H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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ge Festlegung der unverzichtbaren Themen und<br />
Fragestellungen des Gesprächs auf der konzeptuellen<br />
Ebene. Andererseits aber soll er auch<br />
nicht mehr als das sein. In keiner Weise wird<br />
dadurch die Transformation von Themen und<br />
Fragenkomplexen in eine verbindliche sprachliche<br />
Formulierung festgelegt.<br />
In dieser Eigenart wird, je nach methodologischer<br />
Orientierung, ein entscheidender<br />
Vorzug oder ein gravierender Nachteil gesehen.<br />
Damon und Hart (1988, S. 78 [Übersetzung<br />
vom Autor]) betonen den Vorzug:<br />
«Die Attraktivität der klinischen Methode<br />
liegt in ihrer Flexibilität. Obwohl das Interview<br />
immer unverzichtbare Kernthemen<br />
und Kernfragen enthält, darf (und<br />
muß) die Formulierung der Fragen variiert<br />
werden, wenn es das Verständnis<br />
des Untersuchungsteilnehmers erfordert.<br />
Gleichermaßen dürfen (und müssen) Fragen<br />
hinzugefügt werden, wenn nur so<br />
seine Gedankengänge verdeutlicht werden<br />
können.»<br />
Für die Befürworter liegt der Vorzug darin,<br />
daß beim diagnostischen Gespräch des Forschers<br />
mit dem Kind oder Jugendlichen – wie<br />
bei jedem Gespräch! – die Prozesse des Meinens<br />
und Verstehens bedacht werden müssen.<br />
Dieselbe Frage des Untersuchers kann<br />
von verschiedenen Personen, zumal von Kindern,<br />
völlig verschieden verstanden werden.<br />
Sie kann sogar mißverstanden werden, das<br />
heißt, anders als vom Fragesteller intendiert.<br />
Dieser Gesichtspunkt gewinnt dadurch noch<br />
an Gewicht, daß beim diagnostischen Gespräch<br />
in der kognitiven <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
nicht die Antworten selbst der Zielpunkt<br />
sind, sondern kognitive Strukturen<br />
«hinter» den Antworten. Der Spielraum beim<br />
partiell standardisierten Interview versetzt<br />
den Beobachter in die Lage, seine alltagspsychologischen<br />
Kenntnisse und seine Erfahrun-<br />
4 Folgt man Piaget an dieser Stelle, so wirft das ein erschreckendes<br />
Licht auf die übliche Psychologieausbildung,<br />
in der das Beobachten im Vergleich zur mathematisch-statistischen<br />
Datenanalyse immer noch kraß<br />
vernachlässigt wird!<br />
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />
gen im Umgang mit Kindern und sein theoretisches<br />
Fachwissen über das Untersuchungsthema<br />
so zu nutzen, daß er das Interview<br />
im individuellen Fall so gestaltet, daß es<br />
trotz Unterschieden auf der Oberfläche der<br />
Formulierung bei den Kindern die gleichen<br />
kognitiven Strukturen aktiviert. Weil identische<br />
Fragen sehr unterschiedlich verstanden<br />
werden können, führt hingegen eine strikte<br />
oberflächliche Standardisierung eher zu unterschiedlichen<br />
subjektiven Interpretationen<br />
durch die Heranwachsenden.<br />
Der Spielraum beim partiell strukturierten<br />
Interview stellt für den Forscher aber auch<br />
eine große Herausforderung dar, denn anders<br />
als bei der (idealerweise) völlig standardisierten<br />
Durchführung von Experimenten oder<br />
psychometrischen Tests hat er einen weitgehenden<br />
Handlungsspielraum, den er mehr<br />
oder weniger gut nutzen kann – mit der weitgehenden<br />
Konsequenz, daß er sich mehr oder<br />
weniger gut dem Untersuchungsgegenstand<br />
annähert. Piaget selbst hat die Anforderungen<br />
an den Forscher im partiell strukturieren<br />
Interview prägnant beschrieben (1988/1926,<br />
S. 21):<br />
«Die klinische Untersuchung ist somit<br />
experimentell, insofern der Kliniker Probleme<br />
aufwirft, Hypothesen aufstellt,<br />
die Bedingungen variiert und schließlich<br />
seine Hypothesen an den durch das Gespräch<br />
ausgelösten Reaktionen überprüft.<br />
Die klinische Untersuchung besteht<br />
aber auch aus direkter Beobachtung,<br />
insofern der gute Kliniker sich<br />
selbst lenken läßt, indem er lenkt, und<br />
den ganzen geistigen Kontext berücksichtigt,<br />
anstatt «systematischen Fehlern»<br />
zum Opfer zu fallen, was beim reinen<br />
Experimentieren oft der Fall ist.»<br />
Aus dieser Anforderungsanalyse zieht Piaget<br />
die unseres Erachtens überzeugende Konsequenz,<br />
daß ausgiebige Erfahrungen nötig<br />
sind, bevor jemand zu einem guten «Versuchsleiter»<br />
wird («mindestens ein Jahr lang<br />
tägliche Übungen»). 4<br />
Von den Kritikern wird gegen die Flexibilität<br />
der Methode eingewendet, daß dadurch<br />
das Grundpostulat empirischer Forschung,<br />
das Bemühen um Kontrollierbarkeit und Wie-<br />
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