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H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie

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Die exemplarische Studie ist so ausgewählt<br />

worden, daß die enge Verknüpfung zwischen<br />

Theorie- und Methodenwandel deutlich<br />

wird. Nach Einschätzung von Day und Tappan<br />

(1996) gehört die Untersuchung zur moralischen<br />

Orientierung von Gilligan und<br />

Attanucci (1988) zu jenen Arbeiten, die «die<br />

narrative Wende» («narrative turn») in der<br />

Moralentwicklungspsychologie vorbereitet<br />

haben. Auch für die Entwicklung des Selbst<br />

(Engel, 1995; Nelson, 1989; Engel & Hoppe-<br />

Graff, in Druck a), des Gewissens (Kochanska,<br />

Padavich & Koenig, 1996) und von Bindungen<br />

(Oppenheim, Emde & Warren, 1997)<br />

scheint die großspurig anmutende Wendemetapher,<br />

jedenfalls als Trendbeschreibung,<br />

nicht überzogen zu sein.<br />

7.1 Exemplarische Studie:<br />

Gilligan & Attanucci (1988)<br />

Im Rückblick ist es erstaunlich, daß Kohlbergs<br />

Stufen des moralischen Urteilens für<br />

Jahrzehnte als umfassende, inhaltsunabhängige<br />

Entwicklungsschritte bei der Beurteilung<br />

der Geltung von moralischen Normen angesehen<br />

worden sind. Vornehmlich Carol Gilligan<br />

(1984/1982) ist es zu verdanken, daß seit<br />

Mitte der achtziger Jahre immer deutlicher erkannt<br />

wurde, daß sich Kohlbergs Beschreibung<br />

nur auf die Orientierung an einer Moral<br />

der Gerechtigkeit bezieht (s. auch Engel &<br />

Hoppe-Graff, in Druck b). Gilligan hat dieser<br />

Ausrichtung als Ergänzung die Orientierung<br />

an einer Moral der Fürsorge zur Seite gestellt.<br />

Die Studie von Gilligan und Attanucci (1988)<br />

verfolgte die Zielsetzung, diese beiden moralischen<br />

Orientierungen näher zu untersuchen<br />

und zu bestimmen, in welchem Maße Männer<br />

und Frauen auf Gerechtigkeit oder Fürsorge<br />

bezug nehmen, wenn sie über moralische<br />

Konflikte in ihrem alltäglichem Leben nachdenken.<br />

46 Männer und 34 Frauen im Alter von 14<br />

bis 77 Jahren, darunter eine Teilstichprobe<br />

von 14 bis 18jährigen Jugendlichen, wurden<br />

mit folgender Instruktion gebeten, ein moralisches<br />

Dilemma aus ihrem Lebensalltag zu<br />

erzählen: «Haben Sie jemals einen moralischen<br />

Konflikt erlebt? Sind sie also in einer<br />

Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />

Situation gewesen, in der Sie eine Entscheidung<br />

zu fällen hatten, sich aber nicht sicher<br />

waren, was die richtige Wahl war?» Ergänzende<br />

Nachfragen bezogen sich auf die genauere<br />

Beschreibung der Ausgangssituation, die Präzisierung<br />

des subjektiv erlebten Konfliktes,<br />

die Begründung für die letztlich getroffene<br />

Wahl und die Erläuterung von Begriffen wie<br />

Verantwortlichkeit, Verpflichtung, Moral,<br />

Fairneß und Fürsorglichkeit, wenn diese von<br />

den Versuchsteilnehmern gebraucht worden<br />

waren.<br />

Die Untersuchung wurde in Form von Einzelgesprächen<br />

durchgeführt, auf Audiorecorder<br />

aufgenommen und später transkribiert.<br />

Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte<br />

anhand eines von Lyons (1982) erstellten<br />

Auswertungsmanuals («Manual for Coding<br />

Real Life Dilemmas»). Sie begann mit der<br />

Identifizierung von Analyseeinheiten, hier<br />

«moralische Erwägungen» genannt. Eine moralische<br />

Erwägung ist definiert als eine einzelne<br />

Idee, die bei der Diskussion eines moralischen<br />

Problems angeführt wird. Im nächsten<br />

Schritt wurde unter Nutzung von Kriterien<br />

und Beispielen aus dem Manual beurteilt, ob<br />

es sich um eine «moralische Erwägung unter<br />

dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit» («justice<br />

consideration») oder um eine Fürsorge-Erwägung<br />

(«care consideration») handelte. Für<br />

die Beurteilungen unabhängiger Rater berechneten<br />

Gilligan und Attanucci als Maß der<br />

Auswertungsobjektivität einen Prozentsatz<br />

von 80 % übereinstimmender Kategorisierungen.<br />

Die wichtigsten Ergebnisse werden von den<br />

Autorinnen folgendermaßen zusammengefaßt:<br />

1. Bei der Abwägung moralischer Fragen orientieren<br />

sich die meisten Personen sowohl<br />

am Gesichtspunkt der Gerechtigkeit<br />

als auch am Maßstab der Fürsorge, aber in<br />

der Regel überwiegt der eine oder der andere<br />

Gesichtspunkt.<br />

2. Es gibt einen Zusammenhang zwischen<br />

moralischer Orientierung und Geschlecht,<br />

denn Frauen orientieren sich eher am Gesichtspunkt<br />

der Fürsorge, Männer ganz<br />

überwiegend am Gesichtspunkt der Gerechtigkeit.<br />

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