Informatische Ideen im Mathematikunterricht - Gesellschaft für ...
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proceedings<br />
Ulrich Kortenkamp; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth<br />
(Hrsg.)<br />
<strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Bericht über die<br />
23. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
„<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik“ in der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Didaktik der Mathematik e.V.<br />
vom 23. bis 25. September 2005 in Dillingen an der Donau
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />
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Ulrich Kortenkamp; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.)<br />
<strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Bericht über die 23. Arbeitstagung des Arbeitskreises „<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“ in der <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Didaktik der Mathematik<br />
e.V. vom 23. bis 25. September 2005 in Dillingen an der<br />
Donau<br />
ISBN 978-3-88120-471-2<br />
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung<br />
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Disketten und andere Medien.<br />
© 2008 by Verlag Franzbecker, Hildeshe<strong>im</strong>, Berlin
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Ulrich Kortenkamp, Hans-Georg Weigand, Thomas Weth: Vorwort der Herausgeber 5<br />
1 Leitgedanken zur Tagung „<strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>“ . . . . . . . . . 5<br />
2 Der Tagungsband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
I Hauptvorträge und Podiumsdiskussion 7<br />
2 Astrid Beckmann, Schwäbisch Gmünd: <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> –<br />
Möglichkeiten und Chancen 9<br />
1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
2 <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> – Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
3 <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> – Chancen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
3 Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn: Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische<br />
Informatiksysteme als Unterrichtsgegenstand? 17<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
2 Fachdidaktik und Fachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
3 Sozio-technische Informatiksysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
4 Informatiksysteme <strong>im</strong> Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
5 Informatik Lernlabor — ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />
6 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />
4 Torsten Brinda, Erlangen: Wechselwirkungen zwischen mathematischer und informatischer<br />
Bildung 37<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
2 Wirkungen der Mathematik auf die informatische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
3 Informatiksysteme als Lernhilfen <strong>für</strong> die mathematische Bildung . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
4 Wirkungen der Informatik auf die mathematische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />
5 Peter Bender, Paderborn: Brauchen wir ein Schulfach „Informatik“? — Eine Podiumsdiskussion<br />
43<br />
1 Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
2 Das Podium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
3 Die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
4 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
II Vorträge 47<br />
6 Christine Bescherer, Flensburg: Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie – Übertragung<br />
des FITness-Konzepts auf die Mathematiklehrerausbildung 49<br />
1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
2 Das FITness-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
3 Die Veranstaltung „Einführung in die Informatik“ <strong>für</strong> alle Lehrämter der Mathematik . . . 51<br />
4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
7 Hans-Jürgen Elschenbroich, Düsseldorf: Back to the roots 55<br />
1 Quadrieren und Radizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
2 Heron-Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
3 HERONS Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
4 Wurzelschnecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
5 Wurzelziehen nach EUKLID . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
1
8 Martin Epkenhans, Paderborn: Laufzeitanalysen, Wachstumsfunktionen und asymptotische<br />
Untersuchungen 59<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
2 Algorithmen in der Informatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
3 Anforderungen an den <strong>Mathematikunterricht</strong> aus Sicht der Informatik . . . . . . . . . . . 60<br />
4 Realisierungen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
5 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
9 Andreas Filler, Heidelberg: Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen: Generieren<br />
von Bewegungsbahnen sowie von Geraden und Kurven als Punktmengen 63<br />
1 Einleitung, Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />
2 Einbeziehung von Grafiksoftware oder CAS <strong>für</strong> die Behandlung von Parameterdarstellungen 64<br />
3 Geraden und Ebenen als Punktmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />
4 Die Zeit als Parameter — Generieren einfacher Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />
5 Parameterdarstellungen von Kreisen und einigen weiteren Kurven . . . . . . . . . . . . . 67<br />
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
10 Dörte Haftendorn, Lüneburg: Krypto-logisch 73<br />
1 Mathematische Grundlagen des RSA-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
2 Didaktische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
3 Algorithmische Aspekte <strong>im</strong> Hinblick auf die Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74<br />
4 <strong>Gesellschaft</strong>liche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
11 Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd: Strukturieren mit Algorithmen 77<br />
1 Algorithmen in der Schule? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
2 Rezepte oder Algorithmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
3 Zusammenfassung: Funktionen von Algorithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
4 Schlussbemerkung: Programmieren und <strong>Mathematikunterricht</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
12 Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken: Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle<br />
von Mathematik und Informatik 87<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
2 Was bedeutet „Informatik“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
3 Zentrale, aktuelle und zukuftsweisende <strong>Ideen</strong> der Informatik . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
4 Exemplarisches Beispiel <strong>für</strong> den Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
13 Herbert Löthe, Ludwigsburg: Erlebnis Mathematik mit Computer — Realisierung am Beispiel<br />
des Folgenbegriffs 101<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
2 Von Inhalten zu Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
3 Die Lernumgebung „Folgen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />
4 Technische Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />
14 Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten: Gute Seiten, schlechte Seiten — Internetangebote<br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong> 109<br />
1 Ausgangslage und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
2 Seminarkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
3 Das Befragungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
4 Erste Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />
15 Fritz Nestle: Papageiengeplapper versus verstandene Sprachproduktion 117<br />
1 Die Inflation der Lernstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />
2 Lernthemen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />
3 Neue Lernstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118<br />
4 Charakterisierung kognitiver Lernthemen und Kriterien der Auswahl . . . . . . . . . . . . 118<br />
5 Lern- bzw. Arbeitsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />
6 Taxonomische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />
2
16 Reinhard Oldenburg, Heidelberg: Vom Nutzen und vom Nachteil der Informatik <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
123<br />
1 Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
2 Mathematik und Informatik — ein schwieriges Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
3 Algorithmen sind gut! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124<br />
4 Mathematik als Zuliefer-Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124<br />
5 Prozess-Objekt-Dualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />
6 Methoden-Werkzeugkasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
7 Problematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
8 Abschlussthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />
17 Jürgen Roth, Würzburg: Dynamik von DGS — Wozu und wie sollte man sie nutzen? 131<br />
1 Alte Idee der beweglichen Konfigurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />
2 Funktionen des DGS-Einsatzes (Wozu?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />
3 Fokussierungshilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132<br />
4 Sinnvoller Einsatz der dynamischen Möglichkeiten von DGS (Wie?) . . . . . . . . . . . . 134<br />
5 D<strong>im</strong>ensionen des Einsatzes von DGS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />
18 Reinhold Thode, Kiel: Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern 139<br />
1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />
2 Eine Unterrichtseinheit zu linearen Gleichungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140<br />
3 Iteratives Lösen von Gleichungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />
4 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />
19 Bert Xylander, Gera: Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> 153<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />
2 <strong>Informatische</strong> Konzepte der Objektorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />
3 Mathematische Interpretationen der objektorientierten Konzeptideen . . . . . . . . . . . . 154<br />
4 Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />
5 Skizze einer „objektorientierten“ Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161<br />
III Arbeitsgruppen 165<br />
20 Andreas Filler, Heidelberg: Arbeitsgruppe: Computergrafik und <strong>Mathematikunterricht</strong> 167<br />
21 Fritz Nestle, Ludwigsburg: Arbeitsgruppe: Konstruktion korrekturgünstiger Aufgaben —<br />
auch mit sofortiger automatischer Auswertung 169<br />
1 Konstruktion korrekturgünstiger Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169<br />
2 Online-Lernkontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169<br />
22 Dörte Haftendorn, Lüneburg: Arbeitsgruppe: Wieviel Programmieren-Können braucht man<br />
in der Mathematiklehre? 171<br />
1 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171<br />
3
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
4
• Vorwort der Herausgeber<br />
Ulrich Kortenkamp, Hans-Georg Weigand, Thomas Weth<br />
1 Leitgedanken zur Tagung<br />
„<strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>“<br />
Seit seiner Gründung führt der Arbeitskreis „<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“ das Wort „Informatik“<br />
in seinem Namen. Dies war <strong>im</strong>mer wieder<br />
Anstoß und Verpflichtung, die Entwicklungen<br />
der Informatik und deren Auswirkungen auf den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> in den Focus der Betrachtungen<br />
zu nehmen.<br />
Einerseits bedeutet dies insbesondere, dass es<br />
die Aufgabe des Arbeitskreises ist, Ziele, Inhalte<br />
und Methoden des <strong>Mathematikunterricht</strong>s bei<br />
Einbeziehung Neuer Technologien kritisch zu hinterfragen<br />
und konstruktive Vorschläge <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf mögliche Veränderungen zu unterbreiten.<br />
Immer wieder war die Frage der Beziehung<br />
des <strong>Mathematikunterricht</strong>s zum Fach und zum<br />
Schulfach Informatik Gegenstand reger Diskussionen.<br />
So stand die Herbsttagung des Arbeitskreises<br />
1994 in Wolfenbüttel unter dem Thema<br />
„Fundamentale <strong>Ideen</strong> - Zur Zielorientierung eines<br />
künftigen <strong>Mathematikunterricht</strong>s unter Berücksichtigung<br />
der Informatik“. Dort wurden unter<br />
anderem folgende Themen angesprochen:<br />
• Wo <strong>im</strong> Fächer-Kanon der allgemeinbildenden<br />
Schule soll die Informatik angesiedelt werden?<br />
(Bender)<br />
• Ansatzpunkte zu Änderungen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
aus Sicht der Informatik (Modrow)<br />
• Mathematik und Informatik - Konkurrenten<br />
oder Partner? (Lehmann)<br />
• Zielsetzungen eines künftigen Mathematik- und<br />
Informatikunterrichts - Überlegungen aus bildungstheoretischer<br />
Sicht (Heymann)<br />
• Programmieren <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> (Winkelmann)<br />
• Entbehrliche Ziele und Inhalte des heutigen <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
(Weigand)<br />
• Neue Ziele und Inhalte eines künftigen <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
(Hischer)<br />
• Fundamentale Konzepte der Informatik be<strong>im</strong><br />
Einsatz mathematischer Software (Köhler)<br />
Im letzten Jahrzehnt hat sich die Informatik<br />
als Wissenschaft – natürlich – weiterentwickelt,<br />
die Institute <strong>für</strong> Informatik wurden ausgebaut, der<br />
gesamte Bereich des Internets kam neu hinzu,<br />
neue Programmierparadigmen entstanden. Während<br />
sich das Schulfach Informatik in der Oberstufe<br />
etabliert hat, gibt es in der Sekundarstufe I<br />
unterschiedliche Entwicklungen: Die „Informationstechnische<br />
Grundbildung“ hat ihren Charakter<br />
als eigenes Fach weitgehend verloren, Informatik<br />
als Pflichtfach in der Sekundarstufe I gibt es in nur<br />
wenigen Bundesländern.<br />
Die Auswirkungen der Informatik zeigen sich<br />
heute unmittelbar in der – fast – jederzeitigen Verfügbarkeit<br />
von Computern, deren – bald – flächendeckender<br />
Anschluss ans Internet und die Mobilität<br />
und Verkleinerung der Geräte. Der Ausbau<br />
der Didaktik der Informatik hat – teilweise – zu<br />
Veränderungen bei Zielen, Inhalten und Methoden<br />
des Informatikunterrichts geführt.<br />
Für die Herbsttagung des Arbeitskreis <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik in Dillingen vom<br />
23. bis 25. September 2005 wurden daher die folgenden<br />
Fragen in den Blickpunkt gerückt:<br />
• Was sind die zentralen aktuellen und zukunftsweisenden<br />
informatischen <strong>Ideen</strong> und in welcher<br />
Art und Weise wirken sie auf den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
ein?<br />
• Welche Möglichkeiten und Chancen bietet ein<br />
verstärktes Einbeziehen dieser (welcher?) <strong>Ideen</strong><br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong>?<br />
• Welches sind die Wechselbeziehungen zwischen<br />
Informatik- und <strong>Mathematikunterricht</strong>?<br />
2 Der Tagungsband<br />
Der Tagungsband der Jahrestagung 2005 wurde<br />
das erste Mal mit der Hilfe des Textsatzsystems<br />
LATEX gesetzt, welches in der Mathematik der übliche<br />
Weg zu hochwertigem Textsatz ist, aber in<br />
der Fachdidaktik dennoch selten benutzt wird.<br />
Die Gestaltung wurde dabei nahe an der traditionellen<br />
Gestaltung der AK-Tagungsbände gehalten.<br />
Seine größten Vorteile konnte LATEX bei<br />
der Literaturverwaltung ausspielen; durch das System<br />
BibTEX wurde eine einheitliche Referenzierung<br />
aller zitierter Quellen erreicht.<br />
Die Umwandlung der (meist in Word-Format<br />
vorliegenden) Vorlagen nach LATEX benötigte erheblichen<br />
Aufwand, wodurch der Tagungsband<br />
auch erst lange nach der Tagung erscheinen konnte.<br />
Wir möchten uns hier<strong>für</strong> besonders bei den Autoren<br />
entschuldigen, die schon lange auf das Erscheinen<br />
ihrer Beiträge gewartet haben.<br />
Die Herausgeber hoffen aber, dass sich der erhöhte<br />
Aufwand gelohnt hat. Zudem kann in den<br />
nächsten Jahren auf die nun erstellten stylefiles<br />
und die vorhandene Literaturdatenbank zurückgegriffen<br />
werden; vielleicht werden wir ja auch einige<br />
Beiträge der nächsten Tagungen direkt <strong>im</strong><br />
LATEX-Format erhalten!<br />
Hans-Georg Weigand<br />
Thomas Weth<br />
Ulrich Kortenkamp<br />
Dezember 2007<br />
5
Ulrich Kortenkamp, Hans-Georg Weigand, Thomas Weth<br />
6
Teil I<br />
Hauptvorträge und Podiumsdiskussion<br />
7
• <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> –<br />
Möglichkeiten und Chancen<br />
Astrid Beckmann, Schwäbisch Gmünd<br />
In unserem technologischen Zeitalter gehören informatische Kenntnisse zur Allgemeinbildung. Da<br />
Mathematik die Hintergrundtheorie der Informatik ist und grundlegende Begriffe und Methoden der<br />
Informatik mathematisch sind, ist hier besonders der <strong>Mathematikunterricht</strong> angesprochen. Im Artikel<br />
werden zunächst mögliche Aspekte der Informatik identifiziert. An Hand von fächerübergreifenden<br />
Beispielen wird sodann gezeigt, dass best<strong>im</strong>mte informatische Aspekte einen Beitrag zum<br />
Mathematiklernen liefern können, indem mathematische Methoden und Inhalte durch informatische<br />
Themen motiviert und bedeutungshaltig erfahren werden.<br />
1 Hintergrund<br />
Mit dem Einbeziehen von informatischen Aspekten<br />
in den <strong>Mathematikunterricht</strong> wird eine<br />
Form des fächerübergreifenden Unterrichts zwischen<br />
Mathematik- und Informatikunterricht angesprochen.<br />
Nach dem Beckmann’schen Modell<br />
(Beckmann, 2003b) muss fächerübergreifender/fächerverbindender<br />
Unterricht <strong>im</strong>mer auf das<br />
Ziel einer Bereicherung <strong>für</strong> das Lernen gerichtet<br />
sein. Die Bereicherung ergibt sich daraus, dass jedes<br />
Kooperationsfach seine eigenen Aspekte einbringt,<br />
also auch Aspekte, die z.B. dem <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
fremd sind. Im konkreten Fall stellen<br />
sich damit die Fragen:<br />
• Welche informatischen Aspekte gibt es? (Möglichkeiten)<br />
• Welche informatischen Aspekte interessieren<br />
aus Sicht des <strong>Mathematikunterricht</strong>s? Mit welchem<br />
Gewinn? (Chancen)<br />
2 <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> –<br />
Möglichkeiten<br />
2.1 Identifizierung informatischer<br />
Aspekte<br />
Eine grobe Einteilung der Informatik führt auf<br />
fünf Aspekte (Beckmann, 2003a):<br />
• Programmieren<br />
• Programmierkonzepte, -sprachen<br />
• Anwendersoftware<br />
• Technik<br />
• Reflexion<br />
Jeder dieser Aspekte enthält viele weitere Einzelaspekte,<br />
die auch <strong>für</strong> sich unterrichtlich interessant<br />
sein können. Darauf wird in 3 eingegangen.<br />
Auf alle Fälle ist Informatik mehr als das Anwenden<br />
von Software. Im Folgenden werden die fünf<br />
Aspekte kurz vorgestellt. Es zeigt sich, dass in vielen<br />
Fällen ein Bezug zum Fach Mathematik bereits<br />
existiert.<br />
Programmieren<br />
Ein wesentlicher Bestandteil der Informatik ist das<br />
Programmieren, das heißt der Entwurf und die<br />
Aufbereitung eines Algorithmus zur Abarbeitung<br />
in einem Rechner. Das Programmieren dient in der<br />
Regel der Lösung einer gestellten Aufgabe. Da es<br />
aus Sicht des Informatikunterrichts nicht das Ziel<br />
sein kann, Programmierspezialisten auszubilden –<br />
Programmieren ist nur ein Unterrichtsthema und<br />
professionelle Software kann ohnehin nicht erreicht<br />
werden –, sollte eher das Kennenlernen von<br />
best<strong>im</strong>mten Denkweisen und Programmierparadigmen<br />
<strong>im</strong> Vordergrund stehen. Dass hier<strong>für</strong> konkrete<br />
Beispiele nötig sind, versteht sich von selbst.<br />
Diese können be<strong>im</strong> Programmieren erfahren werden.<br />
Es fragt sich, ob Programmieren überhaupt<br />
ein interessanter Fremdaspekt <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
ist. In den 70er/80er Jahren wurde <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> bereits programmiert, allerdings<br />
später darauf verzichtet. In Abschnitt 3 werden<br />
Chancen erörtert.<br />
Programmierkonzepte, -sprachen<br />
Im Zusammenhang mit höheren Programmiersprachen<br />
werden vier Konzepte unterschieden:<br />
<strong>im</strong>perativ Modifizierung von Daten auf der<br />
Grundlage des Variablenkonzepts; Eingabewerte<br />
werden in Variablen gespeichert und<br />
durch Anweisungen weiter verarbeitet.<br />
funktional Grundlage ist eine Regel, die angibt,<br />
wie die Eingabe zu kombinieren ist, um eine<br />
Ausgabe zu erzeugen; beruht auf dem Funktionsbegriff<br />
logisch Ziel ist es, eine Anfrage, mit Hilfe von<br />
Fakten und Regeln zu beantworten; wurde<br />
ursprünglich <strong>für</strong> Forschungen der Sprachentwicklung<br />
konzipiert.<br />
Objektorientierung Grundlage ist die Idee,<br />
Kenntnisse über Probleme zu abstrahieren<br />
und in Objekten mit dynamischen und statischen<br />
Eigenschaften, durch Attribute und<br />
Methoden zusammen zu fassen; wurde speziell<br />
<strong>für</strong> die Bewältigung sehr komplexer<br />
Probleme entwickelt. Es fällt auf, dass die<br />
9
Astrid Beckmann, Schwäbisch Gmünd<br />
Konzepte weder der Mathematik noch dem<br />
menschlichen Denken fremd sind. Beispiele:<br />
Der Funktionsbegriff ist mathematisch.<br />
Menschliches Denken ist oft objektorientiert<br />
(vgl. die Untersuchung bei Schwill<br />
1995).<br />
Anwendersoftware<br />
Beispiele <strong>für</strong> Anwendersoftware sind bekanntermaßen<br />
Computer-Algebrasysteme, Dynamische<br />
Geometriesysteme, Raumgeometrieprogramme,<br />
Stochastikprogramme, Tabellenkalkulationsprogramme<br />
usw. usw. Auch wenn Anwendersoftware<br />
von vielen (schulischen) Anwendern oft als der<br />
einzige informatische Aspekt verstanden wird,<br />
stellt sich die Frage, ob es sich bei Anwendersoftware<br />
überhaupt um einen informatischen Aspekt<br />
handelt. Die Zuordnung von Anwendersoftware<br />
zum Informatikunterricht ist durchaus umstritten.<br />
Anwendersoftware wird zum Teil nicht als eigenes<br />
Thema, sondern eher als Anwendung in verschiedenen<br />
Fächern gesehen (vgl. Bartke 2000;<br />
Friedrich 1998 und der aktuelle Verzicht auf das<br />
Fach ITG am Beispiel von Baden-Württemberg).<br />
Zweifelsfrei erfordert das Anwenden auch Themen<br />
aus anderen Fächern. Aus Sicht des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
ist dies besonders deutlich. Viele<br />
Anwendersysteme betreffen die Mathematik und<br />
werden auch <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> genutzt.<br />
Auf die damit zusammen hängenden Chancen<br />
wird in Abschnitt 3 eingegangen.<br />
Technik<br />
In der Informatik geht es um Informationsverarbeitung<br />
und Datenübertragung. Die technische<br />
Realisierung ist der Computer. Dabei werden informatische<br />
Inhalte durch die technische Umsetzung<br />
physikalischer Prinzipien ausgedrückt. Das<br />
Einbeziehen informatischer Inhalte bedeutet damit<br />
hier auch das Einbeziehen physikalischer<br />
Aspekte wie:<br />
Informationsverarbeitung Verarbeiten von Signalen<br />
unter Berücksichtigung vorhandener<br />
Bauelemente wie Diode, Transistor usw.<br />
Datenübertragung Darstellung von Daten durch<br />
Signale, also über physikalische Größen<br />
wie elektrische Spannung oder Lichtstärke<br />
Die angesprochenen physikalischen Anwendungen<br />
betreffen verschiedene Gebiete der Mathematik<br />
(vgl. Beckmann, 2003a). Beachtenswert<br />
ist, dass durch das Einbeziehen informatischer<br />
Aspekte die Boolesche Algebra wieder an Bedeutung<br />
gewinnen könnte.<br />
Reflexion<br />
Ein besonderes Kennzeichen der Informatik bzw.<br />
des Informatikunterrichts ist das reflektierende<br />
10<br />
Vorgehen. Reflexion bezieht sich hier auf zweierlei:<br />
sozialkundliche Reflexion Beurteilung von informatischen<br />
Inhalten in ihrem sozialen<br />
Kontext, zum Beispiel die Frage nach Veränderungen<br />
<strong>im</strong> politischen Leben, <strong>im</strong> Bereich<br />
der Kommunikation, der Arbeitswelt<br />
usw.<br />
mathematische Reflexion betroffen sind grundlegende<br />
Fragen wie die nach Berechenbarkeit<br />
und Entscheidbarkeit sowie die Reflexion<br />
über ein Programm, Terminierung<br />
usw. Aus Sicht des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
ist die sozialkundliche Reflexion <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
eher fremd, während die<br />
mathematische Reflexion aus didaktischer<br />
Sicht ständig Bestandteil des Unterrichts<br />
sein sollte. Dass Informatik an Reflektieren<br />
erinnert, kann als Chance <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
gesehen werden (Hischer &<br />
Weigand, 1998). In Abschnitt 3 wird darauf<br />
eingegangen.<br />
2.2 Identifizierung gemeinsamer<br />
Aspekte von Informatik und<br />
Mathematik<br />
Neben den typisch informatischen Aspekten gibt<br />
es Methoden und Konzepte, die beide Disziplinen<br />
betreffen und damit einen besonderen Ansatz <strong>für</strong><br />
eine Kooperation versprechen. Dies sind (Beckmann,<br />
2003a):<br />
• Modellbildung<br />
• Gemeinsame Methoden: Strukturierung, Algorithmus,<br />
Rekursion und Iteration<br />
• Gemeinsame Inhalte und Begriffe: Berechenbarkeit,<br />
Entscheidbarkeit, Funktion, Variable<br />
• Sprache<br />
In Abschnitt 3 werden einzelne Aspekte an<br />
Hand von Beispielen aufgegriffen und ihre Chancen<br />
diskutiert.<br />
3 <strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> –<br />
Chancen<br />
In diesem Kapitel werden mögliche Chancen an<br />
ausgewählten Beispielen aus dem Vortrag erläutert.<br />
3.1 Chance: Durch den informatischen<br />
Aspekt findet eine intensivere<br />
Auseinandersetzung mit der<br />
Mathematik statt<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt:<br />
Programmieren, Methode der<br />
Variablenzuweisung<br />
Der Euklidische Algorithmus zur Best<strong>im</strong>mung<br />
des größten gemeinsamen Teilers zweier Zah-
<strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> – Möglichkeiten und Chancen<br />
len beruht prinzipiell darauf, dass die ggT-<br />
Best<strong>im</strong>mung auf die ggT-Best<strong>im</strong>mung zweier<br />
kleinerer Zahlen zurückgeführt wird. Dies kann in<br />
einem einfachen interativen Algorithmus realisiert<br />
werden, indem zunächst zwei „Integer-Variablen“<br />
x und y festgelegt werden, die dann nach folgender<br />
Anweisung bearbeitet werden:<br />
If x > y then x := x − y<br />
Besondere Impulse, die sich aus der Informatik<br />
ergeben, sind hier: Das Programmieren erfordert<br />
eine genaue Analyse des Verfahrens. Die Beurteilung<br />
des fertigen Programms muss die Mathematik<br />
einbeziehen. Algorithmus, Iteration, Frage<br />
nach Korrektheit werden direkt thematisiert. Die<br />
Informatik regt zur Reflexion an. Besonders beachtenswert<br />
ist, dass die Informatik hier mit der<br />
Methode der Variablenzuweisung einen speziellen<br />
Beitrag zum inhaltlichen Verstehen des Verfahrens<br />
liefert. Während in der Mathematik der<br />
Euklidische Algorithmus durch einfaches Durchindizieren<br />
(ai = biq + r) schematisch angewandt<br />
werden kann, wird durch die in der Informatik übliche<br />
explizite Zuweisung a ← b und b ← r der<br />
zentrale Gedanke des Verfahrens verdeutlicht.<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt:<br />
Anwendersoftware<br />
In der mathematikdidaktischen Literatur gibt es<br />
zahlreiche Arbeiten, die die Bedeutung von Anwendersoftware<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> aufzeigen<br />
(vgl. insbesondere die Tagungsbände zum<br />
Arbeitskreis „<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik“,<br />
auch Literaturverzeichnis in Beckmann<br />
2003a). Danach liegt der Schwerpunkt der mathematischen<br />
Tätigkeit nicht mehr auf dem „nichtkreativen“<br />
Arbeiten, sondern wird durch Aktivitäten<br />
wie Modellieren, Darstellen, Interpretieren<br />
ergänzt und darauf verlagert. Ein besonderer<br />
Wert des Computereinsatzes kann in der Möglichkeit<br />
gesehen werden, Schüler und Schülerinnen<br />
selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen und<br />
damit zu einer intensiveren Auseinandersetzung<br />
mit der Mathematik anzuregen. Insbesondere ist<br />
dies <strong>im</strong> Zusammenhang mit Dynamischen Geometriesystemen<br />
und entdeckendem Lernen vielfach<br />
aufgezeigt worden (vgl. z.B. o.a. Tagungsbände).<br />
Hier wird auf eine weitere Zusammenfassung<br />
verzichtet und stattdessen zwei Beispiele<br />
aufgezeigt:<br />
In einem Projekt an der PH Schwäbisch<br />
Gmünd wurde der Einsatz des Computers als<br />
Übungs- und Wiederholungsmedium <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in 9. Realschulklassen untersucht<br />
Kittel et al. (2005b,a). Die Erprobung erfolgte in<br />
zwei Klassen des Ostalbkreises mit Tablet-PCs<br />
und an Hand verschiedener Aufgaben, die auf unterschiedlichen<br />
Anwendersystemen beruhen. Die<br />
Aufgaben waren so konzipiert, dass eine selbstständige<br />
Erkenntnisgewinnung möglich ist (vgl.<br />
Abb. 2.1: Zusammenhang zwischen Multiplizieren,<br />
Dividieren und Potenzieren mit positivem und<br />
negativen Exponent)<br />
In der Erprobung zeigte sich, dass in einigen<br />
Fällen der PC tatsächlich zum längeren Probieren<br />
an<strong>im</strong>ierte und eine Lehrperson erst spät oder gar<br />
nicht gerufen wurde, auch wenn die Aufgabe nicht<br />
befriedigend gelöst werden konnte. Offensichtlich<br />
verstanden diese Schüler und Schülerinnen<br />
den Computer als ein Medium <strong>für</strong> eigenständige<br />
Arbeit. Der von den Schülern geäußerte Wunsch<br />
nach mehr Hilfemöglichkeit direkt am Computer<br />
unterstreicht dies (Beckmann, Hole, Kittel, Ladel<br />
2006). In einigen der eingesetzten Aufgabendateien<br />
bietet der Computer direkte Hilfe an. Neben der<br />
ständigen Sicht auf die grundlegenden Formeln<br />
<strong>im</strong> oberen Tabellenbereich war insbesondere auch<br />
die Möglichkeit der direkten Hilfeanforderung gegeben.<br />
Die <strong>im</strong> Hilfesystem aufrufbaren Hilfstexte<br />
und Hilfsbeispiele heben schwerpunktmäßig auf<br />
das Verständnis ab. So wird zum Beispiel bei der<br />
Hilfe zu Aufgabe 3−2 = ... nicht sofort gesagt,<br />
dass diese Potenz gleichwertig zum Term 1<br />
32 ist,<br />
sondern wie diese Potenz entstehen kann:<br />
3 hoch −2 ergibt sich aus einem<br />
Bruch mit dem Zähler 3 hoch 2 und<br />
dem Nenner 3 hoch 4. Das Ergebnis<br />
ist dann 3 hoch (2 − 4), also 3 hoch<br />
−2.<br />
Die Chance zu einer intensiveren Auseinandersetzung<br />
mit Mathematik ergibt sich insbesondere<br />
auch <strong>im</strong> Zusammenhang mit modellierenden<br />
Tätigkeiten. Anregende Beispiele zur vertiefenden<br />
Arbeit in der Analytischen Geometrie mit<br />
dem Porgramm Povray zeigt Filler 2001. Die Konstruktion<br />
eines 3D-Objekts erfordert eine intensive<br />
Beschäftigung mit der Lage und Darstellung<br />
von Punkten, Geraden, Ebenen und Kugeln<br />
(Abb. 2.2). Weitere Beispiele zu diesem Themenkomplex<br />
finden sich zum Beispiel auch bei Leuders<br />
Leuders (2004).<br />
3.2 Chance: Durch den informatischen<br />
Aspekt wird Mathematik vielseitiger<br />
erfahren<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt: Funktionen<br />
Funktionen und Funktionsbegriff betreffen sowohl<br />
die Mathematik, als auch die Informatik.<br />
Das Einbeziehen informatischer Aspekte gestattet<br />
eine vielseitige Behandlung. Die Informatik regt<br />
dazu an, Funktionen und Relationen zu betrachten,<br />
in denen die Argumente nicht <strong>im</strong>mer nur eine<br />
Zahl oder überhaupt eine Zahl sein müssen. Man<br />
denke an die Schaltfunktionen<br />
f Schalt :{0,1} n → {0,1} m<br />
11
Astrid Beckmann, Schwäbisch Gmünd<br />
Abbildung 2.1: Beispiel aus der Datei Potenzieren (Aufgabe Hole, vgl. Beckmann et al. (2006)), Möglichkeit<br />
zum selbstständigen Arbeiten<br />
Abbildung 2.2: Konstruktion eines Schneemanns in „vectory“. Wie lautet die Geradengleichung <strong>für</strong> einen<br />
zusätzlichen Besen?<br />
12
<strong>Informatische</strong> Aspekte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> – Möglichkeiten und Chancen<br />
oder an das Problem des Ordnens von Spielkarten,<br />
die durch Farbe und Buchstaben gekennzeichnet<br />
sind.<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt:<br />
Anwendersoftware<br />
Einige Besonderheiten: Die Anwendersoftware<br />
gestattet das gleichzeitige Erfassen unterschiedlicher<br />
Darstellungsformen. Durch die Dynamisierung<br />
geometrischer Konstruktionen lassen sich<br />
geometrische Zusammenhänge entdecken, Hypothesen<br />
formulieren und an weiteren Beispielen<br />
prüfen. Es ist möglich, viele Beispiele (fast)<br />
gleichzeitig zu erfassen.<br />
Gemeinsamer Aspekt: Variablen<br />
Variablen sind grundlegende Werkzeuge <strong>für</strong> die<br />
Verständigung und <strong>für</strong> Verallgemeinerungen. Empirische<br />
Untersuchungen zeigen, dass Schüler und<br />
Schülerinnen oft nur ein eingeschränktes Verständnis<br />
vom Variablenbegriff haben, dass sie<br />
Schwierigkeiten haben zwischen Variable als Unbekannte<br />
und Variable als allgemeine Zahl zu unterscheiden<br />
(Ursini & Trigueros, 1997; Warren,<br />
1999). Durch den Bezug zur Informatik kann der<br />
Variablenbegriff vielseitiger erfahren werden, indem<br />
zwischen gebundener und freier und zwischen<br />
globaler und lokaler Variable unterschieden<br />
wird (Löthe, 1998).<br />
Abbildung 2.3: Tangente als Grenzwert der Sekante<br />
Gemeinsamer Aspekt: Rekursion und<br />
Iteration<br />
Iteration und Rekursion sind grundlegende Begriffe<br />
der Mathematik. In der Mathematik gibt<br />
es zahlreiche Anwendungen da<strong>für</strong> wie zum Beispiel<br />
Näherungsverfahren <strong>für</strong> Gleichungssysteme,<br />
Intervallschachtelungen und vollständige Induktion.<br />
Iteration und Rekursion sind wichtige Strategien<br />
be<strong>im</strong> Problemlösen. In der Informatik ist es<br />
gängige Praxis, eine Problemlösung iterativ und<br />
rekursiv in einem Programm umzusetzen. Im <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
kann die Behandlung von Iteration<br />
und Rekursion dazu beitragen, <strong>Ideen</strong> zum<br />
Gleichungslösen oder zu Folgen und Reihen zu<br />
entwickeln. Es kann hilfreich sein <strong>für</strong> das Verstehen<br />
mathematischer Begründungsverfahren, zum<br />
Nachweis der Berechenbarkeit, aber auch um entsprechende<br />
Funktionen in Programmen verstehen<br />
zu können. Speziell versprechen Wachstumsprozesse<br />
und Fragen zum Grenzwertbegriff interessante<br />
Ansätze (Abb. 2.3). Ein weites Anwendungsfeld<br />
ergibt sich bei der Konkretisierung iterativer<br />
Vorgänge und ihrer Algorithmisierung in<br />
einem Programm (Abb. 2.4).<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt: Technik<br />
Technische Anwendungen in der Informatik betreffen<br />
viele Gebiete der Mathematik. Neben der<br />
Booleschen Algebra, die <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />
Kodierung eine Rolle spielt, ergeben sich auch<br />
zahlreiche Anwendungen <strong>für</strong> Termumformungen<br />
und das Lösen von Gleichungssystemen. Die<br />
Übertragungsgeschwindigkeit in einem Lichtwellenleiter<br />
lässt sich durch die Anwendung und Lösung<br />
des Brechungsgesetzes ermitteln (Beckmann<br />
2003b).<br />
3.3 Chance: Der informatische Aspekt<br />
leistet einen Beitrag zur Entwicklung<br />
der Problemlösefähigkeit<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt:<br />
Anwendersoftware<br />
Beispiele: Dynamische Geometriesysteme können<br />
durch das Erkennen von Invarianzen Beweisteile<br />
initiieren (Beckmann, 2001). Modulares Arbeiten<br />
(Makros) entspricht der allgemeinen Methode<br />
des Problemlösens, Probleme in Teilprobleme<br />
zu zerlegen (Heugl, 1999; Lehmann, 2000;<br />
Schumann, 2001). Best<strong>im</strong>mte Formen strategischen<br />
Arbeitens können angeregt werden, etwa<br />
durch das Nutzen der Formel- und Kopierfunktionen<br />
in Tabellenkalkulationsprogrammen (Beckmann<br />
et al., 2006) usw..<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt: Programmieren<br />
Das Programmieren enthält typische heuristische<br />
Tätigkeiten und führt auf best<strong>im</strong>mte Strategien<br />
wie Rekursion, Iteration, Modularisierung usw.<br />
(vgl. oben) und die Frage nach einfacheren Algorithmen<br />
oder alternativen Verfahren.<br />
<strong>Informatische</strong>r Aspekt:<br />
Programmierkonzepte<br />
Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Programmierkonzepte<br />
und die Prüfung ihrer jeweiligen<br />
Eignung <strong>im</strong> Kontext spricht allgemeine heuristische<br />
Kompetenzen an.<br />
Beispiel: Gegenüberstellung des <strong>im</strong>perativen<br />
Konzepts und der Objektorientierung zur Berechnung<br />
der Zweierpotenz <strong>für</strong> n ∈ {1,2,...,10}. Imperatives<br />
Konzept: Wiederholung der Elementarschritte:<br />
Berechne <strong>für</strong> i = 1 bis i ≤ n mit i := i+1,<br />
p := p · b . . . Objektorientierung: Datenkapselung<br />
folgendermaßen: Objekt: Zweier-Potenz, Attribute:<br />
Basis 2, Exponent n, Potenzwert p, Methoden:<br />
13
Astrid Beckmann, Schwäbisch Gmünd<br />
Abbildung 2.4: „Kunstwerk“ durch Iteration: Entfalte einen langen Papierstreifen in jedem Schritt „rechtwinklig“<br />
(L-Form). Quelle: http://www.schulpraxis.de/chaos.html<br />
Potenz berechnen, p = 2n<br />
3.4 Chancen: Der informatische Aspekt<br />
motiviert eine Beschäftigung mit<br />
(besonderen) mathematischen<br />
Inhalten und führt auch zu<br />
Veränderungen in den Tätigkeiten<br />
und Inhalten des<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
Beispiele (vgl. dazu Beckmann 2003a):<br />
• Informatik motiviert die bewusste Thematisierung<br />
der Programmierkonzepte<br />
• Modulares Arbeiten motiviert lokales Ordnen<br />
• Die Boolesche Algebra wird aktuell<br />
• Anwendersoftware verlagert vom rechnerischen<br />
auf den geometrisch-grafischen Gehalt eines<br />
Problems<br />
• Das Exper<strong>im</strong>entieren mit dynamischen Geometriesystemen<br />
führt auf Sätze, die ohne DGS<br />
nicht behandelt worden wären<br />
• Die Nutzung des Internets gestattet neue Aktivitäten<br />
wie Chat über Mathematik, Erstellen von<br />
mathematischen Webseiten, Webquests usw.<br />
• Verstärkt werden Aktivitäten wie Modellieren,<br />
Darstellen, Interpretieren<br />
Viele dieser Aspekte zeigen sich zum Beispiel<br />
in der Umsetzung eines fächerübergreifenden<br />
Lehrgangs zwischen Mathematik- und Informatikunterricht<br />
zum Thema Sprache und Grammatik.<br />
Zentrale Aktivitäten eines solchen Lehrgangs<br />
sind das Reflektieren über natürliche Sprache,<br />
das Modellieren der Sprache als formale<br />
Sprache und einer Grammatik. Zentrale Themen<br />
sind Kodierung, Zahldarstellung und technische<br />
Umsetzung vor dem Hintergrund der Booleschen<br />
Algebra. Aus Platzgründen wird hier auf eine genauere<br />
Darstellung verzichtet und zur gründlicheren<br />
Lektüre auf Beckmann 2005 verwiesen.<br />
14<br />
4 Zusammenfassung<br />
Mathematik ist Grundlage <strong>für</strong> viele informatische<br />
Inhalte. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten,<br />
informatische Aspekte in den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
einzubeziehen. Dadurch kann mehr Einsicht<br />
in mathematische Inhalte gewonnen werden.<br />
(Vergessene) mathematische Denkweisen werden<br />
angeregt. Wichtige Kompetenzen werden angesprochen<br />
(Modellieren). Es entstehen interessante<br />
Vernetzungen. Die Bedeutung der Mathematik<br />
wird in vielen Zusammenhängen erfahren. Durch<br />
den informatischen Aspekt findet eine intensivere<br />
Auseinandersetzung mit Mathematik statt und<br />
die Mathematik wird vielseitiger erfahren. Der informatische<br />
Aspekt leistet einen Beitrag zur Entwicklung<br />
der Problemlösefähigkeit und motiviert<br />
eine Beschäftigung mit (besonderen) mathematischen<br />
Inhalten.<br />
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mit Tablet-PCs. In: Vorträge auf der 39. Tagung <strong>für</strong> Didaktik<br />
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15
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
16
• Systemorientierte Didaktik der Informatik —<br />
Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
Der Beitrag versucht in knapper Form, die Grundzüge einer systemorientierten Didaktik der Informatik<br />
zu beschreiben. Er wird sich zunächst mit dem Einfluss der fachwissenschaftlichen Wurzeln<br />
der Informatik und ihrer theoretischen Konzepte auf die Fachdidaktik beschäftigen. Hierbei kommt<br />
der Produkt-Prozess Relation in der Softwareentwicklung eine wesentliche Bedeutung zu. Sie ermöglicht,<br />
Informatiksysteme als Ergebnis eines sozio-technischen Gestaltungsprozesses zu begreifen,<br />
der zugleich ihre Produktqualität und die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen<br />
best<strong>im</strong>mt. In dieser Sichtweise bilden sozio-technische Informatiksysteme, die fachwissenschaftlichen<br />
Methoden ihrer Gestaltung und vor allem ihre medialen Qualitäten einen wichtigen Gegenstandsbereich<br />
des Unterrichtsfachs Informatik. Der Artikel befasst sich daher neben einer Klärung<br />
des Begriffs Informatiksystem <strong>im</strong> Weiteren mit Fragen nach dem allgemein bildenden Beitrag eines<br />
dem systemorientierten didaktischen Ansatz verpflichteten Informatikunterrichts. Ferner werden<br />
Fragen der unterrichtspraktischen Umsetzung angesprochen. Es wird gezeigt, dass sich die von der<br />
systemorientierten Didaktik <strong>für</strong> die Informatik begründete Methode der Dekonstruktion in besonderem<br />
Maße mittels interaktiver computerbasierter Medien realisieren lässt Am Beispiel des Informatik<br />
Lernlabors wird dieses unterrichtsmethodische Konzept verdeutlicht.<br />
1 Einleitung<br />
Ob man sich nun an den Klassikern der didaktischen<br />
Analyse (Klafki, 1995) oder an aktuellen<br />
internationalen Curricula zur informatischen Bildung<br />
orientiert, z.B. ACM (ACM, 2003), UNES-<br />
CO (van Weert & Tinsley, 2000), IEEE (IEEE &<br />
ACM, 2004), es sind zumeist die gleichen Bezugsfragen,<br />
die die curriculare Diskussion und damit<br />
auch die Diskussion fachdidaktischer Konzepte<br />
prägen. Hinter didaktischen Kriterien zur Inhaltsauswahl<br />
und zur Zielbest<strong>im</strong>mung, wie Wissenschaftsorientierung<br />
(relevante Gegenstandsbereiche<br />
und Methoden der Fachwissenschaft <strong>im</strong> Sinne<br />
der Wissenschaftspropädeutik), Erfahrungsorientierung<br />
(Gegenstandsbereich ist persönlicher Erfahrung<br />
der Schüler zugänglich), Schülerorientierung<br />
(Altersgemäßheit, Orientierung an Schülerinteressen)<br />
oder Handlungsorientierung (Gegenstände<br />
lassen sich in einem hohem Maße<br />
durch unterrichtliche Eigenaktivität der Schüler<br />
erschließen) (Ministerium <strong>für</strong> Schule und Weiterbildung,<br />
1999; Behörde <strong>für</strong> Bildung und Sport,<br />
2003) stehen Fragen nach dem. . .<br />
Was Welches sind die zentralen Inhalte des Unterrichtsfachs<br />
Informatik?<br />
Warum Nach welchen Kriterien werden die Inhalte<br />
aus der Vielfalt der informatischen<br />
Themen der Fachwissenschaft ausgewählt,<br />
und welche spezifische allgemein bildende<br />
Bedeutung kommt ihnen zu?<br />
Wozu Welches sind die zentralen Bildungsziele<br />
des Unterrichtsfachs Informatik?<br />
Wie Mit welchen spezifischen Unterrichtsmethoden<br />
sollen die Inhalte <strong>im</strong> Informatikunter-<br />
richt vermittelt werden, und in welcher Relation<br />
stehen diese zu den fachwissenschaftlichen<br />
Methoden der Informatik?<br />
Womit Welche spezifischen Medien können <strong>im</strong><br />
Unterrichtsfach eingesetzt werden, und<br />
welche Bedeutung kommt dabei professionellen<br />
Entwicklungswerkzeugen der Informatik<br />
zu?<br />
Für wen Für welche Zielgruppen soll Informatik<br />
bzw. informatische Bildung in welcher<br />
schulischen Organisationsform angeboten<br />
werden?<br />
Der vorliegende Beitrag kann auf diese Fragen<br />
keine umfassenden Antworten liefern. Er untern<strong>im</strong>mt<br />
allerdings den Versuch, die mit den Fragen<br />
aufgeworfenen didaktischen Entscheidungsebenen<br />
aus der Perspektive des Verhältnisses von<br />
Fachdidaktik zur Fachwissenschaft Informatik zu<br />
beleuchten. Dabei sollen aus dem Verständnis<br />
zentraler Anliegen der Fachwissenschaft Informatik<br />
heraus, Schlussfolgerungen <strong>für</strong> Methoden, Bildungsziele<br />
und Inhalte des Unterrichtsfachs Informatik<br />
gezogen werden. Um der Gefahr des Entwurfs<br />
einer ‘Abbilddidaktik’ zu entgehen, müssen<br />
die Spezifika des Unterrichtsfaches Informatik <strong>im</strong><br />
schulischen Fächerkanon vor allem <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf ihre allgemein bildenden Funktionen analysiert<br />
und begründet werden. In diesem Zusammenhang<br />
spielen auch die medialen Qualitäten<br />
von Informatiksystemen und die Bedeutung digitaler<br />
Medien in der Informations- und Wissensgesellschaft<br />
eine wichtige Rolle.<br />
So wird gezeigt werden, dass das Unterrichtsfach<br />
Informatik über die inhaltliche und methodische<br />
Beschäftigung mit sozio-technischen In-<br />
17
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
formatiksystemen hinaus auch ein fundamentales<br />
Verständnis <strong>für</strong> den kompetenten Umgang und die<br />
bewusste Nutzung computerbasierter Medien fördern<br />
und damit einen allgemein bildenden Beitrag<br />
leisten kann.<br />
Im Unterrichtsfach selbst konfrontiert die zunehmende<br />
Nutzung von computerbasierten Medien<br />
in Lehr- Lernprozessen verschiedenster Fachgebiete<br />
auch die Didaktik der Informatik mit der<br />
Frage, welche Bedeutung den Informations- und<br />
Kommunikationstechniken nicht nur als Unterrichtsgegenstand<br />
sondern auch als Medium in der<br />
informatischen Bildung beigemessen wird. Hier<br />
hat der Einsatz des Computers, z. B. <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
bei der Codierung von Programmen,<br />
<strong>im</strong> Vergleich zu anderen Fächern eine lange<br />
Tradition. Mit den erweiterten medialen Funktionen<br />
