februar 2012 - Experimenta.de

isoliert und einsam? wie begegnest du dem zorn heute, wenn er hochkommt? was ist
konstruktiver geworden? aggression gegen sich selber ist ja auch aggression gegen einen
menschen.
selim özgür: ich fühle mich heute viel freier, und ich bin froh, dass ich ein gutes stück kindlicher
offenheit und naivität mit ins heute habe retten können. heute kommt der zorn weniger stark
auf, mehr in form von meinungsverschiedenheiten mit den familienmitgliedern, oder die nach
wie vor fehlende akzeptanz meines schwulseins (die eltern wissen es nun auch bald seit 6
jahren). ich habe aber nach wie vor schwierigkeiten, eine initiative zu ergreifen, jemand
fremden anzusprechen, oder mein leben zu leben und trotz meiner mündigkeit mich häufig
nicht traue, männer auch in persona zu treffen, aus falscher rücksicht auf die eltern.
es gibt zwei dinge, die mir dabei helfen, meine aggressionen konstruktiver zu verarbeiten,
nämlich das zeichnen von neuen plänen, und das schreiben von gedichten in mehreren
sprachen. ich habe über die jahre mehrere sprachen gelernt, die ich alle als "freunde"
bezeichne.
judith faller: verstehe ich das richtig, dass du zwar immer noch an der isolation leidest, jedoch
besser gelernt hast, damit zu leben? sie eher akzeptierst und auch die positiven seiten dabei
siehst? du sprichst ja diverse sprachen, sie wurden deine freunde, du schreibst viel, wie du
gesagt hast, zeichnest deine eigene welt. bist du glücklicher und der zorn also schwächer?
was, wenn du einen wunsch an dein leben hättest, würdest du dir wünschen?
selim özgür: ja, ich habe durch die therapie deutlich an selbstbewusstsein gewonnen, sodass
ich heute doch auch eine gute zahl an freunden und bekannten habe. ein gewisses maß an
isolation habe ich nach wie vor, aber wenn ich vom elternhaus ausziehe, wird sich dies
bestimmt auch zum guten ändern. es war ein wichtiger schritt, zu merken, dass fremde
menschen auch nur menschen sind wie ich, die auch bedürfnisse und sorgen und wünsche
haben und nicht etwa von vornherein negativ eingestellt (als wenn ich eine last für sie wäre).
ich bin glücklicher, ja. ich bin sehr froh, dass ich all die vergangenen jahre dazu habe
umwandeln können, mir werkzeuge der verarbeitung zu geben. der zorn von früher ist
schwächer, doch er besteht heute in einer anderen, aber viel schwächeren form, nämlich
gegenüber der allgemeinen weltpolitik, dadurch dass ich verstanden habe, wie die grosse
welt wirklich funktioniert und regiert wird. und somit die kindliche ansicht von frühlingszeit
nicht mehr existiert. ich würde mir wahrscheinlich wünschen, ein noch stärkeres
selbstbewusstsein/-vertrauen zu haben, damit ich lockerer und offener durch die welt gehen
kann und besser auf menschen zugehen kann. denn das, denke ich, fehlt heute, dass man
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Februar 2012