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Die schöne Seiten

Es soll Menschen geben, die ihre Wohnzimmerwände mit falschen Buchrücken schmücken. Buchrücken, die in goldenen Lettern verkünden, dass man in den Büchern, die sie angeblich zieren, etwas über Madame Bovary, einen jungenWerther oder Zauberberge erfahre. Doch hinter den entzückenden Rücken klafft nichts als eine gähnende Leere aus billigem Karton. Viele würden sich eine solche Dreistigkeit wohl nie erlauben, schrecken jedoch nicht davor zurück, Bücher ins Regal zu stellen, in denen man tatsächlich blättern kann, deren Inhalt ihnen aber weitgehend unbekannt ist. Schliesslich kann, wer etwas auf sich hält, nicht ein ganzes Möbel mit Kristalltieren und Familienfotos füllen. Und vor der Leere des Regals fürchten sich mindestens so viele Menschen wie vor der Entdeckung ihrer

Es soll Menschen geben, die ihre Wohnzimmerwände mit falschen Buchrücken schmücken. Buchrücken, die in goldenen Lettern verkünden, dass man in den Büchern, die sie angeblich zieren, etwas über Madame Bovary, einen jungenWerther oder Zauberberge erfahre. Doch hinter den entzückenden Rücken klafft nichts als eine gähnende Leere aus billigem Karton. Viele würden sich eine solche Dreistigkeit wohl nie erlauben, schrecken jedoch nicht davor zurück, Bücher ins Regal zu stellen, in denen man tatsächlich blättern kann, deren Inhalt ihnen aber weitgehend unbekannt ist. Schliesslich kann, wer etwas auf sich hält, nicht ein ganzes Möbel mit Kristalltieren und Familienfotos füllen. Und vor der Leere des Regals fürchten sich mindestens so viele Menschen wie vor der Entdeckung ihrer