des Computers veränderte sich auch die Palette<br />
der Einsatzszenarios von IuK-Techniken in der<br />
informatischen Bildung. Diese <strong>im</strong> Vergleich zum<br />
traditionellen Einsatz von Computern erweitere<br />
mediale Funktion kommt besonders jenen didaktischen<br />
Ansätzen und methodischen Vorgehensweisen<br />
entgegen, die die Visualisierung von Prozessen<br />
und Zusammenhängen <strong>im</strong> Kontext von Informatiksystemen<br />
zu deren Verständnis und ihrer<br />
interaktiven Modellierung <strong>im</strong> Unterricht nutzen<br />
wollen. Die erweiterten medialen Funktionen<br />
des Computers <strong>im</strong> Informatikunterricht ermöglichen<br />
zugleich auch eine größere Bandbreite<br />
methodischer Variationen und eröffnen vielfältige<br />
Sichtweisen auf die Genese und Praxis soziotechnischer<br />
Informatiksysteme. Der hier vorliegende<br />
Beitrag versucht, dieses Postulat zu begründen.<br />
Ausgehend von dem Blickwinkel einer systemorientierten<br />
Didaktik der Informatik auf soziotechnische<br />
Informatiksysteme wird deshalb auch<br />
der Einsatz von computerbasierten Medien <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
beschrieben und die daraus resultierenden<br />
methodischen Implikationen erörtert.<br />
2 Fachdidaktik und<br />
Fachwissenschaft<br />
2.1 Historische Wurzeln des Faches und<br />
fachwissenschaftliches<br />
Selbstverständnis<br />
Ausgangspunkt der Überlegungen ist zunächst<br />
das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis<br />
des Faches Informatik und die dadurch begründeten<br />
zentralen Fachinhalte und Methoden.<br />
Hier stößt didaktische Theoriebildung an<br />
eine erste schwer zu überwindende Hürde.<br />
Die relativ junge Fachwissenschaft Informatik<br />
befindet sich hinsichtlich eines geschlossenen<br />
fachwissenschaftlichen Selbstverständnisses und<br />
der Entwicklung einer Theorie der Informatik<br />
noch in einem Anfangsstadium. Informatik<br />
18<br />
wird u. a. als Ingenieur-, Arbeits-, Kognitions-<br />
, (Software)Technik-, Struktur- oder Gestaltungswissenschaft<br />
bzw. als Kultur- und Wissenstechnik<br />
angesehen (vgl. Coy et al., 1992; Schubert<br />
& Schwill, 2004). Eine Vielzahl von unterschiedlichen<br />
Sichtweisen erfordert von didaktischer<br />
Theoriebildung in ihrem Entdeckungs- und<br />
Begründungskontext (vgl. Magenhe<strong>im</strong>, 1992) unter<br />
Beachtung von bildungstheoretischen Konzepten<br />
eine fachwissenschaftliche Fokussierung auf<br />
die <strong>für</strong> den Unterricht wesentlichen und in zeitlicher<br />
Hinsicht stabilen Inhalte und Methoden.<br />
Einen entsprechenden Versuch hat beispielsweise<br />
Schwill (1993) mit seinem Konzept der fundamentalen<br />
<strong>Ideen</strong> unternommen. In seinem Ansatz<br />
findet zunächst jedoch eine weitgehende Eingrenzung<br />
auf die formalen Methoden der Fachwissenschaft<br />
Informatik statt.<br />
Eindeutig sind die mathematischen und ingenieurwissenschaftlichen<br />
Wurzeln des Faches zu<br />
identifizieren, wenngleich sich mit der fachwissenschaftlichen<br />
Etablierung der Disziplin auch eine<br />
eigenständige Schwerpunktsetzung herausbildet.<br />
Die Abb. 3.1 beschreibt eine nicht notwendigerweise<br />
eindeutige Zuordnung von fachwissenschaftlichen<br />
Themenstellungen der Informatik<br />
zu ihren Bezugswissenschaften. Am Beispiel der<br />
Beziehung zur Mathematik wird deutlich, dass<br />
zunächst genuin mathematische Themenbereiche,<br />
wie Algorithmik oder Zahlentheorie aufgrund des<br />
informatischen Bestrebens nach Maschinisierung<br />
von Formalismen in informatiknahe Fragestellungen<br />
verwandelt wurden. Hier<strong>für</strong> steht etwa das<br />
Thema Berechenbarkeit und Komplexität von Algorithmen<br />
mit dem <strong>für</strong> die Informatik zentralen<br />
Konzept der Turing Maschine oder das Thema<br />
Kryptografie. Ähnliches lässt sich auch <strong>für</strong> die<br />
Ingenieurwissenschaften feststellen, wo mit der<br />
Softwaretechnik und ihren Vorgehensmodellen eine<br />
neue informatikspezifische Teildisziplin mit<br />
weiteren Untergliederungen entstanden ist.<br />
Bedingt durch die medialen Qualitäten von Informatiksystemen<br />
sind auch Fragen des Wissenserwerbs<br />
der computergestützten Kommunikation<br />
und Kooperation oder der ‘künstlichen Intelligenz’<br />
in informatischer Perspektive und mit informatischen<br />
Methoden zu behandeln. So werden<br />
Psychologie, Kognitions- und Medienwissenschaften<br />
zu Bezugswissenschaften der Informatik.<br />
Darüber hinaus zeugen die so genannten<br />
‘Bindestrichinformatiken’ wie Medieninformatik,<br />
Rechtsinformatik, Medizininformatik und andere<br />
von den zahlreichen Anwendungs- und Einsatzgebieten<br />
informatischer Methoden.<br />
Es ist Aufgabe der Fachdidaktik zu prüfen,<br />
welche dieser informatischen Inhalte mit unterschiedlichen<br />
historischen Bezugswissenschaften<br />
der Informatik <strong>für</strong> eine unterrichtliche Thema-
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
(A) Mathematik & Theoretische<br />
Informatik<br />
• Formale Logik<br />
• Algorithmen<br />
• Formale Beschreibungen<br />
u. Kalküle<br />
• Numerik<br />
• Zahlentheorie<br />
• Sprache, Grammatik,<br />
Automat<br />
• Berechenbarkeit;<br />
Komplexität<br />
• Turing Maschine<br />
• . . .<br />
(B) Ingenieurwissenschaften<br />
• formale Typografie<br />
• Maschinisierung von<br />
Kalkülen<br />
• techn. Semiotik<br />
• Protokoll<br />
• Embedded Systems<br />
• Mechatronik<br />
• Hardware,<br />
Rechnerarchitektur<br />
• Vernetzung<br />
• Verteilte Systeme<br />
• . . .<br />
(C) Softwaretechnik (D) Kognition und digitale<br />
Medien<br />
• Vorgehensmodelle • Daten<br />
• Projektmanagement • Information<br />
• Modellierungstechniken • Wissen<br />
• Entwurf / Design<br />
• Kommunikation<br />
• HCI / GUI<br />
• Lernen, Arbeiten<br />
• graf. Beschreibungsmittel • Kooperation<br />
• Re-engineering<br />
• Organisation<br />
• Systemgestaltung<br />
• Medien<br />
• Programmiersprache, • Lernplattformen<br />
Compiler<br />
• Wissensmanagement<br />
• . . .<br />
• . . .<br />
Abbildung 3.1: Gegenstandsbereiche informatischer Bildung in Orientierung an der Genese der Fachwissenschaft<br />
und an den <strong>für</strong> die Systemgestaltung relevanten Teilgebieten<br />
tisierung infrage kommen. Um diese Frage zu<br />
beantworten, sollen einerseits einige der zentralen<br />
wissenschaftstheoretischen Konzepte der Informatik<br />
noch etwas genauer umrissen und andererseits<br />
die Frage nach dem allgemein bildenden<br />
Gehalt derartiger Themen erörtert werden. Insbesondere<br />
ist die Frage zu klären, ob die technischen<br />
Bezüge der Informatik dem allgemein bildende<br />
Auftrag schulischer Fächer an einer allgemein bildenden<br />
Schule widersprechen oder ob <strong>im</strong> Gegenteil<br />
das Fach neue Chancen und Perspektiven <strong>für</strong><br />
die Allgemeinbildung an diesen Schulen eröffnet.<br />
2.2 Wissenschaftstheoretische<br />
Konzepte der Informatik<br />
Gehen wir zunächst von dem Postulat aus, dass es<br />
eine wichtige Aufgaben der Informatik ist, Methoden<br />
und fachwissenschaftliche Konzepte bereitzustellen,<br />
um Informatiksysteme zu entwickeln<br />
und zu <strong>im</strong>plementieren. Es lassen sich dann in<br />
der Tradition der jeweiligen Bezugswissenschaften<br />
der Informatik wissenschaftstheoretische Konzepte<br />
ausmachen, die <strong>für</strong> das Verständnis der<br />
Fachwissenschaft Informatik und die informatische<br />
Methodik der Systemgestaltung von zentraler<br />
Bedeutung sind. Hier ist sicher nicht der Raum<br />
um einen kompletten Überblick zu geben oder die<br />
einzelnen Konzepte umfassend dazustellen. Dennoch<br />
sollen einige genannt werden, um zu verdeutlichen,<br />
wo sich aus wissenschaftspropädeutischer<br />
Sicht fachdidaktische Anknüpfungspunkte<br />
<strong>für</strong> eine Auswahl von Lehrinhalten ergeben.<br />
Die Entwicklung von Informatiksystemen<br />
setzt <strong>im</strong> Rahmen der Modellierung das formale<br />
Beschreiben von Datenstrukturen und Algorithmen<br />
voraus. Diese Formalisierung ist gleichzeitig<br />
gekoppelt mit einem Prozess der Abstraktion und<br />
Reduktion durch De-kontextualisierung. Die <strong>Ideen</strong><br />
der Entwickler und Kunden, ausgetauscht <strong>im</strong><br />
Medium von natürlicher Sprache auf der Basis interpretierbarer<br />
Information und vor dem Hintergrund<br />
eines subjektiven Erfahrungskontexts und<br />
subjektgebundenen Wissens, werden durch diesen<br />
Prozess auf formale Daten und deren formalisierbare<br />
Zusammenhänge abgebildet. Sie werden<br />
damit ihrer kontextbezogenen Semantik beraubt,<br />
sind aber nach syntaktisch eindeutigen Regeln<br />
durch Maschinen verarbeitbar. Wissen wird<br />
über den kooperativen Informationsaustausch <strong>im</strong><br />
Softwareentwicklungsprozess in eine Datenstruktur<br />
mit zugehörigen Daten transformiert, mittels<br />
formaler Beschreibungen (Algorithmen) manipulierbar.<br />
Krämer (1988) hat das Resultat dieses Prozesses<br />
<strong>im</strong> Konzept der formalen Typografien treffend<br />
zusammengefasst und beschrieben. Formale<br />
Typografien sind frei von Sinnhaftigkeit, können<br />
nach eindeutigen formalen Regeln manipuliert<br />
werden und basieren auf einem eindeutig zu<br />
identifizierenden Zeichensystem.<br />
Dieser Aspekt, die Fähigkeit von Computern,<br />
Zeichensysteme zu manipulieren, hat ihnen den<br />
Ruf als universelle symbolverarbeitende Maschine,<br />
und der Informatik die Charakterisierung als<br />
technische Semiotik eingetragen. Text erhält damit<br />
auch einen Doppelcharakter. Einerseits Medium<br />
zur menschlichen Kommunikation und andererseits<br />
Medium zur Steuerung von Maschinen. Im<br />
einen Fall mit kontextgebundener Semantik, <strong>im</strong><br />
anderen Fall sinnfrei und lediglich syntaktischen<br />
Regeln gehorchend.<br />
Diese fundamentalen Zusammenhänge der<br />
Maschinisierung von Wissen finden ihre logische<br />
Ergänzung in der Äquivalenz zwischen Klassen<br />
von Automaten und Klassen spracherzeugender<br />
Grammatiken (Chomsky, 1957). Mit dem Konzept<br />
der Turingmaschine hat die theoretische Informatik<br />
ein adäquates Beschreibungsmittel zur<br />
Durchführbarkeit dieser syntaktischen Regeln folgenden<br />
formalen Operationen gefunden.<br />
19
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
Abbildung 3.2: D<strong>im</strong>ensionen von Informatiksystemen<br />
nach Wegner (1997)<br />
Wegner (1997) zeigte jedoch, dass diese formalisierbare<br />
D<strong>im</strong>ension von Informatiksystemen<br />
nicht ausreicht, um derartige Systeme in ihrer ganzen<br />
Komplexität zu erfassen. In seiner nicht unumstrittenen<br />
Abhandlung zum ‘Verhältnis von Algorithmik<br />
und Interaktion’ wies er zurecht darauf<br />
hin, dass traditionelle Algorithmen zwar einen<br />
sehr wichtigen, aber eben nur einen Teil möglicher<br />
Aktivitäten eines Informatiksystems abdecken.<br />
Wichtige Komponenten heutiger Informatiksysteme<br />
bilden die Benutzungsoberflächen<br />
(GUI: Graphical User Interface), die die Interaktionen<br />
zwischen dem formal-technischen Teil des<br />
Systems und den Nutzern (HCI: Human Computer<br />
Interaction) ermöglichen. Die Vielfalt an<br />
möglichen Nutzereingaben und deren Einfluss auf<br />
die inneren Systemzustände sind mit deterministischen<br />
Regeln kaum umfassend zu beschreiben.<br />
Ähnliches gilt <strong>für</strong> parallele Prozesse und verteilte<br />
Systeme, wo etwa bei Routing-Problemen oder<br />
der Auslastung von Prozessor-Knoten be<strong>im</strong> Grid<br />
Computing nichtdeterministische, von sich stets<br />
verändernden äußeren Rahmenbedingungen abhängende<br />
externe Einflüsse die inneren Systemzustände<br />
verändern.<br />
Ein weiteres zentrales, die Hardware von Informatiksystemen<br />
betreffendes Konzept der Informatik<br />
ist die von Neumann Architektur von Prozessoren,<br />
die basierend auf der dynamischen Speicherung<br />
der Programmablaufsteuerung einen entscheidenden<br />
Wendepunkt in dem historisch lang<br />
andauernden Bemühen darstellte, formale Kalküle<br />
durch mechanische Konstruktionen ausführen zu<br />
lassen (z.B. Napier Stäbe, Schickards Rechenmaschine<br />
u. Ä.).<br />
Für informatische Lernprozesse ist es daher<br />
wichtig, diese typischen Eigenschaften von Informatiksystemen<br />
auch zu thematisieren und Informatikunterricht<br />
nicht nur auf die Codierung<br />
sequentieller, zumeist aus der Mathematik bekannter<br />
Algorithmen in einer Programmiersprache<br />
zu reduzieren. Insofern sollten softwareergonomische<br />
Fragestellungen und die Gestaltung von<br />
20<br />
Benutzungsoberflächen ebenso zu Gegenstandsbereichen<br />
des Informatikunterrichts gehören, wie<br />
die ereignisorientierte Programmierung oder vernetzte<br />
Systeme. Auch mechatronische Fragestellungen,<br />
die den Zusammenhang von Hard- und<br />
Software, Aktoren und Sensoren, wie bei eingebetteten<br />
Systemen verdeutlichen, sollten nicht<br />
ausgeklammert sondern anhand einfacher Beispiele<br />
verdeutlicht werden.<br />
3 Sozio-technische<br />
Informatiksysteme<br />
3.1 Erscheinungsformen von<br />
Informatiksystemen und<br />
Informatikunterricht<br />
Die systemorientierte Didaktik postuliert, dass es<br />
eine der zentralen Aufgaben der Fachwissenschaft<br />
Informatik sei, Informatiksysteme (IS) mit fachspezifischen<br />
Methoden zu gestalten. Im Sinne des<br />
didaktischen Prinzips der Wissenschaftsorientierung<br />
fällt dann dem Unterrichtsfach Informatik<br />
die Aufgabe zu, Informatiksysteme unter Produkt-<br />
Prozess Aspekten als zentralen Gegenstandsbereich<br />
informatischer Bildung zu betrachten. So<br />
können einerseits formale, strukturierende Methoden<br />
z. B. zum Zwecke der Abstraktion und Modellierung<br />
Inhalte des Informatikunterrichts sein.<br />
Andererseits beinhaltet die <strong>für</strong> die Systemgestaltung<br />
wesentliche Modellierung neben technisch<br />
funktionalen auch kommunikative Prozesse und<br />
interpersonale Handlungsabläufe (vgl. z.B. Floyd<br />
et al., 1992). Somit können, die mit einem Informatiksystem<br />
modellierten und bei dessen Einsatz<br />
vollzogenen Prozessveränderungen auf technischfunktionaler,<br />
kommunikativer und interpersonaler<br />
Handlungsebene in didaktischen Betrachtungen<br />
nicht ausgeklammert bleiben. Probleme und<br />
Methoden der Schnittstellengestaltung, der Softwareergonomie,<br />
der Kommunikation in vernetzten<br />
Systemen und der Veränderung von sozialen<br />
Handlungssystemen etc. sollten deshalb ebenfalls<br />
Unterrichtsgegenstände sein.<br />
Ein erstes Konzept zu einem systemorientierten<br />
Ansatz zur Didaktik der Informatik findet<br />
sich in einer Diplomarbeit von Foegen (1996),<br />
der Systeme als fundamentale Idee der Informatik<br />
beschreibt und auf die bedeutende Rolle von<br />
Akteuren (Auftraggeber, Entwickler, Nutzer) bei<br />
der Modellierung von Informatiksystemen verweist.<br />
In späteren Publikationen (z. B. Magenhe<strong>im</strong>,<br />
2001a,b) wurde der Ansatz unter Rekurs auf<br />
techniksoziologische Diskussionen begründet und<br />
unterrichtsmethodisch mit dem Konzept der Dekonstruktion<br />
verbunden.<br />
Ausgangspunkt <strong>für</strong> die unterrichtliche Auseinandersetzung<br />
können konkrete <strong>im</strong> Erfahrungsfeld<br />
der Schülerinnen und Schüler angesiedelte Informatiksysteme<br />
sein. Sie können unterschiedlichen
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
gesellschaftlichen Anwendungsfeldern der Informationstechnik<br />
entstammen und von unterschiedlicher<br />
Komplexität sein. Als Erscheinungsformen<br />
derartiger Informatiksysteme <strong>im</strong> Erfahrungsumfeld<br />
der Schüler/innen sind z.B.<br />
• elektronische Geräte (Handys, MP3-Player,<br />
Spielkonsolen, . . . )<br />
• Verkehrsmittel (PKW, Verkehrsleitsysteme, . . . )<br />
• PCs mit Software (Lernsoftware, Lernplattform,<br />
Spielesoftware, . . . )<br />
• Automaten (Bankautomaten, Getränkeautomaten,<br />
Fahrkartenautomaten, . . . )<br />
• Informationssysteme (webbasierter Veranstaltungskalender,<br />
Fahrplanauskunft, Wettervorhersage,<br />
. . . )<br />
• Handels- und Tauschsysteme (Musiktauschbörsen,<br />
Homebanking, Internetauktionen, Partnersuche,<br />
. . . )<br />
• Kommunikationsmedien (Chat, Podcast, Wikis,<br />
Blog, . . . )<br />
zu nennen. In einer Vielzahl weiterer gesellschaftlicher<br />
Anwendungsfelder der Basistechnologie<br />
Mikroelektronik lassen sich Informatiksysteme<br />
identifizieren, die dem Kriterium der Schülerorientierung<br />
genügen.<br />
Unter einem Informatiksystem wird wegen<br />
der sozialen Implikationen des Softwareentwicklungsprozesses<br />
und der oben beschriebenen Sozialität<br />
der Produkteigenschaften von Software<br />
<strong>im</strong>mer ein sozio-technisches Informatiksystem<br />
verstanden. Als sozio-technisches Informatiksystem<br />
(IS) wird dabei die Einheit von Software,<br />
Hardware und assoziiertem sozialen Handlungssystem<br />
von Personen angesehen, die mit dem<br />
technischen Teil des Systems und miteinander interagieren.<br />
Zur Software zählt hierbei insbesondere<br />
auch die grafische Benutzungsoberfläche (GUI<br />
— Graphical User Interface) während der Hardware<br />
auch elektronische und mechanische Bauteile<br />
zur Steuerung peripherer technischer Prozesse<br />
(Embedded Systems) und zur Kommunikation<br />
mit anderen Informatiksystemen (Vernetzung) zugeordnet<br />
werden können. Es ist zu beachten, dass<br />
eine eindeutige Abgrenzung der Komponenten eines<br />
IS nicht <strong>im</strong>mer möglich ist, da z. B. Teile einer<br />
Software in einem Produkt auch in Form von<br />
Hardware realisiert werden könnten. Der technische<br />
Teil des Systems ist unauflöslich mit dem sozialen<br />
Handlungssystem verbunden. Die Software<br />
eines IS repräsentiert fundamentale <strong>Ideen</strong> und<br />
fachwissenschaftliche Methoden der Informatik,<br />
wie etwa Algorithmen, Kontroll- und Datenstrukturen,<br />
Entwurfsmuster, Automaten, Sprachkonzepte<br />
etc. Ferner beinhaltet die Software modellierte<br />
Abbildungen von Arbeitsabläufen, die den<br />
sozialen Kontext des Einsatzumfeldes des IS mit<br />
den dort angelegten Handlungsrollen von Perso-<br />
nen widerspiegeln und beeinflussen. Mittlerweile<br />
wird in zahlreichen Grundsatzpapieren, Lehrplänen<br />
und didaktischen Konzeptionen der Begriff<br />
‘Informatiksystem’ verwendet, um Gegenstandsbereiche,<br />
Zielsetzungen und auch die Methodik<br />
des Informatikunterrichts herzuleiten und<br />
zu begründen, z. B. Arbeitskreis 7.3.1 der G.I. e.V.<br />
(1993); Baumann (1996). Oft sind jedoch der wissenschaftstheoretische<br />
Hintergrund und die Einbindung<br />
des sozialen Handlungssystems in den<br />
technischen Part des Informatiksystems unklar.<br />
3.2 Theoretische Bezüge<br />
Auch <strong>im</strong> Rahmen dieses Beitrags ist eine umfassende<br />
Auseinandersetzung mit den techniksoziologischen<br />
und wissenschaftstheoretischen Hintergründen<br />
des Begriffs ‘sozio-technisches Informatiksystem’<br />
nur sehr begrenzt möglich. Der Begriff<br />
<strong>im</strong>pliziert die Existenz eines technischen und eines<br />
sozialen Subsystems, wobei der technische<br />
Part des Systems unauflösbar mit dem von interagierenden<br />
Personen gebildeten Handlungssubsystem<br />
verbunden ist. Die wissenschaftstheoretischen<br />
Wurzeln des Begriffs liegen nicht nur in der<br />
Informatik sondern auch in der Techniksoziologie.<br />
Die systemorientierte Technikwissenschaft<br />
hat ihre Ursprünge in der allgemeinen Systemtheorie<br />
von von Bertalanffy (1949) und in<br />
der Kybernetik von Wiener (Wiener, 1965). Beeinflusst<br />
wurde sie auch von Diskussionen um<br />
die Systemtheorie von Luhmann (1984). Syrbe<br />
(1995) hat in Anlehnung an Ropohl (z. B.<br />
Ropohl, 1999a) versucht, den Begriff des soziotechnischen<br />
Informatiksystems <strong>für</strong> die informatische<br />
Diskussion nutzbar zu machen. Er bezieht<br />
sich auf Ropohls Konzept eines abstrakten Handlungssystems.<br />
Ropohl unterscheidet vier Systemmodelle<br />
(vgl. z.B. Syrbe, 1995, S. 224):<br />
1. abstrakte Handlungssysteme (Instanz, die<br />
Handlungen vollzieht)<br />
2. menschliche Handlungssysteme (kooperierende<br />
Personen und Personengruppen, Organisationsmodelle)<br />
3. Sachsysteme/technische Systeme (künstlich<br />
hergestellte, planmäßig nutzbare, gegenständliche<br />
Gebilde)<br />
4. sozio-technische Systeme (soziale und personale<br />
Funktionsträger sind mit Sachsystemen<br />
aggregiert)<br />
In die letzte Gruppe fallen auch die soziotechnischen<br />
Informatiksysteme, die es daher auch<br />
hinsichtlich ihrer sozialen D<strong>im</strong>ensionen zu analysieren<br />
gilt (Ropohl, 1999b, S. 1):<br />
„The concept of the socio-technical<br />
system was established to stress the<br />
reciprocal interrelationship between<br />
21
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
humans and machines and to foster<br />
the program of shaping both the<br />
technical and the social conditions of<br />
work, in such a way that efficiency<br />
and humanity would not contradict<br />
each other any longer.“<br />
Hesse (1994) verwiesen von Seiten der Informatik<br />
bei ihrer Begriffsbest<strong>im</strong>mung von Softwaretechnik<br />
ebenfalls auf den Systembegriff. In<br />
einem sozio-technischen Informatiksystem kann<br />
zwischen der technischen Repräsentationsebene<br />
(Maschinen) der Kommunikationsebene (Gruppe<br />
von Menschen) und der Wissensebene (subjektive<br />
Sicht des Einzelnen) unterschieden werden.<br />
Auf der technischen Ebene werden Daten in<br />
Form von Signalen und Symbolen ausgetauscht<br />
und verarbeitet. Auf der Kommunikationsebene<br />
dient die Sprache zum Austausch von Nachrichten.<br />
Auf der Wissensebene ist schließlich die Information<br />
angesiedelt, die des Interpretationskontextes<br />
<strong>für</strong> die Nachrichten bedarf. Daten bedürfen<br />
der Codierung in einer Sprache bevor sie als<br />
Nachricht und durch individuelle Interpretation zu<br />
subjektivem Wissen verarbeitet werden können.<br />
Dieses systemische Konzept stellt einen Zusammenhang<br />
zwischen Wissen, Information und Daten<br />
her und begründet mit in diesem Zusammenhang<br />
einen subjektivistisch geprägten Wissensbegriff.<br />
Subjektive Wissensbestände und normative<br />
Positionen können die Bewertung und Entwicklung<br />
sozio-technischer Systeme maßgeblich beeinflussen,<br />
vor allem dann, wenn sie als wesentliche<br />
Bestandteile öffentlicher Meinung in einer<br />
<strong>Gesellschaft</strong> zum Maßstab praktischen Handelns<br />
werden (Tondl, 1999, S. 12):<br />
“The process of integrating knowledge,<br />
value-related, and other global,<br />
intellectual, or spiritual factors, and<br />
some religious ideas, should not be<br />
ignored when explaining the genesis<br />
and key motives and factors of technologically<br />
relevant initiatives, technological<br />
changes, and major innovations.”<br />
Subjektives Wissen und subjektive problembezogene<br />
Einstellungen (z.B. der Entwickler,<br />
Auftraggeber und Anwender) sind es auch, die<br />
Gestaltungsentscheidungen und die Nutzung von<br />
Informatiksystemen best<strong>im</strong>men. Nygaard (1986)<br />
hat in seinem Perspektivenkonzept zur Softwareentwicklung<br />
betont, dass es sehr unterschiedliche<br />
und dennoch schlüssige Sichtweisen auf<br />
ein Informatiksystem geben kann, die die Bewertung<br />
von sozio-technischen Informatiksystemen<br />
best<strong>im</strong>men können. Die Berücksichtigung einer<br />
derartigen mehrperspektivigen Sicht auf Informatiksysteme<br />
sollte auch <strong>für</strong> informatische Bildungs-<br />
22<br />
prozesse gelten, zumal sie auch unter lerntheoretischer<br />
Perspektive gefordert wird (s. u.).<br />
Auch neuere Ansätze zur Techniksoziologie,<br />
wie etwa Krohn (Krohn, 1992) in seiner ‘Sozialtheorie<br />
der Technik’ betonen die Bedeutung des<br />
sozialen Kontextes eines technischen Systems und<br />
die Notwendigkeit seiner Analyse als Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> ein umfassendes Systemverständnis bei<br />
der Modellierung. Engbring (Engbring, 2003) hat<br />
in Anknüpfung an Keil-Slawik (2001) und Krohn<br />
(Krohn, 1992) den Begriff der Kontextuellen Informatik<br />
beschrieben. Bei diesem Ansatz werden<br />
vor allem die medialen Funktionen von Informatiksystemen<br />
und deren Bedeutung <strong>für</strong> menschliches<br />
Lernen und Arbeiten sowie die Notwendigkeit<br />
partizipativer Softwareentwicklung unter<br />
Beteiligung von Nutzern, Entwicklern und Auftraggebern<br />
herausgearbeitet. Technikgenese wird<br />
in einem technologischen Dreieck beschrieben,<br />
mit den zu den Produkten komplementären Prozessen.<br />
Technische Artefakte werden <strong>im</strong> Kontext<br />
von Soziofakten gestaltet und regulieren diese<br />
gleichzeitig. Andererseits vollzieht sich die<br />
Entwicklung technischer Artefakte auf der Basis<br />
von Wissen (Kognifakte), das wiederum umgekehrt<br />
durch die Existenz der technischen Artefakte<br />
erweitert werden kann. Schließlich ist auch<br />
eine Wechselwirkung zwischen den Soziofakten<br />
und den Kognifakten zu verzeichnen, wobei Erfahrungen<br />
und Wissen über den Technikgebrauch<br />
zu rechtlichen Regulierungen führen können bzw.<br />
Kenntnisse über die soziale Praxis von soziotechnischen<br />
Systemen zu deren Weiterentwicklung<br />
führen kann (vgl. Engbring, 2003). Diese<br />
Wechselwirkung basierend auf der Produkt-<br />
Prozess-Komplementarität sozio-technischer Systeme<br />
sollte in ihrer Gesamtheit Gegenstand informatischer<br />
Bildungsprozesse sein, ohne dass ein<br />
Aspekt vollkommen ausgeklammert bleibt.<br />
3.3 Systementwicklung und<br />
Informatikunterricht<br />
Aus dieser systemorientierten Perspektive bedeutet<br />
die Gestaltung eines soziotechnischen Informatiksystems<br />
nicht nur, einen Teil sozialer Realität<br />
zu modellieren, sondern entsprechende Beschreibungen<br />
auf der Basis einer Modellierungssprache<br />
in maschinenlesbaren Code umzusetzen<br />
und das System dann in Praxis zu <strong>im</strong>plementieren<br />
und zu evaluieren. Weiterhin sollte Softwareentwicklung<br />
und ihre Produkte, die Informatiksysteme,<br />
als wichtige Inhaltsbereiche informatischer<br />
Bildung nicht nur rein technisch betrachtet, sondern<br />
auch als sozio-technische Beziehungsgefüge<br />
angesehen werden. <strong>Informatische</strong>m Modellieren<br />
kommt deshalb nicht nur die Aufgabe zu, Szenarios<br />
der realen Welt zu beschreiben und ihr Verhalten<br />
vorherzusagen, sondern verlangt vielmehr<br />
von den Entwicklern die Fähigkeit künftige sozio-
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
Abbildung 3.3: Technikgenese nach Krohn (1992) und Engbring (2003)<br />
technische Systeme, die entsprechend der Modellierung<br />
<strong>im</strong>plementiert werden sollen, in ihrem<br />
Verhalten zu antizipieren und diese Überlegungen<br />
in den Gestaltungsprozess mit einzubeziehen. Das<br />
theoretische Konzept der sozio-technischen Informatiksysteme<br />
unterstützt diese Auffassung von<br />
Softwareentwicklung und begründet <strong>für</strong> die informatische<br />
Bildung damit die Forderung nach der<br />
unterrichtlichen Auseinandersetzung sowohl mit<br />
den technischen als auch mit den sozialen und<br />
ethischen Aspekten derartiger Systeme.<br />
In der weiteren Konsequenz dieser Sichtweise<br />
ergibt sich die Notwendigkeit sozio-technische Informatiksysteme<br />
nicht nur als vorgegebenes Produkt<br />
in einem Anwendungskontext, sondern auch<br />
als Ergebnis des Softwareentwicklungsprozesses<br />
zu begreifen. <strong>Informatische</strong> Bildung sollte vermitteln,<br />
dass Software kein statisches Produkt ist,<br />
sondern soziale Interaktionen aus seinem Einsatzumfeld,<br />
seinem sozialen Kontext, repräsentiert<br />
und materialisiert. Die Produkt-Prozess-Relation<br />
oder Produkt-Prozess-Komplementarität der Softwareentwicklung<br />
ist ein fundamentales Konzept<br />
der Informatik, dessen genauere Betrachtung auch<br />
Rückschlüsse <strong>für</strong> die didaktische Analyse von Inhaltsbereichen<br />
des Informatikunterrichts liefern<br />
kann.<br />
Prozesse und Kontext<br />
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Prozessaspekte<br />
von sozio-technischen Informatiksystemen<br />
und deren Bedeutung <strong>für</strong> die Auswahl von Unterrichtsinhalten:<br />
• Zu einem fundamentalen Verständnis von Informatiksystemen<br />
und ihren sozialen Folge-<br />
wirkungen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen<br />
Einsatzbereichen gehört die an elementaren<br />
Beispielen konkretisierte Einsicht, dass<br />
Software sowohl technische als auch soziale<br />
und interaktive Aspekte ihres Einsatzumfeldes<br />
beinhaltet. Lernenden sollte vermittelt werden,<br />
dass die Gestaltung der Benutzungsoberfläche<br />
ein wesentliches Element zur Strukturierung der<br />
Mensch-Computer Interaktion darstellt und damit<br />
auch Arbeits- und Lernprozesse <strong>im</strong> Einsatzumfeld<br />
der Software beeinflusst werden können.<br />
Ferner sollte Modellierung auch als Prozess<br />
der Antizipation künftiger Einsatzszenarios<br />
des Informatiksystems erfahrbar gemacht werden.<br />
• Das ‘Produkt Software’ und das assoziierte<br />
sozio-technische Informatiksystem kann ebenfalls<br />
als Resultat eines Kommunikations- und<br />
Verhandlungsprozesses zwischen Entwicklern,<br />
Auftraggebern und Nutzern angesehen werden.<br />
Im Rahmen dieses Kommunikationsprozesses,<br />
der von unterschiedlichen Interessen geprägt<br />
sein kann, entstehen Dokumente, wie Zielvereinbarungen,<br />
Zeitplanungen, Aufwandseinschätzungen<br />
etc. Diese Dokumente können —<br />
<strong>im</strong> Original, oder als didaktische Materialien —<br />
Grundlage <strong>für</strong> einen handlungsorientierten Informatikunterricht<br />
sein, der sich z.B. darum bemüht,<br />
mit Hilfe von Rollenspielen Systemgestaltungsprozesse<br />
und mögliche Interessenskonflikte<br />
zwischen Gruppen von Beteiligten sichtbar<br />
zu machen.<br />
• Softwareentwicklung kann nicht nur von evtl.<br />
konfligierenden Interessensgruppen beeinflusst<br />
sein. Auch Restriktionen, die sich durch<br />
23
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
Zeitvorgaben, begrenzte materielle Ressourcen<br />
(Finanzrahmen, vorhandene Entwicklungstools<br />
und Technik) sowie durch die Notwendigkeit<br />
äußern, bereits bestehende Systeme in die Neuentwicklung<br />
zu integrieren, prägen oft die Praxis<br />
von Softwareprojekten. Diese Zweck-Mittel-<br />
Relation sollte auch in Problemlösephasen des<br />
Informatikunterrichts z. B. in Form von vorgegebenen<br />
Randbedingungen einfließen. Problemlösen<br />
<strong>im</strong> Informatikunterricht wird neben<br />
formal analytischen methodischen Arbeitsweisen<br />
von daher auch <strong>im</strong>mer normative und reflexive<br />
Anteile <strong>im</strong> Hinblick auf die Zweck-Mittel-<br />
Relation beinhalten.<br />
• Es ist zu berücksichtigen, dass Modellierungsund<br />
Konstruktionsphasen sowohl <strong>im</strong> fachwissenschaftlichen<br />
als auch <strong>im</strong> unterrichtlichen<br />
Kontext einem Prozess von Abstraktion, Formalisierung<br />
und Reduktion durch Entkontextualisierung<br />
unterworfen sind (siehe Abschnitt<br />
2.2). Dieser Prozess der Maschinisierung, der zu<br />
einem auf Maschinen ausführbaren Programm<br />
führt, sollte <strong>im</strong> Unterricht in seinen Phasen bewusst<br />
herausgearbeitet werden. Hierzu gehört<br />
auch die Klärung des Verhältnisses von Syntax<br />
und Semantik und des Unterschiedes zwischen<br />
menschlicher Kommunikation und Informationsverarbeitung<br />
sowie maschineller Datenverarbeitung.<br />
• Vor allem kommerzielle Software ist kein statisches<br />
Produkt, sondern unterliegt <strong>im</strong> Rahmen<br />
des Software-Lebenszyklus einem Prozess von<br />
Weiterentwicklung und Qualitätsverbesserung.<br />
Somit wird deutlich, dass es zumindest theoretisch<br />
kein finales Produkt gibt und zur Softwareentwicklung<br />
nicht nur Phasen der Konstruktion<br />
sondern auch Phasen des Praxiseinsatzes,<br />
der Evaluation und der Qualitätssicherung<br />
gibt. Hier sind unterrichtsmethodische Konzepte<br />
notwendig, um den Lebenszyklus-Prozess<br />
von Software sowohl von der Entwickler- als<br />
auch von der Verbraucherseite her zu beleuchten.<br />
• Auch die fachlichen Konzepte, Methoden und<br />
Werkzeuge zur Systemgestaltung unterliegen<br />
einem Wandlungsprozess, der zumindest teilweise<br />
<strong>im</strong> Informatikunterricht nachvollzogen<br />
werden sollte. Es wäre daher wünschenswert,<br />
einige ausgewählte der unterschiedlichen<br />
Modellierungs- und Programmparadigmen<br />
(<strong>im</strong>perativ, prädikativ, objektorientiert, funktional..)<br />
und die zugehörigen Entwicklungstools<br />
zumindest exemplarisch <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
zu behandeln.<br />
• Im Zusammenhang mit der Implementierung<br />
von Software spielt die Weiterbildung der Nutzer<br />
und ggf. deren Einbindung in den Entwicklungsprozess<br />
eine wichtige Rolle, die über<br />
24<br />
die Akzeptanz und Funktionsfähigkeit eines Informatiksystems<br />
entscheidet. Auch der Zusammenhang<br />
von Organisationsentwicklung, Technikintegration<br />
und Lernanforderungen an die<br />
Nutzer sollte gerade <strong>im</strong> Hinblick auf die Förderung<br />
der Berufsfähigkeit der Jugendlichen an<br />
geeigneten Beispielen <strong>im</strong> Unterricht exemplarisch<br />
veranschaulicht werden.<br />
• Schließlich sollte ein Blick auf die dynamische<br />
Seite eines Informatiksystems gerichtet<br />
und laufende Prozesse betrachtet werden. Hierzu<br />
können Muster der Mensch-Maschine Interaktion,<br />
die durch das System <strong>im</strong>pliziert werden,<br />
aber auch technische Kommunikationsprotokolle<br />
oder das Zusammenspiel verschiedener Komponenten<br />
eines verteilten Systems.<br />
Produkt und Kontext<br />
Die Eigenschaften, d.h. die technischen und sozialen<br />
Funktionen eines Informatiksystems sind eng<br />
mit dem Entwicklungsprozess verbunden.<br />
• Software als Teil eines Informatiksystems begründet<br />
nicht nur technische Artefakte sondern<br />
repräsentiert auch gegenstandsbezogenes<br />
Wissen. Dieses Wissen enthält neben Fakten<br />
und Verfahren oftmals auch technische Regeln,<br />
wie Handhabungshinweise sowie teilweise <strong>im</strong>plizit<br />
ethische Normen und rechtliche Regularien<br />
(z.B. Jugendschutzbest<strong>im</strong>mungen, Richtlinien<br />
zur Maskengestaltung, Datenschutzbest<strong>im</strong>mungen).<br />
Langfristig kann der technologische<br />
Wandel auch zu veränderten Repräsentationsformen<br />
von Wissen <strong>im</strong> Softwaresystem sowie<br />
<strong>im</strong> sozialen Kontext des Informatiksystems<br />
bis hin zu einem generellen Wandel <strong>im</strong> gesellschaftlichen<br />
System führen (Datenschutzgesetzgebung,<br />
Urheberrecht, Politische Akzeptanz<br />
von Inhalten <strong>im</strong> Internet, Kommunikationsmedien,.<br />
. . ). An dieser Stelle wird ein enger Zusammenhang<br />
zwischen technologischer und gesellschaftlicher<br />
Entwicklung deutlich, der prinzipiell<br />
gestaltbar ist und daher auch zum Themenspektrum<br />
des Informatikunterrichts gehören<br />
sollte (vgl. Engbring, 2003; Lessig, 1999).<br />
• Neben Hardware und anderen pr<strong>im</strong>är<br />
physikalisch-technischen Komponenten wie<br />
Sensoren und Aktoren besteht der technische<br />
Part eines sozio-technischen Informatiksystems<br />
aus Software mit den oben beschriebenen kontextbezogenen<br />
Prozesseigenschaften. Zur Softwareentwicklung<br />
und zum Re-engineering des<br />
Systems sind informatische Kenntnisse und methodisches<br />
Wissen verschiedenster Bereiche erforderlich,<br />
wie etwa Modellierungsnotationen,<br />
Algorithmik, Compiler, Sprachkonzepte, Entwurfsmuster,<br />
Vorgehensmodelle, Softwareergonomie,<br />
fundamentale informatische <strong>Ideen</strong> etc.<br />
Mit diesem Gegenstandsbereich wird der ei-
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
gentliche Kern des fachwissenschaftlichen informatischen<br />
Wissens auf deklarativer und prozeduraler<br />
Ebene berührt. Für die Schulinformatik<br />
sind hier relevante Inhaltsbereiche zu identifizieren,<br />
die allerdings anhand didaktischer Filter<br />
in Orientierung an allgemein didaktischen<br />
Kriterien und an Prinzipien der Allgemeinbildung<br />
auszuwählen sind.<br />
• Eine weitere wichtige Produkteigenschaft von<br />
Informatiksystemen sind ihre potenziellen medialen<br />
Funktionen. Sie können als einfache<br />
oder komplexe Mediensysteme zur Unterstützung<br />
grundlegender menschlicher Aktivitäten<br />
wie lernen, arbeiten, gestalten, kommunizieren,<br />
partizipieren oder entspannen und konsumieren<br />
verwendet werden. In dieser Funktion<br />
wird nicht nur erneut der enge Zusammenhang<br />
von technischen und sozialen Aspekten eines<br />
Informatiksystems deutlich. Auch die Bedeutung<br />
dieser Systemfähigkeiten <strong>für</strong> Lern- und<br />
Bildungsprozesse ist hier offensichtlich. Ein<br />
grundlegendes Verständnis der Funktionsweise<br />
computerbasierter digitaler Medien ermöglicht<br />
den adäquaten Systemgebrauch und verleiht den<br />
Nutzern die Fähigkeit, künftige Anwendungsszenarien<br />
<strong>im</strong> beruflichen, privaten und öffentlichen<br />
Bereich fundiert zu beurteilen. Dieses Verständnis<br />
eröffnet die Möglichkeit zu weiterführendem<br />
Wissenserwerb und ermöglicht es, neue<br />
Anforderungen erfolgreich bewältigen zu können.<br />
Der Informatikunterricht kann einen Beitrag<br />
zu diesem erforderlich fundamentalen Verständnis<br />
digitaler Medien leisten, in dem er die<br />
ihnen zu Grunde liegenden informatischen Konzepte<br />
der Produkt-Prozessrelation vermittelt.<br />
3.4 Informatiksysteme als digitale<br />
Medien<br />
Ein grundlegendes Verständnis digitaler Medien<br />
und ihrer kompetenten Nutzung in verschiedenen<br />
Anwendungsszenarien hat <strong>für</strong> Schülerinnen<br />
und Schüler eine enorme Bedeutung zur Bewältigung<br />
von aktuellen und künftigen Alltagssituationen.<br />
Folgt man diesem Postulat, so kann hieraus<br />
auch ein wichtiger Beitrag des Informatikunterrichts<br />
<strong>für</strong> die Allgemeinbildung abgeleitet werden,<br />
indem er als Lernort <strong>für</strong> die Förderung eines<br />
solchen Verständnisses identifiziert wird. Bevor<br />
der Zusammenhang zur Allgemeinbildung <strong>im</strong> folgenden<br />
Kapitel eingehender erörtert wird, soll an<br />
dieser Stelle des Beitrags zunächst auf die mediale<br />
Qualität von Informatiksystemen in verschiedenen<br />
Einsatzbereichen eingegangen und so Kriterien<br />
<strong>für</strong> die schulische Aufarbeitung dieses Gegenstandsbereichs<br />
bereitgestellt werden.<br />
Bereits der Medientheoretiker McLuhan<br />
(1994) postulierte, dass Technisierung nicht nur<br />
als Substitution eines Handlungszusammenhangs<br />
durch Instrumentalisierung zu verstehen sei, son-<br />
dern dass Technisierung sowohl instrumentelle als<br />
auch mediale D<strong>im</strong>ensionen beinhalte.<br />
Hinsichtlich der medialen Qualitäten von Informatiksystemen<br />
kann in Anlehnung an Keil-<br />
Slawiks Definition von pr<strong>im</strong>ären, sekundären und<br />
tertiären Medienfunktionen (Keil-Slawik, 2002)<br />
zwischen Cognitive Tools, Lernsoftware und adaptiven<br />
Systemen unterschieden werden. Computerbasierte<br />
‘Cognitive Tools’ ermöglichen die interaktive<br />
Gestaltung von Medienobjekten. Sie unterstützen<br />
das Suchen, Sortieren, Rekombinieren,<br />
Strukturieren, Visualisieren, Speichern oder Verteilen<br />
von Daten und fördern auf diese Weise mittels<br />
geeigneter Repräsentationen und Anordnungen<br />
der formalen Daten den Wissenserwerb. Be<strong>im</strong><br />
Wissenserwerb müssen die Nutzer den Prozess<br />
der De-kontextualisierung der formalen Daten so<br />
weit als möglich invertieren, indem sie die Daten<br />
in einem Prozess von Interpretation und ggf. Kommunikation<br />
mit kontextbezogener Semantik anreichern.<br />
„Lernsoftware“ <strong>im</strong>plizit demgegenüber eine in<br />
ihr vergegenständlichte Abfolge von Interaktionen<br />
und Rückmeldungen mit den Nutzern, die unter<br />
didaktischen und lerntheoretischen Erwägungen<br />
<strong>im</strong>plementiert wurde. Damit werden Formen der<br />
Mediennutzung <strong>im</strong> Medium selbst abgebildet.<br />
Adaptive Softwaresysteme sollten darüber<br />
hinaus in der Lage sein, Lerner- und Nutzungsverhalten<br />
anhand der stattfindenden Interaktionen<br />
zu analysieren und <strong>im</strong> Hinblick auf Lerneffizienz<br />
<strong>für</strong> die Nutzer zu modellieren.<br />
Diese medialen D<strong>im</strong>ensionen von Informatiksystemen<br />
treten nicht nur <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />
computerbasierten Lernumgebungen in Erscheinung,<br />
sondern kommen auch bei anderen basalen,<br />
menschlichen Tätigkeiten zum Tragen. Man<br />
kann sie in computerbasierten Anwendungsszenarien<br />
des Lernens, Arbeitens, Gestaltens, Kommunizierens,<br />
Konsumierens, Entspannens und Partizipierens<br />
identifizieren.<br />
Während einfache Formen von Cognitive<br />
Tools zunächst auf der Manipulation von Zeichen<br />
und von Objekten des Informatiksystems beruhen,<br />
können komplexere Systeme eine Kombination<br />
dieser elementaren Funktionen enthalten und<br />
in Bezug auf ihren Nutzungskontext spezifisch geprägt<br />
sein. Sie können dabei verschiedene Aspekte<br />
unterschiedlicher basaler menschlicher Tätigkeiten<br />
umfassen.<br />
Ein Informatiksystem in Form einer netzgestützten<br />
Lernumgebung beinhaltet beispielsweise<br />
Software, die Groupware- und Lernplattformfunktionen<br />
bereitstellt. Sie kann als wichtiges<br />
Element eines kooperativen schulischen Lern-<br />
Designs angesehen werden. Sie sorgt neben Userund<br />
Content-Management-Funktionen vor allem<br />
<strong>für</strong> die computergestützte Kommunikation zwi-<br />
25
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
schen den Lernenden in dem vernetzten System.<br />
Bei den dabei auftretenden Interaktionstypen<br />
kann in Abhängigkeit vom Grad der softwaretechnischen<br />
Unterstützung <strong>für</strong> kollaborative<br />
Lernprozesse zwischen Lernszenarien mit kommunikationsfähigem<br />
Computerarbeitsplatz <strong>im</strong> lokalen<br />
Netz, Arbeitsplatz <strong>im</strong> Netz mit Groupwarefunktionalität<br />
und Arbeitsplatz <strong>im</strong> Netz mit Workflowmanagement<br />
unterschieden werden (Schulmeister,<br />
2003).<br />
In einem anderen Beispiel, das den Einsatz<br />
von Cognitive Tools in der Sphäre des Arbeitens<br />
repräsentiert, kann in einem Unternehmen das<br />
Workflowmanagement in der Verwaltung, die Prozesssteuerung<br />
und die Fertigungsplanung medial<br />
durch entsprechende Visualisierungen unterstützt<br />
und mit CAD/CAM-Systemen der Fertigungsprozess<br />
direkt gestaltet werden.<br />
Neue Formen technikgestützter Kommunikation<br />
und Kooperation, wie Weblogs, Wikis, Podcasts,<br />
‘Social Software’ etc. repräsentieren <strong>im</strong> Bereich<br />
von Kommunikation, Entspannung und Arbeit<br />
ebenfalls sozio-technische Informatiksysteme<br />
mit spezifischer medialer Qualität.<br />
In dieser Art können <strong>für</strong> viele Anwendungsbereiche<br />
komplexere mediale Qualitäten von Informatiksystemen<br />
beschrieben werden, wobei die<br />
Sphären des Lernens und Arbeitens <strong>im</strong> Sinne<br />
des oben beschriebenen technologischen Dreiecks<br />
eng miteinander verwoben sind.<br />
Dabei beinhalten die sozio-technischen Informatiksysteme<br />
neben formal-informatischen, technische,<br />
mediale und kontextuelle Aspekte. Die<br />
medialen Funktionen dienen als Mittler bei den<br />
Interaktionen zwischen den Nutzern und dem<br />
technischen Sub-System.<br />
4 Informatiksysteme <strong>im</strong><br />
Unterricht<br />
4.1 Informatikunterricht und<br />
Allgemeinbildung<br />
Nachdem die Bedeutung sozio-technischer Informatiksysteme<br />
<strong>für</strong> die Informatik und informatische<br />
Bildungsprozesse in den bisherigen Abschnitten<br />
erläutert wurde, stellt sich die Frage, ob<br />
sie auch unter allgemein bildender Perspektive,<br />
vor allem wegen ihres nicht unerheblichen Technikanteils,<br />
Unterrichtsgegenstand an allgemeinbildenden<br />
Schulen sein können. Gerade in der relativ<br />
jungen Disziplin ‘Didaktik der Informatik’<br />
kommt bei der Auswahl von relevanten Fachinhalten<br />
und Vermittlungsmethoden <strong>für</strong> den Informatikunterricht<br />
an allgemein bildenden Schulen<br />
der Frage nach dem Beitrag des Faches zur Allgemeinbildung<br />
und seiner spezifischen Leistung<br />
<strong>im</strong> Vergleich zu anderen etablierten Fächern eine<br />
besondere Bedeutung zu. Es soll an dieser<br />
Stelle keine Rezeption der Allgemeinbildungsdis-<br />
26<br />
kussion, etwa des informatikkritischen Ansatzes<br />
von Bussmann & Heymann (1987) und der Replik<br />
seitens der Informatikdidaktik z. B. von Witten<br />
(2003) erfolgen (vgl. auch Wedekind et al.,<br />
1998; Hartmann & Nievergelt, 2002). Auch ein<br />
Rekurs auf internationale Curricula soll nicht vorgenommen<br />
und die dort postulierten allgemeinbildenden<br />
‘kulturtechnischen’ Funktionen informatischer<br />
Bildung sollen hier nicht diskutiert werden<br />
(vgl. z.B. Task Force of the Pre-College Committee<br />
of the Education Board of the ACM, 1997;<br />
NRC, 1999; ACM, 2003). Vielmehr soll an das<br />
bildungstheoretische Konzept von Klafki (1995)<br />
angeknüpft werden, dass mit dem Konzept der<br />
epochaltypischen Schlüsselprobleme nicht auf ein<br />
ahistorisches Wertesystem Bezug n<strong>im</strong>mt, sondern<br />
die Bewertung der Relevanz von Bildungsthemen<br />
als normativen Vorgang und Resultat einer historisch<br />
geprägten <strong>Gesellschaft</strong>sanalyse ansieht. Allgemeinbildung<br />
kann demzufolge in der Tradition<br />
bildungstheoretischer Didaktik in dreierlei Hinsicht<br />
charakterisiert werden (Klafki, 1996): als<br />
• allgemein, <strong>im</strong> Sinne einer Bildung <strong>für</strong> alle Mitglieder<br />
einer <strong>Gesellschaft</strong>;<br />
