H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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paars Katz bestehen sogar aus nichts anderem<br />
als spontanen Gesprächen.<br />
Im Rückblick springen mehrere Gemeinsamkeiten<br />
ins Auge, die Stern, Katz, Bühler<br />
und Isaacs (und mit Abstrichen auch Piaget)<br />
miteinander teilen:<br />
1. Sie gehen davon aus, daß die Reduzierung<br />
der Datenerhebung auf das Experimentieren<br />
dem Ziel und dem Gegenstand der<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> nicht gerecht<br />
wird. Unter dem Experimentieren verstehen<br />
sie dabei einen Zugang zu psychologischen<br />
Daten, der zwangsläufig zu einer<br />
sehr starken Einengung des Untersuchungsgegenstands<br />
führt, etwa der Beschränkung<br />
auf eine einzelne, isolierte<br />
Sprach-, Wahrnehmungs- oder Gedächtnisleistung,<br />
und bei dem ein künstlicher<br />
oder wenigstens ein reduzierter Beobachtungsrahmen<br />
geschaffen wird. «Reduziert»<br />
oder «künstlich» ist die Beobachtungssituation<br />
im Vergleich zur alltäglichen<br />
Lebens- und Erfahrungswelt.<br />
2. Deshalb bevorzugen die genannten Autoren<br />
die Beobachtung von Sprachäußerungen<br />
in Alltagssituationen, insbesondere in<br />
Verbindung mit der Protokollierung in<br />
einem umfassenden Tagebuch, das über<br />
einen längeren Zeitraum geschrieben<br />
wird.<br />
3. Die Präferenz für Beobachtungen von<br />
Spontanäußerungen, die relative Geringschätzung<br />
von experimenteller Kontrolle<br />
und der Blick auf die Gesamtpersönlichkeit<br />
des Kindes durch die Auswahl entsprechender<br />
Datenerhebungstechniken<br />
sind theoretisch begründet. Am deutlichsten<br />
wird dieser Zusammenhang bei William<br />
Stern in Form des kritischen Personalismus,<br />
jedoch ist er auch bei Katz,<br />
Bühler und Isaacs sichtbar. Das bedeutet<br />
aber auch, daß die höhere Wertschätzung<br />
der genannten Methoden nicht dadurch<br />
erklärt werden kann, daß zu der damaligen<br />
Zeit die experimentelle Untersuchungsmethodik<br />
noch nicht so ausgefeilt<br />
war wie heute.<br />
4. Trotz der eindeutigen Präferenz für die Beobachtung<br />
möglichst vielfältiger Verhaltensweisen<br />
des Kindes im natürlichen<br />
Kontext und trotz der Reserviertheit ge-<br />
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />
genüber dem Experiment plädieren alle<br />
genannten Forscher für Methodenvielfalt.<br />
Teilweise praktizieren sie diesen Pluralismus<br />
sogar in der eigenen Forschung,<br />
indem sie je nach Fragestellung verschiedene<br />
Methoden präferieren. William Stern<br />
und Jean Piaget lassen sich als glänzende<br />
Beispiele anführen; wir werden im nächsten<br />
Abschnitt sehen, daß dieser Methodenpluralismus<br />
später verlorengegangen<br />
ist und erst in den letzten Jahren in Ansätzen<br />
wiederkehrt.<br />
3. Psychologiegeschichte,<br />
zweiter Teil: Die Rückkehr<br />
von Tagebüchern,<br />
Gesprächen und Erzählungen<br />
in das Beobachtungsrepertoire<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
In den letzten Jahren ist zu beobachten, daß<br />
Tagebücher, klinische Interviews und Erzählungen<br />
in das Methodenrepertoire der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
zurückkehren. Der Begriff<br />
Rückkehr schließt ein, daß sie zwischenzeitlich<br />
verschwunden waren.<br />
Es besteht in der Geschichtsschreibung der<br />
Psychologie Einigkeit darüber, daß die amerikanische<br />
Psychologie von den zwanziger bis<br />
zu den sechziger Jahren vom Behaviorismus<br />
dominiert worden ist (s. z. B. Gardner, 1985;<br />
Zimbardo, 1995). Das galt auch weitgehend<br />
für die <strong>Entwicklungspsychologie</strong>, denn die ab<br />
etwa 1925 in Amerika entstehende «Kinderpsychologie»<br />
war, wie Höhn (1959, S. 35) vermerkt,<br />
«gar nicht im eigentlichen Sinne <strong>Entwicklungspsychologie</strong>,<br />
sondern will praktische<br />
Hilfe für die Erziehung des Kindes<br />
geben.» Der Behaviorismus ist dann vor<br />
allem durch die Kognitive Psychologie abgelöst<br />
worden – man spricht deshalb auch<br />
von der «kognitiven Wende». Diese Wende<br />
bedeutete, die Annahme zu akzeptieren, daß<br />
Menschen über geistige Inhalte, Strukturen<br />
und Prozesse verfügen und daß es eine sinnvolle<br />
Aufgabe ist, diese zum primären Forschungsgegenstand<br />
der Psychologie zu ma-<br />
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