H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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nachgezeichnet, wie sich unter den Lebensverhältnissen<br />
der Moderne im europäischnordamerikanischen<br />
Kulturkreis das Selbstkonzept<br />
der Menschen verändert hat. Neben<br />
anderen Eigenheiten nennt er als Kernmerkmal<br />
des modernen Selbst die ausdrückliche<br />
Suche nach subjektiver zeitlicher Kohärenz.<br />
Als beobachtungsmethodisches Pendant bieten<br />
sich Tagebücher («diaries») und Narrativa<br />
geradezu an:<br />
«Während der Entwicklung sucht das<br />
Selbst nach Kohärenz ... .Es ist kein Zufall,<br />
daß der Aufstieg der Novelle als<br />
einer Kunstform der westlichen Literatur<br />
und die zunehmende Popularität von<br />
Journalen, Tagebüchern und anderen autobiographischen<br />
Darstellungsmitteln<br />
sehr eng mit dem Aufstieg der Moderne<br />
zusammenfällt. ... Das Selbst bedient<br />
sich der Konstruktion von Selbsterzählungen<br />
(self-narratives), um im Prozeß<br />
der eigenen Veränderung Sinn zu finden»<br />
(a.a.O., S. 297–298 [Übersetzung des Autors]).<br />
9. Zweites Resümee und<br />
Ausblick: Das Netz des<br />
Ichthyologen, das Beobachtungsideal<br />
der Naturwissenschaften<br />
und Datenerhebung<br />
in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
Welche Rolle spielen Verfahren der Datenerhebung<br />
im Prozeß der psychologischen Forschung?<br />
Die Antwort lautet: Das hängt davon<br />
ab, wie man sich die Beziehung von Wissenschaft<br />
zur Realität vorstellt. Der englische<br />
Astrophysiker Sir Arthur Eddington (1939; zitiert<br />
nach Dürr, 1997) hat für die Naturwissenschaften<br />
eine Analogie entworfen, die sich<br />
unseres Erachtens auf die Psychologie übertragen<br />
läßt, auch wenn die Psychologie qua<br />
Gegenstand keine Naturwissenschaft ist. Er<br />
verdeutlicht das Vorgehen des Wissenschaftlers<br />
anhand der Arbeit eines Ichthyologen<br />
(Fischkundlers), der das Leben im Meer erfor-<br />
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />
schen will. Wie geht dieser dabei vor? Verkürzt<br />
gesagt besteht sein Tun darin, daß er<br />
sein Netz auswirft, es an Land zieht und den<br />
Fang gewissenhaft prüft. Hat er das oft genug<br />
getan, so könnte er beispielsweise zu der folgenden<br />
«empirisch begründeten» Feststellung<br />
kommen: «Alle Fische sind größer als 5 cm».<br />
Bei jedem Fang hat sich diese Aussage bestätigt.<br />
Einem Skeptiker, der die grundsätzliche<br />
Bedeutung des Gesetzes mit dem Hinweis<br />
auf die Maschenweite des Netzes (5 cm) bestreitet,<br />
wird der Fischkundler unbeeindruckt<br />
entgegnen, daß ihn derartige Objekte (Fische)<br />
nicht interessieren. Er hält sich an den<br />
Grundsatz, daß das, was er nicht fangen<br />
kann, außerhalb des fischkundlichen Wissens<br />
liegt.<br />
Korrespondenzen zu aktuellen Grundlagendiskussionen<br />
in der Psychologie sind offensichtlich.<br />
Dem Netz des Ichthyologen entsprechen<br />
die Beobachtungsverfahren und<br />
deren konzeptuelle Voraussetzungen (Theorien,<br />
Begriffe, Definitionen), und dem Auswerfen<br />
und Einziehen des Netzes korrespondiert<br />
die wissenschaftliche Beobachtung. Der Skeptiker<br />
geht von der Idee aus, daß es im Meer<br />
eine objektive, vom Beobachter unabhängige<br />
Fischwelt gebe, zu der auch Fische gehören<br />
können, die kleiner als 5 cm sind. Aber in der<br />
Kontroverse mit dem Ichthyologen hat er<br />
Schwierigkeiten, deren «objektive» Existenz<br />
zu beweisen, da für diesen gilt: Nur jenes Objekt<br />
ist ein Fisch, das mit meinem Netz gefangen<br />
werden kann. Der Skeptiker hingegen<br />
empfindet das Kriterium der Fangbarkeit mit<br />
dem vorhandenen Netz als eine unzulässige<br />
subjektive Einschränkung der Wirklichkeit.<br />
Diese Analogie beschreibt die Beziehung<br />
des Forschers zur Wirklichkeit naturgemäß<br />
nur in grober Vereinfachung, aber sie läßt<br />
eine Reihe zentraler Probleme um so deutlicher<br />
hervortreten.<br />
Erstens zeigt sie auf, daß Psychologie nicht<br />
von der eigentlichen Wirklichkeit handelt, also<br />
nicht von dem Handeln und Erleben von<br />
Menschen, wie es ist, sondern zwangsläufig<br />
nur von einer reduzierten Realität: von jener<br />
Realität, die nicht durch die Netze unserer<br />
Theorien, Begriffe und Beobachtungsmethoden<br />
fällt.<br />
Zweitens wird durch die Analogie deutlich,<br />
welche Konsequenzen sich aus dieser Veren-<br />
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