aa M ZN G i - St. Peter-Ording
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[ Leute]<br />
Der Platz vor dem Empfangstresen ist in Aufruhr.<br />
Mittags um 12 schlägt für die jungen Seminaristen die<br />
Abschiedsstunde. Überschwänglich, verlegen, mit dem<br />
Herzen noch hier, mit dem Sinn schon auf dem Heimweg<br />
überziehen sie das Foyer mit vielstimmiger Aufgeregtheit.<br />
Komm gut über den Tag. Küsschen rechts, links,<br />
rechts. Meld’ dich mal. Umarmung. Hast du deine Rechnung<br />
schon? Lass uns noch eine rauchen. Das lärmende<br />
Gedrängel kämpft vergeblich gegen die leise keimende<br />
Wehmut.<br />
Hinter dem Tresen puffert sanfte, planvolle Übersicht die<br />
nervöse Abschiedsstimmung. Margot Tanner hat schon weitaus<br />
größeres Wirrwarr entspannt und geordnet. Psychologie und<br />
Neurowissenschaften hat sie studiert, schon vor Jahren in der<br />
Schweiz ihren Doktortitel erworben, Karrierestufen an der Universität<br />
und in der Privatwirtschaft erklommen…<br />
An diesem Mittag um 12 druckt Margot Tanner in der Rezeption<br />
eines Hotels in <strong>St</strong>. <strong>Peter</strong>-<strong>Ording</strong> Zahlungsbelege aus, entlässt<br />
jeden der jungen Gäste mit dem sicheren Gefühl,er sei der<br />
netteste Mensch auf Erden, organisiert hier noch einen Kaffee,<br />
bedient da das hyperaktive Telefon. Eine hoch qualifizierte<br />
Akademikerin aus Zürich versieht einen Saison-Job an der<br />
Nordsee: wie passt das zusammen?<br />
Äußerlich betrachtet hat Siegfried Lenz den zeitweiligen<br />
beruflichen Ausnahmezustand der Schweizer Wissenschaftlerin<br />
verursacht. Denn als die junge Margot Tanner seinerzeit in<br />
Zürich die Abiturklasse besuchte, kam sie auch in den Genuss<br />
einer verbreiteten pädagogischen Vorliebe: der Deutschlehrer<br />
verordnete die Auseinandersetzung mit Siegfried Lenz. Im<br />
betreffenden Fall war das erfolgreichste und üppigste Werk des<br />
viel geehrten Schriftstellers zu bearbeiten, der zeitkritische<br />
Roman „Deutschstunde“. Die Abiturientin liebte die gewandte<br />
Sprache, den bildhaften <strong>St</strong>il, die fesselnden Naturbeschreibungen.Schließlich<br />
ist die tiefsinnige Geschichte um Moral und<br />
Scheinmoral in einer Gegend angesiedelt, in der Wind und Wet-<br />
34<br />
„Ich habe mir<br />
einen Traum<br />
erfüllt“<br />
Dr. Margot Tanner –<br />
eine Akademikerin<br />
jobbt in der<br />
Hotelrezeption<br />
ter der Landschaft grandiose Gemälde aufzuprägen verstehen.<br />
Die „Deutschstunde“ ist, unter anderem, eine Liebeserklärung<br />
an die überragende Selbstdarstellerin namens Nordsee. Dieser<br />
Liebeserklärung ist auch Margot Tanner gründlich erlegen.<br />
„Ich habe mir einen Traum erfüllt“, sagt sie viele Jahre später,<br />
als sie es endlich eingerichtet hat, die Schauplätze der<br />
„Deutschstunde“ selbst in Augenschein zu nehmen.Der äußere,<br />
literarische Anstoß brauchte offensichtlich die passende innere<br />
Verfassung, um die Schweizerin tatsächlich an die deutsche<br />
Nordsee zu dirigieren: Margot Tanner hatte ihren Jugendtraum<br />
nicht einer verschwommenen Beliebigkeit überlassen. Sie hatte<br />
ihn vielmehr frisch und lebendig durch diverse biografische<br />
Kapitel gerettet und – als sie den Zeitpunkt für gekommen hielt<br />
– mit einer Entschiedenheit verwirklicht, die dem Schwung<br />
eines Nordseesturmes durchaus ebenbürtig war.<br />
Margot Tanner kappte die gesicherte berufliche Existenz als<br />
Mitglied in der Geschäftsleitung der Swiss Aviation Training<br />
Ltd., wo sie als promovierte Psychologin für die Qualitätssicherung<br />
und diverse Unternehmensprojekte verantwortlich war.<br />
Sie überzeugte ihren Lebenspartner von der Notwendigkeit<br />
einer dreimonatigen Trennung und fand in <strong>St</strong>. <strong>Peter</strong>-<strong>Ording</strong> eine<br />
Beschäftigung in der Rezeption eines örtlichen<br />
Hotels. „Es war eine ungewöhnliche Entscheidung“,<br />
sagt sie ohne den geringsten Zweifel<br />
am Sinn des Selbstversuches. Zur Jahreswende<br />
hatte sie Rückblick gehalten und war dabei auf<br />
ein Urbedürfnis des heutigen, vielfach beanspruchten<br />
Menschen gestoßen: „Ich wollte<br />
einmal loslassen. Denn erst wenn man loslässt,<br />
hat man die Hände wieder frei.“<br />
Eine lange Wegstrecke in alle nur denkbaren<br />
Himmelsrichtungen hatte sie zu diesem<br />
Zeitpunkt schon zurückgelegt.Auslandsaufenthalte<br />
in Amerika, Europa und Asien. <strong>St</strong>udium der Biologisch-<br />
Mathematischen Psychologie und Neurowissenschaften in der<br />
Schweiz. Lehre und Forschung an der Universität Zürich. Vor<br />
sechs Jahren schließlich der Wechsel aus dem „Elfenbeinturm<br />
der Universität“ in die Privatwirtschaft; da war sie in der Luftfahrtbranche<br />
in verschiedensten Aufgabenbereichen verantwortlich<br />
tätig.<br />
Die „Deutschstunde“ ist, unter anderem, eine Liebeserklärung<br />
an die überragende Selbstdarstellerin namens Nordsee.