• allgemein, in dem alle Grundd<strong>im</strong>ensionen<br />
menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
durch Lernprozesse angesprochen werden;<br />
• allgemein schließlich <strong>im</strong> Sinne der erkenntnismäßigen<br />
Erschließung epochaltypischer Schlüsselprobleme<br />
einer <strong>Gesellschaft</strong>, wie etwa das<br />
der Entwicklung und des Einsatzes von IuK-<br />
Technologien mit ihren sozialen Folgewirkungen.<br />
Als inhaltliche und methodische Konsequenzen<br />
<strong>für</strong> Lernprozesse, die sich an diesem Konzept<br />
von Allgemeinbildung orientieren, werden gefordert:<br />
• Unterrichtliche Problemstellungen <strong>im</strong> Kontext<br />
ihrer Genese aufzuzeigen.<br />
• Lernen stets als ganzheitlichen Prozess zu verstehen,<br />
der <strong>im</strong> weitesten Sinne kognitive, fachmethodische<br />
aber auch normativ-bewertende<br />
und sozial-kommunikative Aspekte mit einbezieht.<br />
• In diesen Lernprozessen Kritik- und Argumentationsfähigkeit<br />
sowie Emphatie zu fördern.<br />
• Bei Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit<br />
zum vernetzten Denken zu fördern.<br />
Ausgehend von den oben keineswegs vollständig<br />
beschriebenen Gegenstandsbereichen informatischer<br />
Bildung, die sich in historischer Perspektive<br />
verschiedenen Bezugswissenschaften der<br />
Informatik zuordnen lassen (vgl. Abb. 3.1) und<br />
die sich auch in der komplementären Produkt-<br />
Prozess-Relation von Informatiksystemen widerspiegeln,<br />
können allgemein bildende Funktionen<br />
des Informatikunterrichts beschrieben werden. Es
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
Abbildung 3.4: Komponenten und Sichten auf sozio-technische Informatiksysteme<br />
ist jeweils zu hinterfragen, ob die betreffenden informatischen<br />
Gegenstandsbereiche, den drei genannten<br />
Kriterien genügen. In einem weiteren<br />
Sinne könnten die unterrichtliche Auseinandersetzung<br />
mit diesen Gegenstandsbereichen auch<br />
als Beitrag des Informatikunterrichts zur Vermittlung<br />
von allgemeinen Bildungsstandards verstanden<br />
werden. Standards werden hierbei als Kompetenzen<br />
und Qualifikationsziele <strong>für</strong> Schülerinnen<br />
und Schüler angesehen, die man mittels Verknüpfung<br />
von Inhalten (zentrale Wissensbereiche) und<br />
Fähigkeiten (zentrale Kompetenzbereiche) charakterisieren<br />
kann (vgl. z. b. Terhart, 2000; Klieme<br />
et al., 2003) Die nachfolgend benannten Kompetenzen,<br />
zu deren Erwerb auch der Informatikunterricht<br />
einen allgemein bildenden Beitrag zu leisten<br />
vermag, können zwar schwerpunktmäßig best<strong>im</strong>mten<br />
informatischen Inhaltsbereichen zugeordnet<br />
werden (s. o.). Da diese Zuordnung aber<br />
nicht disjunkt und eindeutig ist und der Kompetenzerwerb<br />
in verschiedenen Inhaltsbereichen<br />
stattfinden kann, soll hier lediglich deren keinesfalls<br />
vollständige Aufzählung erfolgen:<br />
• Fähigkeit zu vernetztem problemlösendem Denken.<br />
• Fähigkeit zum Anwenden von formalisierenden<br />
Methoden zur Strukturierung von Problemen<br />
und zur Modellbildung.<br />
• Kenntnis der Prinzipien und Unterschiede<br />
zwischen maschineller Datenverarbeitung und<br />
menschlicher Informationsverarbeitung.<br />
• Einsicht in Methoden, Beherrschbarkeit und<br />
Grenzen der Automatisierung geistiger Prozesse.<br />
• Kenntnis von Kriterien und Verfahren zur sozialverträglichen<br />
Technikgestaltung.<br />
• Fähigkeit, Technikentwicklung als interessensgeleiteten<br />
Gestaltungsprozess zu begreifen und<br />
daraus die Fähigkeit zur reflektierten Partizipation<br />
an Gestaltungs- und Nutzungsprozessen<br />
von Informatiksystemen zu entwickeln.<br />
• Kenntnis über die Funktion technischer Artefakte<br />
als externes Gedächtnis und Medium.<br />
• Fähigkeit zur Nutzung von IuK-Systemen zur<br />
Arbeits- und Lernorganisation, zur Kommunikation<br />
und zum Wissensmanagement.<br />
• Kenntnis der gesellschaftlichen Bedeutung und<br />
Wirkung von computerbasierten Medien.<br />
• Fähigkeit zu einem kritischen Umgang mit und<br />
eigener Anwendung von digitalen Medien.<br />
Diese Anforderungen lassen sich kaum <strong>im</strong><br />
Rahmen einer fächerintegrierten Medienbildung<br />
oder einer informationstechnischen Grundbildung<br />
realisieren. Sie bedürfen eines fundierten Informatikunterrichts,<br />
der sich mit verschiedenen Sichtweisen<br />
auf sozio-technische Informatiksysteme<br />
auseinandersetzt und gesellschaftliche Auswirkungen<br />
sowie sozialverträgliche Techniknutzung<br />
und —gestaltung stets als Teil des Modellierungsund<br />
Designprozesses begreift. <strong>Gesellschaft</strong>liche<br />
Auswirkungen von Informatiksystemen werden<br />
in einem derart gestalteten Informatikunterricht<br />
nicht als Exkurs am Ende einer vorwiegend technischen<br />
Problemen verhafteten Unterrichtseinheit<br />
angehängt, sondern werden <strong>im</strong> Unterricht als integraler<br />
Bestandteil des softwaretechnischen Designprozesses<br />
thematisiert.<br />
27
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
So hängt die Entscheidung, ob beispielsweise<br />
bei einem kleinen vernetzten Warenwirtschaftssystem<br />
<strong>für</strong> einen Schulkiosk, die Kassenarbeitsplätze<br />
mit Leistungskontrollfunktionen der Mitarbeiter<br />
ausgestattet werden, von einer entsprechenden<br />
Designentscheidung bei der Anforderungsanalyse,<br />
aber auch von den Sichtweisen der bei der Systementwicklung<br />
Beteiligten ab (Nutzer, Auftraggeber).<br />
Im Unterricht sollten Entwurfsentscheidungen<br />
<strong>für</strong> ein Informatiksystem vor dem Hintergrund<br />
der Kriterien zur Allgemeinbildung daher<br />
sowohl <strong>im</strong> Hinblick auf ihre formalen Eigenschaften<br />
(Laufzeit, Effizienz, Korrektheit, Wartbarkeit..)<br />
aber auch <strong>im</strong> Hinblick auf die sozialen<br />
Folgewirkungen diskutiert werden.<br />
Informatik steht somit <strong>im</strong> Kanon der Fächer<br />
an allgemeinbildenden Schulen <strong>für</strong> die kritische<br />
Auseinandersetzung mit der Nutzung und Gestaltung<br />
informationstechnischer Systeme und digitaler<br />
Medien. Es kann mit der Förderung dieser<br />
Fähigkeiten bei Schülerinnen und Schülern einen<br />
einzigartigen Beitrag <strong>für</strong> deren individuelle Zukunftsbewältigung<br />
in einer durch digitale Medien<br />
und Informations- und Kommunikationstechniken<br />
geprägten Welt leisten.<br />
4.2 Inhaltsauswahl mittels thematischer<br />
Filter<br />
Die bisherigen Ausführungen legen nahe, Inhalte<br />
des Informatikunterrichts zu orientieren an<br />
• den Lernvoraussetzungen der Lernenden.<br />
• dem Beitrag der informatischen Inhalte zur Allgemeinbildung.<br />
• den spezifischen Eigenschaften soziotechnischer<br />
Informatiksysteme.<br />
Dem letztgenannten Punkt soll in diesem Kapitel<br />
unter didaktischen Gesichtspunkten noch einmal<br />
größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei<br />
soll zwischen der Situierung des sozialen Kontexts<br />
von Informatiksystemen nach Anwendungsbereichen<br />
und den oben geschilderten Sichten auf<br />
ein Informatiksystem unterschieden werden.<br />
Wenn wir der Bedeutung des sozialen Kontextes<br />
von Informatiksystemen auch <strong>im</strong> Unterricht<br />
gerecht werden wollen, muss ihm dort entsprechend<br />
Raum gegeben werden. Informatiksysteme<br />
sollten unterrichtlich daher in einem konkreten<br />
Anwendungszusammenhang thematisiert werden,<br />
wobei <strong>im</strong> Laufe eines Curriculums der Vielfalt der<br />
gesellschaftlichen Anwendungsfelder von Informatiksystemen<br />
Rechnung getragen werden sollte.<br />
Dies würde auch unter lerntheoretischen Gesichtspunkten<br />
einer Situierung und inhaltlichen Ankerung<br />
von Lerninhalten entgegenkommen (vgl. Abschnitt<br />
4.3). Das Situieren von Unterrichtsinhalten<br />
kann nach grundlegenden menschlichen Aktivitäten<br />
wie lernen, arbeiten, gestalten, kommunizieren,<br />
partizipieren oder entspannen und kon-<br />
28<br />
sumieren erfolgen, die zugleich auch als zentrale<br />
Anwendungsbereiche von Informatiksystemen<br />
angesehen werden können. Anwendungsbereiche<br />
von Informatiksystemen bilden dabei einen spezifischen<br />
sozialen Kontext unterschiedlicher Komplexität,<br />
in Abhängigkeit von der Komplexität der<br />
technischen Systemkomponenten und der mit ihr<br />
verbundenen sozialen Interaktionen.<br />
Im Folgenden sollen einige Gegenstandsbereiche<br />
exemplarisch in Orientierung an den Anwendungsfeldern<br />
der Informatiksysteme kurz benannt<br />
werden (vgl. Magenhe<strong>im</strong> & Schulte, 2006):<br />
Lernen Cognitive Tools, Lernsoftware, computergestützte<br />
Lernumgebungen, E-learning,<br />
computergestütztes kooperatives Lernen,<br />
Mobiles Lernen, E-Learning, . . .<br />
Arbeiten Geschäftsprozessmanagement, Prozesssteuerung,<br />
Eingebettete Systeme, Automaten,<br />
computergestütztes kooperatives<br />
Arbeiten, . . .<br />
Gestalten Autorenwerkzeuge, CASE-Tools,<br />
CAD-CAM Systeme, Virtuelle Realität, . . .<br />
Kommunizieren Internetdienste, Publikationswerkzeuge<br />
(z. B. Blogs and Wikis),<br />
Content- Management-Systeme, grafische<br />
Benutzungsoberflächen, . . .<br />
Partizipieren Internet, E-Government, E-voting,<br />
Bürgernetze, Kommunale Portale, . . .<br />
Entspannen Medienkonvergenz; Digitalisierung,<br />
Digital TV, Netzbasierte Spiele,<br />
Edutainment . . .<br />
Konsumieren E-commerce, Internetauktionen,<br />
webbasierte Tauschbörsen, RFID, . . .<br />
In diesen Anwendungsfeldern sollten in Orientierung<br />
an den Sichten auf Informatiksysteme<br />
(Medien, Kontext, Formalismen, Technik) informatische<br />
Konzepte identifiziert und lerngruppenbezogen<br />
vermittelt werden. Hierbei können so genannte<br />
didaktische Linsen als thematische Filter<br />
dienen, die einen integrativen Zugang zu Informatiksystemen<br />
eröffnen, indem sie jeweils die Beziehung<br />
zwischen den vier Sichtweisen fokussiert<br />
auf einen Themenschwerpunkt herstellen. Als derartige<br />
didaktische Linsen könnten auch in Anlehnung<br />
an internationale Diskussionen (van Weert &<br />
Tinsley, 2000; ACM & IEEE, 2001; ACM, 2003;<br />
Denning, 2004) dienen (vgl. Magenhe<strong>im</strong> & Schulte,<br />
2006):<br />
Automation beschreibt, wie Informatiksysteme<br />
menschliche Tätigkeiten incl. geistiger Leistungen<br />
mittels geeigneter informatischer<br />
Konzepte übernehmen. Dies kann sich auch<br />
auf die technische Ebene der Hardware incl.<br />
der eingebetteten Systeme erstrecken.<br />
Interaktion beschreibt, hauptsächlich mediale<br />
Funktionen von Informatiksystemen und
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
deren Einfluss auf die Interaktion mit dem<br />
System bzw. der Menschen untereinander.<br />
Informationsverarbeitung Interaktion benötigt<br />
äquivalente Prozesse innerhalb des technischen<br />
Systemparts auf der Ebene der Formalismen.<br />
Hier geht es z.B. um Algorithmen,<br />
Informationsbeschaffung, Datenstrukturen<br />
und Modellbeschreibungen etc.<br />
Netzwerke Technische (Topologien, Client/Server-<br />
Architektur, Protokolle) und soziale Perspektiven<br />
der Vernetzung (soziale Gemeinschaften,<br />
Kooperation, Kommunikation),<br />
Normen, Regeln und Gesetze In Anlehnung an<br />
das technologische Dreieck bestehende Zusammenhänge<br />
von Informatiksystemen und<br />
durch sie erzeugte Verhaltensnormen (z. B.<br />
Netiquette), Regeln (z.B. Bedienungsanleitungen)<br />
und Gesetze (z. B. Datenschutz).<br />
Soziale und ethische Aspekte Weiter gefasste<br />
Linse, die sich mit gesellschaftlichen Auswirkungen<br />
von Informatiksystemen z.B. <strong>im</strong><br />
Sinne von Digitaler Ungleichheit, Globalisierung,<br />
Rationalisierung, Ethik etc. beschäftigt.<br />
Ist ein Unterrichtsthema aus einem der Anwendungsfelder<br />
ausgewählt und <strong>für</strong> die Schüler<br />
entsprechend ihren Erfahrungen situiert worden,<br />
können die vier Sichten auf ein Informatiksystem<br />
und die didaktischen Linsen als thematische Filter<br />
dienen, um das Thema unterrichtlich weiter zu<br />
konkretisieren. Der Unterrichtsgegenstand ist mittels<br />
dieser Filter auf mögliche integrative Zugänge<br />
zu informatischen Konzepten sozio-technischer<br />
Informatiksysteme zu beleuchten. Hierbei ist es<br />
durchaus sinnvoll, mehrere Filter <strong>für</strong> einen multiperspektivischen<br />
Zugang einzusetzen. Im Sinne<br />
eines Spiralcurriculums sollten jeweils unterschiedliche<br />
Sichten, Filter und Anwendungsbereiche<br />
gewählt werden, um den Schülerinnen und<br />
Schülern den Aufbau einer kohärenten persönlichen<br />
Wissensstruktur über Informatiksysteme zu<br />
ermöglichen.<br />
4.3 Methoden der Vermittlung<br />
Wie schon oben erwähnt, findet die geforderte<br />
Situierung von Lerninhalten be<strong>im</strong> Erkunden<br />
von Informatiksystemen ihre Entsprechung in verschiedenen<br />
konstruktivistisch orientierten Theorien<br />
des Lernens. So betont beispielsweise die<br />
Cognition and Technology Group at Vanderbilt<br />
(1994), dass Lernszenarien problembasiert und in<br />
authentischen Situationen ‘geankert’ sowie verschiedene<br />
Lösungsmöglichkeiten beinhalten sollten.<br />
Offene Lernumgebungen sollten exploratives<br />
und kooperatives Lernen ermöglichen. Ähnliche<br />
Forderungen werden von Jonassen (1999)<br />
<strong>für</strong> das Lerndesign von explorativen, konstruktivistischen<br />
Lernumgebungen erhoben. Vygots-<br />
kys sozio-kulturelle Theorie betont die Bedeutung<br />
sozialer Interaktion und des kooperativen Austausches<br />
be<strong>im</strong> Wissenserwerb (Vygotsky, 1978).<br />
Hung (2002) beschreiben den Aufbau von ‘Lerngemeinschaften’,<br />
die ihre Lernprozesse weitgehend<br />
selbstständig organisieren. Auf die sich verändernde<br />
Lehrerrolle in derartigen Lernszenarien<br />
verweisen Collins et al. (1999). Nach ihrem Phasenkonzept<br />
des ‘Cognitive Apprenticeship Model’<br />
steht der wachsenden Eigenverantwortlichkeit<br />
der Lernenden <strong>im</strong> Verlauf eines andauernden<br />
Lernprozesses ein Rückzug des Lehrers hin<br />
zum Coach und Lernprozessberater gegenüber.<br />
Schließlich betont die Cognitive Flexibility Theory<br />
von Spiro (1992), dass den Lernenden unterschiedliche<br />
Sichten auf den gleichen Lerngegenstand<br />
ermöglicht werden sollte, um bei ihnen assoziatives<br />
Denken zu fördern und durch die subjektive<br />
Konstruktion themenbezogener Wissenszusammenhänge<br />
eine höhere Qualität von Wissen<br />
zu erreichen. Die Umsetzung dieser Anforderungen<br />
an Lernprozesse in der Praxis des Informatikunterrichts<br />
bedeutet hinsichtlich des methodischen<br />
Vorgehens und der medialen Repräsentation<br />
von Informatiksystemen einen Wandel in der<br />
tradierten Unterrichtsmethodik.<br />
Methodik des Informatikunterrichts orientiert<br />
sich in Lerneinheiten, die die Erstellung von Teilen<br />
eines Computerprogramms oder eines kompletten<br />
Softwareprodukts zum Ziel haben, oft an<br />
grundlegenden Vorgehensmodellen der Softwareentwicklung.<br />
Einer Phase der Problemanalyse<br />
und der Problemeingrenzung folgen Anforderungsdefinition,<br />
Designentwurf, Codierung, Implementation<br />
und Praxistest des Produkts. Diese<br />
von einigen didaktischen Ansätzen favorisierte<br />
unterrichtsmethodische Vorgehensweise der Konstruktion<br />
von Software kann <strong>für</strong> den Informatikunterricht<br />
als grundsätzlich geeignet angesehen<br />
werden, da sie eine Reihe von lerntheoretischen<br />
und lernpsychologischen Aspekten berücksichtigt.<br />
Dazu gehören Konzepte, wie das der Handlungsorientierung<br />
<strong>im</strong> Unterricht oder die Förderung<br />
der Motivation der Schülerinnen und Schüler,<br />
die durch das Erlebnis der Materialisierung einer<br />
Idee — von dem theoretischen Entwurf hin<br />
zum fertigen Softwareprodukt — exemplarisch<br />
Kenntnisse über den Prozess der Gestaltung von<br />
Informatiksystemen erlangen können. Allerdings<br />
beinhaltet dieses unterrichtsmethodische Vorgehensmodell<br />
auch eine Reihe von Mängeln:<br />
• die Komplexität der in einer konstruktiven Phase<br />
von den Schülern zu erstellenden Software<br />
ist oft nicht hinreichend, um informatische Konzepte,<br />
wie etwa das der Objektorientierung, hinreichend<br />
verdeutlichen zu können.<br />
• der Phase der Modellierung, deren Wichtigkeit<br />
<strong>im</strong>mer wieder betont wird (Hubwieser, 2000),<br />
29
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
wird nicht zuletzt mangels geeigneter medialer<br />
Unterstützung und methodischer Konzepte zu<br />
wenig Aufmerksamkeit gewidmet.<br />
• Konstruktion von Software <strong>im</strong> Unterricht erlaubt<br />
nur einen eingeschränkten Blick auf die<br />
verschiedenen Phasen des ‘Software Life Cycle’.<br />
Insbesondere die Revision von Entwurf<br />
und Design nach Phasen der Rückkopplung mit<br />
Anwendern und Auftraggebern, wie sie bei iterativen<br />
partizipativen Vorgehensmodellen üblich<br />
sind, können bei einer am Wasserfallmodell<br />
orientierten unterrichtlichen Vorgehensweise<br />
nur eingeschränkt oder gar nicht berücksichtigt<br />
werden.<br />
• Phasen der praxisbezogenen Anforderungsdefinition<br />
mit Kopplung an die Anforderungsszenarios<br />
von realen Informatiksystemen mit analoger<br />
Funktionalität sind nur schwer in das<br />
rein konstruktive unterrichtliche Vorgehensmodell<br />
integrierbar.<br />
• Phasen der Evaluation der Software in der Praxis<br />
und damit die Rückkopplung von Softwareentwicklung<br />
mit Situationen des realen Lebens<br />
sind in dieses Unterrichtskonzept nur schwer<br />
einzubinden.<br />
Um den geschilderten Mängeln eines rein konstruktiv<br />
ausgerichteten unterrichtsmethodischen<br />
Vorgehens entgegenzuwirken und <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
verschiedene Stadien des Softwareentwicklungsprozesses<br />
erfahrbar zu machen, incl. eines<br />
zumindest medialen Bezuges zu realen Informatiksystemen,<br />
bedarf es medialer und unterrichtsmethodischer<br />
Ergänzungen der Konstruktion.<br />
Phasen eines durch mult<strong>im</strong>ediale Elemente angereicherten,<br />
erkundenden und entdeckenden Lernens<br />
eines bereits bestehenden und ausführlich<br />
dokumentierten Systems, können sich mit Phasen<br />
der Konstruktion eines eigenen Softwareprodukts<br />
abwechseln. Dabei muss keineswegs die vorliegende<br />
‘fertige’ Software komplett analysiert und<br />
erkundet werden. Es genügt ggf. auch, geeignete<br />
informatische Konzepte, wie Algorithmen, Designmodelle<br />
oder Codekonstrukte, zu analysieren,<br />
um sie dann auf Anwendungssituationen bei<br />
der Konstruktion des eigenen Softwareprodukts<br />
zu übertragen. Bereits Lehmann (1995) versuchte<br />
mit seinem Konzept der Wartung von Informatiksystemen,<br />
komplexere Informatiksysteme <strong>im</strong> Unterricht<br />
zu behandeln, ohne jedoch die multiperspektivische<br />
Sichtweise einzufordern.<br />
Eine geeignete Alternative zum konstruktiven<br />
unterrichtsmethodischen Vorgehen, die diesen<br />
Anforderungen genügt, ist das Konzept der Dekonstruktion.<br />
Dekonstruktion ist als wissenschaftliche<br />
Methode ursprünglich in der Philosophie,<br />
der Literaturwissenschaft, später auch in Architektur<br />
und Kunst anzutreffen. Die Methode operiert<br />
mit spezifischen Formen der Textanalyse und<br />
30<br />
hat die Offenlegung von Form, Inhalt und Hintergründen<br />
eines literarischen Werkes und der Intentionen<br />
seiner Autoren zum Ziel. Wenn man Software<br />
zunächst als Text (Quellcode) betrachtet, mit<br />
dessen Hilfe man Maschinen steuern und auf diese<br />
Weise <strong>im</strong>plizit auch soziale Wirklichkeit gestalten<br />
kann, dann wird klar, dass Dekonstruktion (Z<strong>im</strong>a,<br />
1994) zunächst als Instrument der Quellcodeanalyse<br />
auch hier eingesetzt werden kann. Dekonstruktion<br />
ist als Methode der informatischen Bildung<br />
in der Lage, vielschichtige Sichten auf Software<br />
zu eröffnen und so den Lernenden auf der<br />
Basis erster Vorkenntnisse, die sie in traditionellen<br />
Vermittlungsprozessen erworben haben, einen<br />
differenzierten Einblick in fachwissenschaftliche<br />
Konzepte und Methoden zu vermitteln.<br />
Bei der Sicht auf Formalismen z. B. bei der<br />
Quellcodeanalyse, können nicht nur Klassen, Objekte,<br />
Algorithmen oder Sprachkonstrukte einer<br />
Programmiersprache erkundet werden, sondern es<br />
ergeben sich auch Einblicke in fundamentale informatische<br />
<strong>Ideen</strong>, wie z. B. das Konzept ‘Teile<br />
und Herrsche’. Über visualisierte Formen der<br />
Softwaredarstellung, wie etwa UML-Diagramme,<br />
eröffnen sich Einsichten in komplexe Zusammenhänge<br />
und erschließen sich möglicherweise verwendete<br />
Standard-Entwurfsmuster, sowie Designund<br />
Entwurfsentscheidungen. Eine mediale Sicht<br />
wird durch die Analyse der GUI ermöglicht. Sie<br />
eröffnet Zugänge zu Problemen der Softwareergonomie,<br />
aber auch zu formalen Konzepten wie IOund<br />
Exception-Handling. Die Funktionalität der<br />
Software kann insgesamt getestet und bewertet<br />
werden. Möglicherweise sind verschiedene Systementwürfe<br />
verfügbar, die miteinander verglichen<br />
und hinsichtlich ihrer informatischen Konzepte<br />
und Folgewirkungen <strong>im</strong> sozialen Einsatzkontext<br />
bewertet werden können. Letzteres setzt aber eine<br />
solide informatische Wissensbasis hinsichtlich Inhalten<br />
und fachwissenschaftlichen Methoden sowie<br />
das Erarbeiten von adäquaten Bewertungskriterien<br />
voraus und ist somit als optionales fortgeschrittenes<br />
Lernziel anzusehen. Damit können<br />
sich über Dekonstruktion nicht nur Einblicke in<br />
das vorliegende Softwareprodukt, sondern auch in<br />
den Prozess seiner Genese eröffnen. Die Methode<br />
der Dekonstruktion ermöglicht sozusagen eine<br />
medial gestützte Zeitreise in die verschiedenen<br />
Entstehungsphasen des Informatiksystems bis<br />
hin zu seinem Einsatz und erschließt Zusammenhänge,<br />
die bei einem rein konstruktiven Vorgehen<br />
nicht möglich gewesen wären. ‘Protokolle’<br />
über Designentscheidungen, die sich auf die Bewertung<br />
alternativer Entwürfe beziehen, verdeutlichen,<br />
wie Nutzungsszenarien und Handlungsabläufe<br />
<strong>im</strong> sozio-technischen Informatiksystem festgelegt<br />
werden. Die Diskussion von Fragen der<br />
kontextuellen Informatik (Kontextuelle Informa-
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
Abbildung 3.5: Sichten auf Entwicklungsphasen von Informatiksystemen durch Dekonstruktion<br />
tik, 2002) ist somit kein Additum, das gegebenenfalls<br />
als Exkurs an eine Lerneinheit angefügt<br />
wird, sondern ist <strong>im</strong> informatischen Kernbereich<br />
der Anforderungsanalyse, des Systemsentwurfs<br />
und des Softwaredesigns angesiedelt. Ob ein Informatiksystem<br />
die Erhebung von Leistungsdaten<br />
an Arbeitsplätzen ermöglicht ist einerseits eine<br />
Entwurfs- bzw. <strong>im</strong> Detail eine Designentscheidung<br />
und hat andererseits erhebliche Bedeutung<br />
<strong>für</strong> den betrieblichen Controllingprozess und den<br />
Datenschutz. Das Verhältnis von Produkt und Prozess<br />
bei der Softwareentwicklung wird damit zum<br />
relevanten Gegenstand <strong>im</strong> Informatikunterricht,<br />
anhand dessen sich elementare Konzepte der Informatik<br />
erarbeiten lassen (Magenhe<strong>im</strong>, 2003).<br />
5 Informatik Lernlabor — ein<br />
Beispiel<br />
5.1 Mediale Bausteine des ILL<br />
Im Informatik Lernlabor an der Universität Paderborn<br />
wird seit einiger Zeit der Versuch unternommen,<br />
dieses unterrichtsmethodische Konzept<br />
unter wissenschaftlicher Begleitung in die<br />
Praxis umzusetzen. Dazu bedurfte es einer Reihe<br />
von medialen Voraussetzungen. Neben den in<br />
der informatischen Bildung schon seit jeher verwendeten<br />
Tools zur Softwareentwicklung wie z.B.<br />
Editoren, (grafische) Debugger oder komplexere<br />
Entwicklungsumgebungen mit integrierten ‘GUI-<br />
Buildern’ sollen in dekonstruktiven Unterrichtsphasen<br />
eine Reihe weiterer interaktiver computerbasierter<br />
Medien eingesetzt werden.<br />
Diese Medien sind nach Inhaltsmodulen gegliedert<br />
und repräsentieren jeweils als Paket ein<br />
<strong>für</strong> didaktische Zwecke aufbereitetes Informatiksystem.<br />
Das Informatik Lernlabor verfügt gegenwärtig<br />
über vier Inhaltsmodule mit unterschiedli-<br />
chem Ausbaugrad:<br />
Modul Hochregallager Es hat die Steuerung von<br />
Transport- und Lagerungsprozessen in einem<br />
Hochregallager zum Gegenstand. Neben<br />
den üblichen computerbasierten Medien<br />
wird in diesem Modul zusätzlich ein Lego<br />
Mindstorms Modell eines Hochregallagers<br />
<strong>für</strong> Zwecke der Dekonstruktion bereitgestellt.<br />
Außerdem gibt es eine verteilte,<br />
webbasierte S<strong>im</strong>ulationsumgebung, in der<br />
die Lernenden ihre Programmierung <strong>für</strong> die<br />
realen Mindstorms Systeme an einem virtuellen<br />
Modell testen können.<br />
Modul Schulkiosk In diesem Inhaltsmodul werden<br />
elementarste Konzepte eines Warenwirtschaftssystems<br />
thematisiert. Die zu dekonstruierende<br />
Software unterstützt die<br />
Ein- und Verkaufsvorgänge eines Schulkiosks.<br />
Verkaufshandlungen werden als Use<br />
Cases analysiert, um geeignete Klassenstrukturen<br />
<strong>für</strong> die Modellierung zu gewinnen.<br />
Die Software liegt in verschiedenen<br />
Ausbaustufen vor.<br />
Modul ‘Computerspiel’ Das Computerspiel<br />
‘Ursuppe’ bildet den Ausgangspunkt dieses<br />
Inhaltsmoduls. Die zugehörige Software<br />
ist in der Lage, nach entsprechenden<br />
Benutzereingaben die Spielverwaltung zu<br />
übernehmen und Spielstände grafisch anzuzeigen.<br />
Anhand des Spiels kann u. a. thematisiert<br />
werden, wie bei Entwurfs- und<br />
Designentscheidungen zwischenmenschliche<br />
Interaktionen und Handlungen graduell<br />
auf das System übertragen werden können.<br />
Modul ‘Redaktionssystem’ Mit diesem Modul<br />
werden vor allem webbasierte Transaktionen<br />
bei der Gestaltung von Text- und ande-<br />
31
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
ren Dokumenten über eine Webschnittstelle<br />
vorgestellt. Es sollen webseitige Zugriffe<br />
auf eine Datenbank, die dynamische Erzeugung<br />
von Webseiten aus Datenbankinhalten<br />
und das Workflowmanagement thematisiert<br />
werden. Die Software wird demnächst in<br />
verschiedenen Ausbaustufen vorliegen.<br />
Als besondere Form der ‘Lernsoftware’ werden<br />
<strong>im</strong> ILL (Informatik Lernlabor) Lernobjekte<br />
(‘Learning Objects’) genutzt [IEEE 2002]. Darunter<br />
sind abgeschlossene kleinere mult<strong>im</strong>ediale<br />
Lerneinheiten zu verstehen, die den Nutzern Inhalte<br />
mit interaktiven, mult<strong>im</strong>edialen Medien präsentieren<br />
und die sich auf eine begrenzte Anzahl<br />
von zu realisierenden Lernzielen beziehen.<br />
Lernobjekte dienen den Nutzern vorwiegend zum<br />
selbstgesteuerten, erkundenden Lernen eines Gegenstandsbereichs.<br />
Ihre Integration in das Informatik<br />
Lernlabor ermöglicht ein Konzept von<br />
‘Blended Learning’, bei dem sich Formen des Präsenzlernens<br />
mit Phasen des E-learning mit computerbasierten<br />
Medien abwechseln (Magenhe<strong>im</strong>,<br />
2003; Sauter & Sauter, 2003). Lernobjekte sollten<br />
den Lernenden in einer interaktiven, <strong>für</strong> kollaborative<br />
Arbeitsweisen offenen und möglichst webbasierten<br />
Erkundungsumgebung angeboten werden.<br />
Diese Aufgabe kann z.B. von einer Lernplattform<br />
oder Groupware mit spezifischen, das<br />
E-learning unterstützenden Funktionen übernommen<br />
werden.<br />
Eine solche Lernumgebung, die exploratives<br />
Lernen unterstützt, wird neben den Lernobjekten<br />
weitere mult<strong>im</strong>ediale Dokumente und ein zu<br />
dekonstruierendes Softwareprodukt enthalten. Zu<br />
den ergänzenden Medienobjekten zählen etwa Videosequenzen<br />
von Arbeitsabläufen in realen Informatiksystemen,<br />
Interviews mit Auftraggebern<br />
und Nutzern, Gespräche zwischen Entwicklern<br />
über Entwurfsentscheidungen sowie An<strong>im</strong>ationen<br />
zu Informationsflüssen und Arbeitsabläufen<br />
(Use Cases). Damit werden Vermittlungskonzepte,<br />
wie die videogestützte Anforderungsdefinition<br />
umsetzbar. Die zu dekonstruierende Software<br />
ist ein in seiner Komplexität reduziertes Produkt,<br />
das aber wesentliche Features eines realen<br />
Informatiksystems beinhaltet und die Exploration<br />
von fundamentalen informatischen Konzepten erlaubt.<br />
Tools und Lernsoftware in Form von Learning<br />
Objects ermöglichen vielfältige Sichten auf<br />
das Produkt Software und seinen Entstehungsprozess.<br />
Durch diese Form der medialen Repräsentation<br />
können Anwendungsorientierung und Realitätsbezug<br />
der informatischen Bildung gesichert<br />
und bei den Studierenden der Erwerb von vernetztem<br />
Wissen, wie oben gefordert, realisiert werden.<br />
Grundsätzlich kann man zwischen den <strong>im</strong> Folgenden<br />
dargestellten unterschiedlichen Elementen<br />
der mult<strong>im</strong>edialen Erkundungsumgebung unter-<br />
32<br />
scheiden.<br />
Allgemeine und themenbezogene<br />
Dokumente und Lernobjekte<br />
(Inhaltsmodule)<br />
Zu den allgemeinen Lernobjekten und Dokumenten<br />
gehören Information über Protokolle und<br />
technische Kommunikation, Algorithmen, Objektorientierte<br />
Modellierung, Modellierungssprachen,<br />
Entwurfsmuster und Sprachkonstrukte. Die<br />
spezifischen Lernobjekte und Dokumente beziehen<br />
sich auf das der Lerneinheit jeweils zugrunde<br />
liegende Inhaltsmodul. Im Fall des Moduls ‘Hochregallager’<br />
gehören z. B. Informationen über eingebettete<br />
Systeme, die Firmware des Mindstorms<br />
RCX, die zugehörige Javaschnittstelle, Prinzipien<br />
der Steuerung und Regelung, die Mechanik der<br />
Lego Bauteile, von den Mindstorms Bricks verwendete<br />
Kommunikationsprotokolle sowie Informationen<br />
über Elemente eines realen Hochregallagers<br />
dazu. Die Dokumente werden z. T. in Form<br />
von interaktiven An<strong>im</strong>ationen und Videosequenzen<br />
zum realen und virtuellen System angeboten.<br />
Softwaretools und spezifische Tools<br />
Zu den allgemein genutzten Tools zählen Modellierungswerkzeuge<br />
wie UML-Editoren, auf CRC<br />
Karten (s. u.) bezogene Mindmapping Tools, grafische<br />
Debugger und integrierte Entwicklungsumgebungen.<br />
Spezifische Tools sind <strong>im</strong> Falle des<br />
Hochregallagers virtuelle S<strong>im</strong>ulationsumgebungen<br />
<strong>für</strong> die Mindstorms Bricks, sowie Mindstorms<br />
bezogene Entwicklungstools.<br />
Guided tours<br />
Guided tours dienen der Erkundung der mult<strong>im</strong>edialen<br />
computerbasierten Lernmaterialien. Sie<br />
können von den Lernenden in Phasen des selbstgesteuerten<br />
Lernens z.B. anhand von angebotenen<br />
Naviagationshilfen genutzt werden, um sich<br />
Lerninhalte eigenständig zu erschließen, die sie<br />
<strong>für</strong> die Bewältigung der Konstruktionsaufgabe benötigen.<br />
LMS und CMS<br />
Die mult<strong>im</strong>edialen Materialien und Dokumente,<br />
die computerbasierten An<strong>im</strong>ationen und digitalen<br />
Videosequenzen müssen den Lernenden<br />
in geeigneter Form zur Verfügung gestellt werden.<br />
Gleiches gilt <strong>für</strong> die benötigten Cognitive<br />
Tools. Dazu wird zumindest eine Groupware<br />
mit elementaren Funktionen einer Lernplattform<br />
benötigt. Sie sollte über ein User- und Accessmangement<br />
verfügen und elementare webbasierte<br />
Kommunikationsdienste anbieten (Mail,<br />
Chat). Auf diese Weise können <strong>für</strong> das Konzept<br />
des Blended Learning grundlegende Funktionen<br />
eines Lernmanagement- (LMS) und Content-<br />
Management-Systems (CMS) erfüllt werden. In
Systemorientierte Didaktik der Informatik — Sozio-technische Informatiksysteme als<br />
Unterrichtsgegenstand?<br />
der gegenwärtigen Erprobungsphase des Lernlabors<br />
verwendet die Arbeitsgruppe das System<br />
STeam (STeam, 2003).<br />
Didaktische Software<br />
Die didaktische Software dient der oben bereits<br />
ausführlicher beschriebenen Methode der Dekonstruktion.<br />
Im Fall des Hochregallagers wird<br />
beispielsweise eine Steuerungssoftware <strong>für</strong> die<br />
Ein- und Auslagerung von Paletten mit der dazu<br />
notwendigen Auftragsverwaltung, den Transporten<br />
zwischen verschiedenen Bereichen des Lagers<br />
und der Kommunikationskontrolle zwischen<br />
den autonomen Systemen bereitgestellt. Außerdem<br />
gehören ein mit Legobausteinen konstruiertes<br />
Modell eines Hochregallagers, das von der<br />
Software gesteuert wird, sowie eine S<strong>im</strong>ulationssoftware<br />
zu dem zu erkundenden, didaktisch aufbereiteten<br />
Informatiksystem.<br />
Aufgabensammlung und<br />
Erkundungsaufträge<br />
Die Erkundung des Hochregallagers wird jeweils<br />
durch spezifische Erkundungsaufträge initiiert,<br />
die sich auf wesentliche informatische Prinzipien<br />
des Systems beziehen und <strong>für</strong> die später zu lösende<br />
komplexere Konstruktionsaufgabe von zentraler<br />
Bedeutung sind. Hierzu zählt beispielsweise<br />
die Analyse und Bewertung des von den autonomen<br />
Systemen verwendeten Kommunikationsprotokolls,<br />
das mit gängigen Konzepten wie Token<br />
Ring und CSMA/CD <strong>im</strong> Hinblick auf seine Effizienz<br />
verglichen werden kann. Kleinere themenbezogene<br />
Übungsaufgaben in der Erkundungsumgebung<br />
sind darüber hinaus geeignet, während der<br />
Dekonstruktion gewonnene Einsichten und Fertigkeiten<br />
zu vertiefen.<br />
5.2 Arbeitsformen <strong>im</strong> Informatik<br />
Lernlabor<br />
Mit Hilfe der vielfältigen medialen Repräsentationen<br />
von Informatiksystemen <strong>im</strong> Informatik<br />
Lernlabor können dort lernerzentrierte, explorative<br />
Lernprozesse umgesetzt werden, wie sie oben<br />
eingefordert wurden. Hierbei findet in der Regel<br />
ein Wechsel zwischen entdeckendem, selbstgesteuertem<br />
Lernen mit Materialien der Lernplattform<br />
und Phasen des Präsenzlernens mit Moderation<br />
durch einen Tutor statt. Auch hierbei spielen<br />
die in der Plattform bereitgestellten medialen Repräsentationen<br />
des Informatiksystems eine bedeutende<br />
Rolle. Insgesamt kann man bei der Methodik<br />
des Informatik Lernlabors deshalb zu Recht<br />
von einem Konzept des ‘Blended Learning’ sprechen.<br />
Lernprozesse <strong>im</strong> Informatik Lernlabor können<br />
nach diesem unterrichtsmethodischen Vorgehensmodell<br />
in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden,<br />
die in Abhängigkeit von den jeweiligen In-<br />
haltsmodulen teilweise variieren. Es gibt zunächst<br />
zwei methodische Hauptphasen, die Phase der Dekonstruktion<br />
und die Phase der Konstruktion. Sie<br />
lassen sich wiederum weiter unterteilen. Prototypisch<br />
sieht das unterrichtliche Methodenmodell<br />
<strong>im</strong> Informatik Lernlabor dann wie folgt aus:<br />
Dekonstruktionsphase<br />
Exploration<br />
• Die Lernenden erhalten Erkundungsaufträge, zu<br />
deren Erledigung sie die medialen Repräsentationen<br />
des Informatiksystems <strong>im</strong> Lernlabor nutzen.<br />
• Die Aufträge werden sowohl individuell als<br />
auch in Gruppen erledigt und dienen der Verbreiterung<br />
der Wissensbasis der Lernenden zum<br />
Gegenstandsbereich.<br />
Re-engineering<br />
• Die Lernenden erhalten Aufträge, das bestehende<br />
Informatiksystem zu verändern, indem<br />
beispielsweise erweiterte Funktionen eingeführt<br />
werden.<br />
• Dies kann arbeitsteilig aber auch in nur einer<br />
Gruppe geschehen. Desingentwürfe werden<br />
verglichen und <strong>im</strong> Hinblick auf ihre technische<br />
Funktionalität und mögliche soziale Folgewirkungen<br />
bewertet. Diese Phase soll zu einem vertieften<br />
Verständnis des Informatiksystems führen.<br />
Konstruktionsphase<br />
Transfer<br />
• Die Lernenden erhalten einen komplexeren<br />
Auftrag zur Entwicklung eines Informatiksystems,<br />
der in der Regel arbeitsteilig erledigt<br />
werden muss.<br />
• Die bei der Dekonstruktion des vorhandenen,<br />
medial repräsentierten Informatiksystems erworbenen<br />
Kenntnisse müssen auf die neue Anforderungssituation<br />
transferiert werden. Eine<br />
einfache direkte Übertragung von Quellcode ist<br />
in der Regel nicht möglich, sondern es müssen<br />
Modifikationen vorgenommen werden.<br />
Softwareentwicklung<br />
• Diese länger andauernde Phase beinhaltet die<br />
<strong>für</strong> die Konstruktion von Software üblichen<br />
Teilphasen, wie etwa Anforderungsdefinition,<br />
Spezifikation, Entwurf, Implementierung.<br />
• In diese Phase können handlungsorientierte Modellierungskonzepte,<br />
wie etwa das Modellieren<br />
mit CRC-Karten (Beck & Cunningham, 1989;<br />
Ambler, 1998) oder das Object-Game (Bergin,<br />
2000) eingebunden werden, um einen ersten<br />
Überblick über die Struktur eines Entwurfs zu<br />
erhalten.<br />
• Diese Phase wird in der Regel arbeitsteilig erledigt.<br />
33
Johannes Magenhe<strong>im</strong>, Paderborn<br />
Abbildung 3.6: Mediale Repräsentationen eines Informatiksystems. Die Abbildungen zeigen mediale Repräsentationen<br />
des Inhaltsmoduls ‘Hochregallager’ auf verschiedenen Abstraktionsebenen (reales System,<br />
Mindstorms, Modell, virtuelle S<strong>im</strong>ulation des Mindstorms Modell, Dokumente auf grafischer und Quellcodeebene<br />
zur Mindstorms Steuerung) und mit unterschiedlichen Betätigungsmöglichkeiten <strong>für</strong> die Lernenden.<br />
Evaluation<br />
• Wie in jeder projektartig organisierten Lehrveranstaltung<br />
findet gegen Ende des Vorhabens eine<br />
Evaluation statt. Sie bezieht sich auf die erzielten<br />
Ergebnisse des Lernprozesses.<br />
• Hinsichtlich der Qualität der Lernprozesse<br />
kommt der Eigenbewertung der Lernenden eine<br />
hohe Bedeutung zu.<br />
• Ferner besteht die Möglichkeit, die Qualität<br />
des erstellten Produkts, gemessen an den zuvor<br />
gesteckten Anforderungsdefinitionen sowie den<br />
Verlauf des Lernprozesses ggf. durch computerbasierte<br />
Beobachtungsmethoden zu bewerten.<br />
In der gegenwärtig vorliegenden Konzeption<br />
sind die Materialien des Informatik Lernlabors<br />
eher <strong>für</strong> leistungsstarke Lerngruppen in der gymnasialen<br />
Oberstufe bzw. <strong>für</strong> den Einsatz in der<br />
Hochschulausbildung geeignet. Es ist aber gut<br />
vorstellbar, weniger komplexe bis einfachste Informatiksysteme<br />
<strong>für</strong> den schulischen Gebrauch in<br />
ähnlicher Form zu entwickeln.<br />
6 Schlussfolgerungen<br />
Die bisherigen Erprobungen, vor allem <strong>im</strong> Hochschulbereich,<br />
haben zu positiven Rückmeldungen<br />
der Studierenden und zu erfreulichen Ergebnissen<br />
in der Produktqualität am Ende der Kurse geführt.<br />
Diese Befunde konnten auch <strong>im</strong> Rahmen<br />
einer qualitativen Studie belegt werden (Magenhe<strong>im</strong><br />
& Scheel, 2004). Es müssen nun genauere<br />
empirische Analysen durchgeführt und das Konzept<br />
auf weniger komplexe Systeme übertragen<br />
werden. Außerdem sollte unabhängig vom methodischen<br />
Gesamtkonzept des Informatik Lernlabors<br />
der Ansatz der systemorientierten Didaktik<br />
mit ihren medialen und methodischen Implikationen<br />
in der alltäglichen Praxis des Informatikunterrichts<br />
stärker verankert werden. Hierbei können<br />
Exkursionen zur Erkundung realer Informatiksy-<br />
34<br />
steme durchaus deren mediale Repräsentation ersetzen.<br />
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• Wechselwirkungen zwischen mathematischer und<br />
informatischer Bildung<br />
Torsten Brinda, Erlangen<br />
Mathematik und Informatik stehen in enger Wechselbeziehung zueinander. Die Mathematik ist <strong>für</strong><br />
viele Teilgebiete der theoretischen, der praktischen, der technischen und der angewandten Informatik<br />
grundlegend und stellt <strong>für</strong> diese begriffliche und methodische Hilfsmittel bereit (z. B. vollständige<br />
Induktion, Mengen- und Graphentheorie). Die Informatik ihrerseits stellt Methoden zur Gestaltung<br />
von softwarebasierten Werkzeugen und Lernhilfen zur Verfügung, die dann z. B. in der Mathematikausbildung<br />
zum Einsatz gelangen können. Durch die starke Sichtbarkeit der gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen eignen sich informatische Themenfelder als motivierende Anwendungskontexte <strong>für</strong><br />
mathematische Themen. <strong>Informatische</strong> Strukturierungs- und Problemlösetechniken können als Lernhilfen<br />
dienen und die Mathematikausbildung unterrichtsmethodisch bereichern. Möglichkeiten und<br />
Grenzen dieser Vernetzung werden herausgestellt.<br />
1 Einleitung<br />
Die informatische Bildung an allgemein bildenden<br />
Schulen leistet einen wesentlichen Beitrag zur<br />
Allgemeinbildung in einer von Informations- und<br />
Kommunikationssystemen beeinflussten Wissensgesellschaft,<br />
indem sie Lernende dazu befähigt,<br />
diese Technologien zu verstehen, zu bewerten und<br />
bei der Lösung von Aufgaben und Problemen <strong>im</strong><br />
privaten sowie <strong>im</strong> beruflichen Bereich zielgerichtet<br />
anwenden zu können. Die Anwendung erfordert<br />
notwendig elementare Bedienerfertigkeiten.<br />
Um ein grundlegendes Verständnis der Technologien<br />
in einer durch technischen Wandel und kontinuierliche<br />
Weiterentwicklungen geprägten Welt<br />
zu erlangen, ist die Aneignung langlebiger Informatikkonzepte<br />
erforderlich, welche in Verknüpfung<br />
mit der Entwicklung und Ausprägung von<br />
Lernstrategien, auch unter Verwendung von Informatiksystemen<br />
in Form von computerbasierten<br />
Medien und Lernhilfen, zur Vorbereitung auf lebensbegleitendes<br />
Lernen beiträgt.<br />
Alle drei genannten Zielbereiche, die Beherrschung<br />
grundlegender Informatikkonzepte, die<br />
Schulung von Bedienerfertigkeiten sowie der Einsatz<br />
von Informatiksystemen als Medien oder<br />
Lernhilfen sind wechselseitig miteinander verbunden<br />
Hubwieser (2003). Bedienfertigkeiten stellen<br />
eine Voraussetzung <strong>für</strong> den Einsatz von Informatiksystemen<br />
als Medien bzw. als Lernhilfen dar.<br />
Eine fundierte Bewertung deren Einsatzmöglichkeiten<br />
erfordert die Kenntnis best<strong>im</strong>mter Fachkonzepte.<br />
Im Lehr-Lern-Prozess ist die Vermittlung<br />
von Bedienerfertigkeiten mit der Vermittlung<br />
von Fachkonzepten verknüpft, um diese nicht auf<br />
das Erlernen von Rezepten zu reduzieren. Umgekehrt<br />
wäre die Vermittlung von Konzepten ohne<br />
praktische Arbeit an Informatiksystemen wenig<br />
motivierend, vergleichbar mit Schw<strong>im</strong>munterricht<br />
ohne Becken.<br />
Wie ordnen sich in diese innerinformatischen<br />
Betrachtungen nun Wechselwirkungen mit der<br />
mathematischen Bildung ein? Die Beherrschung<br />
grundlegender Informatikkonzepte ist in Teilbereichen<br />
abhängig von der Beherrschung grundlegender<br />
Mathematikkonzepte, da diese deren Fundament<br />
darstellen. Umgekehrt fördern spezifische<br />
Informatikinhalte und -methoden das Verständnis<br />
von mathematischen Inhalten und können aufgrund<br />
ihrer stärkeren gesellschaftlichen Sichtbarkeit<br />
auch als motivierende Anwendungskontexte<br />
dienen. Der Einsatz von Informatiksystemen<br />
als Medien bzw. als Lernhilfen ist nicht an das<br />
Fach Informatik gebunden, sondern wird in vielen<br />
Richtlinien und Lehrplänen explizit als fächerübergreifende<br />
Aufgabe angelegt. Die Informatik<br />
wirkt in diesen Bereich hinein, indem sie Methoden<br />
und Werkzeuge zur technischen Gestaltung<br />
computerbasierter Lernhilfen und Medien bereitstellt.<br />
2 Wirkungen der Mathematik auf<br />
die informatische Bildung<br />
Von der Mathematik gehen vielfältige Wirkungen<br />
auf die informatische Bildung aus, von denen hier<br />
einige <strong>im</strong> Folgenden genauer dargestellt werden<br />
sollen.<br />
Betrachtet man zunächst den schulischen Bereich,<br />
so ist die historische, nationale Entwicklung<br />
des Schulfaches und der Informatiklehrerbildung<br />
Ursache <strong>für</strong> die anfänglich besonders häufige<br />
Wahl der Mathematik als Problemdomäne. Die<br />
ersten aktiven Informatiklehrkräfte in den Anfängen<br />
des Faches kamen aus anderen Fächern (insbesondere<br />
aus der Mathematik und der Physik)<br />
und waren zuvor <strong>im</strong> Bereich der Informatik fortbzw.<br />
weitergebildet worden. Die ersten Empfehlungen<br />
der <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Informatik zu Zielsetzungen<br />
und Inhalten des Informatikunterrichts an<br />
Schulen Brauer et al. (1976) betonten Algorithmen<br />
und Datenstrukturen. Die Lehrkräfte wählten<br />
oft ihre anderen Fächer (Mathematik, Physik) als<br />
Problemdomänen, so dass z. B. Algorithmen zur<br />
37
Torsten Brinda, Erlangen<br />
Berechnung der Fakultät und des größten gemeinsamen<br />
Teilers oder zur Pr<strong>im</strong>zahlerzeugung häufig<br />
anzutreffen waren. Obgleich fächerübergreifende<br />
und -verbindende Ansätze als erstrebenswert galten<br />
und gelten, gab es Kritik, da schwierige Informatikinhalte<br />
mit schwierigen Inhalten aus der Mathematik<br />
und der Physik kombiniert wurden, was<br />
<strong>für</strong> viele Lernende eine zu große Hürde darstellte.<br />
Be<strong>im</strong> Übergang in das Berufleben zeigt sich,<br />
dass <strong>für</strong> eine Teilpopulation der <strong>im</strong> Informatikbereich<br />
beruflich Aktiven der Bezug zur Mathematik<br />
und die Verknüpfung mit logisch konstruierten<br />
und exakten Strukturen ein wesentlicher Motivator<br />
<strong>für</strong> ihre Berufswahl zu sein scheint Alstrum<br />
(2003). Alstrum befragte hierzu 500 Personen<br />
aus dem Informatikumfeld (verschiedene Nationen<br />
mit US-Schwerpunkt, 78% Frauen, Alter von<br />
25 bis 60 Jahren; 90% wenigstens mit Bachelor-,<br />
mehr als 50% mit Masterabschluss, 37% mit Doktortitel;<br />
17% Studierende, 36% Lehrende, 33%<br />
aus der Industrie; mehr als 50% mit eigenen Lehrerfahrungen<br />
zumindest auf College-Ebene). Sie<br />
kam zu dem Ergebnis, dass der individuelle Nutzen<br />
des Fachgebietes der stärkste Motivator <strong>für</strong> eine<br />
Tätigkeit sei, gefolgt vom Wissenschafts- und<br />
Theorieinteresse, den Exper<strong>im</strong>entiermöglichkeiten<br />
