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GEW-ZEiTUnG Rheinland-Pfalz

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Berufliche Bildung<br />

Schüler auf die Arbeitswelt hat im Zuge der Bewerberdebatte immer<br />

mehr zugenommen. Das entwickeltste Modell in diesem Bereich<br />

scheint mir das Konzept des „Produktiven Lernens“ zu sein [6] . Hier<br />

haben die Schülerinnen und Schüler aller Schultypen die Möglichkeit,<br />

in den letzten beiden Klassen einen PL-Bildungsgang zu<br />

wählen. Dies bedeutet dann: drei Tage in der Woche Lernen in einem<br />

beruflichen Praxisfeld, zwei Tage in der Woche Schulunterricht. Das<br />

Gesamtmodell ist in ein Curriculum eingebunden und didaktisch<br />

gesteuert. Es geht also nicht nur um Praktika. Mittlerweile praktizieren<br />

bereits 100 Schulen in sechs Bundesländern dieses Modell.<br />

Erstaunlicherweise konnte nachgewiesen werden, dass die Jugendlichen<br />

in den PL-Klassen am Ende keinen Allgemeinbildungsrückstand<br />

aufweisen gegenüber den Jugendlichen, die wesentlich mehr<br />

Schulunterricht hatten. In dieselbe Richtung geht das Hamburger<br />

Modell der Produktionsschule.<br />

Handlungsfelder<br />

Es geschieht also allerhand um die duale Berufsausbildung, was ihr<br />

pädagogisches und lernorganisatorisches Grundprinzip voll und<br />

ganz bestätigt. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass<br />

weiterhin erheblicher Reformbedarf besteht.<br />

1. Das Kernproblem bleibt das Regulierungsdefizit des Ausbildungsmarktes.<br />

Ausbildungskrisen sind auch in Zukunft nicht ausgeschlossen.<br />

Niemand kann voraussehen, wie sich die wirtschaftliche Lage<br />

entwickelt und ob sich bei sinkenden Bewerberzahlen tatsächlich<br />

für den einzelnen die Berufschancen verbessern. Daher bleibt es<br />

eine zentrale Aufgabe, ein gesetzliches Steuerungsinstrument für<br />

eine ausgewogenes Angebots-Nachfrage-Verhältnis zu etablieren.<br />

2. Um aus dem Demographietrend für die bisher Benachteiligten<br />

Kapital schlagen zu können, muss sich die Auswahl- und Einstellpraxis<br />

der Betriebe ändern. Eine der wichtigen Stärken des dualen<br />

Systems, dass es nämlich nach unten offen ist und keine Berechtigungshürden<br />