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Besuch beim<br />

Steinflüsterer<br />

BerndMunsteinersucht seit densechzigerJahren<br />

nach neuenWegen,Mineralienzuschleifen.<br />

Seine Skulpturenund Schmuckstücke verzaubern<br />

Als in den sechziger Jahren in<br />

Deutschland und Frankreich<br />

Studenten das Establishment<br />

mit Steinen bewarfen, startete<br />

auch im deutschen Städtchen<br />

Pforzheim ein Student mit einem Stein in<br />

der Hand eine kleine Revolution. Bernd<br />

Munsteiner war 1962 der erste Steinschleifergeselle,<br />

der jemals ein Studium im Fach<br />

Schmuck an der renommierten Designschule<br />

im baden-württembergischen Pforzheim<br />

begonnen hatte, das bekannt ist für<br />

seine Goldschmiedearbeiten. Er stammt<br />

aus einer Steinschleiferfamilie aus Idar-<br />

Oberstein; sein Grossvater und sein Vater<br />

schliffen schon Achate. <strong>Die</strong> Gegend ist bis<br />

heute berühmt für derlei Produkte. Munsteiner<br />

aber möchte die Dinge anders machen.<br />

«Ich konnteeinfach keinen Vogel aus<br />

einem Stein schleifen, nur weil dies mein<br />

Auftrag war. Der Stein wollte kein Vogel<br />

sein, dassah ich ihm an!»<br />

InnovatIvesschleIfen<br />

Munsteiner widersetzte sich der jahrhundertelangen<br />

Tradition des Steinschliffs:<br />

Edelsteine verloren ihre individuelle Aura,<br />

als während der Renaissancedie ersten horizontalen<br />

Steinschleifmaschinen erfunden<br />

wurden –diese ermöglichten den Facettenschliff.<br />

Nun wurde jeder Stein in eine<br />

facettierte Form geschliffen, ganz egal, wie<br />

das Mineral aussah, welche Eigenheiten es<br />

hatte. Brillant, Stern und Ceylon sind bekannte<br />

Schliffe, deren Facettenanzahl und<br />

-ausrichtung genau festgelegt wurden. Der<br />

junge Steinschleifer konnte Mineralien<br />

nicht als «ein Stück Brot, von dem man<br />

Scheiben herunterschneiden kann» betrachten.<br />

<strong>Die</strong> sechziger Jahre waren die<br />

richtige Zeit für neue Ideen, seine Lehrer in<br />

Pforzheim anerkannten sein neues Denken<br />

und förderten ihn. Munsteiner suchte und<br />

fand während der nächsten Jahrzehnte<br />

ganz neue Wege, Mineralien zum Strahlen<br />

zu bringen.<br />

Zu Beginn seiner stillen Revoltearbeitete<br />

er vor allem mit Achaten, ganz in der von<br />

Idar-Oberstein geprägten Familientradi-<br />

tion. Er schliff neue Formen unter Berücksichtigung<br />

der natürlichen Zeichnung der<br />

Steine heraus, Landschaften und Menschenmengen<br />

glaubt der Betrachter zu entdecken.<br />

«Landschafts-Achate geben aber<br />

von Natur her schon sehr viel vor», so Munsteiner.Erentdecktedie<br />

Kristalle –und interessierte<br />

sich gerade für die Steine mit<br />

Einschlüssen, welche in der Industrie weniger<br />

Verwendung finden, da reine Kristalle<br />

höher imWert sind.<br />

steIne mItcharakter<br />

Bevor Munsteiner zu schleifen beginnt,<br />

wählt er jeden Stein sorgfältig aus, hält ihn<br />

gegen dasLicht, beobachtet die Einschlüsse,<br />

durchsucht das Mineral nach etwaigen<br />

Sprüngen –und arbeitet dann eine Form<br />

und einen Schliff heraus, welche mit den<br />

natürlichen Eigenschaften des Materials<br />

korrespondieren. Das kann ein Wechselspiel<br />

aus in Bergkristallen vorhandenen<br />

Rutilnadeln und künstlich hinzugefügten<br />

Einschliffen sein oder ein Spiel mit offenen<br />

Negativkristallen, deren Wirkung durch<br />

sorgfältig gesetzteEinkerbungen noch stärker<br />

hervortritt. Auch optische Täuschungen<br />

setzt er oft ein. Wenn man seine Steine<br />

bewegt, spielt das Licht mit den Formen,<br />

neue Dimensionen scheinen sich zu erschliessen.<br />

«Fantasy cut», Phantasieschliff,<br />

nennt man Techniken wie die von Munsteiner<br />

zusammenfassend. «Ich habe nie verstanden,<br />

weshalb der konventionelle Schliff<br />

all die Jahrhunderte nie in Frage gestellt<br />

wurde», sagt Munsteiner. «Der Schmuck<br />

hat sich in allen Stilepochen verändert–im<br />

Jugendstil hatteersogar eine Vorreiterrolle<br />

inne! <strong>Die</strong> Steine aber waren immer nur Beiwerk,<br />

der Schliff hat sich nie geändert.»<br />

<strong>Die</strong> Industrie zeigtesich wenig begeistert<br />

von den Skulpturen und Schmuckstücken<br />

des jungen Kristallkünstlers. «Ich stellte<br />

ihre ganze Philosophie in Frage», sagt Munsteiner.Der<br />

Wert eines Steines bemass sich<br />

nach den vier sogenannten grossen C: «cut,<br />

colour, carat, clarity», also Schliff, Farbe,<br />

Karat und Reinheit, nicht nach seinem<br />

Charakter.Und so ist es geblieben. <strong>Die</strong> ganz<br />

grosse Umwälzung kam damals nicht, und<br />

sie ist auch heute, 40 Jahre später,nicht in<br />

Sicht. Zu gross wären wohl die Veränderungen<br />

geworden und zu schwierig die Umstellung<br />

des ganzen Segmentes, zumal viele<br />

Menschen sich kein Unikat wünschen, sondern<br />

einen Diamanten im Brillantschliff,<br />

dessen Wert jeder versteht. Munsteiner ist<br />

darüber nicht mehr wütend; er strahlt die<br />

▼<br />

«Der Stein<br />

wollte kein<br />

Vogelsein,<br />

dassah ich<br />

ihman»<br />

Zufriedenheit eines Menschen aus, der sein<br />

Leben mit etwasverbringen konnte, daser<br />

gerne tut.Aber verstehen kann er die «Edelstein-Konservativen»<br />

auch nicht. «DasWissen<br />

ist da, dasKönnen ist da, aber die Kreativität,<br />

die fehlt», sagt er.<strong>Die</strong> Hoffnung auf<br />

einen Wandel hat er aber nicht aufgegeben:<br />

«<strong>Die</strong> Uhrenbranche galt in den siebziger<br />

Jahren auch als tot, aber dann kamen neue<br />

Ideen, und sie wurde wichtig wie nie zuvor.»<br />

Heute geht er auf die siebzig zu, ein<br />

freundlicher Mann mit dem gleichen Walrossschnurrbart,<br />

den er schon als Student<br />

trug. Seine Hände zeugen von Jahrzehnten<br />

harter Arbeit, auch wenn er heute aus Altersgründen<br />

nicht mehr schleift. Sein Sohn<br />

Tomhat vor 15 Jahren dasAtelier im Dorf<br />

Stipshausen nahe Idar-Oberstein übernommen.<br />

Er führt die Ideen seines Vaters fort,<br />

entwickelt sie weiter, er erschafft neue<br />

Schliffe; seine Frau Jutta, eine Goldschmiedin,<br />

setzt sie in Schmuck um. In der Schlei-<br />

Fortsetzung Seite 34<br />

«z –die <strong>schöne</strong>n seiten» ausgabe 2/13 33

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