und dem Wunsch, technischen Fortschritt zu<br />
gestalten. Zum Wissenschafts- und Theorieinteresse<br />
gaben 69% der Befragten an, dass die Möglichkeit<br />
exakte Lösungen zu erstellen, ein mehr<br />
oder weniger starker Einflussfaktor <strong>für</strong> ihre Berufswahl<br />
gewesen sei. 90% gaben dies <strong>für</strong> die mit<br />
der Berufswahl verbundenen logischen Strukturen<br />
an. Für 60% waren die mathematischen Grundlagen<br />
besonders ausschlaggebend. 76% fühlten sich<br />
von der erreichbaren Schönheit und Eleganz technischer<br />
Lösungen besonders motiviert. Während<br />
Befragte mit hohen Skalenwerten be<strong>im</strong> Nutzen<br />
auch hohe Skalenwerte bei den Exper<strong>im</strong>entiermöglichkeiten<br />
und der Fortschrittsgestaltung hatten,<br />
bildeten Befragte mit hohem Wissenschaftsinteresse<br />
eine eigene Gruppe <strong>für</strong> sich mit niedrigen<br />
Skalenwerten bezüglich der übrigen D<strong>im</strong>ensionen.<br />
Die Existenz einer solchen Teilgruppe,<br />
die durch weitere Studien validiert werden müsste,<br />
legt eine stärkere Verknüpfung von Theorie<br />
und Praxis nahe. Im Bundesland Bayern spielen<br />
Aspekte der Theoretischen Informatik in der<br />
Informatiklehrerausbildung und <strong>im</strong> ersten Staatsexamen<br />
eine zentrale Rolle, um diese Theorie-<br />
Praxis-Verzahnung <strong>im</strong> Informatikunterricht bestmöglich<br />
zu verankern.<br />
In unterschiedlichen Generationen von Studierenden<br />
und in unterschiedlichen Bildungssystemen<br />
gibt es darüber hinaus deutliche Belege <strong>für</strong><br />
eine starke Korrelation zwischen der mathematischen<br />
Vorbildung aus der Schule und den Programmierfähigkeiten<br />
in Informatikanfangskursen<br />
38<br />
an Hochschulen (Baldwin & Henderson, 2002). In<br />
einer Studie von Konvalina et al. (1983, amerikanischer<br />
Raum) zu Lernerfolgsfaktoren in der Informatik<br />
wurde festgestellt, dass die Anzahl der in<br />
der High School und am College belegten Mathematikkurse<br />
der statistisch signifikanteste Unterschied<br />
zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen<br />
Studierenden war. Wilson & Shrock (2001,<br />
amerikanischer Raum) identifizierten bei der Korrelationsanalyse<br />
von zwölf möglichen Prädiktoren<br />
zu Midtermklausurergebnissen in einem Informatikanfangskurs<br />
die mathematische Vorbildung aus<br />
der High School als zweitwichtigsten Prädiktor.<br />
Byrne & Lyons (2001) untersuchten Einflussfaktoren<br />
auf Abschlussprüfungsnoten in einem einführenden<br />
Programmierkurs <strong>für</strong> Studierende eines<br />
Informatiknebenfachs in Irland und stellten auch<br />
hier eine signifikant positive Korrelation zwischen<br />
der Prüfungsnote und der schulischen Mathematikabschlussnote<br />
fest.<br />
Im Hinblick auf Beratungsszenarios bei der<br />
Studienwahl bedeutet dies, dass der Umfang<br />
und der individuelle Erfolg der mathematischen<br />
Schulausbildung den Lernerfolg in daran anschließenden<br />
Ausbildungsphasen der Informatik<br />
mit beeinflussen. In Studienberatungen zur Informatik<br />
wird daher explizit darauf hingewiesen,<br />
dass die von der Mathematik geförderten Fähigkeiten<br />
zur Abstraktion und zu logischem Denken<br />
in der Informatik benötigt werden. Die Mathematik<br />
stellt <strong>für</strong> viele Teilbereiche der Informatik<br />
formale, begriffliche und methodische Hilfsmittel<br />
bereit. Be<strong>im</strong> Problemlösen in der Informatik<br />
erfolgt der wichtige Teilschritt der Problemrepräsentation<br />
z. B. formal mathematisch, grafisch<br />
oder numerisch. Informatiklernende müssen diese<br />
Fähigkeiten entwickeln, um erfolgreich Systeme<br />
analysieren, entwerfen, <strong>im</strong>plementieren und<br />
testen zu können. Bei der Programmierung konstruieren<br />
Lernende Operationen und Datentypen.<br />
Das setzt fundierte Kenntnisse zur Auswertung<br />
von Ausdrücken und zur Rangfolge von Operatoren<br />
voraus, um be<strong>im</strong> Testen und bei der Fehlersuche<br />
in berechnungsorientierten Programmen nicht<br />
die Orientierung zu verlieren. Die Generierung<br />
von Testfällen be<strong>im</strong> Überdeckungstesten erfordert<br />
notwendig Kenntnisse über mögliche Belegungen<br />
und Auswertungen boolescher Ausdrücke. In relationalen<br />
Datenbanken werden Tabellen durch Relationen<br />
modelliert, die jeweils aus einer Menge<br />
von Tupeln gebildet werden. Für das Verständnis<br />
fortgeschrittener Datenbankoperationen sind<br />
demnach der Mengenbegriff und Mengenoperationen,<br />
wie z. B. Vereinigung, Schnitt und Kreuzprodukt<br />
erforderlich. Im Bereich der Rechnerarchitektur<br />
spielen verschiedene Zahlensysteme,<br />
wie z. B. das Binär-, das Dez<strong>im</strong>al- und das Hexadez<strong>im</strong>alsystem,<br />
sowie die boolesche Algebra eine
zentrale Rolle. Für die Analyse von Routingprozessen<br />
in Computernetzwerken sind Erkenntnisse<br />
aus der Graphentheorie hilfreich. Die Gestaltung<br />
zuverlässiger und abhörsicherer Kommunikation<br />
in Computernetzwerken bedingt mathematische<br />
Grundlagen aus den Bereichen der Datenverschlüsselung<br />
und -kompression. Die theoretische<br />
Informatik hat einen besonders großen Bezug<br />
zur Mathematik. Sie verwendet in großem Umfang<br />
Konzepte der diskreten Mathematik, Operationen,<br />
Unendlichkeit, Beweise, Reduktionen,<br />
rekursive Definitionen, Graphen, Bäume, Mengen,<br />
Relationen, Zeichenketten, abstrakte Sprachen<br />
und die mathematische Induktion. Be<strong>im</strong><br />
Software-Engineering und bei der Systemanalyse<br />
werden Software-Metriken konstruiert und verwendet<br />
und die Komplexität und die Korrektheit<br />
von Algorithmen analysiert. Hier<strong>für</strong> sind z. B.<br />
Kenntnisse über das Wachstum von Funktionen<br />
und über Korrektheitsbeweise erforderlich.<br />
Die Verwendung formaler Spezifikationsmethoden<br />
trägt zu einer Verbesserung der Softwarequalität<br />
bei und erhöht damit den Programmiererfolg.<br />
In verschiedenen Studien wurden Systeme<br />
mit und ohne Verwendung formaler Methoden<br />
gestaltet, z. B. ein Gateway-System (Larson<br />
et al., 1996) und ein Flugkontrollsystem (Pfleeger<br />
& Hatton, 1997). Im Ergebnis wurde jeweils<br />
festgestellt, das die Verwendung formaler Methoden<br />
zu einer geringeren Zahl von Programmdefekten,<br />
besseren Laufzeiteigenschaften, besserer<br />
Code-Struktur, leichterer Fehleridentifizierbarkeit<br />
und geringerem Behebungsaufwand führte. Formale<br />
Methoden gewinnen deshalb in der Softwaretechnik<br />
zunehmend an Bedeutung. Es zeigt sich<br />
ein deutlich erkennbarer Bezug vieler Teilgebiete<br />
der Informatik zur Mathematik. Da die Informatikausbildung<br />
an Schulen erst beginnt, als Pflichtfach<br />
in die Sekundarstufe I vorzustoßen, können<br />
solche Bezüge bei der Lehrplangestaltung explizit<br />
berücksichtigt werden. Im Bundesland Bayern<br />
wurde eine Unterrichtsreihe zum funktionalen<br />
Modellieren (zunächst in der Jahrgangsstufe 8<br />
und jetzt) in der Jahrgangsstufe 9 verankert, um<br />
auf den Funktionsbegriff der Mathematik zurückgreifen<br />
zu können (Hubwieser, 2005). Auf Hochschulebene<br />
führen die Bezüge zur Mathematik<br />
<strong>im</strong>mer wieder zu Diskussionen darüber, wie viel<br />
und welche Mathematik sich Informatikstudierende<br />
<strong>im</strong> Rahmen ihrer Studien aneignen müssen. Eine<br />
weiterführende Zusammenstellung mathematischer<br />
Grundlagen der Informatik findet sich in Beaubouef<br />
(2002). Die Kehrseite eines soliden mathematischen<br />
Fundaments kann in folgenden, zumeist<br />
unbegründeten, Eindrücken bestehen (Bruce<br />
et al., 2003):<br />
„[. . . ] mathematics is s<strong>im</strong>ply used as<br />
a filter — weeding out students too<br />
Wechselwirkungen zwischen mathematischer und informatischer Bildung<br />
weak or unprepared to survive — or<br />
just to pare down the hordes of potential<br />
computer science majors to a<br />
more manageable size [. . . ] it is just<br />
another sign that faculty in their ivory<br />
towers have no clue what practioners<br />
really do or need“<br />
3 Informatiksysteme als<br />
Lernhilfen <strong>für</strong> die<br />
mathematische Bildung<br />
Informatiksysteme können auf vielfältige Weisen<br />
als Lernhilfen in der mathematischen Bildung eingesetzt<br />
werden und diese vermittlungsmethodisch<br />
durch neue Interaktionsmöglichkeiten bereichern.<br />
Schubert & Schwill (2004) unterscheiden be<strong>im</strong><br />
Lernen mit Informatiksystemen fünf sehr unterschiedliche<br />
Niveaustufungen der Interaktion:<br />
1. Navigation <strong>im</strong> Lernmaterial,<br />
2. Eingabe von digitalen Notizen der Schüler zum<br />
Lernmaterial,<br />
3. Eingabe von Aufgabenlösungen: auswählen<br />
von Werten aus einer festen Menge oder Interpreter<br />
<strong>für</strong> freie Eingaben erforderlich,<br />
4. Planen und Umsetzen von Explorationsstrategien,<br />
5. Planen und Durchführen von Software-<br />
Exper<strong>im</strong>enten.<br />
Betrachtet man diese Niveaustufungen genauer<br />
hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf die Mathematik,<br />
so ist be<strong>im</strong> ersten Punkt an mult<strong>im</strong>ediale<br />
Lernmaterialien zu denken, die den Mehrwert<br />
gegenüber einem Druckmaterial sofort ersichtlich<br />
werden lassen. Die Stärke liegt in der Verknüpfung<br />
textueller Darstellungen mit Videosequenzen<br />
oder An<strong>im</strong>ationen mathematischer Prozesse,<br />
wie z. B. Umstellungen von Gleichungen<br />
oder Konstruktionen geometrischer Figuren, die<br />
Lernende in unterschiedlichen Detaillierungsgraden<br />
wiederholt betrachten und analysieren können.<br />
Durch die Verknüpfung solcher E-Learning-<br />
Materialien mit E-Learning-Plattformen, Systemen<br />
zur Verwaltung und Organisation webbasierter<br />
Lehr-Lern-Materialien und -Prozesse, mit rollenbasierter<br />
Benutzerverwaltung wird es möglich,<br />
individuelle Lernpfade und digitale Notizen zum<br />
Material personenbezogen zu verwalten und auf<br />
Wunsch auch zu exportieren.<br />
Die <strong>für</strong> Lehr-Lern-Prozesse <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit Informatiksystemen so wichtige Interaktivität<br />
kann bei der Gestaltung webbasierter Aufgaben<br />
sehr unterschiedliche Formen annehmen.<br />
Leicht zu programmierende Multiple-Choice oder<br />
Lückentext-Aufgaben sind in vielen Themenbereichen<br />
weit verbreitet, eignen sich aber vorwiegend<br />
<strong>für</strong> das kurzfristige Einüben von Faktenwissen.<br />
Interpreter <strong>für</strong> freie Texteingaben oder<br />
39
Torsten Brinda, Erlangen<br />
zur Bewertung von selbst erstellten mathematischen<br />
Aufgabenlösungen, sind bedeutend schwieriger<br />
zu realisieren. Der Übergang zur Exploration<br />
und zum Exper<strong>im</strong>ent ist hierbei fließend. Während<br />
explorationsfreundliche Lernumgebungen zu themenbezogenen<br />
Entdeckungen st<strong>im</strong>ulieren, werden<br />
be<strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>entieren zuvor gebildete Hypothesen<br />
systematisch überprüft.<br />
Für kleinere interaktive Lerneinheiten kommen<br />
häufig Java-Applets zum Einsatz. Für ausgewählte<br />
Themenbereiche werden unter Verwendung<br />
von Informatikmethoden fachspezifische<br />
Programmpakete gestaltet (z. B. Computer-<br />
Algebrasysteme). Diese fungieren nicht nur als<br />
Lernhilfen, sondern ermöglichen auch das Lösen<br />
von Aufgaben, die von Hand nicht zu bearbeiten<br />
wären. Das Verständnis der zugrunde liegenden<br />
Lösungsstrategien wird dadurch jedoch keineswegs<br />
überflüssig, da die einzelnen Schritte sonst<br />
nicht nachvollzogen werden können.<br />
Der Einsatz mult<strong>im</strong>edialer Lehr-Lern-<br />
Systeme kann den Unterricht somit methodisch<br />
bereichern. Zahlreiche Themenbereiche lassen<br />
sich identifizieren, die Potenzial <strong>für</strong> eine fächerübergreifende<br />
oder -verbindende Herangehensweise<br />
bieten, z. B. Fehler erkennende und<br />
-korrigierende Codes, Codierungstechniken (vgl.<br />
Abb. 1), Chiffriermethoden, etc.<br />
Abbildung 4.1: Applet zum Huffman-Code (Bewer,<br />
2005)<br />
Die Informatik entwickelt und erprobt Methoden<br />
und Werkzeuge zur Gestaltung solcher Systeme<br />
und schafft <strong>im</strong>mer neue, lernförderliche Interaktionsmöglichkeiten.<br />
Im Bereich der Physik und<br />
Chemie konnten beispielsweise schon vollständige<br />
virtuelle Labore (in 3D) mit den damit verbundenen<br />
Exper<strong>im</strong>entiermöglichkeiten gestaltet werden.<br />
Es werden einheitliche Beschreibungstechniken<br />
<strong>für</strong> Lehr-Lern-Materialien entwickelt (z. B.<br />
Learning Object Metadata) mit dem Ziel, diese<br />
weltweit zielgerichtet recherchieren zu können.<br />
Damit wirkt die Informatik wesentlich in andere<br />
Bildungsbereiche hinein.<br />
40<br />
4 Wirkungen der Informatik auf<br />
die mathematische Bildung<br />
Kehrt man die <strong>im</strong> Abschnitt 2 geführte Voraussetzungsanalyse<br />
um, so zeigt sich, dass Informatikinhalte<br />
und -methoden auch als Anwendungsszenarien<br />
oder Lernhilfen <strong>für</strong> Inhalte der Mathematik<br />
eingesetzt werden und dortige Lehr-Lern-<br />
Prozesse methodisch bereichern können.<br />
Der Funktionsbegriff der Mathematik wird besonders<br />
deutlich sichtbar be<strong>im</strong> funktionalen Modellieren<br />
und dem Arbeiten mit funktionalen Programmiersprachen,<br />
wie z. B. ML oder Haskell.<br />
Lernende können damit sehr leicht Funktionen definieren<br />
und diese bezüglich best<strong>im</strong>mter Eingaben<br />
auswerten. Da die Syntax sehr stark an der<br />
Mathematik orientiert ist, ist spezielles Programmierungsvorwissen<br />
hierbei entbehrlich. Lernende<br />
können die Wirkungen von Funktionskonkatenationen<br />
überprüfen, den aus dem <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
bekannten Funktionsbegriff auf nichtnumerische<br />
Datentypen erweitern und auch so komplizierte<br />
Konzepte, wie Funktionen höherer Ordnung<br />
handlungsorientiert erkunden und durchdringen.<br />
Der Mengenbegriff und typische Mengenoperationen<br />
finden eine praktische und in vielen Lebenssituationen<br />
erkennbare Anwendung <strong>im</strong> Bereich<br />
der Datenmodellierung und der Datenbanksysteme.<br />
Abfragen mit Datenbanksprachen, wie z.<br />
B. SQL, machen die Wirkungen von Mengenoperationen<br />
direkt sichtbar. Für einen handlungsorientierten<br />
Zugang sind nur wenige Syntaxelemente<br />
erforderlich. Inhalte aus dem Bereich der linearen<br />
Algebra, wie z. B. die Repräsentation und die Berechnung<br />
von Geraden, Ebenen, Kugeln und von<br />
Schnittpunken, -geraden oder -kreisen sowie das<br />
Rechnen mit Matrizen spielen eine große Rolle<br />
<strong>im</strong> Bereich der Computergrafik. Hier lassen sich<br />
entweder vorbereitete mathematische Bibliotheken<br />
von Programmiersprachen bei der Modellierung<br />
und Berechnung dreid<strong>im</strong>ensionaler Situationen<br />
anwenden oder in kleinem Umfang selber gestalten.<br />
Weitere Beispiele <strong>für</strong> denkbare Anwendungskontexte<br />
bilden:<br />
• Wachstum von Funktionen — Algorithmenanalyse<br />
• Logik — Rechnerarchitektur<br />
• Graphen — Netzwerke<br />
• Zahlentheorie — Kryptologie<br />
Die Verknüpfung mathematischer und informatischer<br />
Inhalte lässt sich unterrichtsmethodisch<br />
unter Verwendung der informatikunterrichtspezifischen<br />
Projektmethode realisieren, die Elemente<br />
des pädagogischen und des informatischen<br />
Projektbegriffs kombiniert (Schubert / Schwill<br />
2004, 293ff). Dabei werden das systematischzielgerichtete<br />
und arbeitsteilige Vorgehen der In-
formatik und pädagogische Aspekte der selbstbest<strong>im</strong>mten,<br />
organisierten und -verantworteten<br />
Gruppenarbeit verknüpft. Damit werden die planerischen<br />
und organisatorischen Fähigkeiten von<br />
Lernenden gefördert und gefordert und neue Möglichkeiten<br />
der Kommunikation und Kooperation<br />
<strong>im</strong> Unterricht eröffnet.<br />
5 Zusammenfassung und<br />
Schlussfolgerungen<br />
Für die informatische Bildung in Schulen können<br />
Bezüge zu mathematischem Vorwissen das Verständnis<br />
schwieriger Informatikinhalte erleichtern,<br />
indem bspw. der Funktionsbegriff der Informatik<br />
über den Funktionsbegriff der Mathematik<br />
entwickelt wird und bei der Ausgestaltung von<br />
Funktionen zunächst aus der Mathematik bekannte<br />
Operatoren verwendet werden. Diese Vernetzung<br />
hat aber natürliche Grenzen, wenn einerseits<br />
schwierige (und möglicherweise wenig beliebte)<br />
Inhalte der Mathematik, wie z. B. das Beweisverfahren<br />
der vollständigen Induktion zum Nachweis<br />
der Korrektheit von Algorithmen in die Informatik<br />
übertragen wird oder andererseits motivierende<br />
Inhalte der Informatik (z. B. aus dem Bereich der<br />
Computergrafik) zum theoretischen Verständnis<br />
mathematische Grundlagen (z. B. Matrizenrechnung)<br />
erfordern, die <strong>im</strong> Schulunterricht in der Regel<br />
nicht erreicht werden. Die Fortführung dieser<br />
Vernetzung auf der Hochschulebene erfolgt zumeist<br />
nicht systematisch. Mathematische Grundlagen<br />
werden oftmals ohne näheren Bezug zur Informatik<br />
in eigenen Lehrveranstaltungen vermittelt.<br />
Deren Aufgreifen und Verknüpfen mit Gegenständen<br />
der Informatik liegt in der Verantwortung<br />
der jeweiligen Dozenten und orientiert<br />
sich damit zumeist an deren individuellen Vorlieben.<br />
Ausgewählte Informatikinhalte sind umgekehrt<br />
aufgrund ihres Theoriebezugs auch zur<br />
Motivation von und als Lernhilfen <strong>für</strong> Inhalte der<br />
Mathematik geeignet, wie auch weitere Beiträge<br />
in diesem Band belegen. Diesen exemplarischen<br />
Untersuchungen müssen systematische Evaluationen<br />
folgen. Trotz aller möglichen Bezüge und den<br />
zuvor dargelegten Wechselwirkungen dominieren<br />
die Unterschiede die Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte.<br />
Obwohl beide Wissenschaften<br />
Modellbegriffe verwenden und diesen in der Ausbildung<br />
großen Stellenwert einräumen, offenbarte<br />
eine eingehende Analyse zur informatischen Modellierung<br />
(Thomas, 2002) das unterschiedliche<br />
Modellierungsverständnis. Ebenso gibt es große<br />
Unterschiede bezüglich der fundamentalen <strong>Ideen</strong><br />
(Schubert & Schwill, 2004, 71ff).<br />
Wollte man gegenwärtige Inhalte des Informatikunterrichts<br />
ersatzweise in den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
integrieren und damit Teile der informatischen<br />
Bildung abdecken, so müsste da<strong>für</strong> <strong>im</strong><br />
Wechselwirkungen zwischen mathematischer und informatischer Bildung<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> sehr viel Raum geschaffen<br />
werden, dem aber andere wertvolle mathematische<br />
Inhalte zum Opfer fallen müssten, denn den<br />
<strong>Ideen</strong> der Informatik lassen sich die <strong>Ideen</strong> der<br />
Mathematik nicht so zuordnen, dass eine Mitbehandlung<br />
informatischer Inhalte <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
den Schülern ein angemessenes Bild der<br />
Informatik vermitteln könnte. Konzepte, die eine<br />
Integration informatischer Inhalte in andere Fächer<br />
auf der Ebene der informationstechnischen<br />
Grundbildung vorsahen, gelten außerdem heute<br />
als gescheitert.<br />
Eine starke Vernetzung auf der Ebene fächerübergreifender<br />
und -verbindender Projekte gilt als<br />
erstrebenswert und wird praktiziert. Die starke<br />
Vernetzung der Informatik mit anderen Wissenschaften<br />
führte dazu, dass heute Probleme lösbar<br />
sind, die ohne diese Vernetzung nicht handhabbar<br />
gewesen wären. So sind <strong>im</strong> Gebiet der Bioinformatik<br />
Methoden der Natur nachgebildet und<br />
am Beispiel der neuronalen Netze und der evolutionären<br />
Opt<strong>im</strong>ierungsalgorithmen Verfahren geschaffen<br />
worden, mit den sich heute Probleme<br />
nicht nur der Biologie und der Informatik lösen<br />
lassen, die vorher nicht zugänglich waren.<br />
Im Bildungsbereich hat die Informatik die technischen<br />
Grundlagen <strong>für</strong> verschiedenste, computerunterstützte,<br />
webbasierte Lehr-Lern-Formen entwickelt,<br />
die auf Systemen basieren, die ihre Zuverlässigkeit<br />
oftmals formalen Methoden verdanken.<br />
Literatur<br />
Alstrum, Vicky L. (2003): What is the attraction to computing?<br />
Communications of the ACM, 46(9), 51–55<br />
Baldwin, Doug & Peter B. Henderson (2002): The <strong>im</strong>portance<br />
of mathematics to the software practitioner. IEEE Software,<br />
19(2), 110–112<br />
Beaubouef, Theresa (2002): Why computer science students<br />
need maths. SIGCSE Bulletin, 34(4), 57–59<br />
Bewer, Stefan (2005): E-Learning-Material zum Huffman-<br />
Code. URL http://www.die.informatik.<br />
uni-siegen.de<br />
Brauer, W., Volker Claus, R. Deussen, J. Eickel, W. Haacke,<br />
W. Hosseus, C.H.A. Koster, D. Ollesky & K. Weinhart (1976):<br />
Zielsetzungen und Inhalte des Informatikunterrichts. Zentralblatt<br />
<strong>für</strong> Didaktik der Mathematik, 8(1), 35–43<br />
Bruce, K<strong>im</strong> B., Robert L. Scot Drysdale, Charles Kelemen<br />
& Allen Tucker (2003): Why math? Communications of the<br />
ACM, 46(9), 41–44<br />
Byrne, Pat & Gerry Lyons (2001): The effect of student attributes<br />
on success in programming. In: Proceedings of the 6th<br />
Annual Conference on Innovation and Technology in Computer<br />
Science Education, New York: ACM Press, 49–52<br />
Hubwieser, Peter (2003): Didaktik der Informatik — Grundlagen,<br />
Konzepte, Beispiele. 2. Auflage, Berlin<br />
Hubwieser, Peter (2005): Von der Funktion zum Objekt — Informatik<br />
<strong>für</strong> die Sekundarstufe 1. In: Friedrich, Steffen (Hg.):<br />
Unterrichtskonzepte <strong>für</strong> die informatische Bildung, Bonn: Köllen,<br />
27–41<br />
Konvalina, John, Stanley A. Wilemann & Larry J. Stephens<br />
(1983): Math proficiency: a key to success for computer<br />
41
Torsten Brinda, Erlangen<br />
science students. Communications of the ACM, 26(5), 377–<br />
382<br />
Larson, Peter Gorm, John Fitzgerald & Tom Brooks (1996):<br />
Applying formal specification in industry. IEEE Software,<br />
13(3), 48–56<br />
Pfleeger, Shari Lawrence & Les Hatton (1997): Investigating<br />
the influence of formal methods. IEEE Computer, 30(2), 33–<br />
43<br />
Schubert, Sigrid & Andreas Schwill (2004): Didaktik der Informatik.<br />
Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
42<br />
Thomas, Marco (2002): <strong>Informatische</strong> Modellbildung. Dissertation,<br />
Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät, Universität<br />
Potsdam<br />
Wilson, Brenda Cantwell & Sharon Shrock (2001): Contributing<br />
to success in an introductory computer science course: a<br />
study of twelve factors. In: Proceedings of the 32nd SIGCSE<br />
Technical Symposium on Computer Science Education, New<br />
York: ACM Press, 184–188
• Brauchen wir ein Schulfach „Informatik“? — Eine<br />
Podiumsdiskussion<br />
Peter Bender, Paderborn<br />
1 Vorrede<br />
Unser Arbeitskreis „<strong>Mathematikunterricht</strong> & Informatik“<br />
(AK MU&I) wurde <strong>im</strong> Frühjahr 1978<br />
auf der Jahrestagung der <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Didaktik<br />
der Mathematik (GDM) in Münster aus der<br />
Taufe gehoben. Zunächst wurde er AK „Informatik“<br />
genannt; — ein Name, der in der damaligen<br />
Situation nahe lag und den man, wenn man einmal<br />
die Themen, besonders seit Mitte der 1980er<br />
Jahre, Revue passieren lässt, heute vielleicht nicht<br />
mehr verwenden würde. Dies gilt auch <strong>für</strong> den Namen,<br />
den der AK heute offiziell trägt: Nachdem ab<br />
1978 mehrere Jahre lang das Programm durchgängig<br />
„<strong>Mathematikunterricht</strong> & Informatik“ lautete,<br />
wurde, nach Durchprobieren der einen oder anderen<br />
Variante, nämlich genau dieses Programm<br />
zum Namen des AK erhoben.<br />
Im Laufe der Jahre kam <strong>im</strong>mer einmal wieder<br />
die Diskussion auf, ob der AK sich nicht umbenennen<br />
sollte, weil man zunehmend ein weites<br />
Verständnis von Informatik brauchte, wenn man<br />
sie in den generellen Tagungsthemen oder in den<br />
einzelnen Vorträgen wiederfinden wollte. So standen<br />
in den 1990er Jahren direkte didaktische Fragen<br />
zum <strong>Mathematikunterricht</strong> <strong>im</strong> Vordergrund,<br />
natürlich <strong>im</strong>mer auf der Folie der Neuen Medien:<br />
stoffdidaktische Analysen zu Gebieten wie<br />
Geometrie, Arithmetik, Algebra, Funktionenlehre<br />
in Verbindung mit Grundfragen wie Begriffsbildung,<br />
Modellbildung, Orientierung an fundamentalen<br />
<strong>Ideen</strong>, Ausprägung einer modernen mathematischen<br />
Unterrichtskultur usw. Seit etwa 2000<br />
haben wir, zumindest bei der Setzung der Generalthemen,<br />
den medialen Aspekt stärker in den<br />
Vordergrund gerückt; allerdings — und genau so<br />
war es gedacht — wurde in den Tagungsbeiträgen<br />
die Beziehung zum mathematischen Stoff keineswegs<br />
vernachlässigt. Besonders in jüngster Zeit<br />
haben wir dabei auch an ganz aktuelle, unser Fach<br />
durchaus überschreitende Problemstellungen angeknüpft<br />
wie 2002 „Lehr- und Lernprogramme“,<br />
2003 „Internet“ und 2004 „Bildungsstandards“.<br />
Die Umbenennungsdiskussionen verstummten<br />
aber <strong>im</strong>mer ebenso schnell wieder, und zwar<br />
nicht nur, weil man einfach den traditionsreichen<br />
Namen beibehalten wollte, sondern: Der Name ist<br />
auch Programm. Selbst wenn dieses, <strong>im</strong> Nachvollzug<br />
der rasanten Entwicklung der IT-Landschaft,<br />
inzwischen erheblich erweitert wurde, wie gerade<br />
angedeutet, so sind die Bezüge zur Wissenschaft<br />
„Informatik“ nach wie vor einer der Kerne dieses<br />
Programms.<br />
Für diese Tagung haben wir uns vorgenom-<br />
men, uns dem informatischen Kern des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
etwas intensiver zu widmen, nachdem<br />
wir diesen zum letzten Mal 1994 in Wolfenbüttel<br />
zum Leitthema erkoren und intensiv diskutiert<br />
hatten. Für diese Schwerpunktsetzung war es<br />
sowieso wieder einmal an der Zeit. Aber außerdem<br />
hat sich ja inzwischen eine eigenständige Didaktik<br />
der Informatik mit einigen Professuren in<br />
Deutschland etabliert und gut entwickelt, so dass<br />
jetzt der Kreis der Diskutantinnen & Diskutanten<br />
(D&D) deutlich weiter als 1994 gezogen werden<br />
konnte. So haben wir s<strong>im</strong>ultan <strong>für</strong> die Besetzung<br />
des Podiums und <strong>für</strong> die Auswahl der Hauptvortragenden<br />
der Tagung dezidiert die Informatik-<br />
Didaktik einbezogen.<br />
2 Das Podium<br />
Auf dem Podium saßen zwei genuine Informatik-<br />
Didaktiker, Ulrich Hoppe aus Duisburg-Essen und<br />
Johannes Magenhe<strong>im</strong> aus Paderborn, sowie drei<br />
Kolleginnen & Kollegen mit eher mathematikdidaktischer<br />
Provenienz, Herbert Löthe aus Ludwigsburg<br />
und Eberhard Lehmann aus Berlin, die<br />
beide in ihrem ganzen Werk eine dezidierte Berücksichtigung<br />
informatischer <strong>Ideen</strong> und Inhalte<br />
in einem Unterricht, den man dann vielleicht gar<br />
nicht mehr Mathematik-Unterricht nennen würde,<br />
gefordert und „gelebt“ haben, und schließlich<br />
Astrid Beckmann aus Schwäbisch Gmünd,<br />
die zwar ebenfalls starke Bezüge zur Informatik<br />
sieht, aber dennoch der Mathematik den Pr<strong>im</strong>at<br />
zuspricht. Insgesamt kann man das Podium durchaus<br />
als „informatik-freundlich“ charakterisieren.<br />
Die Auswahl war, wie gesagt, von der Auswahl<br />
der Hauptvortragenden best<strong>im</strong>mt, und diese wiederum<br />
war in ihrer Tendenz Ausfluss des Tagungsthemas.<br />
Es mag als Mangel empfunden werden, dass<br />
niemand dabei war (auch der Diskussionsleiter<br />
nicht), die oder der von informatischen Inhalten<br />
<strong>im</strong> Unterricht der allgemeinbildenden Schule gar<br />
nichts hält. Ob es in unserem AK überhaupt so jemanden<br />
gibt, sei dahin gestellt. Jedenfalls ist <strong>für</strong><br />
eine solche Diskussion ein gewisser Grundkonsens<br />
erforderlich; und dieser war gegeben. Allerdings<br />
fehlte ihr dann auch ein wenig die Würze einer<br />
tiefer gehenden Auseinandersetzung. Im Folgenden<br />
werde ich die einzelnen Äußerungen nicht<br />
den Personen zuordnen, von denen sie stammen,<br />
da zahlreiche Beiträge (oft in unterschiedlichen<br />
Nuancierungen) von mehreren Seiten kamen und<br />
wir ja keine interpretativen Interaktionsanalysen<br />
betreiben, wo es sehr wohl darauf ankäme, wer<br />
was gesagt hat.<br />
43
Peter Bender, Paderborn<br />
Der äußere Verlauf der Diskussion fand in der<br />
(aus meiner Sicht) bewährten Manier statt, dass<br />
zunächst die Podiums-Teilnehmerinnen & Teilnehmer<br />
je ein fünfminütiges vorbereitetes Statement<br />
abgaben und in einer zweiten Runde nochmals<br />
je fünf Minuten Zeit zum Reagieren hatten<br />
und sodann das Plenum einbezogen wurde, — bei<br />
einer Gesamtdauer von knapp zwei Stunden.<br />
3 Die Diskussion 1<br />
3.1 Die Eröffnungsstatements<br />
Fraglos haben Mathematik und Informatik einen<br />
weiten gemeinsamen Bereich an <strong>Ideen</strong>, Inhalten,<br />
Methoden, Anwendungen usw. 2 Allerdings ist die<br />
Mathematik sowohl phylo-, als auch ontogenetisch<br />
ohne jeden Zweifel klar vorgängig, und es<br />
fragt sich, was die Informatik darüber hinaus zu<br />
bieten hat, so dass sie<br />
• in den Mathematik-Unterricht einbezogen werden,<br />
• sich als eigenes Fach neben der Mathematik gerieren<br />
oder sogar<br />
• die Mathematik als Schulfach ersetzen soll (auf<br />
welcher Stufe?).<br />
Alle drei Alternativen schwangen in der Diskussion<br />
mit, die dritte allerdings eher in einem<br />
Nebensatz als bewusst einseitig entwickelte Vision<br />
unter ganz best<strong>im</strong>mten Bedingungen.<br />
Argumente <strong>für</strong> die Informatik wurden zunächst<br />
einmal aus der so gesehenen Mangelhaftigkeit<br />
des aktuellen Mathematik-Unterrichts generiert:<br />
Das veraltete Prinzip der dominierenden Arbeit<br />
mit Schulbüchern mit ihren traditionellen Arbeitsweisen<br />
und ihrer Orientierung am Stoff, von<br />
dem außerdem ein Teil überflüssig ist („Gerümpel“,<br />
„Plunder“ ), ruft nach einer „Entschlackung“<br />
des mathematischen Stoffs, Hereinnahme von Informatik<br />
und nicht zuletzt Übergang zu projektartigem<br />
Arbeiten. Hier wird die Informatik zunächst<br />
als Katalysator zur überfälligen grundlegenden<br />
Veränderung des Mathematik-Unterrichts<br />
gesehen, darüber hinaus aber auch als substanzielle<br />
Bereicherung.<br />
Sie soll Basis-Wissen und Können <strong>für</strong> den<br />
Einsatz von Informationstechnik in vielen Bereichen<br />
liefern, aber ihr Wesen als Schul-Disziplin<br />
soll nicht aus diesem Einsatz bestehen. In der Informationstechnik<br />
verändert sich nämlich <strong>im</strong>mer<br />
wieder allzu schnell allzu Vieles, so dass <strong>für</strong> ein<br />
Heranreifen von fundamentalen <strong>Ideen</strong> nicht genügend<br />
Zeit vorhanden ist.<br />
Die genuinen Informatik-Didaktiker können<br />
sich ein Aufgehen der Informatik <strong>im</strong> Mathematik-<br />
Unterricht allerdings so wenig vorstellen wie das<br />
Umgekehrte. Dass die Informatik trotz langjähriger<br />
Bemühungen bis heute in der Schule kaum<br />
Fuß gefasst hat, liegt nicht zuletzt an der weitgehend<br />
fehlenden Qualifikation bei den Lehrerinnen<br />
& Lehrern (L&L), aber eben auch an der Verwässerung<br />
zu Informationstechnik (ITG!) bzw. zu<br />
Medienbildung, wie sie in zahlreichen Ansätzen<br />
stattgefunden hat, in denen viele informatische Inhalte<br />
nicht bzw. unfundiert behandelt werden.<br />
Es ist sogar festzustellen, dass genuin mathematische<br />
Inhalte in der Informatik behandelt werden<br />
(müssen), weil sie dort gebraucht werden,<br />
aber in der Mathematik selbst nicht (mehr) vorkommen.<br />
Zu denken ist hier an Teile der (Linearen)<br />
Algebra und vor allem an die Logik, z.B. die<br />
Vollständige Induktion. — Allerdings bewegt man<br />
sich mit diesem Argument <strong>im</strong> Bereich der Sekundarstufe<br />
II, und es bedeutet wohl mehr einen Appell<br />
an den Mathematik-Unterricht als eine Legit<strong>im</strong>ation<br />
des Informatik-Unterrichts.<br />
Die Verbindung zur Mathematik ist unübersehbar,<br />
und so liegt die spezifische Stärke der Informatik<br />
eher in ihren Bezügen zu den Ingenieur ,<br />
zu den Kognitions- und zu den Sozialwissenschaften,<br />
bzw. sie ist konstituierender Teil einer Integration<br />
dieser drei. Da geht es um eine Entmystifizierung<br />
von Technik, um das Verstehen von einschlägigen<br />
Konzepten und um eine kritische Bewertung.<br />
— Genau das ist die Frage, ob man in der<br />
allgemeinbildenden Schule ein solches Fach etablieren<br />
möchte. Es würde sein Potenzial zwar vornehmlich<br />
in der Sekundarstufe II entfalten, müsste<br />
aber schon früher angelegt werden. Eine etwas<br />
konkretere Liste von Benefizien eines Informatik-<br />
Unterrichts könnte so aussehen:<br />
• Verstehen von (ja allgegenwärtigen) Informatik-<br />
Systemen,<br />
• Modellbildung (intensiver als in Mathematik),<br />
• Denken in Systemen (u.a. Modularisierung),<br />
• Arbeiten in Projekten (mit starken Bezügen zur<br />
„Realität“ ), womit man stets der aktuellen Entwicklung<br />
in Technik, Wissenschaft und <strong>Gesellschaft</strong><br />
usw. auf der Spur wäre (was sich allerdings,<br />
aus Sicht der Lehrperson, auch als Nachteil<br />
erweisen kann),<br />
• Befreiung von curricularen Zwängen (wenigstens<br />
derzeit noch),<br />
• Gelegenheit zu fächerübergreifendem Unterricht.<br />
1 Aus Umfangsgründen kann ich so manchen der geäußerten Gedanken nicht aufnehmen, insbesondere wenn er (zu) speziell war<br />
oder nicht hinreichend gut in die große Linie der Diskussion gepasst hat, und muss so manchen aufgenommenen Gedanken erheblich<br />
kürzer darstellen, als er geäußert wurde.<br />
2 Wenn <strong>im</strong> Folgenden von „Mathematik“ oder „Informatik“ die Rede ist, so ist <strong>im</strong>mer „mit ihren <strong>Ideen</strong>, Inhalten, Methoden,<br />
Denkweisen, Anwendungen usw.“ mitzudenken. Darüber hinaus ist klar, dass diese Kategorien eigentlich einer näheren Best<strong>im</strong>mung<br />
bedürften.<br />
44
Von einem eigenständigen Informatik-<br />
Unterricht könnten viele Fächer profitieren, nicht<br />
zuletzt die Mathematik, indem sie durch solche<br />
Schülerinnen & Schüler (S&S) exogen bereichert<br />
wird, die außerdem Informatik als Fach haben. Eine<br />
Charakterisierung der Informatik, die zugleich<br />
die Leitziele <strong>für</strong> ein Schulfach liefert, könnte folgendermaßen<br />
aufgebaut sein: Informatik als<br />
• (allgemeine) Wissenschaft von der Informationsverarbeitung<br />
in Technik und Natur,<br />
• Anwendungswissenschaft per se,<br />
• Kulturtechnik des algorithmischen Denkens.<br />
Aber selbst diese Charakterisierung greift<br />
noch zu kurz. Unverzichtbar ist vielmehr ihr Wesen<br />
als geeignete Trägerin des Gedankens von der<br />
Automatisierung geistiger Tätigkeiten, also der<br />
Übergang von der Semantik zur Datenverarbeitung.<br />
Zwar ist die Informatik auch insofern ein<br />
Abkömmling der Mathematik; aber diese n<strong>im</strong>mt<br />
diesen Gedanken heutzutage nicht mehr in geeigneter<br />
Weise auf, was ja u.a. dazu geführt hat, dass<br />
inzwischen z.B. die Logik in der Wissenschaft<br />
praktisch sogar besser in der Informatik aufgehoben<br />
ist.<br />
Diese Abstammungseigenschaft wurde aber<br />
auch wieder <strong>für</strong> ein Plädoyer <strong>für</strong> einen Einbezug<br />
informatischer Inhalte (= Integration der Informatik)<br />
in den Mathematik-Unterricht (mit dann erhöhter<br />
Stundenzahl), also gegen ein eigenständiges<br />
Schulfach Informatik, ins Feld geführt. Viele<br />
Begriffe, Methoden und Denkweisen der Informatik<br />
wurzeln in der Mathematik, haben ihre Entsprechung<br />
in mathematischen Begriffen usw. und<br />
sind mit diesen eng verwandt. Der Mathematik-<br />
Unterricht hat daher eine besondere Verantwortung<br />
gegenüber der Informatik. Allerdings ist dies<br />
nicht nur eine Verpflichtung, sondern auch eine<br />
Chance vor dem Hintergrund des pädagogischen<br />
Prinzips des fächerverbindenden Unterrichts,<br />
die zu einer wesentlichen Erweiterung des<br />
Fachs „Mathematik“ führen könnte. Gerade in der<br />
aktuellen Umbruchssituation könnte eine solche<br />
Verbindung auf den Weg gebracht werden, und<br />
zwar in ihrer engsten Form, nämlich der (zeitweisen)<br />
Verschmelzung.<br />
Von sämtlichen D&D wurde die Problematik<br />
angesprochen, die sich bei allen Varianten stellt,<br />
nämlich wie die potenziellen L&L in Aus- und<br />
Weiterbildung dazu befähigt werden können, informatische<br />
Inhalte kompetent zu vermitteln.<br />
3.2 Die Statements der zweiten Runde<br />
(Reaktionen)<br />
Die D&D griffen durchaus die Argumente ihrer<br />
Mit-D&D auf. Indem sie sie an ihre je eigene<br />
Sichtweise adaptierten, gelang ihnen aber durchweg,<br />
sie ihrem je eigenen Plädoyer einzuverleiben.<br />
Brauchen wir ein Schulfach „Informatik“? — Eine Podiumsdiskussion<br />
Von der einen Seite wurden die Besonderheiten<br />
der Informatik, die in der ersten Runde von<br />
einigen D&D zur Begründung eines eigenständigen<br />
Fachs „Informatik“ verwendet worden waren,<br />
nun als Chance zur Verbesserung des Mathematik-<br />
Unterrichts herangezogen. Dabei sollen die integrierten<br />
Inhalte durchaus ihre informatische Eigenart<br />
beibehalten, und das Fach „Informatik“<br />
soll sogar eine gewisse Aufwertung erfahren, indem<br />
die Mathematik stärker auf es ausgerichtet<br />
wird, z.B. auch durch eine Renaissance der Logik.<br />
Diese Ausrichtung ist aber nicht nur als Anpassung<br />
an die Informatik zu verstehen. Vielmehr<br />
sind ja viele Wesenszüge der Informatik auch solche<br />
der Mathematik, denen man sich jetzt wieder<br />
stärker zuwenden würde. Man erachtet zwar<br />
eine Vergrößerung der Stundenzahl <strong>für</strong> notwendig;<br />
diese würde aber gewiss nicht <strong>im</strong> erforderlichen<br />
Umfang erfolgen, so dass von einer solchen<br />
Integration auch ein heilsamer Zwang zur „Entrümpelung“<br />
des Mathematik-Curriculums ausgehen<br />
würde, verbunden eben mit einer Stärkung<br />
informatik-affiner Inhalte und Arbeitsweisen.<br />
Wenn <strong>im</strong> Informatik-Unterricht, wie er aktuell<br />
vor allem in der Sekundarstufe II stattfindet,<br />
die o.g. Benefizien ein pädagogisch ansprechenderes<br />
Umfeld generieren, als man es i.a.<br />
<strong>im</strong> Mathematik-Unterricht erlebt, so gibt es da<strong>für</strong><br />
Gründe, die bei einer Erhebung der Informatik<br />
zum Pflichtfach sicherlich entfallen würden:<br />
kleine Kurse, interessierte S&S, engagierte L&L,<br />
weitgehende curriculare Freiheiten (die man sich<br />
allerdings nehmen muss), Image des Besonderen.<br />
Das Umfeld würde sich dem Alltag der anderen<br />
Fächer angleichen; — vielleicht nicht vollständig,<br />
indem die Informatik sich die etwas freundlicheren<br />
Gegenstände und Arbeitsweisen reservieren<br />
würde, die allerdings die Mathematik eigentlich<br />
genauso (oder in analoger Weise) <strong>für</strong> sich reklamiert:<br />
um das zu sehen, braucht man nur die o.a.<br />
Liste der Benefizien durchzumustern. Damit nicht<br />
das eine Fach (enger gesehen: die eine Spielart eines<br />
Denkprinzips) sich die Rosinen herauspickt,<br />
sollten die beiden Spielarten (Fächer) zusammen<br />
unterrichtet werden.<br />
Bei getrennter Organisation hingegen könnten<br />
erhebliche Synergie-Effekte nicht realisiert werden.<br />
Es wäre ein größerer Zeitumfang erforderlich.<br />
Dieser Bedarf könnte angesichts der übervollen<br />
Stundentafeln (in mehreren Bundesländern<br />
Kürzung des Gymnasiums um ein Jahr!) nur auf<br />
Kosten der Mathematik gehen, da ja deren Affinität<br />
zur Informatik auf der Hand liegt. Eine solche<br />
Kürzung dürfte noch nicht einmal <strong>im</strong> Sinne<br />
„der“ Informatik sein und wäre derzeit <strong>im</strong> Zuge<br />
der PISA-bedingten Popularität „der“ Mathematik<br />
auch nicht durchsetzbar, ginge also doch eher<br />
auf Kosten „der“ Informatik.<br />
45
Peter Bender, Paderborn<br />
Die Be<strong>für</strong>worter eines eigenständigen Schulfachs<br />
„Informatik“ in der allgemeinbildenden<br />
Schule legten Argumente nach: Modellbildung in<br />
der Informatik hat doch einen wesentlich anderen<br />
Charakter als in den Naturwissenschaften oder in<br />
der Mathematik, indem nämlich die Modelle der<br />
Informatik darauf angelegt sind, später als Technik<br />
<strong>im</strong>plementiert zu werden, weswegen Einiges<br />
mit bedacht werden muss, z.B. etwaige Änderungen<br />
<strong>im</strong> vorhinein. Teil dieses Modellbildungs-<br />
Paradigmas ist das Programmieren. Dieses ist natürlich<br />
mehr als Kodieren (was heute automatisiert<br />
möglich ist); aber sogar in einem engen Verständnis<br />
hat es seinen Wert als Disziplinierung der Kognition<br />
<strong>im</strong> Zuge der mit ihm verbundenen Externalisierung<br />
des Denkens und Operationalisierung<br />
abstrakter Begriffe.<br />
Allerdings werden trotz dieser guten Argumente<br />
die Chancen <strong>für</strong> ein eigenständiges Schulfach<br />
„Informatik“ eher gering eingeschätzt, und<br />
zwar weniger aus inhaltlichen, sondern mehr aus<br />
organisatorischen Gründen, mit denen es schon in<br />
der L&L-Ausbildung anfängt.<br />
3.3 Einbezug des Plenums<br />
Da, jedenfalls in Berlin, die Zahl der Oberstufen-<br />
S&S, die sich <strong>für</strong> Informatik anmelden, stetig abn<strong>im</strong>mt,<br />
könnte sich das Problem eines eigenständigen<br />
Informatik-Unterrichts in der Sekundarstufe<br />
II bald von selbst erledigen, und deswegen sollte<br />
Informatik in den Mathematik-Unterricht einbezogen<br />
werden. — Dem wurde (durchaus realistisch)<br />
entgegengehalten, dass diese Informatik-<br />
Abstinenz vielleicht weniger Ausfluss von Desinteresse<br />
als von der Organisation der Oberstufe<br />
(nicht nur) in Berlin sei. Wenn die Informatik<br />
<strong>im</strong> Abitur ein höheres Gewicht erhielte und dann<br />
auch von Fach-L&L unterrichtet würde, würde sie<br />
häufiger gewählt. — Mit dem Einwand, dass ja<br />
jedes Fach eine solche Gewichtung beanspruchen<br />
könne, wurde die St<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Plenum zum Ausdruck<br />
gebracht, nach der der Informatik als Schulfach<br />
eine geringere allgemeinbildende Bedeutung<br />
zukomme, als das vorher in den Statements auf<br />
dem Podium angeklungen war. Z.T. sprach man<br />
sich hier eher <strong>für</strong> Informationstechnik-Unterricht<br />
oder Medienerziehung o.ä. als <strong>für</strong> Informatik-<br />
Unterricht aus.<br />
Einig war man sich, dass jedwede Reform,<br />
die informatische Inhalte verstärkt in die Schule<br />
bringen soll, mit der Kompetenz der Lehrkräfte<br />
steht und fällt, die diese zu unterrichten haben,<br />
und dass es derzeit damit deutschlandweit nicht<br />
gut aussieht. Sogar L&L, die sich eigentlich dezidiert<br />
„der“ Informatik (i.w.S.) zugewandt hatten,<br />
sind gerade dabei, sich wieder zurückzuziehen,<br />
weil ihnen das permanent erforderliche Um- und<br />
Neu-Lernen zu aufwändig ist. — Natürlich muss<br />
man hierbei, wie überhaupt bei allen Aussagen<br />
46<br />
zum realen Unterricht über informatische Inhalte,<br />
von Bundesland zu Bundesland, ja, von Schule zu<br />
Schule, differenzieren. Dennoch kam man überein,<br />
dass die Lage insgesamt als eher mangelhaft<br />
einzuschätzen ist.<br />
Nach diesem Ausflug zu mehr praktischen<br />
Fragen kehrte die Diskussion noch einmal zum<br />
Grundsätzlichen zurück. Die folgenden Aussagen<br />
stammen von einzelnen D&D und wurden, jedenfalls<br />
vom atmosphärischen Eindruck her, von anderen,<br />
oft von vielen, unterstützt. Wie groß der<br />
Anteil der Zust<strong>im</strong>mung jeweils wirklich war, ist<br />
mir natürlich nicht bekannt.<br />
Dank der Arbeit der Informatik-Didaktik dürfte<br />
heute bei der Informatik ein höherer Grad an<br />
allgemeinbildendem Charakter sichtbar sein als<br />
bei unserer letzten Diskussion 1994. Es ist allerdings<br />
nicht gelungen (vielleicht ist es auch gar<br />
nicht möglich), nennenswerte informatische Inhalte<br />
in die Mathematik-L&L-Bildung zu integrieren,<br />
womit bei jeder Variante, nach der diese<br />
Inhalte in der Schule verankert werden, die<br />
L&L-Bildung ein Problem darstellt. Im Korpus<br />
einer potenziellen Schul-Informatik sind wesentliche<br />
Teile enthalten, die auch der Mathematik-<br />
Unterricht leistet bzw. leisten könnte, wenn man<br />
nicht in Mathematik nur den oft „schlechten“ realen<br />
Unterricht gegenüber einem „guten“ virtuellen<br />
Informatik-Unterricht sieht. Andererseits haben<br />
sich die beiden Fächer mit ihren schul-relevanten<br />
Bildungs-Gehalten seit 1994 noch weiter auseinander<br />
entwickelt. Der Mathematik-Unterricht<br />
müssen dazu kommen, die mathematik-affinen<br />
Teile der Informatik zu ass<strong>im</strong>ilieren, und sich<br />
dann aber auch partiell stärker an dieser ausrichten.<br />
Die (Schul-)Informatik enthält allerdings<br />
nicht nur mathematik-affine Teile (genannt wurden<br />
ihr ingenieurwissenschaftlicher Wesenszug<br />
und konkreter die Gestaltung von Oberflächen<br />
oder Programmier-Kenntnisse am Ende der Sekundarstufe<br />
I u.a.). Fraglich ist, ob diese genug<br />
Substanz <strong>für</strong> ein eigenständiges Pflichtfach in der<br />
Sekundarstufe I (d.h. <strong>für</strong> Alle) bilden.<br />
4 Ein Resümee<br />
Die Situation ist ähnlich wie die <strong>im</strong> Jahr 1994<br />
mit den beiden vernünftigen Alternativen eines eigenständigen<br />
Informatik-Unterrichts in der allgemeinbildenden<br />
Sekundarstufe I und einer Integration<br />
der Informatik in den Mathematik-Unterricht<br />
mit mehr oder weniger Gewicht. Seitdem haben<br />
sich <strong>Gesellschaft</strong>, Schule, S&S, die Wissenschaft<br />
„Informatik“, aber auch die Wissenschaft „Mathematik“<br />
!, die Didaktiken beider Fächer, die L&L-<br />
Ausbildung weiter entwickelt, und wir können<br />
beide Alternativen noch besser begründen als damals.