kennt, ist in den letzten Jahren durch „Bestenauslese“<br />

diskriminiert worden. Die Unternehmen müssen die Fähigkeit<br />

zurückgewinnen, normale Jugendliche „besser“ auszubilden, wie das<br />

immer typisch war für Berufsausbildung. Neu wäre allerdings die<br />

Herausforderung einer wesentlich größeren Migrantenbeteiligung,<br />

die Zahlen müssten sich mindestens verdreifachen [7] . Dies kann<br />

nicht gelingen ohne eine gezielte Integrationspolitik.<br />

3. Das Übergangssystem muss schnell abgebaut werden. Es darf<br />

nicht verstetigt und in Richtung auf ein zweites, unterwertiges<br />

Ausbildungssystem „reformiert“ werden. Dies verlangt von der<br />

Politik, die Wahrheit endlich anzuerkennen, dass der Anteil an<br />

Niedrigqualifizierten in Deutschland zu hoch ist und dass dieser Fakt<br />

die wichtigste Bremse für Vollbeschäftigung ist. Auch die offizielle<br />

EU-Strategie will diesen Anteil deutlich senken. Wann geschieht das<br />

bei uns? Wahrscheinlich nicht mit einer schwarz-gelben Regierung.<br />

Für die jungen Menschen, die bisher noch keinen Berufsabschluss<br />

erreichen konnten, muss ein zeitlich begrenztes Sonderprogramm<br />

gestartet werden. In Verbindung mit einer Kompetenzbilanzierung<br />

sollte diesem Personenkreis ein Crash-Programm angeboten werden,<br />

um jährlich bundesweit mindestens 300.000 zur Externenprüfung<br />

nach BBiG § 43 (2) oder § 45 zu führen. Dies wäre im Wesentlichen<br />

ein Handlungsfeld der Länder, die die zusätzlichen Prüfungskosten<br />

übernehmen müssten. Dafür sollten auch die Prüfungsausschüsse<br />

(vorübergehend) aufgestockt werden, was durch Vereinbarungen<br />

mit den Sozialpartnern bei großzügiger Entschädigungsregelung<br />

durchaus erfolgversprechend wäre. Der Bund könnte hierbei finanziell<br />

unterstützen.<br />

4. Berufsausbildung im Zeichen der „neuen Beruflichkeit“ soll weniger<br />

auf enge spezielle Anschlusstätigkeiten vorbereiten als einen<br />

soliden Grundstein für lebenslanges Lernen legen. Sie stellt eine<br />

Sockelqualifikation dar, auf der weitere Bildungsphasen aufbauen.<br />

Diese Auffassung hat sich längst durchgesetzt. Daraus folgt die<br />

notwendige Zusammenschau von Ausbildung - Weiterbildung und<br />

Studium und der Aufbau durchlässiger, systematischer und offener<br />

Bildungskarrieren. Hiervon sind wir noch weit entfernt.<br />

5. Berufliche Aus- und Weiterbildung sollte künftig für einen<br />

globalisierten Arbeitsmarkt und eine globalisierte Wirtschaft<br />

vorbereiten. Dies hat nichts mit Entberuflichung zu tun, denn in<br />

allen Ländern, in denen qualifizierte Arbeit geleistet oder aufgebaut<br />

wird, sind Verberuflichungstendenzen vorherrschend. Notwendig<br />

wäre aber die Vermittlung von internationalen Kompetenzen, die<br />

zu einer Selbstverständlichkeit im modernen Berufsleben werden.<br />

Hiermit wird bisher sehr zögerlich umgegangen, allein schon die<br />

Vermittlung einer Fremdsprache - i. d. R. Englisch - belastet immer<br />

noch Neuordnungsverfahren mit unnötigen Diskussionen. Unter<br />

internationalen Kompetenzen ist zweifellos mehr zu verstehen [8] .<br />

Wichtig dafür zu wissen ist, dass nach neueren Untersuchungen<br />

über 70 Prozent der hiesigen mittelständischen Unternehmen Geschäfte<br />

im internationalen Maßstab betreiben bzw. in internationale<br />

Wertschöpfungsnetzwerke eingebunden sind [9] . Die Berufsbildung<br />

reflektiert diese Veränderungen kaum.<br />

Diese Auflistung von Handlungsfeldern ist zweifellos unvollständig.<br />

Sie zeigt aber an einigen zentralen Beispielen, was es in den nächsten<br />

Jahren zu tun gibt, um das deutsche Berufsbildungssystem vor dem<br />

Ruf eines Auslaufmodells zu bewahren und es zu einer authentischen<br />

Erfolgsstrategie auszubauen. Diese Chance besteht. Auch aus volkswirtschaftlicher<br />

Sicht gehört die Zukunft den Regionen in der Welt,<br />

die den humanzentrierten Weg gehen und auf Hochqualifikation<br />

setzen. Denn nur so kann Qualität und Innovation nachhaltig gesichert<br />

werden. Dies sind die Stärken, von denen Industrieländer<br />

leben und die sie vorrangig in der Zukunft ausbauen müssen.<br />

Die europäische Dimension<br />

Die IG Metall schlägt in diesem Zusammenhang ein konkretes<br />

Programm für die nächsten Jahre vor: die Entwicklung von europäischen<br />

Kernberufen im Rahmen des sozialen Dialogs der<br />

Europäischen Kommission [10] . Diese Kernberufe sollen von den<br />

Sozialpartnern der wichtigsten Wirtschaftssektoren erarbeitet werden.<br />

Der Vorschlag markiert einen Wandel in der internationalen<br />

Diskussion über das duale System. Anders als früher will die IG<br />

Metall nicht über eine Übernahme deutscher Bildungsstrukturen<br />

reden, nach dem Motto: kopiert das deutsche duale System, weil<br />

wir am besten sind. Das war bisher nicht sehr erfolgreich. Unsere<br />

Partnerländer kennen sehr gut unsere Defizite. Wichtiger ist es, über<br />

den Kerngedanken zu sprechen. Die Standards und Prinzipien der<br />

modernen Arbeitswelt nähern sich überall an. Was liegt näher, als<br />

auch die Qualifikationsstrukturen und -profile anzunähern.<br />

Dieses Projekt verspricht einen interessanten Impuls für die europäische<br />

Bildungs- und Professionalisierungsdebatte zu setzen, die<br />

gerade neu auf Touren kommt. Sie führt endlich weg von der europaängstlichen<br />

Attitüde, in der die jüngsten EU-Bildungsinitiativen<br />

in der deutschen Bildungsszene bisher aufgenommen wurden, hin<br />

zu einem zukunftsorientierten Gestaltungsanspruch. Denn eine<br />

Harmonisierung der europäischen Bildungslandschaft ist äußerst<br />

notwendig. Der europäische Bildungsföderalismus ist auf lange<br />

Sicht genau so wenig ein Idealzustand wie der deutsche Bildungs-<br />

20 <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 4 / 2012

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