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H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie

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Baby bekommen werden und daß Simon<br />

dann der große Bruder sein wird, beobachtete<br />

Mendelson einige überraschende Reaktionen.<br />

Beispielsweise war Simon sich sicher, daß das<br />

Baby ein Junge sein würde, und er befürchtete,<br />

nicht der große Bruder sein zu können,<br />

wenn eine Schwester geboren würde.<br />

Mendelsons Studie umfaßt einen Beobachtungszeitraum<br />

von zehn Monaten. Sie begann<br />

fünf Monate vor der Geburt von Asher,<br />

Simons Bruder, und endet fünf Monate danach.<br />

Während dieses Zeitraums sammelte<br />

der Autor eine Vielzahl von unterschiedlichen<br />

Beobachtungen, um Simons Anpassungsprozesse,<br />

insbesondere das aktive Erarbeiten<br />

der neuen Rolle und die Veränderungen<br />

im Selbstkonzept, zu erfassen. Zu den Datenquellen<br />

gehörten<br />

– tägliche Eintragungen («log entries») aller<br />

«einschlägigen» Äußerungen und Verhaltensweisen<br />

von Simon in ein Tagebuch im<br />

engeren Sinne. Einschlägig bedeutet: «Ich<br />

zeichnete alles auf, was Simon tat oder<br />

sagte, was auch nur entfernt damit zu tun<br />

haben konnte, daß er nun ein Bruder<br />

wurde» (Mendelson, 1990, S. 207 [Übersetzung<br />

des Autors]);<br />

– Gespräche zwischen Mendelson und<br />

Simon, die zunächst auf Audiokassetten<br />

aufgenommen und dann in das Tagebuch<br />

übertragen wurden;<br />

– Interviews eines studentischen Versuchsleiters<br />

mit Simon, die genauso dokumentiert<br />

wurden;<br />

– auf Audiokassetten aufgenommene Interaktionen<br />

zwischen Simon und Asher;<br />

– Beurteilungen von Simons Verhalten mittels<br />

formeller Ratingskalen (unter anderem<br />

«Home Behavior Rating Scale») durch<br />

die beiden Eltern und Simons Betreuerinnen<br />

im Kindergarten; und<br />

– «Tagesprotokolle» (Mendelson verwendet<br />

hierfür die Bezeichnung «daily diaries»),<br />

die an ausgewählten Tagen eine vollständige<br />

Aufstellung aller Aktivitäten Simons<br />

lieferten.<br />

Je nach ihrer Eigenart werden diese Beobachtungen<br />

von Mendelson in unterschiedlicher<br />

Weise zur Beantwortung seiner Fragestellun-<br />

Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />

gen benutzt. Beispielsweise zeichnet er anhand<br />

der Tagesprotokolle quantitativ exakt<br />

nach, wie sich nach Ashers Geburt der Umfang<br />

der von Simon mit Asher «gemeinsam»<br />

unternommenen Aktivitäten (gemeinsame<br />

Mahlzeiten, Spielen, Hilfe bei der Versorgung<br />

Ashers) von Monat zu Monat veränderte.<br />

Derartige quantitative Analysen werden zwar<br />

häufig in die Ergebnisdarstellung eingebaut,<br />

dennoch haben sie im Duktus von Mendelsons<br />

Argumentation nur eine unterstützende<br />

Funktion. Sie dienen zur Illustration oder Bestätigung<br />

bestimmter Veränderungen, die<br />

Mendelson als intuitiver Gesamteindruck evident<br />

sind oder die er vor allem an besonders<br />

markanten Einzelbeobachtungen abliest. Mit<br />

anderen Worten, das Gewicht der Daten bemißt<br />

sich nicht nach statistischen Maßzahlen<br />

oder Differenzen, sondern nach der inhaltlichen<br />

Bedeutsamkeit der Beobachtung.<br />

Ein Beispiel soll die Nutzung der Tagebuchbeobachtungen<br />

veranschaulichen. Die<br />

Eintragung bezieht sich auf Simons Spielphantasie,<br />

selbst das Baby zu sein («pretending<br />

to be a baby»).<br />

«Nach Ashers Geburt tat Simon gelegentlich<br />

so, als sei er ein Baby. Als Asher eine<br />

Woche alt war, übernahm Simon nicht<br />

bloß die Spielrolle des Babys, sondern er<br />

vertauschte die beiden Rollen regelrecht.<br />

Dieses Spiel begann er, als er gebadet<br />

wurde, und er setzte es fort, obwohl<br />

er dabei nicht unterstützt und mehrmals<br />

unterbrochen wurde. «Wir tun so,<br />

als ob Du der Hummerpapa bist und ich<br />

das Hummerbaby», schlug er als erstes<br />

vor. «Und Du gibst mir ein Hummerbaby-<br />

Bad.» Ein wenig später sagte er, daß wir<br />

eine Hummer-Familie haben, mit einer<br />

Hummermama, einem Hummerpapa,<br />

einem Hummerbaby und einem großen<br />

Hummerbruder. Ich fragte ihn, wer er sei:<br />

das Hummerbaby oder der große Hummerbruder.<br />

Er antwortete: «Ich bin das<br />

Hummerbaby. Ich heiße Asher, und mein<br />

großer Bruder ist Simon.» ... Später sagte<br />

Bev (Simons Mutter), daß sie das Baby<br />

füttern werde, und Simon behauptete, er<br />

sei Asher (vier Jahre, zehn Tage).» (Mendelson,<br />

1990, S. 99 [Übersetzung des Autors]).<br />

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