Teil II<br />
Vorträge<br />
47
• Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie –<br />
Übertragung des FITness-Konzepts auf die<br />
Mathematiklehrerausbildung<br />
Christine Bescherer, Flensburg<br />
Das „FITness-Konzept“ ist ein 1999 mit großem Aufwand vom National Research Council, USA,<br />
entwickeltes Konzept „Being Fluent with Information Technology“, in dem beschrieben wird, über<br />
welche Kenntnisse informatischer Grundkonzepte, informationstechnischen Fertigkeiten und informatischen<br />
Denkweisen Schülerinnen und Schüler verfügen sollten. Diese drei Bereiche werden in<br />
jeweils 10 Unterpunkten beschrieben. Einige davon sind:<br />
<strong>Informatische</strong> Denkweisen Mit Komplexität umgehen, Testen von Lösungen, Kommunizieren mit<br />
verschiedenen Zielgruppen, . . .<br />
<strong>Informatische</strong> Grundkonzepte Computer (Hardware, Software), Informationssysteme (wirtschaftsinformatische<br />
Sichtweise), Modellierung und Abstraktion, . . .<br />
Informationstechnische Fertigkeiten Aufbauen und Verbinden von Computern, Informationen <strong>im</strong><br />
Internet finden, Datenbanken nutzen und pflegen, . . .<br />
Es wird – neben dem Konzept an sich – eine Umsetzung dieses Konzepts in Form der Vorlesung<br />
„Einführung in die Informatik“ <strong>für</strong> Studierende des Mathematiklehramts an der Universität Flensburg<br />
vorgestellt.<br />
1 Motivation<br />
Wie kann eine Einführung in die Informatik<br />
<strong>für</strong> Studierende des Mathematiklehramts aussehen?<br />
Welches „informatische“ Wissen und welche<br />
Kompetenzen <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie<br />
(IT) brauchen zukünftige Mathematiklehrerinnen<br />
und -lehrer? Auf einer allgemeinen Ebene<br />
lässt sich dies einfach beantworten: Alles das,<br />
was ihnen später hilft einen guten <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
zu gestalten. Schon in dieser Allgemeinheit<br />
wird klar, dass es sich dabei um weit mehr<br />
Wissen und Kompetenzen handelt, als z.B. in einem<br />
Programmierkurs oder einer Anwendungsschulung<br />
abgedeckt werden kann.<br />
Für zukünftige Mathematiklehrende spielen<br />
jedoch neben der <strong>für</strong> alle Lehrenden notwendigen<br />
Kompetenzen <strong>im</strong> Umgang mit Computern<br />
noch wesentlich mehr Aspekte der Informatik<br />
eine Rolle. Dies sind zum einen vertiefte<br />
Kenntnisse über die technischen Hintergründe<br />
von Informatik-nahen Werkzeugen wie Computeralgebrasystemen<br />
oder Dynamischen Geometriesystemen.<br />
Zum anderen ist dies ein Wissen zu<br />
den Überschneidungsfeldern von Informatik und<br />
Mathematik wie Algorithmen, Programmierstrukturen<br />
oder etwa Modellieren bzw. Logik.<br />
Hinzu kommen noch zwei weitere – <strong>im</strong> Bereich<br />
Informationstechnologie besonders ausgeprägte<br />
– Probleme: Die extreme Heterogenität der<br />
Vorkenntnisse und die Uneinigkeit in der (deutschen)<br />
Fachdidaktik, welche Inhalte denn überhaupt<br />
zu einem Grundwissen in Informatik bzw.<br />
Informationstechnologie zu zählen sind.<br />
Im Sommersemester 2005 war ich zuständig<br />
<strong>für</strong> die Vorlesung mit Übung „Einführung in die<br />
Informatik“ an der Universität Flensburg <strong>für</strong> Studierende<br />
<strong>im</strong> zweiten Semester aller Lehramtsstudiengänge<br />
mit dem Fach Mathematik. Dabei basierte<br />
ich das Konzept der Veranstaltung auf dem<br />
theoretischen Rahmenwerk „Being Fluent with<br />
Information Technology“ (FITness) und führte eine<br />
erste Evaluation mit Hilfe eines Fragenbogens<br />
zur „Computernutzer-Selbstwirksamkeit“ durch.<br />
2 Das FITness-Konzept<br />
Im Jahr 1999 veröffentlichte der National Research<br />
Council, USA – nach einem aufwändigen<br />
Entwicklungsverfahren – das Konzept „Being<br />
Fluent with Information Technology“ (kurz „FITness“,<br />
NRC (1999)), das ein intellektuelles Rahmenwerk<br />
zur Entwicklung von Curricula und<br />
Lehrgängen sowie Lehrbüchern darstellt.<br />
Der Begriff „Fluency“ ist kaum ins Deutsche<br />
zu übertragen, da er das Substantiv zu „flüssig“<br />
<strong>im</strong> Sinne von „Er kann flüssig lesen.“ „Sie spricht<br />
flüssig Spanisch.“ darstellt. Unter „Fluency“ wird<br />
von den Autoren die Fähigkeit verstanden, „Wissen<br />
umzuformulieren, sich selbst kreativ und angemessen<br />
auszudrücken und Information zu produzieren<br />
und zu generieren (anstatt sie nur zu verstehen)“<br />
(NRC, 1999, S. VIII). Ganz bewusst ist<br />
das Ziel eine Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie<br />
und nicht Informatik <strong>im</strong> Sinne<br />
von Computer Science. Dies bedeutet, dass informatische<br />
Inhalte nicht als Selbstzweck aufgenommen<br />
werden, sondern „nur“ in dem Umfang wie<br />
es <strong>für</strong> eine langfristige Nutzung von IT notwendig<br />
ist. Wie später zu sehen ist, ist dies jedoch weit<br />
mehr als üblicherweise <strong>im</strong> Informatikunterricht in<br />
49
Christine Bescherer, Flensburg<br />
Schulen unterrichtet wird.<br />
Die Verfasser gehen von folgenden Grundsätzen<br />
aus (S. 1 NRC, 1999, vgl.):<br />
• Die Informationstechnologie ist eine neue Entwicklung,<br />
die <strong>im</strong>mer noch zu weiten Teilen von<br />
Menschen ohne eine formale (Aus-)Bildung in<br />
diesem Bereich genutzt wird.<br />
• Viele derjenigen, die heutzutage IT nutzen, besitzen<br />
häufig nur ein beschränktes Verständnis<br />
der verwendeten Werkzeuge und haben dabei<br />
das Gefühl, „nicht alle Möglichkeiten auszunutzen“.<br />
• Viele Menschen fühlen sich unsicher bei der IT-<br />
Nutzung und wären gerne sicherer <strong>im</strong> Umgang<br />
damit.<br />
• Dagegen bestehen oft sehr hohe Erwartungen zu<br />
den Vorteilen der IT Nutzung und viele Menschen<br />
würden diese Vorteile gerne realisieren.<br />
• Es bestehen bei vielen Menschen Bedenken,<br />
dass die gesellschaftlichen Auswirkungen durch<br />
IT ein potentielles Risiko <strong>für</strong> soziale Werte,<br />
Freiheit oder wirtschaftliche Interessen usw.<br />
darstellen und sie deshalb gezwungen sind an<br />
der Informationsgesellschaft teilzuhaben.<br />
Dieser Fokus auf eine Allgemeinheit der Bevölkerung<br />
und nicht auf Informatikerinnen und Informatiker<br />
zieht sich durch das gesamte Konzept.<br />
Ausgehend von einem derzeitigen Stand an „FITness“<br />
z.B. unter deutschen Studierenden erscheinen<br />
die geforderten Fertigkeiten und Kompetenzen<br />
sehr hoch gegriffen, <strong>für</strong> einen langfristigen,<br />
sinnvollen und nutzbringenden Umgang mit Informationstechnologie<br />
sind sie aber unbedingt notwendig.<br />
Das FITness-Konzept besteht aus den drei<br />
Teilen „Geistige Fähigkeiten und Denkweisen“,<br />
„Informationstechnologische bzw. <strong>Informatische</strong><br />
Grundkonzepte“ und „Informationstechnische<br />
Fertigkeiten“. Diese werden in jeweils zehn<br />
Unterpunkten genauer, aber nicht sehr detailliert<br />
beschrieben. Daneben wird in mehreren Exkursen<br />
z.B. zum Unterschied zwischen „Information Literacy“,<br />
wie sie z.B. von Bibliothekswissenschaften<br />
(vgl. AASL (1998) gefordert werden und dem<br />
FITness-Konzept oder der „Rolle des Programmierens“<br />
und Anhängen zusätzliches Material geboten.<br />
Im Folgenden werden die drei Bereiche aus<br />
Platzgründen nur kurz vorgestellt, Genaueres findet<br />
sich in Bescherer (2005b) oder <strong>im</strong> Original<br />
(NRC, 1999).<br />
2.1 Intellektuelle Fähigkeiten und<br />
Denkweisen<br />
In diesem Teil werden diejenigen intellektuellen<br />
Fähigkeiten und Denkweisen beschrieben, die dazu<br />
betragen können, IT in komplexen Situationen<br />
und auch in Zukunft einzusetzen. Dabei sollen<br />
50<br />
auch die Vorteile des Mediums Computer verstanden<br />
und genutzt werden, sowie mit unvorhergesehenen<br />
Problemen umgegangen werden können.<br />
Insgesamt wird das abstrakte Denken über Information<br />
dadurch gefördert.<br />
1. Sich auf ausführliche Begründungen einlassen<br />
2. Mit Komplexität umgehen<br />
3. Lösungen testen<br />
4. Mit Problemen bei falschen Lösungen umgehen<br />
5. Informationsstrukturen organisieren und sich<br />
in ihnen bewegen und Informationen evaluieren.<br />
6. Zusammenarbeiten unter Nutzung von IT<br />
7. Kommunizieren unter Nutzung von IT und<br />
über IT<br />
8. Das Unerwartete erwarten<br />
9. Sich ändernde Technologien vorausahnen<br />
10. Auf einer abstrakten Ebene über IT nachdenken<br />
2.2 Informationstechnologische /<br />
<strong>Informatische</strong> Grundkonzepte<br />
Unter dieser Überschrift werden Prinzipien und<br />
<strong>Ideen</strong> zu Computern, Netzwerken und Information,<br />
also das „Wie und Warum der IT“ zusammengefasst.<br />
Wissen um diese Grundkonzepte ermöglicht<br />
Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen<br />
der IT und dient als „Rohmaterial“ zum Verstehen<br />
neuer IT-Entwicklungen.<br />
1. Grundlagen von Computern<br />
2. Organisation von Informationssystemen<br />
3. Grundlagen von Netzwerken<br />
4. Digitale Darstellung von Information<br />
5. Information organisieren und strukturieren<br />
6. Modellieren und Abstrahieren<br />
7. Algorithmisches Denken und Programmieren<br />
8. Universalität<br />
9. Grenzen und Gefahren der IT<br />
10. Einfluss von Information und IT auf die <strong>Gesellschaft</strong><br />
2.3 Informationstechnische Fertigkeiten<br />
Diese beschreiben die zeitabhängigen Fertigkeiten<br />
bzw. die Fähigkeit aktuelle Computer zu nutzen.<br />
Sie sind wichtig <strong>für</strong> den Arbeitsmarkt und dienen<br />
in erster Linie zur Sammlung praktischer Erfahrungen<br />
aus denen dann wiederum neue Kompetenzen<br />
entwickelt werden können. Inhaltlich entspricht<br />
dieser Bereich in etwa dem ECDL (European<br />
Computer Driving Licence, www.ecdl.com).<br />
1. Einen PC in Betrieb nehmen<br />
2. Grundlegende Funktionen eines Betriebssystem<br />
nutzen<br />
3. Ein Textverarbeitungssystem nutzen, um ein<br />
Textdokument zu erstellen
Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie – Übertragung des FITness-Konzepts auf die<br />
Mathematiklehrerausbildung<br />
4. Ein Grafik- bzw. Bildbearbeitungspaket benutzen,<br />
um Illustrationen, Präsentationsfolien<br />
oder andere bildhafte Darstellungen von <strong>Ideen</strong><br />
zu erzeugen<br />
5. Einen Computer mit einem Netzwerk verbinden<br />
6. Das Internet nutzen, um Informationen und<br />
Quellen zu finden<br />
7. Einen Computer zur Kommunikation mit anderen<br />
Personen nutzen<br />
8. Ein Tabellenkalkulationssystem nutzen, um<br />
einfach Abläufe und Finanztabellen zu modellieren<br />
9. Ein Datenbanksystem nutzen, um sinnvolle Informationen<br />
zu sammeln und darauf zuzugreifen<br />
10. Lehrmaterialien zum Erlernen neuer Anwendungen<br />
oder Funktionen nutzen<br />
Diese drei Bereiche sind sehr eng miteinander<br />
verknüpft und nur in der Gesamtheit aller aufgeführten<br />
Fähigkeiten, Fertigkeiten und dem Wissen<br />
zeigt sich die FITness, also die Sicherheit <strong>im</strong> Umgang<br />
mit Informationstechnologie.<br />
3 Die Veranstaltung „Einführung<br />
in die Informatik“ <strong>für</strong> alle<br />
Lehrämter der Mathematik<br />
3.1 Rahmenbedingungen<br />
An der Universität Flensburg wurden <strong>im</strong> Sommersemester<br />
2005 die Studiengänge <strong>für</strong> das Lehramt<br />
an Grund- und Hauptschulen, Realschulen, Sonderschulen<br />
und Berufsschulen angeboten. 1 Die<br />
(alte) Prüfungsordnung schrieb dabei einen benoteten<br />
Schein in „Einführung in die Informatik“<br />
vor. Die Veranstaltung (2 Semesterwochenstunden<br />
Vorlesung und zwei Stunden Übung) sollte<br />
üblicherweise <strong>im</strong> 2. Semester besucht werden.<br />
Aufgrund organisatorischer Probleme fanden<br />
sowohl die Vorlesung wie auch die Übung (<strong>für</strong> alle<br />
ca. 80 Studierenden) <strong>im</strong> Hörsaal ohne Computerzugang<br />
<strong>für</strong> die Studierenden statt.<br />
Der Leistungsnachweis erfolgte in einer 90minütigen<br />
Klausur in der ersten Woche nach Vorlesungsende.<br />
Die Entwicklung informationstechnischer<br />
Fertigkeiten (ebenso wie die Entwicklung der<br />
entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten) als<br />
Teil des FITness-Konzepts gelingt jedoch nur,<br />
wenn die Lernenden selbst an den Anwendungsprogrammen<br />
arbeiten. Um diese Selbstarbeit anzuregen,<br />
mussten die Studierenden jede Woche<br />
Aufgaben bearbeiten, die einerseits inhaltlich mit<br />
dem in der Vorlesung behandelten informatischen<br />
Grundkonzepten zusammenhingen, andererseits<br />
aber eine oder mehrere der formationstechnischen<br />
Fertigkeiten fördern sollten. Die bearbeiteten Auf-<br />
gaben stellten die Studierenden allen Veranstaltungsteilnehmern<br />
über die internetbasierte Groupware<br />
BSCW (BSCW, 2005) zur Verfügung. Die<br />
Bearbeitung war freiwillig und viele Studierende<br />
konnten mit dieser Freiwilligkeit schlecht umgehen.<br />
(Sie verschoben die Bearbeitung der Aufgaben<br />
auf kurz vor der Klausur.)<br />
In der Übungszeit wurden dann einzelne Lösungen<br />
– mehr oder weniger anonym – besprochen.<br />
Ergänzt wurden diese Besprechungen noch<br />
durch sehr kurze (ca. 20 Minuten) Vorträge zu<br />
eng mit den Übungsaufgaben verbundene Themen.<br />
Zum Beispiel wurde <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />
der Aufgabe sich in der Online-Lernumgebung<br />
„Mathe-Prisma“ (mat, 2005)), die viele Java-<br />
Applets enthält, den RSA-Algorithmus zur Verschlüsselung<br />
zu erarbeiten, wurde Grundsätzliches<br />
zu Java-Applets besprochen. Die Themen<br />
der Vorlesungen lehnten sich eng an die Liste der<br />
informationstechnologischen bzw. informatischen<br />
Grundkonzepte des FITness-Konzepts an.<br />
3.2 Themen der Vorlesungen<br />
• Warum Informatik <strong>für</strong> Lehramt? FITness-<br />
Überblick<br />
• Computer - Komponenten, Hardware, Software<br />
• Netze / Internet<br />
• Digitale Repräsentation von Daten I / II<br />
• Informationssysteme<br />
• Informationsorganisation<br />
• Modellieren und Abstrahieren in der Informatik<br />
• Algorithmisches Denken<br />
• Programmieren<br />
• Universalität<br />
• Grenzen der Informationstechnologie<br />
• Einfluss der IT auf die <strong>Gesellschaft</strong> und den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Die Übungen beschäftigen sich mit so<br />
verschiedenen Dingen wie Vor- und Nachteile<br />
unterschiedlicher Graphikformate, RSA-<br />
Verschlüsselung, computergenerierten Gemälden<br />
(LOGO-Igelgraphik) oder dem „Game of Life“.<br />
Eine Übungsaufgabe bestand z.B. in der Beschriftung<br />
der Anschlüsse auf dem Bild eines<br />
Barebones-Rechners (mit einer ungewöhnlichen<br />
Anordnung auf der Rückseite). Dazu mussten die<br />
Anschlüsse identifiziert werden, aber auch die Beschriftung<br />
eines <strong>im</strong> jpg-Format vorliegenden Bildes<br />
bedarf gewisser Fertigkeiten. Manche Studierende<br />
behalfen sich mit dem Einfügen des Bildes<br />
in ein Word-Dokument und anschließender<br />
Beschriftung, andere verwendeten das vorgeschlagene<br />
freie Bildbearbeitungsprogramm IrfanView<br />
(2005). Die in den Übungen verwendete Programmiersprache<br />
war LOGO, da so der Bezug zur<br />
Grundschule unmittelbar einsichtig war und die<br />
1 Im Winterssemester 2005/06 wurde der Lehramtsstudiengang auf den Bachelor of Arts in Vermittlungswissenschaften umgestellt.<br />
51
Christine Bescherer, Flensburg<br />
ungewohnte Denkweise „Rekursion“ sehr direkt<br />
umgesetzt werden konnte.<br />
3.3 Erfahrungen und Ergebnisse<br />
Grundsätzlich ist das FITness-Konzept <strong>für</strong> eine<br />
solche Veranstaltung äußerst tragfähig. Die zeitliche<br />
Begrenzung auf ein Semester bedingt jedoch,<br />
dass die oben angesprochenen Mathematikspezifischen<br />
Aspekte wie Computeralgebrasysteme<br />
oder z.B. eine etwas ausführlichere Beschäftigung<br />
mit Modellieren nicht möglich sind. Ein<br />
großer Teil der Studierenden verfügt bei weitem<br />
nicht über die grundlegenden Kompetenzen <strong>für</strong><br />
einen sinnvollen Umgang mit Computern <strong>im</strong> Unterricht.<br />
Es macht allerdings auch weinig Sinn diese<br />
Grundlagen zu überspringen.<br />
Die Klausur wurde von 64 Studierenden<br />
mitgeschrieben, die Durchfallsquote betrug 36%<br />
(Nachklausur 20 Studierende und eine Durchfallsquote<br />
von 25%).<br />
3.4 Fragebogen zur<br />
Computernutzer-Selbstwirksamkeit<br />
(CUSE)<br />
Da Testergebnisse, insbesondere diejenigen, die<br />
<strong>im</strong> Rahmen einer „Papier“ -Klausur erhoben werden,<br />
sehr wenig oder nichts über FITness, also<br />
Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Computern, aussagen<br />
können, suchte ich nach einem anderen Instrument<br />
zur Messung von Änderungen der FITness.<br />
FITness besteht sicherlich nicht nur aus einer<br />
Sammlung von Wissen und Fertigkeiten,<br />
sondern stellt eher eine auf Wissen, Fertigkeiten,<br />
Erfahrungen usw. basierende Haltung dar.<br />
Eine Beschreibungsmöglichkeit <strong>für</strong> die (Selbst-<br />
)Einschätzung von zukünftigen Verhalten bei konkreten<br />
Aufgaben ist das von Bandura (1979) entwickelte<br />
Konzept der Self-Efficacy oder Selbstwirksamkeit.<br />
Ein sehr gutes Messinstrument <strong>für</strong><br />
die Computernutzer-Selbstwirksamkeit <strong>im</strong> Kontext<br />
von Lehren und Lernen ist der 30-Item-<br />
Fragebogen zur „Computer User Self-Efficacy“<br />
von S<strong>im</strong>on Cassidy u. Peter Eachus (Cassidy &<br />
Eachus, 2002). Übersetzt wurde er von Christian<br />
Spannagel, Ludwigsburg. Er besteht aus 30 Items<br />
mit 6-teiliger Likert-Skala wie z.B. „Ich finde,<br />
dass Computer be<strong>im</strong> Lernen behindern.“ (Zust<strong>im</strong>mung<br />
möglich zwischen „trifft überhaupt nicht<br />
zu“ (1) und „trifft völlig zu“ (6)).<br />
Die Computernutzer-Selbstwirksamkeit wird<br />
durch Addition aller angekreuzten Punkte – bei<br />
Umkodierung der „umgekehrt“ formulierten Fragen<br />
– ermittelt und liegt folglich zwischen 30<br />
(sehr niedrige Selbstwirksamkeit) und 180 (sehr<br />
hohe Selbstwirksamkeit).<br />
Ein solcher Fragebogen (zusammen mit weiteren<br />
Fragebereichen, die hier aber nicht weiter<br />
erörtert werden) wurde in der ersten Vorlesung<br />
und in der letzten Übungsstunde des Sommerse-<br />
52<br />
mesters ausgeteilt. Zu Beginn füllten 70 Studierende<br />
(24 männl. / 45 weibl.) und am Ende 57 Studierende<br />
den Fragebogen aus. Durch einen anonymen<br />
Code konnten 41 „Paare“ (vorher/nachher)<br />
identifiziert werden.<br />
Im Weiteren werden nur die Ergebnisse der 41<br />
Paare betrachtet. Ein Vergleich der Mittelwerte ergibt<br />
keinen signifikanten Zuwachs an Selbstwirksamkeit.<br />
Die Mittelwerte zu Beginn des Semesters<br />
(113,41) unterscheiden sich kaum von denen am<br />
Ende (114,17). Betrachtet man die Mediane so<br />
lässt sich sogar eine Abnahme der Selbstwirksamkeit<br />
annehmen (Beginn: 116 / Ende: 115).<br />
Abbildung 6.1: Computernutzer-Selbstwirksamkeit<br />
Boxplots der Computernutzer-Selbstwirksamkeit<br />
zu Beginn (cuse) und zum Ende (cuse2) der<br />
Veranstaltungen sind in Abb. 6.1 zu sehen. Hier ist<br />
auch deutlich zu erkennen, dass sowohl das Min<strong>im</strong>um<br />
abgenommen (von 63 auf 55) wie auch das<br />
Max<strong>im</strong>um zugenommen (von 162 auf 168) hat.<br />
Um mögliche Ursachen erkennen zu können,<br />
wurden Tests (General Linear Model) auf Unterschiede<br />
zwischen den verschiedenen Gruppen mit<br />
SPSS durchgeführt. Dabei ergaben sich Hinweise,<br />
dass sich die Gruppe der Studentinnen des<br />
Lehramtsstudiengangs Grund- und Hauptschule<br />
(GHS-Frauen) statistisch signifikant von den restlichen<br />
Studierenden unterscheiden. Die Abb. 6.2<br />
zeigt den Vergleich der Boxplots.
Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie – Übertragung des FITness-Konzepts auf die<br />
Mathematiklehrerausbildung<br />
Abbildung 6.2: Vergleich GHS/Rest<br />
Da die GHS-Frauen mit 22 Personen etwas<br />
mehr als die Hälfte der 41 „Paare“ ausmachen,<br />
ist eine getrennte Untersuchung dieser beiden<br />
Gruppen angebracht. Erste Vermutungen legen<br />
nahe, dass diese Unterschiede sowohl mit<br />
den geringeren Vorerfahrungen in der Computernutzung<br />
sowie auch der erwarteten Notwendigkeit/Nützlichkeit<br />
<strong>im</strong> späteren Lehrerdasein zusammenhängen.<br />
Dazu ist aber eine Auswertung<br />
der weiteren (offenen) Fragebereiche der Fragenbögen<br />
notwendig.<br />
4 Fazit und Ausblick<br />
Grundsätzlich ist das theoretische Rahmenwerk<br />
des FITness-Konzepts sehr gut geeignet, um darauf<br />
eine Veranstaltung zur „Einführung in die Informatik“<br />
<strong>für</strong> Studierende verschiedener – wenig<br />
Informatik-naher – Studiengänge aufzubauen.<br />
Was bisher fehlt, ist ein entsprechendes Lehrbuch.<br />
Es gibt zwar ein englischsprachiges Lehrwerk<br />
vom Vorsitzenden der FITness-Kommission Lawrence<br />
Snyder „Fluency with Information Technology<br />
Skills, Concepts and Capabilities“ (Snyder,<br />
2005). Es ist jedoch – typisch amerikanisch<br />
– äußerst umfangreich und <strong>für</strong> Studierende in<br />
Grundstudium eher nicht zumutbar.<br />
Selbstverständlich sind weitere Untersuchungen<br />
zu Einflussfaktoren auf die Computer-Nutzer-<br />
Selbstwirksamkeit notwendig. Einerseits spielen<br />
hier sicherlich personen-spezifische Faktoren wie<br />
Vorerfahrungen und Ähnliches eine große Rolle.<br />
Andererseits haben vermutlich die Art und Methode<br />
der Vermittlung informationstechnologischer<br />
bzw. informatischer Denkweisen und Grundkonzepte<br />
eine großen Einfluss. Hierzu werden derzeit<br />
noch verschiedene Lehr-/Lernszenarien wie Vorlesungen<br />
mit integrierten Computerübungen oder<br />
ein sinnvoller Einsatz von LoDiCs (LoDiCs sind<br />
methodische Strukturen zur Vermittlung informationstechnologischer<br />
Fertigkeiten und Grundkonzept<br />
be<strong>im</strong> Bearbeiten fachspezifischer Inhalte -<br />
vgl. Bescherer (2005a)) entwickelt, erprobt und<br />
evaluiert.<br />
Literatur<br />
(2005): MathePrisma - eine wachsende Modulsammlung<br />
zur Mathematik. URL http://www.matheprisma.<br />
uni-wuppertal.de<br />
AASL (1998): Information Literacy Standards for Student<br />
Learning. URL http://www.ala.org/ala/<br />
aasl/aaslproftools/informationpower/<br />
InformationLiteracyStandards_final.pdf<br />
Bandura, Albert (1979): Self-efficacy: Toward a unifying theory<br />
of behavioral change. Psychological Review, 84, 191–215<br />
Bescherer, Christine (2005a): LoDiC — Learning on Demand<br />
in Computing. In: Proceedings of 8th IFIP World Conference<br />
on Computers in Education 2005, Capetown<br />
Bescherer, Christine (2005b): Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie<br />
— Ein Konzept zur „FITness“ <strong>im</strong> Computerbereich.<br />
LOG-IN, 135, 42–45<br />
BSCW (2005): Basic Support for Cooperative Work. URL<br />
http://www.bscw.de<br />
Cassidy, S<strong>im</strong>on & Peter Eachus (2002): Developing the computer<br />
user self-efficacy (CUSE) scale: Investigating the relationship<br />
between computer self-efficacy, gender and experience<br />
with computers. Journal of Educational Computing Research,<br />
26(2), 169–189<br />
IrfanView (2005): URL http://www.irfanview.com<br />
NRC (1999): Being Fluent with Information Technology. Washington,<br />
DC: National Academy Press, URL http://www.<br />
nap.edu/catalog/6482.html<br />
Snyder, Lawrence (2005): Fluency with Information Technology<br />
Skills, Concepts and Capabilities. München: Addison Wesley<br />
53
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
54
• Back to the roots<br />
Hans-Jürgen Elschenbroich, Düsseldorf<br />
Vom Heron-Algorithmus zum geometrischem Wurzelziehen mit dem Höhensatz. Antike Ansätze<br />
zum Wurzelziehen werden mit modernen Werkzeugen visualisiert und dynamisiert. Dadurch werden<br />
auch funktionale Aspekte verdeutlicht.<br />
„Das Wurzelziehen und ebenso das Quadrieren<br />
wird heutzutage als rein algebraische Aufgabe<br />
angesehen. In heutiger Sicht heißt es „Wird eine<br />
Zahl mit sich selbst multipliziert, so nennt man<br />
das Quadrieren.“ und „Be<strong>im</strong> Wurzelziehen (oder<br />
Radizieren) ist eine nicht-negative Zahl gesucht,<br />
die be<strong>im</strong> Quadrieren die Ausgangszahl ergibt.“<br />
(Lambacher-Schweizer, 2002)<br />
1 Quadrieren und Radizieren<br />
Eine geometrische Grundvorstellung ist da nicht<br />
mehr erkennbar. Dabei liegt sie auf der Hand:<br />
Abbildung 7.1: Quadrieren<br />
Abbildung 7.2: Radizieren<br />
Benutzt man handelsübliche Taschenrechner,<br />
so reduziert sich das Quadrieren oder Radizieren<br />
auf einen schlichten Tastendruck:<br />
Abbildung 7.3: Quadrieren, Radizieren mit dem<br />
Taschenrechner<br />
In dieser Tasten-Black-Box geht selbst das<br />
in der algebraischen Definition erwähnte Suchen<br />
nach der passenden Zahl unter, geschweige denn<br />
dass irgendwie durchsichtig wird, wie denn diese<br />
Zahl gesucht wird. Die Schüler haben üblicherwiese<br />
ein rein algebraisches Verständnis von Wurzeln<br />
und meist gar keins davon, wie diese Wurzeln<br />
denn <strong>im</strong> Taschenrechner ermittelt werden. Dies<br />
war nicht <strong>im</strong>mer so, die antiken Ursprünge sind<br />
eindeutig geometrischer Art.<br />
2 Heron-Algorithmus<br />
Diese Berechnung von √ A wird durch die Formel<br />
von HERON gesteuert:<br />
xn+1 = xn + A xn<br />
2<br />
Mathematisch gesehen wird dadurch eine konvergente<br />
Folge von Zahlen (xn) produziert. In moderner<br />
informatischer Sicht liegt ein Algorithmus<br />
vor, der durch eine WHILE-Schleife oder durch<br />
eine Rekursion realisiert wird. Aber warum liefert<br />
diese Vorschrift (näherungsweise) die gesuchte<br />
Wurzel? Und wie kam vor zweitausend Jahren<br />
HERON VON ALEXANDRIA auf die Formel? Was<br />
kann uns sein Ansatz heute noch geben?<br />
3 HERONS Ansatz<br />
Die in der Antike übliche Deutung eines Produkts<br />
a · b war geometrischer Art, als Flächeninhalt eines<br />
Rechtecks mit den Seitenlängen a und b. Daraus<br />
resultierte auch eine geometrische Deutung<br />
der Wurzel einer Zahl, nämlich als Seitenlänge<br />
eines Quadrates mit dem betreffenden Flächeninhalt.<br />
HERONS Idee bestand dann darin, ein Rechteck<br />
unter Beibehaltung seines Flächeninhalts A<br />
<strong>im</strong>mer „quadratischer“ machen. Er produzierte<br />
eine Folge von flächengleichen Rechtecken, die<br />
gegen ein Quadrat konvergierten. Die Seitenlänge<br />
des intuitiv als existent erkannten „Grenzquadrats“<br />
ist dann die Wurzel aus dem Flächeninhalt.<br />
Bleibt noch die Frage zu klären: Wie sieht ein<br />
kanonisches √ Startrechteck <strong>für</strong> die Berechnung von<br />
A aus? HERON suchte wohl <strong>für</strong> den Startwert<br />
(<strong>für</strong> eine Seitenlänge) die zu A nächst gelegene<br />
Quadratzahl. Für die Berechnung von als Beispiel<br />
wäre dies 9 = 32 , der Startwert <strong>für</strong> x wäre also 3<br />
(und <strong>für</strong> y zwangsläufig 10<br />
3 ). So gehen auch die<br />
Schulbücher heute noch vor, weil dadurch Iterationsschritte<br />
zu sparen sind.<br />
Wenn man aber <strong>im</strong> Zeitalter moderner Werkzeuge<br />
eine Ersparnis von zwei Iterationsschritten<br />
vernachlässigt und stattdessen mehr Wert auf ein<br />
kanonisches Startrechteck legt, kommt man zu einem<br />
Rechteck mit den Seitenlängen 1 und A, das<br />
<strong>im</strong>mer den gewünschten Flächeninhalt A hat.<br />
55
Hans-Jürgen Elschenbroich, Düsseldorf<br />
Abbildung 7.4: Kanonisches Startrechteck<br />
Nach einigen Iterationsschritten — die man<br />
am besten mit einem Makro erledigt — erhält man<br />
dann folgendes Bild, das auch die Konvergenz visualisiert:<br />
Abbildung 7.5: Heron-Algorithmus geometrisch<br />
Durch diese dynamische, geometrische Visualisierung<br />
kommt automatisch eine funktionale<br />
Fragestellung ins Blickfeld: Auf welcher Linie<br />
liegen denn die markierten Eckpunkte der flächengleichen<br />
Rechtecke?<br />
4 Wurzelschnecke<br />
HERON war ein antiker Ingenieur und angewandter<br />
Mathematiker. Mit seinem Ansatz ist eine einfache<br />
und heute noch genutzte Berechnung einer<br />
Quadratwurzel möglich geworden. Eine zeichnerische<br />
Konstruktion von <strong>für</strong> war schon lange vor<br />
ihm bekannt. Für natürliche Zahlen erfolgte sie<br />
mit der bekannten „Wurzelschnecke“ nach PY-<br />
THAGORAS.<br />
Abbildung 7.6: Wurzelschnecke <strong>für</strong> √ 9<br />
Diese geniale Konstruktion versagt allerdings<br />
<strong>für</strong> nicht-natürliche Zahlen. Ein allgemeinerer<br />
geometrischer Ansatz <strong>für</strong> diese Aufgabe ist aber<br />
auch schon seit EUKLID bekannt.<br />
56<br />
5 Wurzelziehen nach EUKLID<br />
Genaugenommen sind es sogar zwei Ansätze. Ein<br />
Ansatz basiert auf dem Denken in Proportionen<br />
(was schon lange kaum noch gepflegt wird): „Zu<br />
zwei gegebenen Strecken die Mittlere Proportionale<br />
zu finden.“ (Euklid, 2003, Sechstes Buch,<br />
§ 13) Ein anderer Ansatz beruht auf dem Höhensatz:<br />
„Ein einer gegebenen geradlinigen Figur<br />
gleiches Quadrat zu errichten.“ (Euklid, 2003,<br />
Zweites Buch, § 14)<br />
Abbildung 7.7: Figur aus Euklid (2003, Zweites<br />
Buch, § 14)<br />
Dies ist nicht nur uns eingängiger, sondern<br />
bietet vor allem Möglichkeiten zur Dynamisierung<br />
mit geeigneter Software (Elschenbroich,<br />
2002; Elschenbroich & Seebach, 2003).<br />
Abbildung 7.8: Geometrisches Wurzelziehen<br />
Auch hier kommt wieder das oben schon erwähnte<br />
kanonische Startrechteck zum Einsatz und<br />
erhält als Überbau die Höhensatz-Figur. Mit moderner<br />
Geometrie-Software lässt sich nun diese<br />
Figur dynamisieren und es ergeben sich wieder<br />
funktionale Fragestellungen: Welche Ortslinie<br />
durchläuft H, wenn A variiert wird?
