H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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wir nochmals auf die Frage zurückkommen,<br />
wie man sich den Zusammenhang zwischen<br />
den Methoden der Datenerhebung und den<br />
substantiellen Zielen und Theorien der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
vorzustellen hat, und<br />
wir werden für Methodenpluralität plädieren.<br />
Der Begriff Verstehen im Titel bedarf der Erläuterung,<br />
denn er wird dort mit mehrfacher<br />
Bedeutung gebraucht. Zum einen bezeichnet<br />
er ein Ziel der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. Jedoch<br />
verwenden wir Verstehen nicht im<br />
Sinne eines Gegensatzes zum Beschreiben<br />
und Erklären. Vielmehr schließt das Verstehen<br />
das Beschreiben und Erklären ein, geht<br />
aber insbesondere dann darüber hinaus,<br />
wenn es um das Ziel geht, die Entwicklung<br />
der individuellen Persönlichkeit nachzuzeichnen.<br />
Und Gespräche, alltägliche Sprachäußerungen<br />
(wie etwa Erzählungen von Kindern)<br />
und Tagebücher weisen, neben weiteren Vorzügen,<br />
die besondere Qualität auf, daß sie<br />
wertvolle Informationen zum Verständnis<br />
des Einzelfalls enthalten. Zum anderen aber<br />
soll mit dem Begriff Verstehen auch zum Ausdruck<br />
gebracht werden, daß diese Methoden<br />
besonders angemessen sind, um einen bestimmten<br />
Bereich der psychischen Entwicklung<br />
des Kindes oder Jugendlichen zu erfassen:<br />
die Entwicklung des Verstehens der Welt.<br />
Piaget (1988/1926) hat dafür den Begriff des<br />
«Weltbildes» geprägt: Es geht um die Art und<br />
Weise, wie die Heranwachsenden der Welt, in<br />
der sie leben, «Sinn verleihen» und ihre Erfahrungen<br />
und Erlebnisse mit «Bedeutungen»<br />
versehen (vgl. dazu Abschnitt 2.1).<br />
2. Ein Blick in die Psychologiegeschichte:<br />
Tagebücher,<br />
spontane Sprachäußerungen<br />
(Erzählungen) und<br />
Gespräche in den Anfängen<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
2.1 Historische Beobachtungen<br />
Will man die Entstehung der wissenschaftlichen<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> auf ein einzelnes<br />
Geschehnis beziehen, so kommt dafür<br />
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />
am ehesten die Veröffentlichung des Buches<br />
«Die Seele des Kindes» durch Wilhelm Preyer<br />
im Jahre 1882 in Frage. Der Autor griff in diesem<br />
Werk vor allem auf eine Datenquelle<br />
zurück: auf akribisch geführte Tagebuchaufzeichnungen,<br />
die er von der Entwicklung seines<br />
Sohnes angelegt hatte. Die Beobachtungen<br />
begannen mit der Geburt und wurden<br />
bis zum Ende des dritten Jahres Tag für Tag<br />
fortgesetzt (s. auch Hoppe-Graff, 1989b).<br />
Preyer war von Haus aus Physiologe – deshalb<br />
räumte er den körperlichen Funktionen, insbesondere<br />
der Entwicklung der Bewegungen,<br />
breiten Raum ein. Seine Methode der Tagebuchaufzeichnung<br />
fand in den folgenden<br />
Jahren vor allem in Amerika große Verbreitung<br />
(vgl. Stern, 1967, S. 5).<br />
Während Preyers Veröffentlichung eher als<br />
historisches Datum von Interesse ist, erschien<br />
1914 eine weitere Gesamtdarstellung der Entwicklung<br />
im Kindesalter, die sowohl in theoretischer<br />
Hinsicht als auch bezüglich der<br />
Qualität der Beobachtungen für lange Zeit in<br />
der deutschsprachigen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
Maßstäbe gesetzt hat: William Sterns<br />
«Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten<br />
Lebensjahr». Bis in die fünfziger und sechziger<br />
Jahre ist dieses Werk aus gutem Grund<br />
als <strong>Lehrbuch</strong> der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
verwendet worden (Nachdruck der 9. Auflage:<br />
1967). Es behandelt in kohärenter Darstellung<br />
unter anderem die Entwicklung der<br />
Sprache, des Denkens und der Intelligenz, «des<br />
Gedächtnisses und der Übung», «des Trieb-,<br />
Gemüts- und Willenslebens» und des Spielens<br />
und der Phantasie. Das hohe Maß an theoretischer<br />
Reflexion ergibt sich vor allem aus Sterns<br />
Rückbindung seiner <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
an eine philosophisch fundierte Auffassung<br />
der menschlichen Persönlichkeit, von ihm als<br />
«kritischer Personalismus» bezeichnet (s. hierzu<br />
Stern, 1906; 1930; s. auch Deutsch, 1991).<br />
Was den Reichtum, die Vielfalt und die Anschaulichkeit<br />
der Beobachtungen angeht, so<br />
kann William Stern aus einer nahezu unermeßlichen<br />
Quelle schöpfen, die er selbst gegraben<br />
hat. Zusammen mit seiner Frau Clara hat<br />
er über die Entwicklung ihrer drei Kinder<br />
Hilde, Günter und Eva im Zeitraum von 1900<br />
bis 1918 Tagebuch geführt.<br />
Zwischen der Theorie des kritischen Personalismus<br />
und der Beobachtungsmethode der<br />
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