H. Keller (Hrsg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie
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die Häufigkeit, mit der das Kind lächelt, vokalisiert<br />
oder ein bestimmtes Objekt berührt,<br />
quantitativ erfaßt. Die so erzeugten Daten<br />
werden dann als Indikatoren für den Ausprägungsgrad<br />
psychologisch relevanter Merkmale<br />
interpretiert. Das Kind wird als freundlich<br />
bezeichnet, wenn es häufig positive emotionale<br />
Reaktionen zeigt, oder es wird auf der<br />
Grundlage quantitativer Indikatoren ein bestimmter<br />
Entwicklungsstand festgestellt. Die<br />
Interpretierbarkeit der interindividuellen Unterschiede<br />
hängt allerdings davon ab, ob die<br />
kontextuelle Einbindung der Beobachtungen<br />
in den untersuchten Fällen identisch oder<br />
wenigstens vergleichbar war. Hat sich nämlich<br />
die eine Mutter mit ihrem Kind beschäftigt,<br />
es wiederholt angelächelt, auf seine Vokalisationen<br />
geantwortet und bei Anzeichen<br />
von Langeweile angemessen stimuliert, die<br />
andere dagegen die kindlichen Signale ignoriert,<br />
bei Übermüdung weiter stimuliert und<br />
intrusiv auf dem Durchsetzen der eigenen<br />
Handlungspläne bestanden, dann erscheint<br />
es höchst unangemessen, Unterschiede in<br />
Häufigkeiten positiven Vokalisierens der Kinder<br />
als Indikatoren ihres Entwicklungsstandes<br />
zu interpretieren. Die Erfassung des Kontextes<br />
und seine adäquate statistische Behandlung<br />
ist unserer Auffassung nach das Schlüsselproblem<br />
von Beobachtungsmethoden in<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> und ungleich<br />
wichtiger als zahlreiche traditionelle Unterscheidungen<br />
zwischen verschiedenen Beobachtungstechniken<br />
(siehe Kasten oben).<br />
8. Die Beobachtung von<br />
Interaktionen<br />
Aus den Ausführungen zur kontextuellen<br />
Einbettung von Verhalten folgt, daß man im<br />
Falle von Interaktionsanalysen das Verhalten<br />
beider Teilnehmer getrennt erfassen sollte,<br />
um danach mittels einer geeigneten Statistik<br />
die Beziehung zwischen den Verhaltensweisen<br />
zu analysieren. Dabei können komplexe<br />
Definitionen verwendet werden. Beispielsweise<br />
benutzen Isabella, Belsky und von Eye<br />
(1989) eine umfangreiche Tabelle, um das<br />
Auftreten von Verhaltensweisen der Mutter<br />
und des Kindes im gleichen Zeitintervall als<br />
Beobachtungsmethoden und Auswertungsverfahren<br />
synchrones Interaktionsereignis oder als asynchrones<br />
Ereignis einzuschätzen. Der Datensatz<br />
basiert auf einer Beobachtung mit einer<br />
«checklist» mit 28 definierten Verhaltensweisen.<br />
Ein Beispiel für ein synchrones Interaktionsereignis<br />
ist das Auftreten einer kindlichen<br />
Vokalisation und einer responsiven Muttervokalisation<br />
im gleichen Zeitintervall. Das gemeinsame<br />
Auftreten von ‹Kind ist schläfrig› und<br />
‹Mutter stimuliert› wird entsprechend als asynchrones<br />
Ereignis bewertet. Mit dieser Methodik<br />
konnten Isabella und seine Kollegen zeigen,<br />
daß die so gewonnenen Maße der Synchronie<br />
der Interaktion mit der Bindungssicherheit<br />
am Ende des ersten Lebensjahres in<br />
einem systematischen Zusammenhang standen.<br />
Dieses Vorgehen hat sicher den wesentlichen<br />
Vorteil, neben der Synchronie auch<br />
die Basishäufigkeit bestimmter Verhaltensweisen<br />
der beiden Interaktionspartner getrennt<br />
analysieren zu können. In einer Untersuchung,<br />
die mit ähnlicher Technik durchgeführt<br />
wurde, zeigen Schölmerich, Fracasso,<br />
Lamb und Broberg (1995), daß die einzelnen<br />
Verhaltenshäufigkeiten in keinem systematischen<br />
Zusammenhang mit dem Entwicklungsergebnis<br />
stehen, die Synchronie- und<br />
Asynchroniewerte aber einen gewissen<br />
Vorhersagewert für die Bindungssicherheit<br />
haben.<br />
9. Zeitliche Struktur von<br />
Verhalten<br />
In den beiden oben geschilderden Untersuchungen<br />
wurde eine zeitliche Koppelung (Auftreten<br />
im gleichen Zeitintervall) benutzt, um<br />
individuelle Verhaltensweisen dyadisch interpretieren<br />
zu können. Die zeitliche Struktur von<br />
Verhalten ist aber von viel grundlegenderer Bedeutung.<br />
In der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> ist<br />
dieser Aspekt offensichtlich, denn wir arbeiten<br />
in der Regel mit zeitgebundenen Phänomenen.<br />
Ein ideales Beobachtungsprotokoll sollte nicht<br />
nur die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen<br />
in vorgegebenen Zeiteinheiten angeben,<br />
sondern den Beginn und das Ende der einzelnen<br />
Verhaltensweisen zeitlich genau lokalisieren.<br />
Abbildung 1 zeigt einen solchen Datensatz in<br />
einer Vielkanaldarstellung.<br />
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