Abbildung 7.9: Wurzelfunktion geometrisch<br />
Man erhält so einen rein geometrischen Weg<br />
zur Wurzelfunktion!<br />
6 Fazit<br />
Back to the roots<br />
Die Rückbesinnung auf klassische geometrische<br />
Ansätze gibt uns Visualisierung, tieferes Verständnis<br />
und Einsicht in die Zusammenhänge. Durch<br />
die Dynamik geeigneter Dynamischer Geometrie-<br />
Software wie Euklid-DynaGeo oder Cabri II kommen<br />
heutzutage automatisch moderne funktionale<br />
Fragestellungen mit ins Spiel. Wir erhalten eine<br />
fruchtbare Verbindung von Funktionen & Algebra<br />
mit Geometrie, deren Vernetzung ein tieferes Verständnis<br />
von Wurzel und zugehörigen Algorithmen<br />
ermöglicht.<br />
Literatur<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen (2002): Geometrisches Wurzelziehen<br />
mit dem Heron-Verfahren. MNU, 55(5)<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen & Günter Seebach (2003): Dynamisch<br />
Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter mit<br />
Euklid-DynaGeo, Klasse 9. CoTec<br />
Euklid (2003): Die Elemente. 4. Auflage, Nummer 235 in<br />
Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Verlag Harri<br />
Deutsch<br />
Lambacher-Schweizer (Hg.) (2002): Lambacher-Schweizer 9.<br />
Ernst Klett Schulbuchverlag<br />
57
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
58
• Laufzeitanalysen, Wachstumsfunktionen und<br />
asymptotische Untersuchungen<br />
Martin Epkenhans, Paderborn<br />
Die <strong>im</strong> Informatikunterricht behandelten Sortieralgorithmen, Algorithmen auf Datenstrukturen und<br />
mathematischen Algorithmen sind problemlos auch außerhalb der Informatik verständlich. Zur Bewertung<br />
von Algorithmen sind asymptotische Laufzeituntersuchungen unentbehrlich. Dabei ist es<br />
wichtig, einerseits einen qualitativen Unterschied zwischen etwa logarithmischem, linearem, quadratischem<br />
und exponentiellen Wachstum zu erkennen, aber auch andererseits zu begreifen, dass es<br />
auf die genaue Laufzeit nicht ankommt. Leicht verständliche Fragestellungen der Informatik motivieren<br />
so interessante Untersuchungen in der Analysis.<br />
1 Einleitung<br />
In den letzten Jahren hat sich der <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
scheinbar durch den Einfluss der Informatik<br />
geändert. Viele Lehrpläne betonen den Anwendungsbezug<br />
der Mathematik. Die Informatik hat<br />
sich verstärkt zu einer Wissenschaft entwickelt,<br />
die längerfristig gültige und tragfähige Grundlagenkonzepte<br />
entwickelt. Leider wird <strong>im</strong>mer noch<br />
der Einsatz von Informatikwerkzeugen wie dem<br />
Computer mit einer Einbeziehung der Informatik<br />
und einer Kooperation mit dem Fach Informatik<br />
gleichgesetzt. So findet man unter dem Stichwort<br />
Informatik in den Richtlinien Mathematik NRW<br />
(1999) Unterrichtbeispiele, die mit dem Hinweis<br />
„Computereinsatz sinnvoll“ versehen sind. Der<br />
Einsatz graphikfähiger Taschenrechner, von Tabellenkalkulationsprogrammen<br />
und Computeralgebrasystemen<br />
vermittelt hingegen keinen Einblick<br />
in das Fach Informatik.<br />
Im Folgenden sollen andere Impulse aus dem<br />
Informatikunterricht <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
geschildert werden, die sich durch das Unterrichten<br />
von Leistungskursen in beiden Fächern<br />
an einem Berufskolleg entwickelt haben. Dabei<br />
wird die Max<strong>im</strong>e verfolgt, dass die Mathematik<br />
ein eigenständiges Fach mit einer langen Tradition<br />
ist, die einen kulturellen Wert an sich hat und<br />
nicht der Rechtfertigung durch ihre Anwendung<br />
in der scheinbar realen Welt braucht. Die aktuellen<br />
Veränderungen der Anforderungen an den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
durch Einbeziehung neuer Medien,<br />
Techniken und Anwendungen werden <strong>im</strong>mer<br />
von der Frage, welche Inhalte nun dem Zeitgeist<br />
zu opfern sind, begleitet. Dabei werden häufig<br />
mathematische Denkweisen wie etwa die vollständige<br />
Induktion oder die korrekte Fassung des<br />
Grenzwertbegriffs gewählt. Aus Sicht der Informatik<br />
sollten diese urmathematischen Themen,<br />
die früher auch ohne den Blick auf die Informatik<br />
von Bedeutung waren, weiter gelehrt werden. Die<br />
ausschnittweise Beleuchtung des Informatikunterrichts<br />
in diesem Beitrag soll aufzeigen, das klassische<br />
Themen des <strong>Mathematikunterricht</strong>s mit einer<br />
anderen Akzentuierung auch von außen betrachtet<br />
weiterhin ihren Wert <strong>für</strong> den Unterricht haben.<br />
Viele Lehrpläne und didaktischen Rechtfertigungen<br />
mathematischer Lehrinhalte basieren auf<br />
dem Begriff der zentralen Idee bzw. dem Konzept<br />
der fundamentalen Idee. Hieran orientiert sich inzwischen<br />
auch die Didaktik der Informatik, die in<br />
einer zaghaften Entwicklung begriffen ist (Schubert<br />
& Schwill, 2004). Betrachtet man diese Konzepte<br />
beider Fächer, so findet man eine gemeinsame<br />
Idee, die Idee des Algorithmus. Diese Idee<br />
steht nun <strong>im</strong> Zentrum der Betrachtung.<br />
2 Algorithmen in der Informatik<br />
Neben Sortieralgorithmen werden <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
häufig Zugriffsalgorithmen auf Datenstrukturen<br />
wie etwa Liste, Stapel, Schlange und<br />
Baum thematisiert. Teilweise werden Faktorisierungsverfahren<br />
und Pr<strong>im</strong>zahltests <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit der Kryptologie betrachtet.<br />
2.1 Sortieralgorithmen<br />
Zunächst soll eine ungeordnete, nach einem Kriterium<br />
sortierbare Menge von Objekten in eine Reihenfolge<br />
gebracht werden. So sollen etwa Wörter<br />
alphabetisch sortiert werden, Schüler der Körpergröße<br />
nach aufgestellt werden oder größere<br />
Mengen von Datensätzen wie z.B. Schülerstammblätter<br />
nach einem Schlüssel sortiert werden (erst<br />
nach Klassen, dann nach Nachnamen und Vornamen).<br />
2.2 Algorithmen und Datenstrukturen<br />
Algorithmisch interessant sind insbesondere Zugriffsmethoden<br />
auf Listen und binäre Suchbäume.<br />
Beide Strukturen beinhalten eine Menge von<br />
Objekten. Einfügen, Entfernen und Ändern von<br />
Objekten, das Suchen von Einträgen nach einem<br />
vorgegebenen Schlüssel ebenso wie die Ausgabe<br />
sämtlicher Objekte nach einem vorgegebenen Kriterium<br />
gehören zu den Standardzugriffsmethoden<br />
auf diese Datenstrukturen.<br />
2.3 <strong>Informatische</strong> Betrachtung von<br />
Algorithmen<br />
Neben dem Implementieren behandelt die Informatik<br />
weitere Aspekte von Algorithmen, die eine<br />
59
Martin Epkenhans, Paderborn<br />
Nähe zur Mathematik darstellen, da sie Mathematik<br />
benutzten.<br />
Algorithmen müssen korrekt sein, d.h. terminieren<br />
und das gestellte Problem tatsächlich<br />
lösen. Sie sollen eine möglichst große Klasse<br />
gleichartiger Probleme lösen, berechenbar, effizient<br />
und schnell sein. Nebenbei soll der benötigte<br />
Speicherbedarf nicht zu sehr mit der Größe des<br />
Problems wachsen.<br />
Die Richtlinien des Informatikunterrichts sehen<br />
eine Bewertung von Algorithmen vor. Hierzu<br />
bedarf es der Mathematik.<br />
Im <strong>Mathematikunterricht</strong> ist man häufig damit<br />
zufrieden, wenn ein gestelltes Problem konstruktiv<br />
gelöst werden kann. Insbesondere komfortable<br />
Taschenrechner haben etwa Verfahren wie<br />
das Hornerschema aus dem Unterricht verbannt.<br />
GgT und kgV werden weiterhin mit Hilfe einer<br />
Pr<strong>im</strong>faktorzerlegung best<strong>im</strong>mt, obwohl gerade die<br />
Kryptologie die Grenzen dieser Verfahren aufzeigt<br />
und benutzt.<br />
3 Anforderungen an den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> aus Sicht<br />
der Informatik<br />
3.1 Korrektheitsbeweise<br />
Das Sortierverfahren BubbleSort zum Sortieren<br />
einer endlichen Folge a1,...,an besteht aus zwei<br />
Schritten. Zunächst wird durch Vergleichen und<br />
etwaiges Vertauschen das größte Element an die<br />
ganz rechte Position gebracht. Dazu werden der<br />
Reihe nach benachbarte Elemente ai und ai+1 verglichen.<br />
Ist das linke Element kleiner als das rechte,<br />
so tauschen beide Elemente ihre Positionen.<br />
Danach werden die Elemente an den ersten n − 1<br />
Stellen auf die gleiche Art sortiert.<br />
Warum erhält man nun eine der Größe nach<br />
sortierte Liste der Elemente?<br />
Im Unterricht empfiehlt sich an dieser Stelle<br />
ein exemplarisches Arbeiten mit natürlichen Zahlen,<br />
da der Begriff der sortierten Folge vorerst<br />
nicht thematisiert und die Eigenschaften linear geordneter<br />
Mengen nicht herausgearbeitet werden<br />
müssen. Die Schüler können dann intuitiv argumentieren:<br />
„Es gibt ein größtes Element. Falls dieses<br />
nicht schon ganz rechts steht, wird es bei irgendeinem<br />
Vergleich zu einem Vertauschen benachbarter<br />
Elemente zwingen. Bei den nun folgenden<br />
Vergleichen gewinnt dieses Element <strong>im</strong>mer<br />
und rutscht so nach ganz rechts. Danach wird<br />
das größte Element der verbleibenden n − 1 Elemente<br />
auf die zweit rechte Position gebracht. Dieses<br />
ist aber das zweitgrösste Element. So geht es<br />
dann weiter, bis alle Elemente an der richtigen<br />
Stelle stehen.“<br />
Formal korrekt ist an dieser Stelle ein Beweis<br />
mit Hilfe der vollständigen Induktion.<br />
60<br />
Gewöhnlich zweifeln Schüler nicht an der<br />
Eindeutigkeit der Lösung. Ebenso wenig bezweifeln<br />
sie, dass das Ergebnis von der Startreihenfolge<br />
oder vom gewählten Sortierverfahren abhängt.<br />
Um nun Schüler <strong>für</strong> diese Problematik zu sensibilisieren,<br />
wählt man andere Beispiele. So stehen<br />
<strong>im</strong> Telefonbuch verschiedene Teilnehmer mit gleichen<br />
Namen. Da die Körpergröße in cm angegeben<br />
wird, können Schüler gleich groß sein. Eine<br />
eindeutige Reihenfolge existiert in diesen Fällen<br />
vorerst nicht. Auf diesem Wege kann man die Anforderungen<br />
herausarbeiten, die man an eine Lösung<br />
des Sortierproblems stellt. Schrittweise nähert<br />
man sich der Definition einer linearen Ordnung.<br />
Zum Beweis der Korrektheit von Bubblesort<br />
<strong>für</strong> linear geordnete Mengen sind somit die<br />
vollständige Induktion wie auch axiomatisches<br />
Denken aus der Mathematik erforderlich.<br />
3.2 Laufzeituntersuchungen<br />
Gewöhnlich werden <strong>im</strong> Unterricht unterschiedliche<br />
Sortierverfahren behandelt. Durch eine offene<br />
Aufgabenstellung wird selten nur ein Sortierverfahren<br />
von den Schülern entwickelt. Weiter<br />
kann durch gezielte Aufgabenstellungen das<br />
Entwickeln unterschiedlicher Verfahren gefördert<br />
werden.<br />
So produziert das Einsortieren von Karteikarten<br />
in einen Karteikasten schnell das Verfahren<br />
Sortieren durch Einfügen. Be<strong>im</strong> Sortieren eines<br />
großen Stapels von Büchern neigt man eher dazu,<br />
die Bücher zunächst in zwei Stapel zu teilen.<br />
Sollen 10 <strong>im</strong> Raum stehende Schüler der Körpergröße<br />
nach aufgestellt werden, so sucht man sich<br />
erstmal den größten, dann den zweitgrössten etc.<br />
und erzeugt so eine Reihenfolge. Damit stellt sich<br />
irgendwann die Frage nach dem besten Verfahren.<br />
Das gewöhnlich erstgenannte Kriterium ist hier<br />
die Schnelligkeit. Dazu kann man anfangs exper<strong>im</strong>entell<br />
vorgehen. Mittels eines Zufallsgenerators<br />
werden unterschiedliche große Zahlenfolgen erzeugt.<br />
Die CPU-Zeit zum Sortieren wird gestoppt<br />
und die Werte werden in eine Grafik eingetragen.<br />
Um einen funktionalen Zusammenhang herzustellen,<br />
bedarf es stochastischer Methoden.<br />
Bubblesort benötigt zum Sortieren von n Elementen<br />
n(n−1)<br />
2 Schlüsselvergleiche. Bei der Behandlung<br />
konkreter Beispiele <strong>im</strong> Unterricht werden<br />
die letzten Durchläufe von den Schülern häufig<br />
nicht mehr durchgeführt, da man sieht, dass<br />
die Folge bereits sortiert ist. So stellt man bei einer<br />
aufsteigende sortierten Folge in einem Durchlauf<br />
mit n − 1 Vergleichen fest, dass weitere Vergleiche<br />
unnötig sind. Diese Beobachtung führt zur<br />
ersten Verbesserung des Verfahrens Bubblesort.<br />
Bei diesem verbesserten Bubblesort besteht kein<br />
funktionaler Zusammenhang zwischen der Eingabegröße<br />
und der Laufzeit. Somit sind theoreti-
Laufzeitanalysen, Wachstumsfunktionen und asymptotische Untersuchungen<br />
sche Untersuchungen erforderlich. Man führt die<br />
Begriffe worst-case, best-case undaverage-case-<br />
Analyse ein. Da Algorithmen unabhängig von der<br />
gewählten Maschine bewertet werden sollen, benötigt<br />
man ein Maß <strong>für</strong> die Laufzeit. Hier bietet<br />
sich die Anzahl der durchgeführten Schlüsselvergleiche<br />
an. Im schlechtesten Fall sind es bei Bubblesort<br />
(n − 1)+(n − 2)+···+ 2+1 Vergleiche,<br />
<strong>im</strong> besten Fall n−1 Eine stochastische Analyse ist<br />
gewöhnlich <strong>für</strong> den Unterricht zu anspruchsvoll.<br />
Nun sind wir in der Theorie der Folgen und<br />
Reihen und be<strong>im</strong> Beweis von Gauß’ Formel<br />
n<br />
∑ =<br />
i=1<br />
n(n − 1)<br />
2<br />
angelangt. Damit erneut bei der vollständigen Induktion.<br />
Die Laufzeit von Bubblesort ist also bestenfalls<br />
linear, schlechtestens quadratisch in der<br />
Anzahl der Eingabedaten.<br />
Das Sortierverfahren Mergesort ist ein Divideand<br />
Conquer Verfahren. Eine Folge a1,...,an<br />
wird in zwei nahezu gleich große Teile geteilt, die<br />
wieder nach dem gleichen Verfahren zu zwei Folgen<br />
a1,...ak und b1,...bl mit k+l = n, |k−l| ≤ 1<br />
sortiert werden. Abschliessend mischt man beide<br />
Folgen zur Ergebnisfolge zusammen indem man<br />
jeweils das kleinere der beiden am Anfang der<br />
zwei Folgen stehende Element an die Ergebnisfolge<br />
anhängt.<br />
Bei der Laufzeitanalyse betrachtet man die<br />
Fälle 1,2,4,8,...,2 l ,..., da so eine Einteilung in<br />
gleich große Teile in jedem Teilungsschritt möglich<br />
ist. Die Anzahl der Schlüsselvergleiche entn<strong>im</strong>mt<br />
man folgender Tabelle<br />
l n best case worst case<br />
1 2 1 1<br />
2 4 4 5<br />
3 8 12 17<br />
4 16 32 49<br />
Man erhält zunächst die folgenden Rekursionsformeln:<br />
und<br />
T best(2 l+1 ) = 2 · T best(2 l )+2 l<br />
Tworst(2 l+1 ) = 2 · Tworst(2 l )+2 l+1 − 1.<br />
Die Suche nach expliziten Formeln gestaltet<br />
sich etwas schwieriger. Wir erhalten<br />
und<br />
T best(2 l ) = l · 2 l−1<br />
Tworst(2 l ) = (l − 1) · 2 l + 1<br />
Offensichtlich ist die worst-case Laufzeit <strong>für</strong><br />
l > 1 auch zahlenmäßig schlechter als die Laufzeit<br />
<strong>im</strong> besten Fall, so wie wir es bereits bei Bubblesort<br />
gesehen haben. Ein asymptotischer Laufzeitvergleich<br />
liefert hier jedoch in beiden Fällen eine<br />
Laufzeit der Größenordnung nlog(n). An dieser<br />
Stelle kann man noch einmal thematisieren,<br />
dass die exakte Laufzeit <strong>im</strong> besten Fall wie <strong>im</strong><br />
schlechtesten Fall noch von weiteren Faktoren abhängt.<br />
Eine Bewertung des Algorithmus kann daher<br />
nur eine asymtotische Untersuchung sein. Nun<br />
kann man auch problemlos Mergesort, Bubblesort<br />
und eventuell andere Sortierverfahren miteinander<br />
vergleichen.<br />
Das Sortieren durch Einfügen bietet sich insbesondere<br />
bei sich dynamisch verändernden Mengen<br />
wie etwa Adressenlisten an. Bei großen Mengen<br />
von Karteikarten legt man sich Register an.<br />
Diese Beobachtung kann man <strong>im</strong> Unterricht bis<br />
zur Entwicklung binärer Suchbäume weiterentwickeln.<br />
Einfügen, Suchen und Löschen ist in<br />
einem balancierten Suchbaum in logarithmischer<br />
Zeit möglich. Die Anzahl der Blätter eines vollständigen<br />
Baumes wächst exponentiell in Abhängigkeit<br />
der Höhe.<br />
Listen wir nun kurz die mathematischen Methoden<br />
und Themen auf, die wir in der exemplarischen<br />
Beleuchtung des Informatikunterrichts benötigt<br />
haben.<br />
• vollständige Induktion<br />
• axiomatisches Denken<br />
• asymptotische Untersuchungen<br />
• Funktionen:<br />
lineare Funktionen, quadratische Funktionen,<br />
Polynome, Logarithmen,<br />
Exponentialfunktionen, Folgen<br />
Stellt der <strong>Mathematikunterricht</strong> diese Inhalte<br />
in der gewünschten Form bereit? Auf den ersten<br />
Blick mag man diese Frage bejahen, eine genauere<br />
Analyse zeichnet jedoch ein anderes Bild. Die<br />
vollständige Induktion ist weit gehend aus den<br />
Lehrplänen und Büchern verschwunden. Axiomatisches<br />
Denken ist nur <strong>im</strong>plizit vorhanden, wird<br />
aber nicht gesondert betrachtet. In der Schule werden<br />
vielfach konkrete Objekte betrachtet. In Modellen<br />
einer Theorie wie etwa der Gruppentheorie<br />
arbeitet man kaum bis gar nicht. Da eine axiomatische<br />
Beschreibung der reellen Zahlen fehlt, ist<br />
meist auch der Körperbegriff nicht mehr Unterrichtsgegenstand.<br />
Asymptotische Untersuchungen finden bei gebrochen<br />
rationalen Funktionen statt, asymptotische<br />
Vergleiche von Funktionen sind manchmal<br />
<strong>im</strong>plizit bei Grenzwertbetrachtungen zu finden.<br />
Die zitierten Funktionsklassen werden <strong>im</strong> Unterricht<br />
behandelt und sind entsprechend obiger<br />
Einteilung auf Jahrgangsstufen verteilt. Bei linearen<br />
Funktionen werden Steigungen diskutiert,<br />
61
Martin Epkenhans, Paderborn<br />
bei quadratischen Funktionen die Nullstellen und<br />
die Auswirkung der Parameter auf den Graphen<br />
der Funktion. Polynome werden als ganz rationale<br />
Funktionen in der Differentialrechnung diskutiert.<br />
Logarithmen werden <strong>im</strong> Kontext der Potenzbildung<br />
als eine Umkehrung neben dem Wurzelziehen<br />
und später <strong>im</strong> Kontext von Wachstumsuntersuchungen<br />
betrachtet. Bei Untersuchung von<br />
Wachstumsprozessen, die unseren informatischen<br />
Untersuchungen nahe kommen, wird gewöhnlich<br />
nur lineares und exponentielles, manchmal auch<br />
logistisches Wachstum betrachtet. Die Klassenbildung<br />
der Funktionen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> ist<br />
an der jeweiligen Fragestellung orientiert. Die Informatik<br />
hingegen teilt die Funktionen entsprechend<br />
ihres asymptotischen Verhaltens ein.<br />
4 Realisierungen <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Der <strong>Mathematikunterricht</strong> sollte die vollständige<br />
Induktion erneut <strong>im</strong> Kontext des Folgenbegriffs<br />
lehren. Ein Wechsel zwischen rekursiven Definition<br />
und expliziten Formeln <strong>für</strong> Folgen ist wünschenswert.<br />
Die Einführung der O-Notation, die<br />
auch <strong>im</strong> Informatikunterricht stattfinden könnte,<br />
böte <strong>für</strong> die Mathematik den Vorteil, das gewisse<br />
formale Konzepte des Grenzwertbegriffs von<br />
Folgen vorbereitet oder wiederholt werden könnten.<br />
Die zur Laufzeituntersuchungen notwendigen<br />
asymptotischen Untersuchungen können als<br />
eigenständiger Komplex nach den Untersuchungen<br />
von Wachstumsprozessen durchgeführt werden.<br />
Alternativ kann auch die Wachstumstheorie<br />
anders aufgezogen werden. Die Beispiele, die<br />
in Schulbüchern zu finden sind, kommen gewöhnlich<br />
aus der Finanzmathematik, der Biologie<br />
(Bevölkerungswachstum, Bakterienwachstum<br />
etc.) oder der Atomphysik. Die Betrachtung bi-<br />
62<br />
närer Suchbäume an dieser Stelle hat den großen<br />
Vorteil, dass fast ohne Vorkenntnisse aus einem<br />
anderen Fach gearbeitet werden kann. Am vollständigen<br />
Binärbaum kann man sehr schön exponentielles<br />
und logarithmisches Wachstum und die<br />
Korrespondenz von Funktion und Umkehrfunktion<br />
erfahren. Gleichzeitig erfahren die Schüler,<br />
dass das Modell eines Baumes, welches aus der<br />
Stochastik bekannt ist, auch in anderen Zusammenhängen<br />
nützlich ist.<br />
Der asymptotische Vergleich von polynomiellen<br />
Laufzeiten kann <strong>im</strong> Kontext der gebrochen<br />
rationalen Funktionen erfolgen. Man lernt, dass<br />
ein nicht sichtbarer Unterschied der Graphen von<br />
fn(x) = x n , n ∈ N <strong>für</strong> große x doch einen qualitativen<br />
Unterschied der Funktionen beinhaltet, hingegen<br />
niedrige Terme keine Auswirkung haben.<br />
Letztere Eigenschaft kennt man von gebrochen rationalen<br />
Funktionen, bei denen das Verhalten mit x<br />
nur von den Exponenten der Zähler- und Nennerpolynome<br />
und evtl. den Leitkoeffizienten abhängt.<br />
5 Schlussbemerkung<br />
Eine andere Akzentuierung mathematischer Inhalte<br />
verbunden mit einer Wiederbelebung verstoßener<br />
Inhalte des <strong>Mathematikunterricht</strong>s leistet<br />
somit eine wertvolle Hilfe <strong>für</strong> die Analyse und<br />
Bewertung von Algorithmen <strong>im</strong> Informatikunterricht.<br />
Literatur<br />
Epkenhans, Martin (2005): Alte mathematische Themen aus<br />
Sicht der Informatik. MNU, 58(3), 155–158<br />
Schubert, Sigrid & Andreas Schwill (2004): Didaktik der Informatik.<br />
Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
Ministerium <strong>für</strong> Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und<br />
Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (1999):<br />
Richtlinien und Lehrpläne <strong>für</strong> die Sekundarstufe II – Gymnasium<br />
und Gesamtschule, Mathematik. Nummer 4720 in Schriftenreihe<br />
Schule in NRW, Ritterbach Verlag
• Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen:<br />
Generieren von Bewegungsbahnen sowie von Geraden<br />
und Kurven als Punktmengen<br />
Andreas Filler, Heidelberg<br />
Die Einbeziehung von Computervisualisierungen und die Erstellung einfacher An<strong>im</strong>ationen durch<br />
die Schüler können dazu beitragen, bei der Behandlung von Parameterdarstellungen von Geraden<br />
und anderen geometrischen Objekten oft vernachlässigte Gesichtspunkte — insbesondere den Punktmengengedanken,<br />
funktionale Zusammenhänge sowie dynamische Aspekte — einzubeziehen und<br />
„mit Leben zu erfüllen“. In diesem Beitrag werden hier<strong>für</strong> anhand von Geraden und Ebenen sowie<br />
als Bahnkurven aufgefassten Kreisen, Spiralen, Schraubenlinien und Wurfparabeln Vorschläge<br />
unterbreitet und Vorgehensweisen unter Verwendung der 3D-Grafiksoftware POV-Ray sowie (alternativ<br />
dazu) des CAS MuPAD skizziert. Die Einbeziehung elementarer Arbeitsweisen der Informatik<br />
(Nutzung von Schleifen und Prozeduren) kann u. a. dazu dienen, mithilfe einfacher Verfahren, die<br />
sehr oft ausgeführt werden, komplexe Objekte zu erzeugen — dies wird anhand von Darstellungen<br />
geometrischer Objekte als Punktmengen verdeutlicht.<br />
Für alle in diesem Beitrag beschriebenen Inhalte stehen Beispieldateien, Videos und ergänzende Materialien<br />
auf der Internetseite http://www.afiller.de/3dcg (unter der Rubrik Downloads<br />
& Links) zur Verfügung.<br />
1 Einleitung, Problemlage<br />
Parameterdarstellungen von Geraden und Ebenen<br />
gehören zu den Standardinhalten des Unterrichts<br />
in analytischer Geometrie. Meist folgen dabei<br />
nach einer Einführung der Parameterdarstellungen<br />
sehr schnell Aufgaben zur Umformung<br />
von Parameter- in Koordinatenform und umgekehrt<br />
sowie zur Untersuchung von Lagebeziehungen,<br />
der Best<strong>im</strong>mung von Schnittpunkten sowie<br />
(meist etwas später) zu Abstands- und Winkelberechnungen.<br />
Zwei wichtige, miteinander verbundene,<br />
Aspekte der analytischen Geometrie, die anhand<br />
der Parameterdarstellungen gut verfolgt werden<br />
könnten, kommen dabei nicht in ausreichendem<br />
Maße zur Geltung: 1<br />
• Die Schüler gelangen höchstens in Ansätzen<br />
zu einer Auffassung geometrischer Objekte als<br />
Punktmengen. 2<br />
• Der funktionale Zusammenhang zwischen dem<br />
Parameter (bzw. den Parametern) und den zugehörigen<br />
Punkten wird von den Schülern meist<br />
nicht erkannt. Das Erkennen dieses Zusammenhangs<br />
setzt eine Sicht auf geometrische Objekte<br />
als Punktmengen natürlich voraus, geht aber<br />
darüber noch insofern hinaus, als die Abhängigkeit<br />
der Lage von Punkten <strong>im</strong> Raum von dem<br />
Parameter bzw. den Parametern zu erfassen ist. 3<br />
Als didaktische Ansätze, die Herausbildung<br />
auf den konkret-gegenständlichen Aspekt eingeengter<br />
Konzepte von Parameterdarstellungen bei<br />
Schülern zu vermeiden sowie den Punktmengengedanken<br />
und den Schwerpunkt des funktionalen<br />
Zusammenhangs stärker einzubeziehen, bieten<br />
sich vor allem zwei Herangehensweisen an (vgl.<br />
auch MaDiN, 2004):<br />
• Die Schüler konstruieren die zu einigen Parameterwerten<br />
gehörenden Punkte bei einer Parameterdarstellung<br />
der Form P = P0 + t�a und erkennen<br />
dabei, dass diese Punkte auf einer Geraden<br />
liegen. Davon ausgehend können Parametergleichungen<br />
von Geraden eingeführt werden;<br />
auch die parameterabhängige Beschreibung verschiedener<br />
Kurven ist so möglich. Des Weiteren<br />
bieten sich Umkehrüberlegungen an, bei denen<br />
zu einzelnen Punkten von Geraden bzw. Kurven<br />
ermittelt wird, welchem Wert des Parameters sie<br />
zugeordnet sind. Vergleiche verschiedener Parametrisierungen<br />
derselben Objekte erscheinen in<br />
diesem Zusammenhang ebenfalls sinnvoll.<br />
• Es lässt sich die dynamische Sicht auf Geraden<br />
und andere Kurven als Bahnkurven hervorheben,<br />
wodurch die Schüler mit dem Parameter<br />
eine konkrete Bedeutung verbinden. Die Interpretation<br />
des Parameters als Zeit stellt Bezüge<br />
zur Beschreibung von Bewegungen in der Phy-<br />
1Als weiteres Defizit ist die vielfach beklagte Einengung auf die Betrachtung von linearen Objekten (Geraden und Ebenen) zu<br />
nennen.<br />
2Wittmann (2003, 377ff) untersuchte auf Parametergleichungen von Geraden bezogene Schülerkonzepte und stellte fest, dass Schüler<br />
diese oft nicht als Gleichungen ansahen, die Mengen von Punkten in Abhängigkeit von Parametern beschreiben, sondern lediglich<br />
den Aufpunkt und den Richtungsvektor als „kennzeichnend“ <strong>für</strong> die beschriebene Gerade betrachteten (vgl. auch Tietze, 2000, S.<br />
140ff).<br />
3Dies ist <strong>für</strong> zweiparametrige Objekte (Ebenen und Flächen) deutlich komplizierter als <strong>für</strong> einparametrige Gebilde, weshalb Überlegungen,<br />
wie Schüler funktionale Zusammenhänge zwischen Parametern und dadurch beschriebenen Punkten erfassen und verinnerlichen<br />
können, vor allem bei Parameterdarstellungen von Geraden bzw. Kurven ansetzen sollten.<br />
63
Andreas Filler, Heidelberg<br />
sik her.<br />
2 Einbeziehung von<br />
Grafiksoftware oder CAS <strong>für</strong><br />
die Behandlung von<br />
Parameterdarstellungen<br />
Die Einbeziehung von Elementen der Computergrafik<br />
in den Unterricht schafft Möglichkeiten,<br />
die beiden o. g. Herangehensweisen zur Herausarbeitung<br />
des Punktmengengedankens und dynamischer<br />
Aspekte umzusetzen. Die „Konstruktion“<br />
von Geraden und Kurven, aber auch von Ebenen,<br />
aus Punkten erfordert dabei lediglich eine Software,<br />
mithilfe derer die Schüler entsprechende grafische<br />
Darstellungen anfertigen können.<br />
Für die Herausbildung einer dynamischen<br />
Sicht auf Parameterdarstellungen eignet sich besonders<br />
die Erstellung von An<strong>im</strong>ationen (Videos).<br />
Hierzu werden Positionen von Objekten oder auch<br />
die Position des Beobachters in Abhängigkeit<br />
von einem Zeitparameter beschrieben. Ein Argument<br />
<strong>für</strong> die Anfertigung von An<strong>im</strong>ationen zur<br />
Erlangung einer dynamischen Sicht auf Parameterdarstellungen<br />
besteht darin, dass sich Schüler<br />
erfahrungsgemäß <strong>für</strong> die Generierung von Videos<br />
in überdurchschnittlichem Maße interessieren.<br />
Bei der Verwendung geeigneter Software sind<br />
dazu parameterabhängige Beschreibungen zwingend<br />
erforderlich. Um durch Parameterdarstellungen<br />
gegebene Geraden und Kurven als Punktmengen<br />
?aufzubauen? sowie parameterabhängige<br />
An<strong>im</strong>ationen zu erstellen, können u. a. die<br />
3D-Grafiksoftware POV-Ray sowie Computeralgebrasysteme<br />
(CAS) wie Maple, Mathematica<br />
und MuPAD genutzt werden. Diese Softwarepakete<br />
lassen sich <strong>für</strong> Visualisierungen und Berechnungen<br />
auch an anderen Stellen des Stoffgebietes<br />
Analytische Geometrie einsetzen. 4 Im Folgenden<br />
werden Beispiele unter Verwendung von POV-<br />
Ray sowie MuPAD dargestellt.<br />
3 Geraden und Ebenen als<br />
Punktmengen<br />
3.1 Einführung von<br />
Parametergleichungen durch die<br />
Betrachtung einzelner Punkte<br />
Zur Einführung der Parameterdarstellung von Geraden<br />
kann den Schülern eine Aufgabe folgender<br />
Art gestellt werden:<br />
Gegeben⎛ sind der Punkt ⎞ P(0,5;1;1,5) und der<br />
−2,5<br />
⎜<br />
Vektor�a = ⎝ 1<br />
−1,5<br />
⎟<br />
⎠.<br />
1. Stellen Sie den Punkt P sowie den Vektor�a (als<br />
Pfeil, beginnend an P) dar.<br />
2. Stellen Sie die Punkte P + 0,5 ·�a, P +�a, P +<br />
1,5 ·�a, P + 2 ·�a sowie P − 0,5 ·�a, P −�a, P −<br />
1,5 ·�a und P − 2 ·�a dar.<br />
3. Betrachten Sie die Darstellung aus verschiedenen<br />
Richtungen.<br />
Eine mögliche Lösung dieser Aufgabe unter<br />
Verwendung von POV-Ray mit „anageo“ -<br />
Vorlagen <strong>für</strong> die einfache Darstellung von Objekten<br />
der analytischen Geometrie von Filler (2005)<br />
zeigt Abb. 9.1.<br />
Abbildung 9.1: Punkte einer Geraden<br />
Um Abb. 9.1 zu generieren, sind folgende Befehle<br />
einzugeben:<br />
#declare a = ;<br />
#declare P = ;<br />
pluspunkt(P, schwarz)<br />
vektoranpunkt(P, a, silbergrau)<br />
punkt(P?2*a, blau_matt)<br />
punkt(P?1,5*a, blau_matt)<br />
...weitere 6 Punkte<br />
Bei Verwendung von MuPAD entsteht durch<br />
die folgenden Eingaben eine (interaktiv drehbare)<br />
Grafik, wie in Abb. 9.2 dargestellt.<br />
a:=matrix([-2.5,1,-1.5])<br />
P:=matrix([0.5,1,1.5])<br />
Pfeila:=plot::Arrow3d(P,P+a)<br />
PunktP:=plot::Point3d(P)<br />
PunktMinus20:=plot::Point3d(P-2*a)<br />
...weitere 6 Punkte<br />
PunktPlus20:=plot::Point3d(P+2*a)<br />
plot(Pfeila, PunktP, PunktMinus20,<br />
PunktMinus15, PunktMinus10,<br />
PunktMinus05, Punkt05, Punkt10,<br />
Punkt15, Punkt20)<br />
4 Einen Überblick ?über die Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik (unter Nutzung von POV-Ray) gibt Filler (2001).<br />
POV-Ray ist unter http://www.povray.org frei verfügbar. Kurze Anleitungen zur Verwendung dieser Software speziell <strong>für</strong> den<br />
Unterricht <strong>im</strong> Stoffgebiet Analytische Geometrie sowie zugehörige Vorlagen und Ergänzungen stehen <strong>im</strong> Internet (Filler, 2005) zur<br />
Verfügung.<br />
64
Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen: Generieren von Bewegungsbahnen sowie<br />
von Geraden und Kurven als Punktmengen<br />
Abbildung 9.2: Punkte einer Geraden (MuPAD)<br />
Anhand einer der beiden Abbildungen wird<br />
spätestens nach Betrachtung aus verschiedenen<br />
Richtungen deutlich, dass alle dargestellten Punkte<br />
auf einer Geraden liegen. Nach der Darstellung<br />
einer größeren Zahl von Punkten durch die Verkleinerung<br />
der Parameterabstände zeigt sich, dass<br />
alle Punkte der durch P verlaufenden Geraden, deren<br />
Richtung durch �a gegeben ist, in der Form<br />
P+t ·�a mit t ∈ R dargestellt werden können.<br />
3.2 Nutzung von Schleifen oder<br />
Prozeduren <strong>für</strong> die Darstellung<br />
großer Zahlen von Punkten<br />
Um größere Zahlen von Punkten zu generieren<br />
und somit tatsächlich sichtbar werden zu lassen,<br />
dass durch das Einsetzen beliebiger Parameter<br />
(bzw. Parameterpaare) in die Parametergleichungen<br />
von Geraden, Kurven und Ebenen<br />
die Objekte „vollständig aufgebaut“ werden können,<br />
wäre es sehr mühsam, <strong>für</strong> jeden darzustellenden<br />
Punkt eine Zeile in das Programm einzugeben<br />
(wie oben beschrieben). Durch die Nutzung<br />
elementarer Programmierkonstrukte ist es hingegen<br />
leicht möglich, so große Anzahlen von Punkten<br />
zu generieren, dass sich das Ergebnis nicht<br />
mehr sichtbar von Geraden bzw. Strecken 5 , Kurvenstücken<br />
oder Teilen von Ebenen unterscheidet.<br />
Durch die schrittweise Erhöhung der Zahl dargestellter<br />
Punkte können sich die Schüler einen<br />
„plastischen Eindruck“ vom Punktmengencharakter<br />
geometrischer Objekte verschaffen.<br />
Abbildung 9.3: 60 Punkte einer Geraden<br />
Abbildung 9.4: 400 Punkte einer Geraden<br />
Um die in den Abb. 9.3 und 9.4 dargestellten<br />
Grafiken zu erzeugen, kann in POV-Ray eine<br />
Schleife genutzt werden:<br />
#declare i=-200;<br />
#while (i
Andreas Filler, Heidelberg<br />
dem <strong>für</strong> Geraden beschriebenen Vorgehen Ebenen<br />
„punktweise aufbauen“ ; die folgenden Anweisungen<br />
und die zugehörige Abb. 9.5 verdeutlichen<br />
das Vorgehen unter Verwendung von POV-<br />
Ray, auch hierbei lässt sich natürlich die Zahl der<br />
dargestellten Punkte erhöhen.<br />
#declare P = ;<br />
#declare a = ;<br />
#declare b = ;<br />
#declare j=-4;<br />
#while (j
Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen: Generieren von Bewegungsbahnen sowie<br />
von Geraden und Kurven als Punktmengen<br />
(jeweils mit t ∈ R) dieselbe Halbgerade. Werden<br />
diese Parametergleichungen verwendet, um An<strong>im</strong>ationen<br />
zu generieren, so ergibt (1) eine gleichförmige<br />
und (2) eine gleichmäßig beschleunigte<br />
Bewegung auf dieser Halbgeraden. In Abb. 9.7<br />
ist dies durch die Abstände der Punkte erkennbar;<br />
zwischen zwei benachbarten Punkten verstreicht<br />
jeweils gleich viel Zeit.<br />
Abbildung 9.7: Erzeugung einer Halbgerade mit<br />
verschiedenen Parameterisierungen<br />
Bei etwas komplexeren An<strong>im</strong>ationen ist es<br />
oft erforderlich, in verschiedenen Zeitintervallen<br />
unterschiedliche Funktionsterme <strong>für</strong> Positionen<br />
in Abhängigkeit vom Zeitparameter zu verwenden<br />
oder auch andere Größen zu an<strong>im</strong>ieren.<br />
Dazu lassen sich Verzweigungen (if-else-<br />
Anweisungen) einsetzen. Dies sei anhand des<br />
schrittweisen „Aufbaus“ einer Ebene illustriert.<br />
Zunächst (<strong>für</strong> Parameterwerte clock < 1) erfolgt<br />
der Aufbau einer Geraden entlang eines<br />
Richtungsvektors der gegebenen Ebene, danach<br />
(clock = 1..2) wird die Ebene aus dazu parallelen,<br />
entlang des anderen Richtungsvektors<br />
der Ebene verschobenen, Geraden konstruiert. In<br />
POV-Ray lässt sich dieses Vorgehen z. B. folgendermaßen<br />
realisieren:<br />
#declare a=;<br />
#declare b=;<br />
#declare P=;<br />
#if (clock
Andreas Filler, Heidelberg<br />
Abbildung 9.9: Sinus und Kosinus am Einheitskreis<br />
Eine Verallgemeinerung auf Kreise in Mittelpunktslage<br />
mit beliebigem Radius r ist leicht möglich,<br />
woraus die Parameterdarstellung<br />
x(a) = r · cosα<br />
y(a) = r · sinα<br />
mit α ∈ [0;2π) eines Kreises der Ebene, dessen<br />
Mittelpunkt <strong>im</strong> Koordinatenursprung liegt, hergeleitet<br />
werden kann. 8 Sollen verschiedene Größen<br />
an<strong>im</strong>iert werden, so ist es <strong>im</strong> Sinne der Übersichtlichkeit<br />
sinnvoll, das Intervall des An<strong>im</strong>ationsparameters<br />
(der Zeit) zu normieren und die obige Parameterdarstellung<br />
in der Form<br />
x(a) = r · cos(2π ∗ t)<br />
y(a) = r · sin(2π ∗ t)<br />
mit t ∈ [0;1) zu schreiben. Parameterdarstellungen<br />
von Kreisen, die <strong>im</strong> Raum auf Koordinatenebenen<br />
oder dazu parallelen Ebenen liegen, ergeben<br />
sich daraus, indem eine der drei Koordinaten<br />
als Konstante dargestellt wird, z. B. z(t) = h.<br />
Ausgehend von diesen Überlegungen können die<br />
Schüler eine An<strong>im</strong>ation einer kreisförmigen Bewegung<br />
generieren. In POV-Ray lässt sich z. B.<br />
durch die Anweisungen<br />
#declare r = 10<br />
sphere { < r*cos(2*pi*clock), 0,<br />
r*sin(2*pi*clock) > 1 }<br />
die An<strong>im</strong>ation einer Kugel auf einer Kreisbahn<br />
erzeugen. 9 Da <strong>für</strong> die Erlangung eines Überblicks<br />
über den Ablauf von An<strong>im</strong>ationen oft die<br />
Darstellung der verwendeten Bewegungsbahnen<br />
sinnvoll ist, kann zusätzlich die „Spur“ der Kugel<br />
dargestellt werden, so dass bei Betrachtung der<br />
An<strong>im</strong>ation sichtbar wird, welche Bahn das Objekt<br />
zurückgelegt hat. Die Vorgehensweise dazu<br />
entspricht der bereits <strong>für</strong> Geraden beschriebenen<br />
Erzeugung einer Vielzahl kleiner Kugeln (siehe<br />
Abb. 9.10); <strong>im</strong> Falle einer kreisförmigen Bahn z.<br />
B. mithilfe folgender Schleife:<br />
#declare i=0;<br />
#while (i 0.1 }<br />
#declare i=i+1;<br />
#end<br />
Abbildung 9.10: Darstellung der Spur einer Kugel<br />
5.2 Kameraan<strong>im</strong>ationen<br />
Wird anstelle eines geometrischen Objektes die<br />
Position der „Kamera“, von welcher aus die Szene<br />
betrachtet wird, zeitabhängig beschrieben, so entsteht<br />
eine An<strong>im</strong>ation, bei der sich der Blick auf<br />
alle Objekte einer Szene verändert. So kann z. B.<br />
mittels<br />
camera { location<br />
< r*cos(2*pi*clock), 4,<br />
r*sin(2*pi*clock) ><br />
angle 12 look_at }<br />
in POV-Ray ein Kameraflug auf einer kreisförmigen<br />
Bahn s<strong>im</strong>uliert werden, wobei die Kamera<br />
stets auf den Koordinatenursprung gerichtet<br />
bleibt. Einige Beispiele zu Kameraan<strong>im</strong>ationen<br />
befinden sich auf Filler (2005).<br />
Hinsichtlich der notwendigen mathematischen<br />
Überlegungen ist es unbedeutend, ob die Schüler<br />
die An<strong>im</strong>ation eines sich auf einer Kreisbahn bewegenden<br />
Objektes (z. B. einer Kugel) oder eine<br />
Kameraan<strong>im</strong>ation erstellen, bei der sich die Sicht<br />
auf eine gesamte Szene verändert; erfahrungsgemäß<br />
ist Letzteres <strong>für</strong> die Mehrzahl der Schüler<br />
interessanter. Um jedoch Bewegungskurven sichtbar<br />
werden zu lassen, empfiehlt es sich, nicht nur<br />
Kameraan<strong>im</strong>ationen zu erstellen, sondern in Ergänzung<br />
dazu auch sichtbare Objekte zu an<strong>im</strong>ieren.<br />
8 Durch die Addition von Mittelpunktskoordinaten lässt sich diese Parameterdarstellung auf beliebige Kreise in der Ebene verall-<br />
gemeinern: x(a) = r cosα + xM, y(a) = r sinα + yM<br />
9 Auch mithilfe der CAS Maple, Mathematica und MuPAD können An<strong>im</strong>ationen erstellt werden, eine sich auf einer Kreisbahn in<br />
einer zur xy-Ebene parallelen Ebene mit konstanter Winkelgeschwindigkeit bewegende Kugel mit dem Radius rk lässt sich in MuPAD<br />
z. B. durch plot::Sphere(rk, [r*cos(t),r*sin(t),h], t = 0..2*PI) an<strong>im</strong>ieren.<br />
68
Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen: Generieren von Bewegungsbahnen sowie<br />
von Geraden und Kurven als Punktmengen<br />
5.3 Variationen von Kreisen: Spiralen<br />
und Schraubenlinien<br />
Nach der Behandlung der Parametergleichungen<br />
von Kreisen liegt es nahe, durch geeignete Veränderungen<br />
daran „verwandte“ Kurven parametrisch<br />
zu beschreiben. Dazu lassen sich folgende Fragen,<br />
die von den Schülern zu erwarten sind, aufgreifen:<br />
• Wie kann die Kamera um ein Objekt kreisen<br />
und sich diesem gleichzeitig annähern?<br />
• Wie lässt sich bei einer kreisförmigen Bewegung<br />
der Kamera gleichzeitig deren Höhe ändern,<br />
so dass Objekte aus unterschiedlichen Höhen<br />
betrachtet werden.<br />
Natürlich lassen sich beide Fragen auch so stellen,<br />
dass sie den Verlauf von Kurven betreffen.<br />
Für die Realisierung der zuerst genannten Eigenschaft<br />
kann (zumindest mit Hilfen) von den Schülern<br />
herausgearbeitet werden, dass dazu die Konstante<br />
r, die <strong>für</strong> den Radius des zuvor betrachteten<br />
Kreises eingesetzt wurde, durch eine Funktion<br />
r(t) des sich zeitlich verändernden Parameters<br />
t ersetzt werden muss, z. B. durch r · (1 − t)<br />
, falls sich der Abstand zum Mittelpunkt <strong>im</strong> Verlauf<br />
der An<strong>im</strong>ation von r auf 0 verringern soll (<strong>für</strong><br />
t ∈ [0;1]). Durch diese Überlegung ergibt sich unmittelbar<br />
die Parameterdarstellung einer arch<strong>im</strong>edischen<br />
Spirale:<br />
x(t) = r(1 − t)cos(2πt)<br />
y(t) = r(1 − t)sin(2πt)<br />
z(t) = h .<br />
Auf dieser Grundlage können geometrische<br />
Objekte oder die Kamera entlang einer arch<strong>im</strong>edischen<br />
Spirale bewegt werden, wobei die oben <strong>für</strong><br />
kugelförmige Bahnkurven beschriebenen Befehle<br />
entsprechend zu variieren sind. Allerdings wird<br />
die Form der Spirale besser sichtbar, wenn zwei<br />
Umdrehungen durchlaufen werden, was durch Ersetzen<br />
von (2πt) durch (4πt) in den trigonometrischen<br />
Termen der Parameterdarstellung erreicht<br />
wird (siehe Abb. 9.11).<br />
Abbildung 9.11: Arch<strong>im</strong>edische Spirale<br />
Bei der Diskussion der o. g. zweiten Frage<br />
dürfte es den Schülern leicht fallen, zu erkennen,<br />
dass zur zeitabhängigen Veränderung der „Höhe“<br />
die vorher konstant gehaltene dritte Koordinate<br />
durch eine Funktion des Parameters zu ersetzen<br />
ist. Wird da<strong>für</strong> eine lineare Funktion gewählt (<strong>im</strong><br />
einfachsten Falle y = t bzw. z = t — je nachdem,<br />
welche Koordinate bei der Beschreibung von<br />
Kreisen konstant gehalten wurde), so entsteht aus<br />
der Kreisgleichung die Gleichung einer Schraubenlinie,<br />
z. B. <strong>für</strong> t ∈ [0,1]:<br />
x(t) = r cos(4πt)<br />
y(t) = t<br />
z(t) = r sin(4πt) .<br />
Abbildung 9.12: Schraubenlinie<br />
Durch die Kombination beider Überlegungen,<br />
die vom Kreis zur Spirale bzw. zur Schraubenlinie<br />
führten (parameterabhängige Beschreibungen des<br />
Radius und der „Höhe“ in der ursprünglichen Parameterdarstellung<br />
eines Kreises) entsteht bei Verwendung<br />
linearer Funktionen in t eine konische<br />
Spirale mit einer Parameterdarstellung der Form<br />
x(t) = r(1 − t)cos(4πt)<br />
y(t) = t<br />
z(t) = r(1 − t)sin(4πt) .<br />
69
Andreas Filler, Heidelberg<br />
Abbildung 9.13: Konische Spirale<br />
Weitere Variationen der bisher betrachteten<br />
Kurven ergeben sich aus der Verwendung nichtlinearer<br />
Funktionsterme in t <strong>für</strong> die Höhe bzw.<br />
den Radius. So kann die Aufgabe gestellt werden,<br />
die Parameterdarstellung der Schraubenlinie<br />
so zu verändern, dass sich deren Punkte zunächst<br />
sehr langsam und später schneller von denen<br />
des ursprünglichen betrachteten Kreises entfernen.<br />
Ebenso sind Variationen der arch<strong>im</strong>edischen<br />
Spirale möglich.<br />
Durch Multiplikation der trigonometrischen<br />
Terme in den Parameterdarstellungen mit unterschiedlichen<br />
Faktoren (anstelle eines einheitlichen<br />
Radius) ist auch die Erzeugung von Ellipsenbahnen<br />
sowie Bahnen auf „elliptischen Spiralen“ und<br />
„elliptischen Schraubenlinien“ möglich. 10<br />
Durch Variationen an Parameterdarstellungen<br />
von Kurven und die dadurch erfolgende Beschreibung<br />
„neuer“ Kurven ergeben sich reichhaltige<br />
Möglichkeiten <strong>für</strong> funktionale Überlegungen, bei<br />
denen die Schüler ausgehend von qualitativen Beschreibungen<br />
gewünschter Kurvenverläufe überlegen,<br />
durch welche Funktionsterme diese entstehen<br />
können und ihre Überlegungen mithilfe der<br />
Software überprüfen.<br />
5.4 Vektorielle Parameterdarstellungen<br />
— der schräge Wurf<br />
Sollen <strong>im</strong> Unterricht vektorielle Beschreibungen<br />
und Vorgehensweisen <strong>im</strong> Vordergrund stehen, so<br />
bietet es sich an, von Parameterdarstellungen von<br />
Geraden auszugehen. Wie bereits ausgeführt wurde,<br />
erhält der Parameter, wenn er als Zeit interpretiert<br />
wird, einen neuen Aspekt, der die geometrische<br />
Gestalt der beschriebenen Objekte nicht beeinflusst,<br />
aber Auswirkungen auf die Geschwindigkeit<br />
von Bewegungen hat. Bei der Arbeit mit<br />
An<strong>im</strong>ationen lassen sich somit Verbindungen zum<br />
Physikunterricht herstellen, funktionale Aspekte<br />
durch die Betrachtung unterschiedlicher Funktionen<br />
f(t), die den Zeitparameter ersetzen, vertiefen<br />
sowie einfache S<strong>im</strong>ulationen erstellen.<br />
Nach den gängigen Rahmenplänen werden<br />
<strong>im</strong> Physikunterricht der Sekundarstufe II Bewegungen<br />
vektoriell beschrieben, wobei der schräge<br />
Wurf Unterrichtsgegenstand ist. Dieser kann als<br />
eine aus einer gleichförmigen und einer gleichmäßig<br />
beschleunigten Bewegung zusammengesetzte<br />
Bewegung aufgefasst werden. Durch die Addition<br />
einer in t linearen Komponente und des mit<br />
t 2 multiplizierten Beschleunigungsvektors in der<br />
Gleichung<br />
�x =�x0 +�v ·t + 1<br />
�g ·t2<br />
2<br />
des schrägen Wurfes ergibt sich die Wurfparabel.<br />
Eine entsprechende An<strong>im</strong>ation lässt sich in POV-<br />
Ray durch die folgenden Anweisungen generieren.<br />
#declare x0 = ;<br />
#declare v0 = ;<br />
#declare g = ;<br />
sphere { x0 + v0*clock<br />
+ g/2*clock*clock 0.25}<br />
6 Fazit<br />
Abbildung 9.14: Wurfparabel<br />
