gesamt 12 - Evolutionsfehler.de
gesamt 12 - Evolutionsfehler.de
gesamt 12 - Evolutionsfehler.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Robert Leicht<br />
Was heißt heute noch liberal?<br />
Wozu brauchen wir noch die Liberalen? Die FDP ist<br />
seit geraumer Zeit personell und programmatisch im<br />
Nie<strong>de</strong>rgang. Wo wäre heutzutage ein Karl-Hermann<br />
Flach zu fin<strong>de</strong>n, einer, <strong>de</strong>r ein Dokument vom Range<br />
<strong>de</strong>r „Freiburger Thesen“ aus <strong>de</strong>m Jahr 1971<br />
formulieren könnte - o<strong>de</strong>r auch nur wollte? Zur gleichen<br />
Zeit allerdings heißt es, im Grun<strong>de</strong> seien inzwischen<br />
alle Parteien irgendwie liberal. Der Liberalismus<br />
- alles o<strong>de</strong>r nichts?<br />
Welches Paradox! Da en<strong>de</strong>t das 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
mit einem Sieg <strong>de</strong>r Demokratie - und zugleich im<br />
Katzenjammer. Europa befreite sich zum glücklichen<br />
Abschluss <strong>de</strong>s Säkulums auch von <strong>de</strong>r zweiten <strong>de</strong>r<br />
Geißeln, die so grässliches Leid über seine Völker<br />
gebracht hatte. im Jahr 1989 brachen nach <strong>de</strong>n<br />
rechten Diktaturen - von Hitler über Mussolini, von<br />
Salazar über Franco und die griechischen Obristen -<br />
endlich auch die kommunistischen Regime im Osten<br />
Europas zusammen. Nicht die nach innen machtgepanzerte,<br />
son<strong>de</strong>rn die offene Gesellschaft überlebte<br />
<strong>de</strong>n Kalten Krieg. Aber wozu so viele mör<strong>de</strong>rische<br />
Umwege zur Einsicht, die schon am Anfang hätte<br />
stehen können: dass nur in einer pluralistischen, in<br />
einer liberalen Gesellschaft die Probleme <strong>de</strong>r Neuzeit<br />
friedlich zum Ausgleich zu bringen sind?<br />
Und ausgerechnet in dieser Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Liberalismus<br />
weiß niemand mehr, will niemand mehr wissen,<br />
was das eigentlich ist: liberal? Joachim Fest<br />
notiert in seinem Buch „Die schwierige Freiheit“<br />
sarkastisch: „Jetzt bringt <strong>de</strong>r ohne eigenes Zutun<br />
errungene Erfolg <strong>de</strong>r freien Ordnung <strong>de</strong>ren innere<br />
Schwächen und Gefährdungen zurück.“ Und er<br />
zitiert <strong>de</strong>n konservativ-sozial<strong>de</strong>mokratischen Verfassungsrichter<br />
Ernst-Wolfgang Böckenför<strong>de</strong>: Die freien<br />
Gesellschaften seien außerstan<strong>de</strong>, die Voraussetzungen<br />
ihrer Existenz zu gewährleisten; sie bauten<br />
unablässig ab.<br />
Die Kritik an seiner angeblichen Leere hat <strong>de</strong>n<br />
Liberalismus freilich seit jeher begleitet – von rechts<br />
wie von links, als gäbe es ein unausrottbares Bedürfnis<br />
vieler Menschen, lieber am Leitseil zu gehen.<br />
Dazu mag ihnen eine traditionalistische Autorität,<br />
eine fraglose Konvention o<strong>de</strong>r eine ins Hier und<br />
Jetzt eingeholte Utopie dienen. Bereits im Symboljahr<br />
1968 erschien aus linker Perspektive das Buch<br />
„The Poverty of Liberalism“ <strong>de</strong>s Amerikaners Robert<br />
Paul Wolff: Das Elend <strong>de</strong>s Liberalismus: es bot eine<br />
fulminante Polemik gegen <strong>de</strong>n „psychologischen<br />
Hedonismus“ <strong>de</strong>r liberalen Tradition, <strong>de</strong>r nur noch<br />
private Werte kenne, <strong>de</strong>m man mit „kollektiven Überlegungen“<br />
entgegentreten müsse. in Wolffs Kritik<br />
kündigte sich bereits mancher jener Gedanken an,<br />
die heute im amerikanischen Kommunitarismus eine<br />
be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />
Wenn aber Axel Honneth in seiner für die <strong>de</strong>utsche<br />
Diskussion bestimmten Präsentation <strong>de</strong>s Kommunitarismus<br />
hervorhebt, „dass ohne die Einbindung in<br />
Wertgemeinschaften auch heute die Freiheit von<br />
menschlichen Subjekten nicht sinnvoll zu <strong>de</strong>nken<br />
ist“, so liegt darin noch lange keine zutreffen<strong>de</strong> Kritik<br />
<strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Liberalismus. Auch seine These,<br />
