Schaden<br />
davontragen können.“ Helfende werden nicht selten selbst zu Traumatisierten. Die Folge:<br />
Belastbarkeitsgrenzen sinken, es zeigen sich psychische und körperliche Symptome.<br />
Was traumatisiert den/die Helfenden?<br />
• Hilflosigkeit<br />
• Diskrepanz zwischen Möglichkeiten und Bedürfnissen<br />
• Vorwürfe von außen<br />
Kumulatives Trauma. Für Jürg Haefliger ist ein Trauma „eine Verletzung der Seele“.<br />
Auch wenn diese Verletzung „quasi ausgeheilt ist, sie senkt die Verletzungsschwelle“.<br />
Das Sinken der Vulnerabilitätsschwelle ist laut Haefliger „ein ganz entscheidender Faktor<br />
für HelferInnen“. Denn professionelle HelferInnen würden im Laufe ihres Berufslebens<br />
zahlreichen belastenden Ereignissen ausgesetzt, dazu kämen situative und biografische<br />
Faktoren „Traumatisierungen können nicht immunisieren. Wir wissen beispielsweise,<br />
dass Soldaten, die wiederholt Kriegen ausgesetzt sind, viel anfälliger sind, als Soldaten,<br />
die erstmals mit dem Krieg konfrontiert werden.“<br />
53
Symptome nach Traumatisierungen:<br />
• Symptome des Denkens<br />
• Emotionale Symptome<br />
• Körpersymptome<br />
• Verhaltensänderungen<br />
Stressmanagement sei notwendig, und zwar mit klarer Aufgabenteilung zwischen<br />
Führung und Einzelnen. Der Grundsatz „Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter“<br />
müsse endgültig aus dem Denken, vor allem auch der Führungskräfte, verschwinden.<br />
„Jeder muss wissen, dass es seelische Verletzungen geben kann. Auch die<br />
Vorgesetzten. MitarbeiterInnen müssen informiert darüber informiert werden, was<br />
geschehen und wie man sich schützen kann“.<br />
Information bezeichnet Jürg Haefliger als „hoch präventiven Faktor“. Weitere Faktoren<br />
seien Anerkennung und Wertschätzung.<br />
1. Stressmanagement im Helferbetrieb<br />
• Führungsaufgaben<br />
• Aufgaben des/der Einzelnen<br />
• Wissen<br />
• Belastung limitieren durch<br />
• kurze Einsatzzeiten und Pausen<br />
• Aufgabenteilung<br />
• Selbstüberschätzung erkennen<br />
• Reframing (Stress als Chance, Herausforderung)<br />
• Spannung reduzieren<br />
• Atemübungen<br />
• Grounding<br />
• Autogenes Training, Meditation<br />
• Belastende Gedanken oder Erinnerungen teilen (Defusing)<br />
• Körperliche Aktivitäten/Freizeit/Beziehungen pflegen<br />
Während Haefliger das „Defusing“, das Entschärfen einer Situation durch das Gespräch<br />
über Geschehenes im Kollegenkreis oder daheim, befürwortet, sieht er das „Debriefing“<br />
(Gespräch in der geleiteten Gruppe) kritisch: „Ich bin der Meinung, dass komplexe<br />
54
Abläufe in der Regel einfache Interventionsstrategien erfordern. Viele brauchen gar kein<br />
Debriefing, weil die Selbstheilungskräfte und Körpermechanismen ausreichen.<br />
Verdrängung kann auch etwas Sinnvolles sein. Man sollte die Dinge sich entwickeln<br />
lassen.<br />
Debriefing ist für Haefliger „eine mögliche Interventionsform“, zwingende Voraussetzung<br />
sein “ein übergeordnetes Konzept“. Es gebe Indikationen und Kontraindikationen, es<br />
dürfe nicht einfach debrieft werden, „man muss zuerst abklären, ob es die sinnvollste<br />
Form ist. Zur Abklärung ist ein Assessment notwendig und dazu gehört sehr viel Know-<br />
how.“<br />
Dr. med. Jürg Haefliger ist Spezialarzt für Psychiatrie und Psychiatrie FMH, Ärztlicher<br />
Leiter des Instituts für Psychotraumatologie Zürich<br />
55
Diskussion Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Wer schützt, wer hilft den Helfenden?<br />
Dr. Haefligers kritische Ausführungen zur Laienarbeit und Gefährdung der Laien<br />
erforderten Präzisierung:<br />
Dr. Jürg Haefliger: Ich habe meine Hochachtung für die Laienhelfer, aber<br />
meine Vorbehalte gehen dahin, dass es häufig an Konzepten und fundierter<br />
Ausbildung fehlt. Ich halte es auch für sehr problematisch, dass Feuerwehrleute<br />
die Feuerwehrmänner debriefen. Ich denke, die Auseinandersetzung mit dem<br />
Trauma ist etwas so Delikates, dass man auch sehr vorsichtig sein muss. Meine<br />
Voraussetzung wäre eben vor der Intervention ein sehr sauberes Assessment zu<br />
machen und das überfordert in der Regel die Laien. Mein Anliegen ist zu<br />
differenzieren, bevor man interveniert.<br />
Tanja Breuß, Leiterin der IfS-FrauennotWohnung: „Gibt es einen<br />
Unterschied zwischen professionellen Teams und Laienhelferinnen im<br />
Frauenhaus?“<br />
Dr. Jürg Haefliger: „Alle Mitarbeiterinnen eines Frauenhauses sind hohen<br />
Belastungen ausgesetzt. Chronisch anhaltende, gedrückte Stimmung kann<br />
zudem zu Gewöhnung, ja sogar Bagatellisierung führen. Eine weitere Gefahr: Die<br />
destruktive Stimmung von Betroffenen kann sich auf das ganze Team auswirken,<br />