Die vorgestellten Beispiele zeigen, dass es mit<br />
recht elementaren mathematischen Mitteln, die an<br />
den Unterricht der Sekundarstufe I anknüpfen,<br />
möglich ist, interessante Kurven zu modellieren<br />
und auf dieser Grundlage An<strong>im</strong>ationen zu erstellen.<br />
Allerdings darf die dazu erforderliche Zeit<br />
nicht unterschätzt werden. Selbst <strong>für</strong> relativ elementar<br />
erscheinende funktionale Überlegungen,<br />
die z. B. von Kreisen zu Spiralen oder Schraubenlinien<br />
führen, brauchten in von mir durchgeführten<br />
Seminaren auch Studierende recht lange —<br />
da sie diese Überlegungen als interessant empfanden<br />
und in Exper<strong>im</strong>entierfreude verfielen, waren<br />
sie jedoch bereit, relativ viel Freizeit da<strong>für</strong> aufzuwenden.<br />
Dies dürfte auch bei vielen Schülern<br />
der Fall sein, da die Erstellung interessanter Videos,<br />
wie mehrfach erwähnt, überaus motivierend<br />
<strong>für</strong> Jugendliche ist.<br />
10 Mit POV-Ray und MuPAD erstellte Beispiele mit An<strong>im</strong>ationen auf Ellipsenbahnen stehen (einschließlich der zugehörigen Beschreibungen,<br />
die sich natürlich vielfältig variieren lassen) <strong>im</strong> Internet (Filler, 2005) zur Verfügung.<br />
70
Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen: Generieren von Bewegungsbahnen sowie<br />
von Geraden und Kurven als Punktmengen<br />
Für die Beschreibung der geometrisch und<br />
auch hinsichtlich der Erstellung von Kameraan<strong>im</strong>ationen<br />
besonders interessanten Spiralen ist die<br />
Vektorrechnung nicht erforderlich; hier<strong>für</strong> ist es<br />
sinnvoller, mit Koordinatenbeschreibungen zu arbeiten.<br />
Allerdings sind auch ausgehend von vektoriellen<br />
Geradengleichungen interessante Überlegungen<br />
zu Bewegungsbahnen möglich. Aus mathematikdidaktischer<br />
Sicht halte ich den beschriebenen<br />
Gegenstandsbereich vor allem deshalb <strong>für</strong><br />
lohnenswert, weil die Beschäftigung damit anspruchsvolle<br />
Überlegungen zu funktionalen Zusammenhängen<br />
„anstößt“, die bei der gegenwärtig<br />
dominierenden Behandlung von Parameterdarstellungen<br />
<strong>im</strong> Unterricht oftmals nicht hinreichend<br />
auftreten.<br />
Die Veranschaulichung von Geraden, Ebenen<br />
und Kurven durch eine große Zahl von Punkten<br />
erfordert die Einbeziehung einiger typischer Inhalte<br />
der Informatik in den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
(Schleifen bzw. Prozeduren und <strong>für</strong> komplexere<br />
An<strong>im</strong>ationen auch Verzweigungen). Diese können<br />
anhand der behandelten Inhalte plausibel gemacht<br />
und genutzt werden, ohne dass da<strong>für</strong> ein zu großer<br />
Zeitaufwand betrieben werden müsste. Natürlich<br />
wäre es hierbei auch sinnvoll, mit dem Fach Informatik<br />
zu kooperieren, falls Schüler der unterrichteten<br />
Kurse den Informatikunterricht besuchen.<br />
Literatur<br />
Filler, Andreas (2001): Dreididemsionale Computergrafik und<br />
Analytische Geometrie, Vorschläge <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in der Sekundarstufe II. mathematica didactica,<br />
2, 21–56, URL http://www.ph-heidelberg.de/wp/<br />
filler/3D/frameie4.html<br />
Filler, Andreas (2005): 3D-Computergrafik und die Mathematik<br />
dahinter. URL http://www.afiller.de/3dcg<br />
MaDiN (2004): Didaktik der Oberstufengeometrie und Linearen<br />
Algebra. URL http://www.madin.net<br />
Tietze, U.-P. (2000): Didaktik der Analytischen Geometrie und<br />
Linearen Algebra (unter Mitarbeit von P. Schroth und Gerald<br />
Wittmann). In: Tietze, U.-P., M. Klika & H. Wolpers (Hg.):<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> in der Sekundarstufe II, Band 2, Vieweg<br />
Wittmann, Gerald (2003): Schülerkonzepte zur Analytischen<br />
Geometrie. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
71
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
72
• Krypto-logisch<br />
Dörte Haftendorn, Lüneburg<br />
Ohne PIN-Nummern, sicheren Datentransfer, digitale Signatur u.a. ist unsere Welt nicht mehr denkbar.<br />
Die moderne Kryptografie beruht auf Berechnungen modulo großer Pr<strong>im</strong>zahlen oder Pr<strong>im</strong>zahlprodukten.<br />
Sie hat ihre Wurzeln damit in Algebra und Zahlentheorie, ist aber schon mit überschaubaren<br />
Pr<strong>im</strong>zahlen ohne Computer nicht zu bewältigen. Zentrale algorithmische Anforderungen liegen<br />
be<strong>im</strong> erweiterten Euklidischen Algorithmus und be<strong>im</strong> Potenzieren <strong>im</strong> Modul. <strong>Informatische</strong> Aspekte<br />
sind also die Entwicklung von entsprechenden Funktionen. Die großen CAS können das, <strong>für</strong> den<br />
TI voyage werden Lösungen vorgestellt. Auch die Abarbeitung eines kryptografischen Protokolls ist<br />
ein Algorithmus <strong>im</strong> klassischen Sinn.<br />
Der Vortrag beruht auf Erfahrungen <strong>im</strong> Informatikunterricht des Gymnasiums und in Vorlesungen<br />
<strong>für</strong> Lehramtsstudierende. Für letztere dient die Kryptografie als Ziel und Sinngebung <strong>für</strong> die Themen<br />
„Algebra und Zahlentheorie“. Es ist faszinierend wie hier ein gesellschaftlich außerordentlich<br />
wichtiges Thema in schulisch überschaubarem mathematischen Handeln transparent wird.<br />
1 Mathematische Grundlagen<br />
des RSA-Verfahrens<br />
In der Kryptografie werden Pr<strong>im</strong>zahlen in der<br />
Größenordnung von 150 dez<strong>im</strong>alen Stellen verwendet.<br />
Die Sicherheit der Verfahren beruht darauf,<br />
dass das Produkt aus zwei solchen Pr<strong>im</strong>zahlen<br />
nicht effektiv wieder zerlegt werden kann.<br />
Im Folgenden wird das Vorgehen mit kleinen<br />
Pr<strong>im</strong>zahlen verdeutlicht. Sei da<strong>für</strong>p = 11,q =<br />
13,n = pq = 143. Aus den Restklassen modulo n<br />
werden die zu n teilerfremden zu der Menge Z∗ n<br />
zusammengefasst, mit der Multiplikation modulo<br />
n bilden diese die „pr<strong>im</strong>e Restklassengruppe“.<br />
Sie enthält ord(Z∗ n ) = ϕ(n) = (p − 1)(q − 1) Elemente.<br />
Hier fallen aus den Zahlen bis 143 die 11-<br />
Vielfachen und die 13-Vielfachen weg, es bleiben<br />
ϕ(143)= 10·12= 120 Teilerfremde. In allen endlichen<br />
Gruppen G gilt a ∈ G ⇒ aord(G) = 1, also<br />
hier a ∈ Z∗ n ⇒ aϕ(n) = 1 (Eulerscher Satz, Begr.<br />
s.u.).<br />
Daher kann man in den Exponenten modulo<br />
ϕ := ϕ(n) rechnen. Das reduziert die Exponenten<br />
in der Größe, denn<br />
a 247 ≡a 7<br />
(mod 143).<br />
Viel wichtiger <strong>für</strong> die Kryptografie ist aber, dass<br />
die Exponenten, die teilerfremd zu ϕ sind, Inverse<br />
modulo ϕ haben. In diesem Beispiel gilt <strong>für</strong> alle<br />
a ∈ Z ∗ n nämlich<br />
a 7·103 ≡ a 721 ≡ � a 120�6 a 1 = 1 6 · a = a .<br />
Nun wählt man also be<strong>im</strong> RSA-Verfahren<br />
einen „öffentlichen Schlüssel“ e ∈ Z∗ ϕ. Weil<br />
�<br />
Z∗ ϕ,· � eine Gruppe ist, gibt es das Inverse d ∈ Z∗ ϕ<br />
mit ed = 1 in Z∗ ϕ . Also gilt <strong>für</strong> eine Nachricht<br />
m ∈ Z∗ n <strong>im</strong>mer med = m in Z∗ n.<br />
Man beschafft d aus e und ϕ mit dem erweiterten<br />
euklidischen Algorithmus, der die „Vielfachsummendarstellung“<br />
1 = de+ tϕ ≡ de (mod ϕ)<br />
erzeugt. Man veröffentlicht e und n und hält d gehe<strong>im</strong>.<br />
Im RSA-Protokoll ist c = m e ,m ∈ Z ∗ n die verschlüsselte<br />
Nachricht (message), die der Empfänger<br />
durch Potenzierung mit dem gehe<strong>im</strong>en d entschlüsseln<br />
kann:<br />
c d = (m e ) d = m ed = m 1 = m<br />
Bei der digitalen Signatur wird von dem Signierenden<br />
mit d potenziert, von dem Verifizienden<br />
mit dem öffenlichen Schlüssel e. Alle Rechungen<br />
finden modulo n statt.<br />
2 Didaktische Aspekte<br />
Je nachdem, in welchen Zusammenhang man eine<br />
Lehreinheit zur Kryptografie stellen möchte, ergeben<br />
sich natürlich jeweils andere Schwerpunkte.<br />
Ganz sicher aber müssen Pr<strong>im</strong>zahlen, Teilbarkeit<br />
und ggT thematisiert werden. Bei letzteren ist die<br />
Beschaffung aus dem Euklidischen Algorithmus<br />
unerlässlich, da man mit ihm durch Rückwärtsarbeiten<br />
an die Vielfachsummendarstellung herankommt.<br />
Diesen Algorithmus sollen die Lernenden<br />
„von Hand“ können, aber <strong>für</strong> eine sinnvollen Arbeit<br />
mit kryptografischen Protokollen muss unbedingt<br />
ein CAS eingesetzt werden (s.u.). Als zweites<br />
Standbein der Kryptografie ist das Rechnen<br />
in Restklassenringen zu erarbeiten. Erfahrungsgemäß<br />
wird das schnell verstanden. Allgemeinere<br />
Stukturüberlegungen sind nicht unbedingt nötig,<br />
gehören aber in der Lehrerausbildung sicher dazu.<br />
Der Begriff „Ordnung eines Gruppenelementes<br />
a“ als kleinste Zahl k mit a k = 1 kann ebenso<br />
wie die Tatsache, dass die Elementordnung<br />
die Gruppenordnung teilt, aus der Betrachtung<br />
von Potenzen-Tafeln der Pr<strong>im</strong>en Restklassengruppe<br />
Z ∗ n gewonnen werden. Bildet man die Nebenklassen<br />
g · 〈a〉 der von einem Element a erzeugten<br />
Untergruppen und überlegt, dass sie alle gleiche<br />
Elementzahl haben, dann ist der Eulersche<br />
73
Dörte Haftendorn, Lüneburg<br />
Abbildung 10.1: Potenztafel der pr<strong>im</strong>en Restklassengruppe und Berechnungen in dieser<br />
Satz (s.o.) bewiesen. Rückgriffe auf gruppentheoretische<br />
Ergebnisse, die den Lernenden nicht einleuchten,<br />
sind — entgegen häufiger Formulierung<br />
in Büchern — nicht nötig. Mit diesem „Rüstzeug“<br />
können mindestens fünf wichtige kryptografische<br />
Verfahren verstanden werden, ebenso auch digitale<br />
Signatur, Zertifizierungen und elektronisches<br />
Geld. Dies ist eine hinreichend breite Palette, die<br />
auch Klausuren u.ä. erlaubt.<br />
3 Algorithmische Aspekte <strong>im</strong><br />
Hinblick auf die Lehre<br />
Der erweiterte Euklidische Algorithmus ist sowieso<br />
lehrreich, muss aber hier als CAS-Befehl vorliegen.<br />
Für den TI voyage hat die Autorin ein<br />
Progamm entwickelt (Haftendorn, 2005), ein Informatikkurs<br />
könnte dies als eine Aufgabe bekommen.<br />
Durchaus algorithmisch interessant sind<br />
ja auch schon die Erzeugung passender Mengen,<br />
Folgen und Tafeln wie oben bei der Potenzentafel<br />
gezeigt. Auch zu Pr<strong>im</strong>zahltest sollten zumindest<br />
Überlegungen angestellt werden.<br />
Die Sicherheit der modernen Kryptografie beruht<br />
ja auf der Unmöglichkeit, Zahlen von weit<br />
über 200 Stellen effektiv in ihre Faktoren zu zerlegen.<br />
Da muss man auch anders als man es bei<br />
kleinen Zahlen macht entscheiden können, ob eine<br />
150 Stellen lange Zahl Pr<strong>im</strong>zahl ist oder nicht.<br />
Schulisch leicht erreichbar ist der „Kleine Fermatsche<br />
Satz“ als Spezialfall des Eulerschen Satzes<br />
(s.o.): Für p pr<strong>im</strong> gilt<br />
a < p ⇒ ϕ(p) = (p − 1) ⇒ a p−1 ≡ 1 (mod p)<br />
Diese letzte (notwendige aber nicht hinreichende)<br />
Bedingung ist algorithmisch und auch von den<br />
Lernenden leicht zu prüfen. Ist sie verletzt, kann p<br />
keine Pr<strong>im</strong>zahl sein.<br />
Als ganz wichtig erweist sich ein geschickter<br />
Umgang mit der Potenzierung <strong>im</strong> Modul,<br />
denn auch bei recht kleinen Zahlen sprengen<br />
die Potenzen schnell den Bereich <strong>für</strong> eine exakte<br />
Zahldarstellung. In obigem Beispiel könnte<br />
127 103 mod 143 vorkommen und es ist klar, dass<br />
man nicht erst die 216 dez<strong>im</strong>alen Stellen der Potenz<br />
berechnen sollte, bevor man den Rest modulo<br />
74<br />
143 best<strong>im</strong>mt. Die CAS halten den Befehl „Powermod“<br />
bereit, <strong>für</strong> den TI voyage muss er programmiert<br />
werden. Die Idee ist, iterativ zu quadrieren,<br />
stets sofort modular herunterzubrechen<br />
und nur gewisse Zwischenergebnisse als Faktoren<br />
in die sich so bildende Potenz aufzunehmen. Und<br />
zwar denkt man sich den Exponenten als Dualzahl<br />
geschrieben, die man rechts beginnend durchgeht,<br />
und man fügt genau dann ein, wenn man eine 1<br />
liest.<br />
Des Weiteren muss die Überführung einer<br />
Wortnachricht in eine Zahl (und zurück) thematisiert<br />
werden. Es eignet sich eine geschickte Ausnutzung<br />
des ASCII-Codes.<br />
Die kryptografischen Verfahren selbst sind Algorithmen<br />
<strong>im</strong> klassischen Sinn. Sie haben meist<br />
eine Schlüsselerzeugungsphase und eine Anwendungsphase.<br />
Manchmal, wie zum Beispiel be<strong>im</strong><br />
Diffie-Hellmann-Verfahren, wird ein Schlüssel erzeugt,<br />
der dann <strong>für</strong> ein ganz anderes Verfahren<br />
verwendet wird. Jedenfalls ist die schrittweise<br />
Duchführung „von Hand“ unterrichtlich unentbehrlich.<br />
„Von Hand“ heißt hier mit einem Werkzeug,<br />
das „ggt-erweitert“ und „powermod“ ausführen<br />
kann.<br />
Als nächste Stufe sind kommentierte CAS-<br />
Dateien oder Tutorskripten be<strong>im</strong> TI voyage hilfreich<br />
(Haftendorn, 2005). Ihre Erstellung ist auch<br />
als Aufgabe höchst sinnvoll.<br />
Zu den klausurfähigen Kompetenzen sollte die<br />
Interpretation und die Erstellung solcher Texte gehören.<br />
Auch eine graphische Verdeutlichung, wer<br />
was rechnet, was wem bekannt ist, wer was wem<br />
schickt u.s.w. ist alles andere als trivial. Ein Informatikkurs<br />
könnte auch ein Programm erstellen,<br />
das das Verfahren vollständig „durchzieht“. Für<br />
alle anderen Lernenden halte ich das Arbeiten mit<br />
fertigen „Tools“ zumindest <strong>für</strong> den Anfang nicht<br />
<strong>für</strong> so sinnvoll, da dabei das Vorgehen zu stark<br />
verborgen wird (z.B. Uni Siegen & Uni Darmstadt,<br />
2005). Hat man aber <strong>für</strong> das oben Dargestellte<br />
zeitlich oder curricular gar keinen Platz, so<br />
ist die erläuterte Anwendung so eines Tools noch<br />
um ein Vielfaches besser als die Vermeidung dieses<br />
Themas.<br />
Die klassische Kryptografie (Alphabet-
Verschiebungen u.ä.) ist allenfalls <strong>für</strong> sehr junge<br />
Lernende oder als Einstieg sinnvoll. Es handelt<br />
sich ausschließlich um Historie. Man mache<br />
sich klar, dass die mit moderner Kryptografie verschlüsselten<br />
Texte keinerlei „Muster“ aufweisen,<br />
die man irgendwie doch herauskriegen könnte.<br />
Angreifen kann man ausschließlich mit mathematischen<br />
Vorgehensweisen in Modulringen.<br />
4 <strong>Gesellschaft</strong>liche Aspekte<br />
„Kryptografie umgibt uns“ könnte man pointiert<br />
sagen. Jedenfalls ist kein anderes mathematisches<br />
Teilgebiet in unser Welt so allgegenwärtig. Die<br />
gute alte Geldbörse mutiert schon zur einer Kartenbibliothek,<br />
jede solche Karte kommuniziert in<br />
der Sprache der Kryptografie mit dem Automaten,<br />
in den sie gesteckt wird, dieser sendet und empfängt<br />
verschlüsselte Daten von seinem Auftraggeber.<br />
Be<strong>im</strong> Handy-Telefonieren, be<strong>im</strong> Internetein-<br />
Krypto-logisch<br />
kauf, be<strong>im</strong> Online-Banking, bei der Software —<br />
überall geht es um Autentifizierung, sicheren Datentransport,<br />
Zertifizierung — um kryptografische<br />
Anwendungen.<br />
Es wird Zeit, dass sich jede mathematische<br />
Ausbildung diesen Fragen stellt, insbesondere<br />
dürfte es heute keine Mathematiklehrerausbildung<br />
mehr ohne Kryptografie geben. Mindestens die<br />
Mathematik-Lehrenden müssen die Kompetenz<br />
erwerben, das Thema altersgemäß und verständlich<br />
zu unterrichten, die Lernenden handelnd einzubeziehen<br />
und ihnen das Gefühl zu vermitteln,<br />
<strong>für</strong>?s Leben etwas gelernt zu haben.<br />
Literatur<br />
Haftendorn, Dörte (2005): Kryptografie. URL http://<br />
www.mathematik-verstehen.de<br />
Uni Siegen & Uni Darmstadt (2005): URL http://www.<br />
cryptool.de<br />
75
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
76
• Strukturieren mit Algorithmen<br />
Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
„Algorithmen“ <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> werden zurecht kritisch gesehen; Mathematik treiben lässt<br />
sich nicht darauf reduzieren, den richtigen Algorithmus zu identifizieren und dann „ablaufen“ zu<br />
lassen. Es ist nicht einzusehen warum Verfahren, die eine Maschine problemlos durchführen kann,<br />
überhaupt in Mathematik gelehrt werden sollen – oder doch?<br />
Dieser Artikel soll das (Auswendig-)Lernen und Ausführen von Algorithmen einem sinnvollen Einsatz<br />
von Algorithmen gegenüber stellen. Dazu gehört, dass Strukturen sichtbar gemacht werden, die<br />
ohne Algorithmus verborgen blieben, Modelle erschlossen werden, deren Eigenschaften ohne Algorithmus<br />
unklar blieben, und Grundbegriffe isoliert werden, da sie als Basis-Bausteine <strong>für</strong> Algorithmen<br />
dienen. Es wird ebenso diskutiert, welche Rolle das Programmieren <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
dabei spielen kann.<br />
1 Algorithmen in der Schule?<br />
Dieser Artikel soll unterstreichen, dass „algorithmisches<br />
Denken“ <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> dabei<br />
helfen kann Mathematik in vielfältiger Weise<br />
zu strukturieren. Schülerinnen und Schüler, aber<br />
auch Lehrerinnen und Lehrer können über Algorithmen<br />
mathematische Probleme und ihre Lösungen<br />
wirklich durchdringen. Man mag meinen,<br />
dass Algorithmen — als maschinennahe Beschreibung<br />
von Lösungswegen —, Schülerinnen und<br />
Schüler eher zur maschinenartigen, unkreativen,<br />
ja unmenschlichen Abarbeitung von mathematischen<br />
Problemen erziehen, doch mit Bedacht und<br />
Verstand eingesetzt ist, nach Auffassung des Autors,<br />
das Gegenteil möglich.<br />
Algorithmen liefern damit einen großen Beitrag<br />
zur standardmäßig geforderten Problemlösekompetenz<br />
und zum mathematischen Modellieren<br />
(KMK, 2003). Zugleich binden Sie die Schulmathematik<br />
wieder an die „echte“ und angewandte<br />
Mathematik an. Das Kopfrechnen hat seinen Platz<br />
zu recht gegenüber dem Taschenrechner verteidigen<br />
können, doch wenn wir die Möglichkeit haben,<br />
die Mathematik so <strong>im</strong> Unterricht zu unterrichten,<br />
wie sie in der „realen Welt“ gebraucht<br />
wird, und dabei gleichzeitig noch wunderbare,<br />
interessante, anregende Anknüpfungspunkte <strong>für</strong><br />
geistige Herausforderungen geboten bekommen,<br />
dann müssen wir zugreifen!<br />
2 Rezepte oder Algorithmen?<br />
Freudenthal (1972, S. 25) schreibt, nach einer<br />
Analyse der Schlampigkeiten in der mathematischen<br />
Sprache, und der Vermutung, dass bessere<br />
sprachliche Mittel zu einer besseren Vermittlung<br />
von Mathematik führen:<br />
Ich sagte schon, daß die Vervollkommnung<br />
der mathematischen<br />
Sprache ungehemmt weitergeht. Der<br />
Endzustand wäre eine Sprache, die<br />
so exakt ist, daß eine Rechenmaschine<br />
sie hantieren kann. [. . . ] Wollen<br />
und weiter<br />
wir jemandem etwas mitteilen, so erspart<br />
es uns viel Mühe, wenn wir mit<br />
seinem wohlwollenden Verständnis<br />
rechnen können. [. . . ]<br />
Inzwischen möchte ich aber schon<br />
sagen, daß das Formalisieren, wenn<br />
auch bis jetzt meist innerhalb der Mathematik<br />
geübt, sich in der Zukunft<br />
als die am wirksamsten transferable<br />
Tätigkeit des Mathematikers erweisen<br />
wird.<br />
Tatsächlich ist die Beherrschung von formalen<br />
Sprachen und die Formalisierung auch nichtmathematischer<br />
Situationen seit vielen Jahren das<br />
Hauptargument <strong>für</strong> die Einstellung von Mathematikern.<br />
Selbst eine gewisse Weltfremdheit wird<br />
gern verziehen. Dennoch, wir unterrichten nicht<br />
Mathematik, um aus Menschen Mathematiker zu<br />
machen (selbst wenn diese bessere Einstellungschancen<br />
haben)!<br />
Zu der damaligen Zeit war die ubiquitäre Verbreitung<br />
des Computers noch fern der Realität, 30<br />
Jahre später hingegen sind die Computer allgegenwärtig.<br />
Computer beherrschen inzwischen nicht<br />
mehr nur die Berufswelt, sondern auch große Teile<br />
des Privatlebens. Moderne Telefone sind weitaus<br />
leistungsfähiger als die „Rechenmaschinen“ der<br />
1970er Jahre. Insofern ist die Beherrschung dieser<br />
Maschinen <strong>für</strong> die Entwicklung mündiger Menschen<br />
unerlässlich.<br />
Algorithmen werden oft auch als Rezepte bezeichnet,<br />
und gerade das rezepthaftige an Algorithmen<br />
gibt <strong>im</strong> Kontext des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
Anlass zu Kritik. Anstatt ein Problem zu<br />
verstehen, eine Lösung zu beherrschen, arbeiten<br />
die (schwächeren) Schülerinnen und Schüler<br />
ein Rezept ab, welches meist zur korrekten Lösung<br />
führt. Mathematik beherrscht man also dann,<br />
wenn man zu einer Aufgabe meistens das richtige<br />
Rezept auswählt, und dann sorgfältig abarbeitet?!?<br />
— gewiss nicht!<br />
77
Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
In diesem Artikel soll zwischen Algorithmen<br />
und Rezepten unterschieden werden. Zu den Rezepten<br />
zählen alle Lösungsstrategien, die ohne<br />
weiteres Nachdenken oder tieferes Durchdringen<br />
benutzt werden können, um eine – nicht unbedingt<br />
korrekte – Antwort auf eine Frage zu erhalten. Algorithmen<br />
sind hinreichend formale Vorschriften<br />
zur Lösung von klar definierten Problemen, mit<br />
Anforderungen an die zur Anwendung (Verarbeitung)<br />
notwendigen Informationen (Eingabe) und<br />
erwünschte Ergebnisse (Ausgabe). An drei Beispielen<br />
möchte ich ausführen, in welchen Situationen<br />
solche Algorithmen auftauchen und wie sie<br />
<strong>im</strong> Unterricht verwendet werden können.<br />
2.1 Strukturieren mit Algorithmen<br />
N<strong>im</strong>mt man ein Standardwerk <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in der fünften Klasse zur Hand, so<br />
kann man dort die offizielle 1 Einführung der Rechenregeln<br />
<strong>für</strong> Terme finden. Ein Beispiel findet<br />
sich in Abb. 11.1.<br />
Diese Regeln decken sich mit dem, was bei<br />
den meisten Erwachsenen noch aus der Schulzeit<br />
in Erinnerung bleibt — „Klammern zuerst“,<br />
„Punkt vor Strich“ —, die Regel „von links nach<br />
rechts“ bleibt allerdings schon oft auf der Strecke,<br />
es ist ja auch zu offensichtlich, und wenn nicht,<br />
dann ist es auch meist nicht schl<strong>im</strong>m, die Regel zu<br />
ignorieren. Die Beispiele in Abb. 11.1 zeigen das<br />
sehr schön; nur bei Beispiel (d) muss man wirklich<br />
aufpassen, und weil man das gern vergisst, wird<br />
man dort auch noch einmal erinnert.<br />
Abbildung 11.1: Rechenregeln in Welt der Zahl,<br />
5. Klasse<br />
Auffällig ist, dass diese Regeln nur dann funktionieren<br />
können, wenn max<strong>im</strong>al ein Klammerpaar<br />
in einer Aufgabe vorkommt — die bessere<br />
Formulierung „Klammern von innen nach außen<br />
auflösen“ könnte hier helfen. Das muss sie aber<br />
gar nicht, denn keine Übungsaufgabe in diesem<br />
Buch stellt die Lernenden vor diese Schwierigkeit,<br />
so dass hier glücklicherweise (?) keine Probleme<br />
zu erwarten sind.<br />
Ob die Regeln wirklich verstanden worden<br />
sind, lässt sich am besten durch Umkehraufgaben<br />
wie folgt überprüfen:<br />
Setze Klammern, so dass die Gleichung st<strong>im</strong>mt:<br />
10+2+7·10+50 · 4= 600<br />
Nahezu allen Schülerinnen und Schülern ist<br />
klar, welche Rechenreihenfolge richtig wäre, aber<br />
nur wenige können die Klammern richtig setzen! 2<br />
Die interessanteste Lösung ist sicher diese:<br />
(10+(2+7) · 10)(+)50 · 4= 600<br />
— die Klammern um das Plus-Zeichen sollen da<strong>für</strong><br />
sorgen, „dass das zuerst gerechnet wird“, also<br />
vor der Multiplikation mit 4.<br />
Die Regeln des Schulbuches sind tatsächlich<br />
nicht nur unsauber formuliert, sondern ganz und<br />
gar unbrauchbar, insbesondere sobald es um Aufgaben<br />
mit mehreren Klammern geht. Die durch<br />
die Nummerierung suggerierte Reihenfolge ist<br />
hinfällig, je nach Term muss zuerst Regel 2 oder<br />
Regel 1 oder Regel 3 beachtet werden — eine Katastrophe,<br />
denn die Regeln sollten doch auf eine<br />
nachvollziehbare Art und Weise die Konstruktion<br />
der Rechenreihenfolge beschreiben!<br />
Wie sähen denn richtige Regeln aus? Hier sei<br />
wieder Freudenthal (1972, S. 270) zitiert, der unter<br />
der Überschrift „Die Sprache der algebraischen<br />
Formeln“ folgendes Regelwerk angibt, welches<br />
nicht aus sukzessiv auszuführenden Anweisungen<br />
besteht, sondern aus gleichzeitig zu beachtenden<br />
Prinzipien:<br />
Prinzip A „Man führe alles hintereinander aus,<br />
wie es geschrieben steht, von links nach<br />
rechts.<br />
Prinzip B Man schreibe, was abweichend von<br />
der linearen Ordnung zusammengehören<br />
soll, untereinander.<br />
Prinzip C Überstrichenes gehört zusammen<br />
Prinzip D Klammerpaare umschließen Zusammengehöriges<br />
Prinzip E Gewisse algebraische Operationen bewirken<br />
Zusammengehörigkeit<br />
Prinzip F Gewisse Interpunktionen bewirken<br />
Trennung<br />
Die Aufzählung sollte klarmachen, daß die Formelsprache<br />
durchaus nicht so einfach ist, wie man<br />
gerne glaubt.“<br />
Zur Erläuterung: Prinzip B bezieht sich zum<br />
Beispiel auf Brüche, die die neue Reihenfolge<br />
auch grafisch „bündeln“ ; Prinzip C bezieht sich<br />
auf Wurzeln oder die (in der Schule selten anzutreffende)<br />
Konjugation.<br />
Prinzip E spiegelt die „Punkt vor Strich“ -<br />
Regel wieder. Hier findet sich auch die Erklärung,<br />
1 Viele Schülerinnen und Schüler haben diese Regeln bisher intuitiv angewendet oder in früheren Klassen bereits kennen gelernt<br />
2 Vielen Dank an Angelika Marschall und die Klasse 5a der Rückert-Schule in Berlin-Schöneberg, wo ich diese Aufgabe beobach-<br />
ten durfte.<br />
78
warum diese Regel wirklich sinnvoll ist: Spricht<br />
man von drei Kühen, so multipliziert man eine<br />
Kuh mit 3 — und das sollte besser nicht getrennt<br />
werden. Denn drei Kühe und vier Schafe sind best<strong>im</strong>mt<br />
nicht vier Schafe, zu denen sich drei Kuh-<br />
Schafe 3 gesellen, oder in Zeichen:<br />
3 · K + 4 · S �= ((3 · K)+4) · S)= (3KS)+(4S)!<br />
Algorithmisches Auswerten von Termen<br />
Man kann also zust<strong>im</strong>men: „Das System ist viel<br />
komplizierter.“ (Freudenthal, 1972, S. 270)<br />
Dies sollte uns aber nicht verleiten, dieses System<br />
zu unterrichten; der Erfolg eines solchen Ansinnens<br />
ist vorhersagbar gering, und ob <strong>für</strong> ein<br />
späteres erfolgreiches Mathematik-Leben dieses<br />
Regelwerk notwendig ist, mag bezweifelt werden.<br />
Was wir aber aus diesen Prinzipien lernen können,<br />
ist, dass ein einfaches System von hintereinander<br />
anzuwendenden Regeln nicht funktioniert<br />
und <strong>für</strong> schwächere Schülerinnen und Schüler —<br />
nur um die geht es — keine Hilfe und Orientierung<br />
bietet, sondern nur ein Überlebensrezept <strong>für</strong><br />
den Unterricht, mit dem einfache Aufgaben meist<br />
gelöst werden können, schwierige manchmal, und<br />
das mathematische Verständnis umgangen wird.<br />
Daher werden diese Kinder spätestens dann, wenn<br />
sie Anwendungsaufgaben mit selbst aufgestellten<br />
Formeln bearbeiten sollen, und die Formeln nicht<br />
Regel-kompatibel sind, scheitern; dies kann man<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> der höheren Klassen regelmäßig<br />
beobachten.<br />
Wie kann hier der Computer helfen? Immerhin:<br />
die Auswertung von Funktionstermen scheinen<br />
Computer zu beherrschen, auch in der richtigen<br />
Reihenfolge. Und dies geht nicht über die Formulierung<br />
von allgemeinen Prinzipien, sondern<br />
über festgelegte, sequentielle Algorithmen!<br />
Hier haben wir den klaren Bezug zur Informatik:<br />
korrekte Klammerungen sind ein Standardbeispiel<br />
<strong>für</strong> Gebilde, die sich nicht mehr durch sog.<br />
reguläre Ausdrücke beschreiben lassen, sondern<br />
nur durch das höhere Konstrukt der kontextfreien<br />
Grammatiken (Hopcroft et al., 2002).<br />
Genau diese kontextfreien Grammatiken können<br />
auch als Grundlage <strong>für</strong> Parser benutzt werden,<br />
also <strong>für</strong> Programme, die die Syntax von<br />
(Computer-)Sprachen überprüfen und die vorgegebenen<br />
Texte zur Weiterverarbeitung strukturieren<br />
können.<br />
Wir können nun die Arbeitsweise dieser Parser<br />
zu Rate ziehen, ohne dass wir genau auf die<br />
Programmierung eingehen müssen. Die Beschreibung<br />
einer kontextfreien Grammatik basiert auf<br />
Ersetzungsregeln, die verwendet werden dürfen,<br />
Strukturieren mit Algorithmen<br />
um Schritt <strong>für</strong> Schritt aus einem Startsymbol einen<br />
komplexeren Ausdruck abzuleiten. Für Terme ist<br />
die entscheidende Regel von der Form:<br />
T −→ ’(’ T ’)’<br />
— umgangssprachlich formuliert: „Ein Term darf<br />
durch den selben Term in Klammern ersetzt werden.“<br />
Die Auswertung eines Terms an sich besteht<br />
aus einem Funktionsaufruf, der die vielen verschiedenen<br />
Möglichkeiten der Zusammensetzung<br />
eines Termes prüft, und dann entscheidet, welche<br />
Ersetzungsregel vermutlich angewandt wurde. Im<br />
Fall eines geklammerten Termes wird also in dieser<br />
Funktion zur Auswertung des Termes selbst<br />
wieder die Funktion zur Auswertung des Termes<br />
aufgerufen, da das T auch auf der rechten Seite<br />
der Ersetzungsregel auftaucht. Es handelt sich also<br />
um einen rekursiven Aufruf!<br />
Klammergebirge<br />
Ruft eine Funktion sich selbst wieder auf, so muss<br />
da<strong>für</strong> gesorgt werden, dass der erneute Durchlauf<br />
durch diese Funktion in „frischem Speicher“<br />
durchgeführt wird, ein neuer Speicherbereich<br />
muss reserviert werden. 4 Die Anzahl der ineinander<br />
verschachtelten Aufrufe nennt man die<br />
Rekursionstiefe: Diese wird um eins erhöht, wenn<br />
man die Funktion rekursiv aufruft, und um eins<br />
erniedrigt, wenn man aus einem Funktionsaufruf<br />
wieder zurückkehrt. In dem Beispiel von oben:<br />
T −→ ’(’ T ’)’<br />
wird unmittelbar nach einer öffnenden Klammer<br />
die Funktion <strong>für</strong> T aufgerufen, und direkt nach der<br />
Rückkehr wird die schließende Klammer erwartet.<br />
Wir dürfen also auch die Klammern als Markierung<br />
<strong>für</strong> die Erhöhung bzw. Erniedrigung der<br />
Rekursionstiefe heranziehen!<br />
Dies kann man ganz einfach graphisch darstellen.<br />
Haben wir einen Term, zum Beispiel (98 −<br />
(20 − 4 · 3 − 2)) · 3, so wechseln wir bei jeder<br />
Klammer entweder in eine höhere oder niedrigere<br />
Zeile: 5<br />
20-4·3-2<br />
98-( )<br />
( )·3<br />
Damit haben wir in der ersten Zeile eine einfache<br />
Rechnung, die nur mit den bereits bekannten<br />
Regeln „von links nach rechts“ und „Punkt vor<br />
Strich“ bewältigt werden kann. Schreibt man nun<br />
das Ergebnis in die freie Stelle der nächsten Zeile<br />
—<br />
3 oder wie auch <strong>im</strong>mer man das Produkt aus einer Kuh und einem Schaf nennen mag<br />
4 Daher muss eine Funktion auch irgendwann die Rekursion beenden, sonst ist der Computerspeicher bald voll!<br />
5 Es ist egal, ob die Klammer bereits mit die Zeile wechselt oder noch nicht, man sollte es nur einheitlich handhaben. Arbeitet man<br />
auf Papier kann man die Klammer auch über zwei Zeilen verteilen.<br />
79
Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
20-4·3-2<br />
98-( 6 )<br />
( )·3<br />
— so erhält man eine einfache Aufgabe in der<br />
zweiten Zeile, und, nachdem kann das Ergebnis<br />
dieser Aufgabe dann in die dritte Zeile übernehmen,<br />
so dass das Endergebnis 92 · 3 = 288 schnell<br />
gefunden ist.<br />
Abbildung 11.2: Ein geschriebenes Klammergebirge<br />
Der Algorithmus kann auf Papier (Abb. 11.2)<br />
durchgeführt werden, aber auch ganz genauso<br />
händisch, zum Beispiel mit Duplo-Steinen<br />
(Abb. 11.3).<br />
Abbildung 11.3: Ein gebautes Klammergebirge<br />
Didaktische Überlegungen<br />
Wir benutzen also hier die Kernidee eines Algorithmus,<br />
ohne ihn weiter ausführen zu müssen,<br />
um eine Hilfestellung zu Berechnung von<br />
Klammerausdrücken zu geben. Diese Hilfestellung<br />
ist aus verschiedenen Gründen methodisch/didaktisch<br />
wertvoll:<br />
• Der Algorithmus kann von Schülerinnen und<br />
Schülern auf jedem Wissensstand angewandt<br />
werden; die einfachen Vorschriften stellen keine<br />
neue Hürde dar.<br />
• Die Anwendung des Algorithmus ist ein handelnde<br />
Tätigkeit. Die mechanische Durchführung<br />
bewirkt, dass die Schülerinnen und Schüler<br />
die Klammerauflösung nicht nur denkend, sondern<br />
auch enaktiv erleben.<br />
• Zusätzlich zur symbolischen Repräsentation des<br />
Klammerausdruck in einer Zeile erzeugt der Algorithmus<br />
eine Visualisierung. Diese unterstützt<br />
80<br />
die Bildung eines korrespondierenden mentalen<br />
Modells <strong>für</strong> Terme (supplantation, siehe auch<br />
Vogel, 2006).<br />
• Die verwendeten Symbole sind die gleichen<br />
Symbole, die auch in der Standardnotation verwendet<br />
werden. Es gibt daher keinen zusätzlichen<br />
Lernaufwand <strong>für</strong> eine neue oder andere<br />
symbolische Beschreibung!<br />
• Es sind keine zusätzlichen Werkzeuge notwendig,<br />
auch kein Computer, sondern nur Rechenpapier<br />
(Brock & Price, 1980).<br />
• Das Verfahren kann auch umgekehrt werden:<br />
Als Umkehraufgabe wird gefordert, dass zu einem<br />
vorgegeben Klammergebirge (ohne Symbole,<br />
nur die Form) ein passender Term aufgestellt<br />
wird.<br />
2.2 Anwendungsbezüge durch<br />
Algorithmen<br />
Computer erledigen heute einen Großteil der wiederkehrenden<br />
Berechnungen, das Rechnen an sich<br />
hat als Schlüsselqualifikation ausgedient. Dennoch<br />
kann man dies gar nicht auf die Mathematik<br />
ausdehnen: Mathematik ist eine Grundlage der<br />
modernen Wirtschaft und Industrie, Planung und<br />
Produktion sind ohne sie nicht zu bewerkstelligen.<br />
Offenbar gibt es hier eine große Diskrepanz<br />
zwischen der in der Schule erlebten Mathematik<br />
und der tatsächlichen, „echten“ Mathematik, so<br />
wie sie nachher gebraucht wird. Dies ist ein weiterer<br />
Faktor <strong>für</strong> die Schwierigkeiten, die in Schulen<br />
auftreten: „Das braucht doch eh keiner“ ist ein<br />
Vorwurf, der kaum zu entkräften ist! Glücklicherweise<br />
gibt es diverse Bestrebungen, diese Lücke<br />
wieder zu schließen, und authentisches mathematisches<br />
Arbeiten (vgl. u. a. Lutz-Westphal, 2006)<br />
in der Schule zu praktizieren.<br />
Hier sei noch einmal kurz betont, dass es nicht<br />
nur um anwendbare oder relevante Mathematik<br />
geht, sondern auch darum, das Lernen vom Mathematik<br />
dem Treiben von Mathematik <strong>im</strong> echten<br />
Leben nachzuempfinden. Die Beschäftigung mit<br />
mathematischen Inhalten in der Schule orientiert<br />
sich dabei an der Arbeitsweise von Mathematikern.<br />
Die Diskrete Mathematik stellt hierbei geeignete<br />
Inhalte zur Verfügung. Es sei auch auf den<br />
in diesem Band erschienen Artikel von Lambert<br />
& Selzer (2008) verwiesen, und dort insbesondere<br />
auf den Standpunkt <strong>für</strong> die Schule, auf der Basis<br />
von Bruder & Weigand (2005, S. 4).<br />
Diskrete Mathematik wird tatsächlich schon in<br />
der Schule betrieben – vor allem in der Grundschule.<br />
Propädeutisch werden bereits <strong>im</strong> mathematischen<br />
Anfangsunterricht Konzepte wie Graphen<br />
behandelt; das Haus vom Nikolaus taucht<br />
in Schulbüchern der 2. Klasse durchaus auf<br />
(Abb. 11.4). Später, in der 3./4. Klasse, werden
Strukturieren mit Algorithmen<br />
Abbildung 11.4: Propädeutische Einführung von Graphen in der 2. Klasse (Welt der Zahl)<br />
dann Autobahnkarten dazu verwendet, Rechenaufgaben<br />
zu stellen. Doch hier werden bereits<br />
die eigentlich interessanten mathematischen Fragestellungen<br />
ignoriert. Anstelle einer systematischen<br />
Behandlung des Problems tritt die ad-hoc<br />
Lösung von einzelnen ausgewählten Fragen – wie<br />
weit ist es von Berlin nach Hamburg, welche Stadt<br />
ist 229 Kilometer von München entfernt, etc. Die<br />
diskrete Mathematik dient hier als Vehikel <strong>für</strong> die<br />
Formulierung von Rechenaufgaben.<br />
Zwar ist gegen die Formulierung von Aufgaben<br />
in dieser Weise zunächst nichts einzuwenden,<br />
es wird aber die Chance vertan, die strukturelle<br />
Einsicht in solche Probleme zu unterrichten.<br />
Schülerinnen und Schüler müssen keine Strategie<br />
entwickeln, sie müssen keinen Modellbildungsprozess<br />
durchlaufen, sie erleben nicht den Sinn<br />
des Verständnisses, welches sie entwickeln könnten.<br />
Stattdessen trainieren sie Fähigkeiten, die <strong>im</strong><br />
echten Leben bei der Lösung der gleichen Probleme<br />
durch den Computer übernommen werden.<br />
Mathematik ist überall – sie steckt beispielsweise<br />
auch in Routenplanern, denen sich <strong>im</strong>mer<br />
mehr Menschen unterwerfen. Ist es nicht die<br />
Pflicht der Schule, hier die grundlegenden algorithmischen<br />
Prinzipien zu vermitteln, auf denen<br />
die Empfehlungen der Maschinen basieren? Diese<br />
sind nicht zu kompliziert <strong>für</strong> den Unterricht (wieder<br />
sei hier auf Lutz-Westphal (2006) hingewiesen),<br />
können ihn aber nachhaltig bereichern.<br />
Das DFG-Forschungszentrum MATHEON fördert<br />
in diesem Zusammenhang das Projekt Visage,<br />
welches geeignete Software <strong>für</strong> den Schuleinsatz<br />
<strong>im</strong> Bereich Graphenalgorithmen zur Verfügung<br />
stellen soll. Schülerinnen und Schüler können<br />
an selbst erstellten Beispielen Algorithmen<br />
ausprobieren, nachvollziehen und <strong>im</strong> Detail verstehen.<br />
Die Visualisierung der Algorithmen kann<br />
Schritt <strong>für</strong> Schritt <strong>für</strong> ein Beispiel erfolgen, oder<br />
es kann auch das Endergebnis des Algorithmus <strong>für</strong><br />
verschiedene dynamisch veränderte Beispiele verfolgt<br />
werden (Kortenkamp, 2005a; Geschke et al.,<br />
2005).<br />
Hier sollen die Grundzüge einer mit Visage<br />
gestalteten Lerneinheit grob geschildert werden,<br />
da an ihr die mathematikdidaktischen Möglichkeiten<br />
des Computereinsatzes deutlich werden. Die<br />
Lerneinheit „Wie fährt die Müllabfuhr“ Kortenkamp<br />
(2005b) führt aus einem klaren Umweltbezug<br />
– wie muss die Müllabfuhr fahren, damit sie<br />
möglichst geschickt alle Mülltonnen in einer Stadt<br />
einsammeln kann – auf ein verwandtes Problem:<br />
Wie muss eine Stadt aussehen, in der die Müllabfuhr<br />
ohne unnötige Wege alle Mülltonnen einsammeln<br />
kann?<br />
Dabei durchlaufen die Schülerinnen und<br />
Schüler verschiedene Abstraktionsstufen: Der<br />
Stadtplan, der an sich schon eine Abstraktion<br />
des Luftbildes (welches wiederum ein Abbild der<br />
Realität ist) darstellt, eignet sich nämlich nicht <strong>für</strong><br />
die algorithmische Behandlung der Fragestellung.<br />
Er enthält zu viel Information: Die Länge der Straßen<br />
ist <strong>für</strong> das Müllauto nicht von Interesse, da jede<br />
Straße genau einmal durchfahren werden soll.<br />
Es interessiert nur die Topologie 6 der Straßen, ihre<br />
Kombinatorik, also nur die Information, welche<br />
Straßen an welchen Kreuzungen zusammentreffen.<br />
Das geeignete mathematische Modell sind<br />
Graphen, bestehend aus Ecken und Kanten. Sie<br />
sind den Kindern normalerweise auch schon aus<br />
Netzplänen <strong>für</strong> öffentliche Nahverkehrsmittel bekannt.<br />
Diese können auf einem Stadtplan eingezeichnet<br />
werden – wenn man dazu aber Stift und<br />
Papier einsetzt, so können auch andere Gebilde<br />
gezeichnet werden. In der computerbasierten Version<br />
zeichnen die Schülerinnen und Schüler mit<br />
dem Computer auf einem eingescannten Bild des<br />
6 Ich möchte aber davor warnen, die Diskrete Mathematik als Werkzeug der Topologie in der Schule einzuführen! Dies ist <strong>für</strong><br />
Mathematiker gewiss eine richtige und elegante Einordnung, <strong>für</strong> Lehrerinnen und Lehrer aber eher abschreckend. Die Versuche in<br />
den 70er Jahren haben gezeigt, dass allein der Begriff „Topologie“ genügend unklar ist, um die Beschäftigung mit dem Thema zu<br />
verhindern. Stattdessen empfehle ich – das ist das Anliegen dieses Artikels – die Heranführung über algorithmisches Denken.<br />
81
Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
Stadtplans, und die Visage-Software zwingt dazu,<br />
den Abstraktionsschritt zu vollziehen: Es können<br />
nur Graphen gezeichnet werden (siehe Abb. 11.5).<br />
Abbildung 11.5: Graphen-Modell auf Stadtplan.<br />
Kartenmaterial mit freundlicher Genehmigung<br />
der BVG verwendet.<br />
Wenn die Graphen dann in dieser Form vorliegen,<br />
dann kann damit auch direkt weitergearbeitet<br />
werden: Visage kann Standard-Algorithmen wie<br />
Breitensuche, Tiefensuche, kürzeste Wege oder<br />
auch Euler-Touren (<strong>im</strong> obigen Beispiel) auf den<br />
Graphen ablaufen lassen, und so können die Schülerinnen<br />
und Schüler mit ihren eigenen Werken<br />
exper<strong>im</strong>entieren.<br />
2.3 Begriffsbildung durch Algorithmen<br />
Das dritte und letzte Beispiel in diesem Artikel ist<br />
geometrischer Natur – algorithmische Geometrie<br />
ohne Rechnen.<br />
Abbildung 11.6: Eine Punktmenge und ihre konvexe<br />
Hülle. Die Punkte sind weiß dargestellt, die<br />
konvexe Hülle ist die eingefärbte Fläche samt<br />
schwarzem Rand.<br />
Zur Erinnerung: Eine konvexe Menge C ist eine<br />
Menge mit der Eigenschaft, dass zu je zwei<br />
Punkten P,Q ∈ C auch die Strecke PQ vollständig<br />
in C enthalten ist. Die konvexe Hülle einer Menge<br />
M ist die kleinste konvexe Menge CH(M), die<br />
M enthält. Da die Schnittmenge zweier konvexer<br />
Mengen ebenfalls konvex ist, erhält man die konvexe<br />
Hülle auch als<br />
CH(M) =<br />
�<br />
C⊃M,C konvex<br />
C .<br />
Damit ist mathematisch alles gesagt. Algorithmisch<br />
hilft uns dies aber gar nicht: Gegeben eine<br />
Menge von Punkten in der Ebene – was ist dann<br />
ihre konvexe Hülle (Abb. 11.6)? Und wie können<br />
wir diese berechnen (oder auch nur darstellen)?<br />
Diese Fragestellungen werden in der Computational<br />
Geometry oder Algorithmischen Geometrie<br />
(siehe z.B. de Berg et al., 2000; Klein, 1997) betrachtet<br />
und gelöst.<br />
Bevor wir die algorithmische Lösung betrachten<br />
sei noch angemerkt, dass die Berechnung von<br />
konvexen Hüllen durchaus anwendungsbezogen<br />
ist. In der Computergraphik ist die konvexe Hülle<br />
ein grundlegendes Konzept, welches unter anderem<br />
<strong>für</strong> die Beschreibung von Polyedern benötigt<br />
wird Ziegler (1995). In der Opt<strong>im</strong>ierung werden<br />
sie unter anderem in der polyhedral opt<strong>im</strong>ization<br />
verwendet, bei der durch den Übergang zur konvexen<br />
Hülle oft Geschwindigkeitssteigerung in mehreren<br />
Größenordnungen möglich sind. In der Robotik<br />
benötigt man sie zum Beispiel bei der Vermeidung<br />
von Kollisionen.<br />
Ein schulisch weit relevanteres Beispiel ist das<br />
folgende: Im Themenkreis „Daten“ werden die<br />
Größen und Gewichte aller Mitschülerinnen und<br />
-schüler in ein Koordinatensystem eingetragen.<br />
Die größten, kleinsten, schwersten und leichtesten<br />
Schülerinnen und Schüler können so leicht identifiziert<br />
werden. Was ist aber, wenn man beide D<strong>im</strong>ensionen<br />
zugleich betrachten möchte? Was sind<br />
die „leichtesten größten“ oder „schwersten größten“<br />
Kinder? Nur selten werden diese eindeutig<br />
festzustellen sein. Berechnet man aber die konvexe<br />
Hülle der Datenpunkte, so findet man die interessanten<br />
Datensätze als Ecken der konvexen Hülle!<br />
7<br />
Wie findet man nun die Punkte, die den Rand<br />
der konvexen Hülle best<strong>im</strong>men? Dazu muss zunächst<br />
geklärt werden, wann ein Punktepaar eine<br />
Seite der konvexen Hülle best<strong>im</strong>mt. Mit ein wenig<br />
Überlegung oder mit der Unterstützung durch ein<br />
DGS findet man heraus, dass A und B genau dann<br />
benachbarte Ecken der konvexen Hülle sind, wenn<br />
alle anderen Punkte auf derselben Seite der Geraden<br />
AB liegen. Wir können also sofort einen einfachen<br />
Algorithmus angeben, der <strong>für</strong> eine Menge<br />
von Punkten S = {P1,P2,...,Pn} die Ecken der<br />
konvexen Hülle identifiziert – <strong>für</strong> jede Gerade PiPj<br />
7 Mir wurde inzwischen berichtet, dass solche Erhebungen in manchen Bundesländern nicht mehr zulässig sind, da sie die Persönlichkeitsrechte<br />
der Schülerinnen und Schüler verletzen. Schade!<br />
82
überprüfen wir die Lage aller restlichen Punkte.<br />
Sind diese alle auf einer Seite der Geraden, so liegen<br />
sie beide auf dem Rand der konvexen Hülle.<br />
Falls nicht, so können wir nichts über sie aussagen,<br />
doch wenn wir sämtliche n(n+1)<br />
2 Paare untersucht<br />
haben, so haben wir auf jeden Fall jedes Paar<br />
gefunden.<br />
Freundlicherweise müssen wir <strong>für</strong> den gerade<br />
beschriebenen Test nicht rechnen! Es genügt, <strong>für</strong><br />
ein (nicht kollineares) Punktetripel A,B,C die Orientierung<br />
feststellen zu können – sind die Punkte<br />
<strong>im</strong> Uhrzeigersinn angeordnet, dann liegt C rechts<br />