„dass die staatliche Integration eines Gemeinwesens<br />
selbst nur in <strong>de</strong>r Ausrichtung an bestimmten,<br />
6<br />
ethischen Werten gelingen kann“, richtet sich in<br />
Wirklichkeit nicht gegen <strong>de</strong>n Liberalismus.<br />
Konservativismus, Sozialismus o<strong>de</strong>r Liberalismus<br />
unterschei<strong>de</strong>n sieh nicht etwa im Grad ihrer Orientierung<br />
am Gemeinwohl, sehr wohl aber in <strong>de</strong>r<br />
Frage, auf welche Weise das Gemeinwohl angestrebt<br />
wer<strong>de</strong>n soll: durch autoritäre o<strong>de</strong>r traditionalistische<br />
Vorgabe, durch utopisch behauptete und<br />
machtvoll oktroyierte Egalität – o<strong>de</strong>r eben durch<br />
freie und einsichtige Konsoziation <strong>de</strong>r Bürger. Der<br />
Unterschied liegt also nicht im Prinzip, son<strong>de</strong>rn im<br />
Modus <strong>de</strong>r Gesellschaftsbildung. Im übrigen: Wenn<br />
<strong>de</strong>r Liberale das Wort „Ausrichtung“ an Gemeinschaftswerten<br />
liest, fährt er doch, dunklen historischen<br />
und militärischen Ange<strong>de</strong>nkens, erschrocken<br />
zusammen...<br />
In einem historischen Sinne trifft es zu, dass<br />
Rechtsstaat und Grundrechte, Freiheit und Demokratie<br />
zum Allgemeingut gewor<strong>de</strong>n sind. Aber die<br />
aktuellen Herausfor<strong>de</strong>rungen liberaler I<strong>de</strong>en und<br />
Politik bleiben durchaus brisant. Nichts spricht dafür,<br />
dass <strong>de</strong>m Liberalismus und <strong>de</strong>r offenen Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>r Gegner und folglich <strong>de</strong>r Sinn abhan<strong>de</strong>n gekommen<br />
ist.<br />
Nationalismus in Osteuropa, nationalistische Anwandlungen<br />
selbst in Westeuropa, auch im wie<strong>de</strong>rvereinigten<br />
Deutschland — ein klarer Gegner für<br />
Liberale. Bürokratische Bevormundung, korporatistische<br />
Ten<strong>de</strong>nzen, Wucherungen im staatlichen<br />
Transferwesen, Subventionsdschungel und Überregulierung,<br />
die Vorherrschaft <strong>de</strong>r Parteienpatronage<br />
— dies alles sind gesellschaftliche und politische<br />
Versteinerungen, die je<strong>de</strong>n Liberalen auf <strong>de</strong>n Plan<br />
rufen müssen. Dasselbe gilt für die immer wie<strong>de</strong>r<br />
gegenwärtige Bereitschaft, rechts-staatliche Garantien<br />
entwe<strong>de</strong>r zur Disposition zu stellen o<strong>de</strong>r gar<br />
nicht erst zur Geltung zu bringen.<br />
In je<strong>de</strong>r sozialen o<strong>de</strong>r ökonomischen Krise regen<br />
sich eben als erstes illiberale Ten<strong>de</strong>nzen. Offenheit<br />
und Toleranz, Aufklärung und Pluralität, Rationalität<br />
und Effizienz - wer wollte im Ernst behaupten, in<br />
einer Zeit <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>nfeindlichkeit, <strong>de</strong>r Ausgrenzung<br />
und <strong>de</strong>s Fundamentalismus, <strong>de</strong>s erstarrten<br />
Denkens in Besitzstän<strong>de</strong>n sei die liberale Sache<br />
überholt, ja im Hegelschen Sinne längst aufgehoben?<br />
Was aber heißt dann liberal? Damit dies in <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Unübersichtlichkeit wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich wird,<br />
lohnt sich ein Rückgriff auf die ursprünglichen historischen<br />
Fragestellungen. Dabei ist eines vorwegzuschicken:<br />
Menschliche Gesellschaften sind viel zu<br />
komplex, als dass sie einer perfekten Konstruktion<br />
folgen könnten; folglich kann es schlechterdings<br />
auch keine perfekte Theorie <strong>de</strong>r Gesellschaft geben.<br />
Gesellschaften lassen sich außer<strong>de</strong>m nicht als abgeschlossene<br />
Systeme darstellen; folglich kann es<br />
keine systematische Theorie <strong>de</strong>r Gesellschaft geben.<br />
Gesellschaften stecken schließlich voller Wi<strong>de</strong>rsprüche;<br />
folglich muss eine angemessene Gesellschaftstheorie<br />
auch wi<strong>de</strong>rspruchsfreundlich sein<br />
und die Konkurrenz <strong>de</strong>r Deutungsmuster nach <strong>de</strong>m<br />
Gebot <strong>de</strong>r Toleranz in ihren eigenen Entwurf einbeziehen.