H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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Wir wissen aus der Alltagserfahrung und<br />
aus der wissenschaftlichen Psychologie, daß<br />
die psychologische Beziehung zwischen dem<br />
Beobachter und der beobachteten Person das<br />
Resultat der Beobachtung weitgehend beeinflussen<br />
kann. Wir neigen beispielsweise zu<br />
Milde und Überschätzung, wenn wir die Leistung<br />
eines Menschen beurteilen, den wir<br />
mögen, und wir neigen zu Härte und Unterschätzung,<br />
wenn uns jemand unsympathisch<br />
ist. Wir neigen dazu, das zu sehen, was wir erwarten,<br />
und das zu übersehen, mit dem wir<br />
nicht rechnen. Um diesen Verzerrungen («biases»)<br />
entgegenzuwirken, werden in der psychologischen<br />
Methodenlehre in aller Regel die<br />
folgenden Maßnahmen vorgeschlagen:<br />
1. Nicht der in seiner Theorie und seinen<br />
theoriegeleiteten Erwartungen befangene<br />
Forscher sollte die Daten sammeln, sondern<br />
ein Assistent, der «blind» gegenüber<br />
den Fragestellungen und Erwartungen ist.<br />
2. Ähnlich wie die Objektivität von Gerichtsverfahren<br />
dadurch gesteigert werden<br />
kann, daß Richter und Täter nicht miteinander<br />
verwandt oder befreundet sind,<br />
kann die Objektivität von psychologischen<br />
Beobachtungen und Beurteilungen<br />
dadurch gesteigert werden, daß der «Versuchsleiter»<br />
und die «Versuchsperson» –<br />
der Jargon deutet es bereits an! – in keiner<br />
persönlichen Beziehung zueinander stehen.<br />
3. Sofern es um Daten geht, die aus der Beurteilung<br />
von Beobachtungen entstehen,<br />
sollten die Prozesse der Beobachtung und<br />
der Beurteilung so weit wie möglich voneinander<br />
getrennt werden. Beispielsweise<br />
sollten die Beobachtungen mittels Videoaufzeichnung<br />
vom Versuchsleiter A vorgenommen<br />
werden, die davon unabhängige<br />
Beurteilung der Videoaufzeichnungen<br />
hingegen durch die Versuchsleiter B und<br />
C.<br />
4. Die Versuchsleiter sollten an einem intensiven<br />
Training teilnehmen, um die objektive<br />
Beobachtung und Beurteilung einzuüben.<br />
Die Befürworter der traditionellen und der<br />
modernen Tagebuchmethode schließen sich<br />
nur den letzten beiden Empfehlungen an,<br />
lehnen aber die ersten beiden Maßnahmen<br />
Tagebücher, Gespräche und Erzählungen<br />
ausdrücklich ab. Sie plädieren also dafür, daß<br />
Tagebuchaufzeichnungen bevorzugt von Personen<br />
durchgeführt werden, die sowohl<br />
«theoretisch vorbelastet» als auch «persönlich<br />
befangen» sind. Ideale «Versuchsleiter»<br />
von Tagebuchstudien sind nach diesem Verständnis<br />
Entwicklungspsychologen, die die<br />
Entwicklung der eigenen Kinder beobachten<br />
– wir verweisen abermals auf die Studien<br />
Mendelsons und des Ehepaars Stern.<br />
Natürlich werden die ersten beiden der<br />
vier Prinzipien nicht aus Ignoranz verletzt,<br />
sondern verlieren vor dem Hintergrund anderer<br />
methodologischer Prämissen ihr Gewicht.<br />
Diese Prämissen lauten: (a) Je größer<br />
die theoretischen Kenntnisse des Beobachters,<br />
um so eher ist er auch in der Lage, theoretisch<br />
relevantes Verhalten zu sehen bzw. gesehenes<br />
Verhalten als theorierelevant zu interpretieren<br />
(gemäß der kognitionspsychologischen<br />
Regel: «Man sieht nur, was man<br />
weiß»). (b) Je enger die Beziehung zu einer<br />
Person ist, um so besser kennt man ihre persönlichen<br />
Eigenheiten; mit anderen Worten,<br />
um so mehr weiß man darüber Bescheid, was<br />
ihr Handeln bedeutet.<br />
Theoriekenntnisse und die persönliche Beziehung<br />
zur beobachteten Person vergrößern<br />
die Interpretationskompetenz des Beobachters.<br />
Nach unserer Meinung besteht die Kontroverse<br />
zwischen den Gegnern und den Befürwortern<br />
der Tagebuchmethode vor allem in<br />
der gegensätzlichen Bewertung der Interpretationskompetenz.<br />
Die Gegner sehen darin<br />
keinen Gewinn, wohl aber die massive Verletzung<br />
des klassischen Objektivitätsideals (s.<br />
ausführlich unten in Abschnitt 8). Die Befürworter<br />
betonen den in der Interpretationskompetenz<br />
liegenden Gewinn vor allem deshalb,<br />
weil sie ein anderes Vorverständnis vom<br />
psychologischen Zugang zum Individuum<br />
haben und weil sie das klassische Objektivitätsideal<br />
nicht teilen. Auch auf diese Position<br />
gehen wir in Abschnitt 8 ein.<br />
Nach unserer persönlichen Auffassung<br />
und nach unseren Erfahrungen (Hoppe-Graff<br />
& Kirchgässner; 1996; Hoppe-Graff &<br />
Schmid, 1997) liegt in der Wertschätzung der<br />
Interpretationskompetenz bei den Befürwortern<br />
der Tagebuchaufzeichnung eine Notwendigkeit.<br />
Spielte sie keine Rolle, so gäbe es keinen<br />
Grund, den enormen Aufwand, der mit<br />
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