GEW-ZEiTUnG Rheinland-Pfalz
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Schulgeist<br />
Gelassen durch die „Pupertät“<br />
Leises Schnarchen dringt aus der letzten Reihe. Ich suche<br />
nach einem Stück Kreide, um es dem desinteressierten<br />
Knaben an den Kopf zu werfen, aber ich konnte noch nie<br />
richtig zielen. Von seinem Sitznachbarn unsanft geweckt,<br />
murmelt Bruce: „Ich bin in der Pubertät, ich brauche viel<br />
Schlaf!“ Dustin raschelt mit Papier und stopft sich den<br />
Mund voll: „Ich bin krass im Wachstum, ich muss essen!“<br />
Ich lasse ihn kauen. Ich lasse auch Kassandra meinen Unterricht<br />
als scheißlangweilig deklarieren. Ich weiß ja, was<br />
los ist: die Pubertät, gern auch „Pupertät“ geschrieben. Sie<br />
befällt über Nacht ganze Schulklassen. Erfahrungsgemäß<br />
im 7. und 8. Schuljahr.<br />
Laut Ärzten und Psychologen wird das kindliche Gehirn<br />
während der Pubertät zu einer Baustelle, auf der sich<br />
tragende Wände und Stützpfeiler ständig verschieben.<br />
Synapsen fuchteln in der Gegend rum, Hormone toben<br />
durch den mutierenden Körper. Die Relation zwischen<br />
Rumpf und Gliedmaßen verschiebt sich. Der/die gebeutelte<br />
Jugendliche ist nicht in der Lage, das Verhalten<br />
Kein Schulfach Musik<br />
angemessen zu steuern. Das körperliche Wachstum ist<br />
dem geistigen bisweilen Jahre voraus. Marlene in der<br />
ersten Reihe präsentiert dem Lehrpersonal ausdauernd<br />
ihr Dekollete, aber in der Pause gräbt sie versunken im<br />
Sandkasten.<br />
Jung müsste man noch mal sein? Um Himmelswillen!<br />
Zurück in diese Phase?<br />
„Pubertät ist der Zustand, in dem die Erwachsenen<br />
anfangen, schwierig zu werden“, ritzt Nike auf ihren<br />
Tisch. Jugendliche entwickeln verschiedene Strategien,<br />
um in dieser belastenden Zeit mit den Erwachsenen<br />
umzugehen. Einige Knaben werden apathisch und stellen<br />
die Kommunikation ein. Sie lassen sich die Haare<br />
wie eine Gardine ins Gesicht wachsen und fühlen sich<br />
bei jeder noch so harmlosen Frage unendlich belästigt.<br />
Andere grinsen nur noch und stellen sich so dumm, dass<br />
man auch sie irgendwann in Ruhe lässt. Die pubertären<br />
Aktivitäten im Unterricht sind mannigfaltig: Dennis gibt<br />
den Tierstimmenimitator, Pavel malt gurkenähnliche<br />
Kunstgegenstände, Mona beobachtet im Taschenspiegel<br />
die Entwicklung eines winzigen Pickels, Ina schreibt Tagebuch.<br />
Schwere Schultaschen sind bei den Mädchen out.<br />
Kleine Handtaschen mit Schminkzeug reichen<br />
völlig. Manche Schüler werden pampig und fühlen<br />
sich ständig angegriffen. Andere entwickeln<br />
Allmachtsfantasien und duzen ihre LehrerInnen.<br />
Die Leistungen sinken bei allen rapide. Ein Vater<br />
ändert daraufhin verärgert sein Testament.<br />
Der Klassenraum wird zu einer olfaktorischen<br />
Erlebniszone: Körpereigene Duftstoffe, Zigarettenaroma<br />
und süßliche Rasierwässer überlagern<br />
sich. Nach dem Sportunterricht kommt jede<br />
Menge Deo-Spray zum Einsatz. Wozu duschen?<br />
Bei vielen Mädchen äußert sich die Pubertät in<br />
gnadenlosen Beurteilungen des eigenen Körpers.<br />
Anscheinend verfügt jede Familie über einen<br />
doofen Bruder, der zielsicher weiß, wie man<br />
Schwestern am besten ärgert. Das bewährte Reiz-<br />
Reaktions-Schema: „Du hast ja Zellulitis / einen<br />
fetten Hintern!“ Mädchen in der Pubertät tragen<br />
deshalb riesige Hosen oder knoten sich selbst im<br />
Sportunterricht eine Jacke um die Taille.<br />
Was Peter Baldus angesichts der Pläne für die Uni in<br />
Koblenz und Landau befürchtet …<br />
Max versteht seine Mitschüler nicht mehr. Er<br />
macht weiter Hausaufgaben und beteiligt sich<br />
mit kindlichem Eifer am Unterricht. Er brüllt<br />
nicht unmotiviert auf, rennt nicht beleidigt raus<br />
und spielt nicht mit Rasierklingen. Die anderen<br />
Kerle in der Klasse lachen, wenn er mit piepsiger<br />
Stimme ein Gedicht aufsagt. Wahrscheinlich<br />
setzt seine Pubertät mit voller Wucht in der 10.<br />
Klasse ein. Er wird in jede Richtung zwanzig<br />
Zentimeter wachsen und sich für Spott und<br />
Ungemach an seinen Mitschülern rächen. Mit<br />
Sicherheit werde ich deshalb jede Woche ein<br />
ernstes Gespräch mit ihm führen.<br />
Und heimlich meinen Kollegen beneiden, der<br />
sich in die Erwachsenenbildung gerettet hat.<br />
Gabriele Frydrych<br />
32 Beilage zur E&W: <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 4 / 2012