das sich dann zerfleischt. Hier ist das Wichtigste, Dynamiken früh genug zu<br />
erkennen und auch den Laienhelferinnen Supervision und Gesprächsmöglichkeit<br />
zu bieten.“<br />
Dr. Albin Dearing: „ Arbeitgeber sollten gesetzlich verpflichtet werden, etwas<br />
für die Psyche der Mitarbeiter zu tun. Es fehlen Verpflichtungen zur Supervision.<br />
Es sollt nicht eine Frage der gegenwärtigen Situation sein, ob es Supervisionen<br />
gibt, es sollte zur Normalität werden. Das ist die eine Sache, was ich auch<br />
mitnehme als eine Frage, ist, wie wir uns der Zeitigkeit, der Überwindung des<br />
Umgangs mit dem Trauma und seinen Folgen anpassen. Wir können<br />
56
Diskussion Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Interventionsprozesse nicht werten, wenn wir dabei nicht der Zeitigkeit folgen, die<br />
uns vom Opfer her vorgegeben ist. Denn wir können ja offenbar lernen, dass<br />
manche Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt für das Opfer schädlich, aber zu<br />
einem anderen Zeitpunkt hilfreich sein können. Immer wieder war die Rede<br />
davon, wie wichtig es für das Opfer ist, zu sprechen; zugleich kann es aber<br />
traumatisierend sein, wenn man das dem Opfer zu früh abverlangt. Es ist<br />
schwierig, aber Verfahren sollten so flexibel gestaltet werden, dass wir der<br />
Zeitigkeit, die uns vom Opfer her vorgegeben ist, folgen können.<br />
57
Resümee Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Resümee<br />
Interdisziplinäre Zusammenarbeit verbessert den <strong>Opferschutz</strong><br />
Nachhaltiger <strong>Opferschutz</strong> geschieht dort, wo die Würde der betroffenen Menschen<br />
Maßstab für das Handeln ist. Den Bedürfnissen der – meist schwer traumatisierten –<br />
Menschen gerecht zu werden, erfordert neben fundiertem Fachwissen auch Sensibilität,<br />
Geduld und Engagement. Diese Herausforderung lässt sich nur in Kooperation der<br />
verschiedenen Disziplinen bewältigen. In der <strong>Opferschutz</strong>-Arbeit treffen sich Sozialarbeit,<br />
Exekutive und Justiz – Bereiche, die unterschiedlicher nicht sein könnten.<br />
Der Alltag zeigt uns immer wieder, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit viel<br />
gegenseitiges Verständnis und große Kommunikationsfähigkeit erfordert. Für<br />
grundsätzlichen Austausch bleibt im aktuellen beruflichen Geschehen oft wenig Platz und<br />
Zeit. So wollten wir mit unserer ersten <strong>Opferschutz</strong> Fachtagung einen Anfang zur<br />
gemeinsamen Weiterbildung setzen.<br />
Das überraschend große Interesse aus den verschiedenen Berufsgruppen hat uns<br />
gezeigt, dass wir mit der Kombination aus Informations- und Vernetzungsveranstaltung<br />
dem Bedürfnis nach Austausch entsprochen haben. Nirgends lassen sich die jeweiligen<br />
Erfahrungen - ob als Richter, Gendarm, Sozialarbeiterin oder Psychologin - besser<br />
ergänzen als im direkten Gespräch.<br />
Unser Ziel ist es, eine weitere Traumatisierung von Gewaltopfern durch schonenden<br />
Umgang in allen Verfahrensabschnitten zu verhindern. Denn wir sind davon überzeugt,<br />
dass <strong>Opferschutz</strong> ein wesentlicher Beitrag zur Verhinderung von weiteren Gewalttaten<br />
ist. Nachhaltiger <strong>Opferschutz</strong> braucht aber auch entsprechende rechtliche und politische<br />
Rahmenbedingungen. Eine Optimierung dieser Bedingungen lässt sich nur in<br />
Kooperation erreichen.<br />
Die beiden Rechtsexperten Dr. Dearing und Magistra Smutny haben die verschiedenen<br />
Welten – hier Strafjustiz, da Opfer und Betreuende – präzise dargestellt und die<br />
Notwendigkeiten eines Paradigmenwechsels aufgezeigt. Wir sind uns bewusst, dass<br />
58
Resümee Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
dieser Veränderungsprozess Zeit braucht. Wir wissen aber auch, dass im Sinne der<br />
betroffenen Opfer und ihrer Betreuenden Verbesserungen rasch geschaffen werden<br />
müssen. Sparmaßnahmen, die zu Personalknappheit in Justiz und Exekutive führen,<br />
hätten für den <strong>Opferschutz</strong> fatale Folgen. Wir hoffen mit dieser Tagung einen Beitrag zum<br />
besseren Verständnis unserer gemeinsamen Arbeit geleistet zu haben – im Sinne der<br />
betroffenen Menschen und aller, die sie auf ihrem schweren Weg unterstützen.<br />
IfS-Fachgruppe <strong>Opferschutz</strong>:<br />
Tanja Breuß<br />
Elisabeth Kiesenebner-Bauer<br />
Ruth Rüdisser<br />
Angelika Würbel<br />
59
Impressum Fachtagung <strong>Opferschutz</strong> am 30. September 2003<br />
Impressum:<br />
IfS-Fachgruppe <strong>Opferschutz</strong><br />
IfS-Beratungsstelle<br />
St. Anna-Str. 2<br />
6900 Bregenz<br />
Telefon: 0043 (0)5574/42890<br />
E-Mail: ifs.bregenz@ifs.at<br />
www.ifs.at<br />
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