der orientierten Geraden −→ AB, sonst links.<br />
Der Algorithmus ist einfach, aber mit einer<br />
Laufzeit von Θ(n3 ) auch nicht besonders effizient.<br />
Es gibt viele verschiedene bessere und dennoch<br />
einfache Algorithmen, die wesentlich schneller<br />
sind. Eine Möglichkeit ist der Graham Scan: Ausgehend<br />
von einem garantiert auf dem Rand der<br />
konvexen Hülle liegenden Punkt P (zum Beispiel<br />
der Punkt mit der kleinsten x-Koordinate) sortiert<br />
man alle anderen Punkte entsprechend ihrem Winkel<br />
zu P (auf die x-Achse bezogen). Danach kann<br />
man die Punkte der Reihe nach „ablaufen“. Trifft<br />
man nun auf drei Punkte Pi,Pi+1,Pi+2, die eine<br />
konkave Ecke bilden (also <strong>im</strong> Uhrzeigersinn orientiert<br />
sind!), dann weiß man, dass Pi+1 sicher<br />
nicht auf dem Rand der konvexen Hülle liegt.<br />
So entfernt man nach und nach „falsche“ Punkte.<br />
Schließlich bleiben nur noch die gesuchten Ecken<br />
der konvexen Hülle übrig.<br />
Der notwendige Sortiervorgang könnte über<br />
die (berechneten) Winkel der Punkte durchgeführt<br />
werden. Die üblichen Sortierverfahren (siehe<br />
auch den Artikel von Epkenhans (2008) in diesem<br />
Band, S. 59) basieren allerdings auf paarweisen<br />
Vergleichen – wir müssen also <strong>für</strong> zwei Punkte Pi<br />
und Pj nur feststellen, welcher von beiden zuerst<br />
auf dem Rand auftauchen könnte. Dies geht – wieder<br />
ohne „richtiges“ Rechnen – mit der Orientierung<br />
des Tripels P,Pi,Pj. Verläuft diese <strong>im</strong> Uhrzeigersinn,<br />
so muss Pj vor Pi auftauchen, sonst umgekehrt.<br />
Auch wenn diese Beschreibung sehr skizziert<br />
war – eine ausführlich beschriebene Unterrichtseinheit<br />
zu diesem Thema findet sich in Kortenkamp<br />
(2006) – der <strong>für</strong> unsere Betrachtung wesentliche<br />
Punkt tritt zutage: Über die algorithmische<br />
Fragestellung „wie finde ich heraus, welche Punkte<br />
die Ecken der konvexen Hülle bilden“ wird der<br />
entscheidende Grundbegriff erschlossen. Der Algorithmus<br />
kann mit einer einzigen Grundoperation<br />
(„finde die Orientierung von drei Punkten in<br />
der Ebene“ ) auskommen. Damit haben wir das<br />
Strukturieren mit Algorithmen<br />
Problem mathematisch charakterisiert. 8<br />
3 Zusammenfassung:<br />
Funktionen von Algorithmen<br />
Wie in den obigen Beispielen gesehen, können Algorithmen<br />
diverse Funktionen <strong>im</strong> Unterricht haben.<br />
Sie dienen<br />
• der Verdeutlichung und Visualisierung von<br />
Strukturen,<br />
• der Belebung von Modellen und<br />
• der Isolierung von Grundbegriffen und -<br />
operationen<br />
Diese Funktionen können sie in allen Jahrgangsstufen<br />
erfüllen. Da Algorithmen in gewisser Weise<br />
exakt formulierte Spielregeln darstellen, können<br />
sie auch in spielerischer Weise Eingang in den<br />
Unterricht finden. So bilden sie auch eine Grundlage<br />
<strong>für</strong> Handlungsorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Da Algorithmen stets eine Beschreibung der<br />
möglichen Eingaben und der erwünschten Ausgaben<br />
mit sich bringen, stellen sie die Anwendung<br />
mathematischer <strong>Ideen</strong> in der Praxis geeignet<br />
dar. Gerade <strong>im</strong> Zusammenspiel mit der Diskreten<br />
Mathematik wird dies besonders deutlich. Gepaart<br />
mit der Exaktheit in der Beschreibung fokussieren<br />
sie das mathematische Denken der Schülerinnen<br />
und Schüler (und Lehrkräfte).<br />
Dieses exakte Beschreiben lässt sich noch verstärken,<br />
wenn man den Computer gezielt einsetzt,<br />
um Algorithmen zu formulieren und auszuprobieren.<br />
Diesen Tätigkeiten sei der letzte Abschnitt gewidmet.<br />
4 Schlussbemerkung:<br />
Programmieren und<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> 9<br />
Soll <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> programmiert werden?<br />
Die kurze Antwort, ein uneingeschränktes<br />
„ja!“, sei vorweg gestellt.<br />
Die längere Antwort soll hier ohne eine umfassende<br />
Diskussion der bereits in der Didaktik<br />
der Informatik lange geführten Auseinandersetzung<br />
(dazu siehe z.B. Humbert (2005) und Schubert<br />
& Schwill (2004)), die ja auch in einer Arbeitsgruppe<br />
dieser Tagung (Haftendorn, 2008, S.<br />
171) Platz hatte, begründet werden.<br />
Natürlich kann man diese Frage nicht beantworten,<br />
ohne auf die Akteure und Situationen einzugehen.<br />
Die Verlage und Hersteller von Lernsoftware<br />
lassen wir außen vor; zur Produktion von digitalem<br />
Material, welches <strong>im</strong> „Algorithmenunter-<br />
8 In späteren Jahrgangsstufen (dieses Problem ist durchaus <strong>für</strong> die Sekundarstufe I geeignet) kann man dann auf diesen Grundbegriffen<br />
mit der Determinantenfunktion aufbauen.<br />
9 Anmerkung des Herausgebers: Zum Zeitpunkt der Endredaktion des Tagungsbandes war bereits bekannt, dass auf der Jahrestagung<br />
2007 des Arbeitskreises <strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik ein weiterer Beitrag zum Programmieren <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
von Andreas Fest, Berlin, eingereicht wird, auf den hiermit ausdrücklich hingewiesen wird.<br />
83
Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
richt“ eingesetzt werden könnte, ist eine gewisse<br />
Programmierkunst unabdingbar.<br />
Betrachten wir also zunächst die Lernenden.<br />
Es gibt diverse mathematische Programmierumgebungen,<br />
die alle Altersbereiche abdecken (Logo,<br />
Cinderella mit CindyScript, aber auch Computeralgebrasysteme<br />
wie Maple oder Mathematica).<br />
Weiterhin gibt es viele Programmiersprachen,<br />
die auch oder gerade <strong>für</strong> Anfänger geeignet<br />
sind. Insbesondere Scriptsprachen wie Python<br />
oder Ruby können gut <strong>im</strong> Unterricht gelehrt werden,<br />
aber auch „professionelle“ Sprachen wie Java<br />
sind lehrbar. Aber es soll ja kein Programmierkurs<br />
werden. . .<br />
Kein Programmierkurs?! Warum eigentlich<br />
nicht? Konzepte wie Schleifen, Prozeduren und<br />
insbesondere Variablen sind eigentlich unabdingbar<br />
und bieten Bildungschancen! Genauso wenig,<br />
wie es wichtig ist, dass ein normaler Mensch lange<br />
Zahlenkolonnen korrekt per schriftlicher Addition<br />
addiert, ist es wichtig, dass man eine spezielle<br />
Programmiersprache beherrscht. Aber es ist auch<br />
genauso wichtig, irgendeine Programmiersprache<br />
zum Verständnis dieser Konzepte benutzt zu haben,<br />
wie es notwendig ist, die schriftliche Addition<br />
als strukturiertes Verfahren in der Grundschule<br />
zu lernen.<br />
Die Forderung nach der Heranführung an das<br />
Programmieren in der Grundschule ist zwar alt,<br />
aber wohl doch auch unmodern, wie der aktuelle<br />
Zustand an Grundschulen vermuten lässt. Gefolgt<br />
von einer zwanglosen Vertiefung durch die Anwendung<br />
einer konkreten Programmiersprache,<br />
wann und wo <strong>im</strong>mer es <strong>im</strong> Unterricht hilfreich erscheint,<br />
erscheint sie mir aber durchaus gerechtfertigt.<br />
Zurecht wird man nun anmerken, dass dies auf<br />
dem aktuellen Ausbildungsstand der Lehrkräfte,<br />
und zwar nicht nur derer, die schon vor dem Computerzeitalter<br />
das Referendariat abgeschlossen haben,<br />
sondern auch derer, die aktuell die Universitäten<br />
und Hochschulen verlassen, eine völlig unrealistische<br />
Forderung ist. Aus diesem Grund folgt<br />
hier eine weitere Forderung: Das Programmieren<br />
als gestalterische und strukturierende Tätigkeit<br />
muss in das Lehramtsstudium verankert werden,<br />
wenigstens <strong>für</strong> diejenigen, die später Mathematik<br />
lehren möchten.<br />
Die Gestaltung von Lehr-/Lernumgebungen<br />
ist eine Tätigkeit, die zu den Kernkompetenzen<br />
von Lehrerinnen und Lehrern gehört. Sind diese<br />
nicht fähig, ein Aufgabenblatt <strong>für</strong> ihren Unterricht<br />
zu erstellen, oder wenigstens eine Kopiervorlage<br />
anzupassen, so können sie diese Tätigkeit nicht<br />
ausüben. Da aber der Einsatz von „mult<strong>im</strong>edialen“<br />
Lehrmaterialien <strong>im</strong>mer mehr gefordert wird<br />
(von Eltern, von den Lernenden, von den Kultusministerien)<br />
muss die Lehrkräfte auch solches<br />
84<br />
Material gestalten können — und nicht nur aus<br />
den vorgefertigten Edutainment-Titeln auswählen<br />
können. Die Fähigkeit, etwas verändern zu können,<br />
in den Unterricht aktiv eingreifen zu können,<br />
hat eine soziologisch-kognitive Bedeutung.<br />
Daher halte ich das Programmieren in der<br />
Lehramtsausbildung, so wie z.B. von Löthe<br />
(2008) in diesem Band beschrieben und praktiziert,<br />
<strong>für</strong> unerlässlich.<br />
Literatur<br />
de Berg, Mark, Marc van Kreveld, Mark Overmars & Otfried<br />
Schwarzkopf (2000): Computational Geometry. Springer-<br />
Verlag<br />
Bescherer, Christine (2005): Sicherheit <strong>im</strong> Umgang mit Informationstechnologie<br />
— Ein Konzept zur „FITness“ <strong>im</strong> Computerbereich.<br />
LOG-IN, 135, 42–45<br />
Brock, William H. & Michael H. Price (1980): Squared paper<br />
in the nineteenth century: Instrument of science and engineering,<br />
and symbol of reform in mathematical education. Educational<br />
Studies in Mathematics, 11, 365–381<br />
Bruder, Regina & Hans-Georg Weigand (2005): Problemlösen,<br />
Verstehen, Anwenden ... aber bitte diskret. mathematik lehren,<br />
129, 4–8<br />
Epkenhans, Martin (2008): Laufzeitanalysen, Wachstumsfunktionen<br />
und asymptotische Untersuchungen. In: Kortenkamp<br />
et al. (2008), 59–62<br />
Freudenthal, Hans (1972): Mathematik als pädagogische Aufgabe.<br />
Klett<br />
Geschke, Anne, Ulrich Kortenkamp, Brigitte Lutz-Westphal &<br />
Dirk Materlik (2005): Visage – Visualization of Algorithms in<br />
Discrete Mathematics. Zentralblatt <strong>für</strong> Didaktik der Mathematik,<br />
37(5), 395–401<br />
Haftendorn, Dörte (2008): Wieviel Programmieren-Können<br />
braucht man in der Mathematiklehre? In: Kortenkamp et al.<br />
(2008), 171–173<br />
Hopcroft, John E., Rajeev Motwani & Jeffrey D. Ullman<br />
(2002): Einführung in die Automatentheorie, Formale Sprachen<br />
und Komplexitätstheorie. München: Pearson Studium, 2.,<br />
überarbeitete Auflage<br />
Humbert, Ludger (2005): Didaktik der Informatik – mit praxiserprobtem<br />
Unterrichtsmaterial. Wiesbaden: Teubner<br />
Klein, Rolf (1997): Algorithmische Geometrie. Addison Wesley<br />
KMK (2003): Bildungsstandards <strong>im</strong> Fach Mathematik <strong>für</strong><br />
den Mittleren Schulabschluss. Bonn: Sekretariat der Ständigen<br />
Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik<br />
Deutschland Ref. IV A<br />
Kortenkamp, Ulrich (2005a): Visage – Visualisierung von<br />
Graphenalgorithmen. In: Beiträge zum <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Vorträge auf der 39. Tagung <strong>für</strong> Didaktik der Mathematik, <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>für</strong> Didaktik der Mathematik, Bielefeld: Franzbecker<br />
Kortenkamp, Ulrich (2005b): Wie fährt die Müllabfuhr? URL<br />
http://kortenkamps.net/Material/Eulertour<br />
Kortenkamp, Ulrich (2006): Algorithmische Geometrie <strong>im</strong><br />
Unterricht. Der <strong>Mathematikunterricht</strong>, 52(1)<br />
Kortenkamp, Ulrich, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth<br />
(Hg.) (2008): <strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Bericht über die 23. Arbeitstagung des Arbeitskreises „<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Lambert, Anselm & Pia Selzer (2008): Schillernde Diskretisierung<br />
– eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik. In:<br />
Kortenkamp et al. (2008), 87–100
Löthe, Herbert (2008): Erlebnis Mathematik mit Computer –<br />
Realisierung am Beispiel des Folgenbegriffs. In: Kortenkamp,<br />
Ulrich, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth (Hg.): <strong>Informatische</strong><br />
<strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>. Bericht über die 23. Arbeitstagung<br />
des Arbeitskreises „<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik“,<br />
Franzbecker, 101–108<br />
Lutz-Westphal, Brigitte (2006): Kombinatorische Opt<strong>im</strong>ierung<br />
– Inhalte und Methoden <strong>für</strong> einen authentischen <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Dissertation, Technische Universität Berlin, Berlin<br />
Strukturieren mit Algorithmen<br />
Schubert, Sigrid & Andreas Schwill (2004): Didaktik der Informatik.<br />
Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
Vogel, Markus (2006): Mathematisieren funktionaler Zusammenhänge<br />
mit mult<strong>im</strong>ediabasierter Supplantation. Dissertation,<br />
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg<br />
Ziegler, Günter M. (1995): Lectures on Polytopes. Nummer<br />
152 in Graduate Texts in Mathematics, Berlin: Springer-Verlag<br />
85
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
86
• Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von<br />
Mathematik und Informatik<br />
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Mathematik wird <strong>im</strong> Unterricht — wie <strong>im</strong> richtigen Leben — von Menschen gedacht und gemacht.<br />
Das Neue Medium und Werkzeug Computer erweitert dabei Möglichkeiten zur Darstellung von Objekten<br />
des mathematischen Tuns und des Operierens mit diesen — <strong>im</strong>mer allerdings <strong>im</strong> Rahmen<br />
seiner prinzipiellen Grenzen.<br />
Ein Unterricht, der Wert auf eine verständige und reflektierende Verwendung unterschiedlicher Darstellungen<br />
legt und der den Computer als eine Erweiterung unserer Werkzeugpalette begreift, sollte<br />
dessen Grenzen mitdiskutieren, und kann dies ja auch, da jeder Computer, als Maschine gewordene<br />
Mathematik, auch mathematischer Beschreibung zugänglich ist.<br />
Hier kann der Computer eine reflexive Stärke demonstrieren: Er unterstützt durch seine Darstellungsund<br />
Operationsmöglichkeiten auch bei der Erkundung seiner eigenen prinzipiellen Grenzen.<br />
1 Einleitung<br />
Eine der Leitfragen der Tagung ist die nach zentralen,<br />
aktuellen und zukunftsweisenden <strong>Ideen</strong> der<br />
Informatik und deren Relevanz <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Um dieser Frage nachzugehen, ist es<br />
sinnvoll, zuerst einmal zu klären, was denn „Informatik“<br />
bedeutet, bedeuten soll. Wieso das? Die<br />
Frage „Was ist Informatik?“ ist gewiss genauso<br />
schwer — wenn nicht gar genauso unmöglich —<br />
zu beantworten, wie die „Was ist Mathematik?“<br />
— an der wir uns hier gar nicht erst versuchen<br />
wollen.<br />
Sicher hat jede Leserin, jeder Leser dennoch<br />
eine eigene, zumindest vage Vorstellung von einer<br />
Antwort. Wir gehen davon aus, dass diese Vorstellungen<br />
durchaus unterschiedlich (und von persönlichen<br />
Vorlieben geprägt), wenn auch großenteils<br />
konsensfähig sind. Um unserem Beitrag ein<br />
— besseres — Verstehen zu ermöglichen, scheint<br />
es uns also sinnvoll, unsere hier zugrunde liegende<br />
Vorstellung von Informatik zu klären.<br />
Auf Basis dieser als Arbeitshypothese gedachten,<br />
hier vorgenommenen Umschreibung, schlagen<br />
wir dann Diskretisierung als eine wesentliche<br />
Idee an einer Schnittstelle von Mathematik und<br />
Informatik vor, die helfen kann, die beiden Fächer<br />
in der Schule zu verbinden, wenn nicht sogar zu<br />
integrieren. Dies wollen wir dann zum Schluss anhand<br />
eines exemplarischen Beispiels <strong>für</strong> den Unterricht<br />
konkretisieren, um auf theoretischem Unterbau<br />
das oben Angekündigte einzulösen.<br />
2 Was bedeutet „Informatik“?<br />
Diese Frage lässt sich unter zwei sich ergänzenden<br />
Gesichtspunkten verstehen:<br />
1. Worauf verweist die Bezeichnung<br />
„Informatik“?<br />
2. Welche Bedeutung hat Informatik (oder sollte<br />
sie haben)<br />
• <strong>für</strong> die <strong>Gesellschaft</strong>?<br />
• <strong>für</strong> die Schule?<br />
Um Antworten darauf geben zu können, wählen<br />
wir verschiedene Ansätze. Zum einen werden wir<br />
hier Spuren des Wortes, der Bezeichnung „Informatik“<br />
<strong>im</strong> Sprachgebrauch nachzeichnen, zum anderen<br />
werden wir die institutionalisierte Informatik<br />
selbst zu Wort kommen lassen.<br />
2.1 Ursprung und Ausbreitung der<br />
Bezeichnung „Informatik“<br />
Die Bezeichnung „Informatik“ ist ein 1957 von<br />
Karl Steinbuch eingeführtes Kunstwort, gebildet<br />
aus „Information“ und „Automatik“ (vgl. Baumann,<br />
1990, 82 und <strong>für</strong> eine Betrachtung der beiden<br />
Wortstämme Humbert, 2005, 11f.). Sie weist<br />
auf die beiden wissenschaftlichen Traditionen hin,<br />
die hier zu einer neuen Wissenschaft verschmolzen<br />
wurden:<br />
eine mathematische Tradition und<br />
eine ingenieurwissenschaftliche.<br />
In dieser doppelten Tradtion ist Informatik sowohl<br />
Grundlagen- als auch Ingenieurwissenschaft. Was<br />
bedeutet das <strong>für</strong> den Unterricht in Informatik?<br />
Bisher hatte doch noch keine Ingenieurwissenschaft<br />
einen eigenen Platz <strong>im</strong> Fächerkanon der allgemeinbildenden<br />
Schulen (dazu später).<br />
Das Wort „Informatik“ verbreitete sich in<br />
Deutschland <strong>im</strong> öffentlichen Sprachgebrauch<br />
nach einer Rede des damaligen Forschungsministers<br />
Gerhard Stoltenberg <strong>im</strong> Jahr 1968 — in Anlehnung<br />
an das französische, von der Académie<br />
Française favorisierte «informatique». Im amerikanischen<br />
Raum etablierte sich dagegen die Bezeichnung<br />
„Computer Science“, die explizit auf<br />
den Computer verweist, da „Informatics“ durch<br />
einen Firmennamen bereits kommerziell besetzt<br />
war; in Deutschland hatte dagegen Karl Steinbuch<br />
auf die zunächst geschützten Namensrechte bald<br />
verzichtet (vgl. Baumann, 1990, 82f).<br />
87
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Im skandinavischen Raum spricht man von<br />
Datalogie (Humbert, 2005, 9).<br />
2.2 Was steht hinter der Bezeichnung<br />
„Informatik“?<br />
Neben dem, was sich der Urheber bei „Informatik“<br />
dachte, ist von Interesse, was man in der Zwischenzeit<br />
damit (bewusst) assoziiert.<br />
Die aktuelle Definition<br />
Die <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Informatik (GI) definiert heute<br />
ihre Disziplin weitgehend anerkannt selbst so<br />
(vgl. Schubert & Schwill, 2004, 2): Informatik<br />
ist die Wissenschaft, die sich mit der systematischen<br />
und automatischen Verarbeitung, Speicherung<br />
und Übertragung von Daten aus Sicht der<br />
Hardware, der Software, der Grundlagen und der<br />
Auswirkungen befasst.<br />
In der aktuellen Brochüre „Was bedeutet Informatik?“<br />
finden wir als Selbstbest<strong>im</strong>mung(en):<br />
Und:<br />
Informatik - das ist die Faszination,<br />
sich die Welt der Information<br />
und des symbolisierten Wissens zu<br />
erschließen und dienstbar zu machen.<br />
(GI, 2005, 2)<br />
Inzwischen macht sie den Computer<br />
nicht mehr nur zur Arbeitsmaschine,<br />
sondern zugleich zum<br />
Medium, Wissensträger, Manager,<br />
Unterhaltungskünstler, Steuerungsinstrument<br />
und zu einer Art neuen<br />
Wahrnehmungsorgans <strong>für</strong> die meisten<br />
Wissenschaften. (GI, 2005, 2)<br />
Informatik ist also einerseits abstrakte Theorie<br />
formal gefassten Wissens. So ist etwa auch Logik<br />
heute an vielen Universitäten ein wissenschaftliches<br />
Teilgebiet der Informatik und nicht mehr eines<br />
der Mathematik.<br />
Und andererseits ist Informatik konkrete Praxis<br />
der Entwicklung des Computers — den man<br />
gewöhnlich unmittelbar mit ihr assoziert.<br />
Was bedeutet das <strong>für</strong> den Unterricht? Unter<br />
anderem: Abstrakte Theorie zeichnet sich durch<br />
eine gewisse Langlebigkeit aus; Computerpraxis<br />
überholt sich schnell. Dies muss bei der Auswahl<br />
der Inhalte eine entscheidende Rolle spielen. Vor<br />
allem verweist diese Unterscheidung aber darauf,<br />
dass Informatik mehr ist als Computer.<br />
Nebenbei bemerkt: Eine stärkere Berücksichtigung<br />
von Themen aus der theoretischen Informatik<br />
kommt (nach Humbert, 2005, 168) insbesondere<br />
auch den Interessen der Schülerinnen entgegen.<br />
88<br />
Begeisterung und Kritik<br />
Informatiksysteme verändern unsere Wirklichkeit<br />
direkt oder indem sie unsere Wahrnehmung dieser<br />
beeinflussen. Eigen ist der Informatik als <strong>im</strong>mer<br />
noch jungstürmischer Wissenschaft eine besondere,<br />
bis heute nicht abgeebbte Begeisterung <strong>für</strong> die<br />
durch sie möglichen großen Veränderungen in naher<br />
Zukunft:<br />
In Zukunft werden die Menschen<br />
nicht nur über mehr materielle Güter<br />
und mehr Energie verfügen, sondern<br />
auch über sehr viel mehr Information.<br />
Der Besitz an Wissen<br />
wird mit unvorstellbarer Geschwindigkeit<br />
vergrößert werden [. . . ] das<br />
gesamte Wissen wird in riesigen, allen<br />
Menschen zugänglichen Informationsbanken<br />
gespeichert sein. Menschen<br />
werden mit Methoden belehrt,<br />
welche das Lernen zum Vergnügen<br />
machen [. . . ]. (Steinbuch, 1966, 338)<br />
Die Wissenschaften werden neue<br />
Erkenntnisse mehr und mehr unter<br />
Nutzung der Informatik gewinnen<br />
und mit der nächsten Welle der<br />
Informatikanwendungen werden wir<br />
in eine Welt der Sensoren eintreten,<br />
in der Information ständig erfasst<br />
wird und präsent ist — wir werden<br />
die mühselige Dateneingabe und Datenpflege<br />
hinter uns lassen und allein<br />
durch Sprechen und Verhalten<br />
schnell und zielgerichtet kommunizieren<br />
und handeln können. Und wieder<br />
neue Welten tun sich uns auf<br />
. . . (GI, 2005, 2)<br />
Mit Spannung erwarten wir die Sensoren, die neue<br />
philosophische Erkenntnisse ermöglichen ;-)<br />
Schon 1704 spottete Jonathan<br />
Swift in seiner Satire A Tale of a<br />
Tub über Gelehrte, die nicht lesen<br />
und denken, sondern lediglich sammeln,<br />
und nannte sie [. . . ] Computer.<br />
Später beschreibt und zeichnet er<br />
dann in Gullivers Reisen eine nach<br />
sorgfältiger Computation konstruierte<br />
und mittels 40 Kurbeln bedienbare<br />
Maschine, mit deren Hilfe «der unwissendste<br />
Mensch zu vernünftgem<br />
Preis und mit wenig Körperarbeit Bücher<br />
über Philosophie, Poesie, Politik,<br />
Recht, Mathematik und Theologie<br />
schreiben kann, ohne die mindeste<br />
Unterstützung durch Begabung<br />
und Fleiß». (Bauer-Wabnegg, 2001,<br />
32)
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
Dennoch: Als (Ingenieur-)Wissenschaft gestaltet<br />
Informatik unser aller Leben ständig neu,<br />
aber viel bleibt unter der Oberfläche der Neuen<br />
Möglichkeiten verborgen:<br />
Als Menschen nehmen wir die<br />
Veränderung unseres Lebens durch<br />
Informatiksysteme [...] nicht so<br />
rauschhaft schnell wahr, wie sie eigentlich<br />
ist. (GI, 2005, 2)<br />
Ein Ziel eines allgemeinbildenden Unterrichts in<br />
Informatik muss u. a. die Fähigkeit und Bereitschaft<br />
zur Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen<br />
von Informatiksystemen sein.<br />
Der Fächerkatalog der Informatik<br />
Ihre Probleme bewältig die Informatik (wie alle<br />
Wissenschaften) durch fachliche Spezialisierung.<br />
1976 verabschiedete der Fakultätentag als Akt definitorischer<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mung einen Fächerkatalog<br />
(siehe unten, nach Baumann, 1990, 84f). Gewiss<br />
sind in der Praxis die Grenzen zwischen diesen<br />
Fächern durchaus fließend, dennoch leistet die<br />
vorgenommene Unterteilung der Aufgabenfelder<br />
auch <strong>für</strong> den Unterricht eine nützliche Orientierung.<br />
(Die ersten drei Katalogpunkte bilden die<br />
Kerninformatik.)<br />
1. Theoretische Informatik: Aus der Mathematik<br />
eingebrachte Forschungs- und Lehrgegenstände,<br />
z. B. Automatentheorie und formale Sprachen,<br />
Theorie der Berechenbarkeit und Entscheidbarkeit,<br />
Codierungs- und Informationstheorie<br />
2. Praktische Informatik: Softwareorientierte Fächer,<br />
z. B. Architektur der Programmierung,<br />
Betrieb und Weiterentwicklung von Softwaresystemen<br />
3. Technische Informatik: Aus der Elektro- und<br />
Nachrichtentechnik eingebrachte hardwareorientierte<br />
Fächer<br />
4. Anwendungen der Informatik: Z. B. Wirtschaftsinformatik<br />
5. <strong>Gesellschaft</strong>liche Bezüge der Informatik: Hier<br />
beschäftigt man sich mit Bedingungen und<br />
Auswirkungen von Informatik<br />
6. Didaktik der Informatik<br />
Konkret kann das dann heute — die Breite der ersten<br />
vier Katalogpunkte ausschöpfend — an einer<br />
Universität so aussehen: In der Fachrichtung<br />
Informatik der Universität des Saarlandes (einem<br />
der ältesten Informatikstandorte in Deutschland)<br />
finden wir folgende Arbeitsgruppen: Reactive Systems,<br />
Nachrichtentechnik, Dependable Systems<br />
and Software, Informationssysteme, Bioinformatik,<br />
Rechnerarchitektur und Parallelrechner, Betriebssysteme,<br />
Computer Algebra, Theoretische<br />
Informatik, Multi-Agent Systems, Programmiersysteme,<br />
Computer Grafik, Künstliche Intelligenz,<br />
Mathematische Bildanalyse und Bildverarbeitung,<br />
Übersetzerbau, Softwaretechnik, Computer Datennetze,<br />
Sicherheit und Kryptographie (Stand<br />
September 2005). Teilweise sind diese Arbeitsgruppen<br />
in Mathematik und Informatik angesiedelt.<br />
Daneben gibt es in Saarbrücken noch informatischer<br />
Forschung gewidmete Max-Planck-<br />
Institute und das Deutsche Forschungsinstitut <strong>für</strong><br />
Künstliche Intelligenz (DFKI).<br />
Nach dem fünften Punkt des Kataloges ist<br />
Reflexion von Informatik ein wissenschaftliches<br />
Teilgebiet, wenn dies auch in der an Universitäten<br />
institutionalisierten Informatik oft eine eher<br />
nebensächliche Rolle spielt; in den allgemeinbildenden<br />
Unterricht gehören entsprechende Fragen:<br />
Schulinformatik ist der allgemeinen<br />
Bildung verpflichtet. [. . . ] Ziel<br />
der Schulinformatik ist damit die<br />
Ausformung der — vom Standpunkt<br />
der Informatik aus — gebildeten Persönlichkeit.<br />
Dies äußert sich in dem<br />
kompetenten, kritischen Umgang mit<br />
Informatiksystemen [. . . ]. Die zu erwerbenden<br />
Kompetenzen umfassen<br />
ein weites Feld: sie reichen von Elementen<br />
der Kerninformatik über Fragen<br />
der Softwareergonomie bis in<br />
ethisch-moralische Bereiche. (Humbert,<br />
2005, 67)<br />
Spielen dabei ingenieurwissenschaftliche Aspekte<br />
eine allgemeine Rolle, so haben sie ihren Platz <strong>im</strong><br />
Unterricht zu finden.<br />
Die Forderung nach einer eigenständigen Didaktik<br />
der Informatik ist mit diesem Katalog<br />
knapp dreißig Jahre alt, wenn auch bis heute<br />
kaum wissenschaftlich institutionalisiert — erst<br />
1996 gab es die erste Forschungsgruppe (Humbert,<br />
2005, 47), heute gibt es gerade einmal 13 universitäre<br />
Standorte (Stand Juli 2005 nach Humbert,<br />
2005, 56).<br />
2.3 Ein kurzer Rückblick auf die<br />
Institutionalisierung in Schule und<br />
Hochschule<br />
Seit 1968 ist Informatik Hochschuldisziplin in<br />
der Bundesrepubklik Deutschland; 1970 gab es<br />
Studiengänge zur Informatik an 10 Hochschulen.<br />
1972 wurde das Unterrichtsfach in der gymnasialen<br />
Oberstufe eingerichtet. 1986 konnte Informatik<br />
an 22 Universitäten und 27 Fachhochschulen<br />
studiert werden (nach Baumann, 1990, 83f).<br />
In den siebziger und achtziger Jahren durchlief<br />
die Schulinformatik verschiedene Phasen: Rechnerorientierung,<br />
Algorithmenortientierung, Anwendungsorientierung<br />
(<strong>im</strong> informatischen Sinn),<br />
Benutzungsorientierung, <strong>Gesellschaft</strong>sorientierung.<br />
1991 wurden die ersten deutschlandweit<br />
89
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
geltenden Prüfungsanforderungen <strong>für</strong> die Schule<br />
veröffentlicht (nach Humbert, 2005, 48 bzw. 52).<br />
Heute ist das Studienangebot flächendeckend.<br />
Die Studierendenzahl hat sich von etwa 2000 <strong>im</strong><br />
Jahre 1972 in 30 Jahren auf über 80000 vervierzigfacht<br />
(vgl. Abbildung).<br />
In der Schule ist Informatik heute in der<br />
Sekundarstufe II eigenständiges Fach in allen<br />
Bundesländern (in Berlin, Brandenburg, Bremen,<br />
Hamburg, Hessen, NRW und <strong>im</strong> Saarland auch als<br />
LK), bleibt aber <strong>im</strong> Alltag des Kurssystems oft<br />
randständig. In der Sekundarstufe I gibt es Pflichtangebote<br />
in Bayern, Mecklenburg-Vorpommern<br />
und Sachsen, sonst meist Arbeitsgruppen <strong>im</strong><br />
Wahlpflichtbereich oder „nur“ Eingliederung in<br />
andere Fächer (vgl. Schubert & Schwill, 2004,<br />
27). Oder Schulen setzen es zur Profilbildung ein.<br />
Dort, wo sich Informatik in der Sekundarstufe I<br />
durchsetzt, gehen die dazu nötigen Stunden i. d.<br />
R. auf Kosten anderer Fächer: auf Kosten der Mathematik<br />
oder, in naturwissenschaftlichen Gymnasien,<br />
auf Kosten des Hauptfaches Physik (das seinerzeit<br />
die dritte Fremdsprache — oft das klassische<br />
Latein — verdrängte).<br />
2.4 Wie soll es in der Schule nun<br />
weitergehen?<br />
In welcher Form Informatik verbindlicher Gegenstand<br />
an allen allgemeinbildenden Schulen wird<br />
— langfristig und mit der gleichen Selbstverständlichkeit,<br />
mit der wir heute die <strong>im</strong> Laufe des 20.<br />
Jahrhunderts sich dort endgültig etablierenden naturwissenschaftlichen<br />
Fächer finden — lässt sich<br />
kaum vorhersagen. Die Wünsche dazu sind <strong>im</strong>mer<br />
noch unterschiedlich.<br />
Auf der einen Seite finden wir exemplarisch<br />
bei einem der Pioniere informatischen Unterrichts<br />
in Deutschland, der bereits 1969 <strong>im</strong> Rahmen des<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>s Informatik unterrichtete :<br />
90<br />
Nun lässt sich begründen, dass<br />
es einerseits informatische Aspekte<br />
von allgemeinbildendem Wert gibt,<br />
dass aber <strong>für</strong> die schulische Umsetzung<br />
solcher Absichten kein eigenes<br />
Unterrichtsfach Informatik benötigt<br />
wird, [. . . ] unsere <strong>Gesellschaft</strong> kann<br />
nicht <strong>für</strong> jedes bildungsbedeutsame<br />
neue Gebiet ein eigenes neues Unterrichtsfach<br />
schaffen [. . . ]. (Hischer,<br />
2002, 101)<br />
„kann nicht [. . . ] schaffen“ sollte man hier <strong>im</strong> doppelten<br />
Sinn lesen: Um einer Kontinuität und Stabilität<br />
von Schule willen, sollte man erstens nicht<br />
<strong>im</strong> Hauruck . . . , und zweitens ist das System gar<br />
nicht in der Lage, dieses nichttriviale Ansinnen so<br />
einfach umzusetzen — wo sollen die benötigten<br />
Lehrpersonen auf einen Schlag herkommen? Und<br />
wir möchten oben hinzufügen: Ebenso wenig, wie<br />
<strong>für</strong> jedes andere arbeitsmarktbedeutsame (vgl. die<br />
Abbildung auf Basis der Daten des Statistischen<br />
Bundesamtes).<br />
Betriebswirtschaftlehre, Jura, Medizin sind<br />
auch Fächer mit einem hohen Studierendenbedarf<br />
und einer hohen Relevanz <strong>für</strong> unsere <strong>Gesellschaft</strong><br />
(und — nebenbei bemerkt — einer emanzipierteren<br />
Quote von Studentinnen), aber keines davon<br />
ist i. d. R. in allgemeinbildenden Schulen am Start.<br />
Auf der anderen Seite sprechen sich etwa<br />
(Hubwieser, 2004), (Humbert, 2005) und (Schubert<br />
& Schwill, 2004) jeweils in ihrer „Didaktik<br />
der Informatik“ selbstverständlich explizit <strong>für</strong> ein<br />
eigenes allgemeinbildendes Fach Informatik aus.<br />
Gemeinsam ist beiden Seiten der Wunsch, Informatik<br />
verstärkt zu unterrichten. Folgende<br />
Möglichkeiten bieten sich dazu prinzipiell an (vgl.<br />
Schubert & Schwill, 2004, 28f.):<br />
• Informatik als eigenes Fach<br />
• Informatik integriert in das Leitfach Mathematik<br />
• Informatik verteilt auf mehrere Fächer<br />
• Informatikunterricht als fächerübergreifender<br />
Projektunterricht<br />
Klar sollte sein: Informatikunterricht an allgemeinbildenden<br />
Schulen kann sich nicht nur an zukünftige<br />
Informatikerinnen und Informatiker richten,<br />
sondern muss alle Schülerinnen und Schüler<br />
<strong>im</strong> Auge haben. Entsprechend muss die Organisationsform<br />
und auch der Stoff gewählt sein.<br />
Klafki weist darauf hin, dass Allgemeinbildung<br />
dem „Allgemeinen“ <strong>im</strong> dreifachen Sinn gilt<br />
(vgl. etwa Krüger, 1997, 71):<br />
• Allgemeinbildung als Bildung <strong>für</strong> alle<br />
• Bildung <strong>im</strong> Medium des Allgemeinen (orientiert<br />
an zentralen Schlüsselproblemen der gemeinsamen<br />
Gegenwart und der voraussehbaren<br />
Zukunft)
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
• Bildung als Entwicklung von Vielseitigkeit<br />
Die Neuen Informations- und Kommunikationstechniken<br />
gehören heute unumstritten zu diesen<br />
Schlüsselproblemen. Entlang der genannten Trias<br />
kann Informatik als<br />
Einführung in die Nutzung und in<br />
ein elementarisiertes Verständnis der<br />
modernen [. . . ] Kommunikations-,<br />
Informations- und Steuerungsmedien<br />
<strong>im</strong>mer verbunden mit der Reflexion<br />
über ihre Wirkungen auf die sie benutzenden<br />
Menschen (Klafki, 1996,<br />
60)<br />
allgemeinbildend sein. Um aber diesem Anspruch<br />
gerecht zu werden, haben wir bei der Auswahl<br />
der allgemeinbildenden Unterrichtsinhalte die folgenden<br />
Fragen zu beantworten (siehe Hubwieser,<br />
2004, 57):<br />
• Lässt der (geplante) Inhalt zu, dass meine Schüler<br />
eine allgemeine Kenntnis erwerben können?<br />
• Lässt sich das Allgemeine an diesem Inhalt auch<br />
von meinen Schülern in dieser Lernsituation erfassen?<br />
Und nicht zuletzt:<br />
• Sollten meine Schüler dieses Allgemeine überhaupt<br />
erwerben?<br />
Nach unserer Auffassung lassen sich diese drei<br />
Fragen <strong>für</strong> die von uns <strong>im</strong> folgenden Abschnitt<br />
vorgestellte Idee Diskretisierung und die in Abschnitt<br />
4 folgenden exemplarischen Konkretisierungen<br />
<strong>für</strong> den Unterricht positiv beantworten.<br />
3 Zentrale, aktuelle und<br />
zukuftsweisende <strong>Ideen</strong> der<br />
Informatik<br />
Was <strong>für</strong> die Mathematik seit langem klar ist, wird<br />
inzwischen auch <strong>für</strong> die Informatik gesehen. Nun<br />
herrscht allgemein Konsens, daß<br />
die Fortschritte der Wissenschaft<br />
Informatik nicht mit gleicher Geschwindigkeit<br />
<strong>für</strong> den Schulunterricht<br />
zugänglich gemacht werden<br />
können. Daher müssen sich die Inhalte<br />
[. . . ] an den langlebigen Grundlagen<br />
der Wissenschaft orientieren.<br />
(Schwill, 1993, 1)<br />
Um der Frage nach den begründbar wünschenswerten<br />
Inhalten des Unterrichts nachgehen<br />
zu können, verallgemeinert man diese zunächst<br />
auf die Frage nach den fundamentalen <strong>Ideen</strong> des<br />
Faches.<br />
3.1 Fundamentale <strong>Ideen</strong><br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong> dienen der<br />
fachlichen Absicherung von Inhalten.<br />
(Humbert, 2005, 54)<br />
Sie funktionieren als spiraliges Strukturmoment<br />
(vgl. Schwill, 1993, 11-14) und helfen Zeitgeisterei<br />
<strong>im</strong> Unterricht verhindern.<br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong> nach und vor Bruner<br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong> haben eine gute Tradition als<br />
Rahmen <strong>für</strong> Untericht und wurden durch den amerikanischen<br />
Erziehungswissenschaftler Bruner fachunabhängig<br />
thematisiert und populär.<br />
Im Jahre 1960 formulierte [. . . ]<br />
Bruner das didaktische Prinzip, wonach<br />
sich Unterricht in erster Linie an<br />
Strukturen der zugrunde liegenden<br />
Wissenschaft orientieren soll. (Schubert<br />
& Schwill, 2004, 79)<br />
[Fundamentale <strong>Ideen</strong>] sind nicht<br />
Elemente der Wissenschaft an sich,<br />
sondern Produkte unseres Verstandes,<br />
die wir der Wissenschaft aufprägen.<br />
(Schubert & Schwill, 2004, 82)<br />
Bruner selbst gibt keine explizte<br />
Definition oder Charakterisierung des<br />
Begriffs, er überlässt es <strong>im</strong> wesentlichen<br />
dem Leser, sich anhand vieler<br />
Beispiele eine intuitive Vorstellung<br />
von fundamentalen <strong>Ideen</strong> zu verschaffen.<br />
(Schubert & Schwill, 2004,<br />
81)<br />
Um als solider Rahmen <strong>für</strong> Untericht dienen<br />
zu können, sollten Fundamentale <strong>Ideen</strong> gewissen<br />
Kriterien genügen (vgl. Schwill, 1993,<br />
8): Sie sollten (1) vielfältig erkennbar und anwendbar<br />
sein (Horizontalkriterium), (2) auf jedem<br />
intellektuellen Niveau — mit dem bekannten<br />
Wort Bruners: <strong>für</strong> jedem Menschen in jedem<br />
Alter — aufgezeigt und vermittelt werden<br />
können (Vertikalkriterium), (3) in der historischen<br />
Entwicklung längerfristig relevant sein<br />
(Zeitkriterium) und (4) Bezug zur alltäglichen<br />
Wirklichkeit besitzen (Sinnkriterium). In (Schubert<br />
& Schwill, 2004, 85f.) wird diese Liste noch<br />
um das Zielkriterium ergänzt, wonach Fundamentale<br />
<strong>Ideen</strong> als Annäherung an eine idealisierte<br />
Zielvorstellung dienen.<br />
Wir finden Fundamentale <strong>Ideen</strong> heute <strong>für</strong> den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> explizit unter dem Namen<br />
Leitideen in den Bildungsstandards <strong>für</strong> die Sekundarstufe<br />
I:<br />
Folgende mathematische Leitideen<br />
sind zu Grunde gelegt: (L1)<br />
91
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Zahl, (L2) Messen, (L3) Raum und<br />
Form, (L4) Funktionaler Zusammenhang,<br />
(L5) Daten und Zufall.<br />
Eine Leitidee vereinigt Inhalte<br />
verschiedener mathematischer Sachgebiete<br />
und durchzieht ein mathematisches<br />
Curriculum spiralförmig.<br />
(KMK, 2003, 13)<br />
Aber auch schon bereits in den Preußischen<br />
Richtlinien von 1925 in der Tradition der revidierten<br />
Meraner Lehrpläne von 1922 (nach Lietzmann,<br />
1926, 261f (Hervorhebungen nicht <strong>im</strong> Original),<br />
vgl. dazu auch Lambert, 2005a) können wir<br />
lesen:<br />
Allgemeines Lehrziel<br />
[. . . ] Erzielung der Fähigkeit, das<br />
Mathematische in Form, Maß, Zahl<br />
und Gesetzmäßigkeit an den Gegenständen<br />
und Erscheinungen der Umwelt<br />
zu erkennen und die gewonnene<br />
Erkenntnis selbständig anzuwenden;<br />
insbesondere Entwicklung<br />
des räumlichen Anschauungsvermögens<br />
und der Fertigkeit <strong>im</strong> mathematischen<br />
Auffassen der gegenseitigen<br />
Abhängigkeit veränderlicher Größenwerte.<br />
Die Idee Daten und Zufall war damals gerade aus<br />
dem Lehrplan gefallen, heute erlebt sie (dort?)<br />
wieder eine Renaissance.<br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong><br />
der Informatik<br />
(Baumann, 1990, 55) nennt den fundamentalen<br />
Begriff Algorithmus, die Idee der formalen<br />
Beschreibung und die Konstruktion künstlicher<br />
Sprachen, die weit in die Geistesgeschichte zurückgehen,<br />
und stellt fest:<br />
Die Entstehung der Informationsverarbeitung<br />
durch Computer beruht<br />
<strong>im</strong> wesentlichen auf drei fundamentalen<br />
<strong>Ideen</strong>, nämlich der Idee der Formalisierung,<br />
der Idee der Mechanisierung<br />
und der Idee der Programmsteuerung.<br />
(Baumann, 1990, 55)<br />
(Schwill, 1993) schlägt basierend auf seiner<br />
Analyse von Softwareentwicklung folgende drei<br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong> als Masterideen vor:<br />
• Algorithmisierung,<br />
• Strukturierte Zerlegung,<br />
• Sprache,<br />
und eröffnet damit die breitere Diskussion um<br />
Fundamentale <strong>Ideen</strong> der Informatik <strong>für</strong> den Unterricht.<br />
92<br />
1994 hat die Tagung unseres „Arbeitskreises<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik in der<br />
GDM“ das Thema: „Fundamentale <strong>Ideen</strong> – Zur<br />
Zielorientierung eines künftigen <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
unter Berücksichtigung der Informatik“.<br />
Bender konstatiert dort:<br />
[D]ie drei [. . . ] Master-<strong>Ideen</strong> sind<br />
entweder sowieso fundamentale <strong>Ideen</strong><br />
der [. . . ] Mathematik, oder aber<br />
[. . . ] informatische Verkörperungen<br />
solcher [. . . ]. (Bender, 1995, 12)<br />
Hier fließen offenbar zwei Überlegungen zusammen.<br />
Erstens: An Algorithmen war man schon<br />
lange vor der Erfindung des Computers interessiert<br />
und Mathematiktreibende sind maker of patterns<br />
(Hardy, 1967, 84) und Mathematik ist eine<br />
formale Sprache – man denke nur an Hilberts<br />
Programm. Und zweitens: Der Computer ist eine<br />
Maschine, auf die wir menschliche Denkfähigkeit<br />
mechanisiert auslagern (vgl. Hischer, 2002, 69f.<br />
bzw. Weigand & Weth, 2003, 1).<br />
In der Verbindung mit der Idee „Auslagerung<br />
auf einen Computer“ werden die historisch mathematischen<br />
<strong>Ideen</strong> Algorithmisierung, Strukturierte<br />
Zerlegung und Sprache also zu informatischen,<br />
und zu dieser Auslagerung ist Diskretisierung notwendig.<br />
Fasst man die Mathematik als die<br />
Wissenschaft vom „formal Denkbaren“<br />
auf, so konzentriert sich die Informatik<br />
auf das „Realisierbare“, also<br />
auf Formalismen und Begriffe, die<br />
der maschinellen Verarbeitung zugänglich<br />
sind. (GI, 2005, 3)<br />
Die Untersuchungsobjekte der<br />
Mathematik unterliegen <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
keinen Einschränkungen,<br />
während in der Informatik eine Bevorzugung<br />
diskreter Strukturen vorherrscht.<br />
(Claus, 1977, nach Schubert<br />
& Schwill, 2004, 14)<br />
Kurz:<br />
Mathematik ist die Wissenschaft von den<br />
denkbaren Mustern und Strukturen, und<br />
Informatik die von den computertechnisch<br />
machbaren, notwendig diskreten.<br />
3.2 Diskretisierung<br />
In Diskretisierung sehen wir eine zentrale, aktuelle<br />
und zukunftsweisende Idee an einer Schnittstelle<br />
von Mathematik und Informatik; nach unserer<br />
Auffassung erfüllt sie obige Kriterien an eine<br />
Fundamentale Idee und ist von allgemeinbildendem<br />
Wert. Sie spiegelt beide Traditionen der Informatik<br />
wider: Wir finden Sie in der Mathematik,
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
die sich auch schon vor dem Computer mit diskreten<br />
Strukturen auseinandersetzte, und sie hat als<br />
technische Notwendigkeit zwingenden Bezug zur<br />
Ingenieurwissensschaft.<br />
Diskrete Mathematik<br />
An der Brücke zwischen Mathematik und Informatik<br />
erlebt die Diskrete Mathematik heute ein –<br />
auch institutionell durch neue Professuren getragenes<br />
— Wiedererstarken.<br />
Ob Diskrete Mathematik ein eigenständiges<br />
Gebiet der Mathematik oder eine spezielle, klassische<br />
Gebiete verbindende Art, mathematisch zu<br />
denken, ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.<br />
Letztlich wird dies tatsächlich erst die noch<br />
vor uns liegende geschichtliche Entwicklung entscheiden.<br />
Einerseits<br />
Diskrete Mathematik ist ein relativ<br />
junges Gebiet der Mathematik,<br />
das in einzigartiger Weise sogenannte<br />
„reine Mathematik“ mit „Anwendungen“<br />
verbindet. Insbesondere seit<br />
der Einführung des Computers in der<br />
Mitte des 20. Jahrhunderts drängten<br />
sich Probleme der diskreten Mathematik<br />
in den Vordergrund. Im Gegensatz<br />
zu solchen Teilgebieten der<br />
Mathematik, die sich mit kontinuierlichen,<br />
„stetigen“ Phänomenen beschäftigen,<br />
wie z.B. die Analysis, ist<br />
es eine Herausforderung der diskreten<br />
Mathematik, Modelle zum Verständnis<br />
und zur Beherrschung von<br />
endlichen, eventuell allerdings sehr<br />
großen Phänomenen und Strukturen<br />
zu entwickeln. [. . . ] es werden Formeln<br />
und Algorithmen behandelt. Insofern<br />
sind die Übergänge zur Informatik<br />
fließend. (Beutelsbacher &<br />
Zschigener, 2004, Umschlagstext)<br />
Hier spricht der aktive Forscher, der in dem, was<br />
er tut, etwas Eigenes sieht. Interessant ist, dass wir<br />
auch hier die bereits oben schon von Bender getroffene<br />
Feststellung finden können, dass Formalisierung<br />
und Algorithmisierung sowohl zur Mathematik<br />
als auch zur Informatik gehören und diese<br />
verbinden.<br />
Andererseits<br />
Diskrete Mathematik ist ein Sammelname<br />
<strong>für</strong> verschiedene mathematische<br />
Teilgebiete, deren gemeinsamer<br />
Kern die Beschäftigung mit endlichen<br />
— bzw. diskreten — Mengen<br />
und darauf vereinbarten Relationen<br />
oder Strukturen ist. Hierzu gehö-<br />
ren Kombinatorik und Graphentheorie,<br />
insbesondere die diskrete Opt<strong>im</strong>ierung<br />
sowie die Codierungstheorie<br />
und Kryptographie. [. . . ] Diskrete<br />
Mathematik ist also kein eigenständiges<br />
mathematisches Teilgebiet<br />
wie Algebra, Geometrie oder Analysis.<br />
(Bruder & Weigand, 2005, 4)<br />
Dies ist ein Standpunkt <strong>für</strong> die Schule, <strong>für</strong> den<br />
Unterricht: Schule entwickelt sich langsam weiter<br />
und Neuerungen brauchen belastbare Anknüpfungspunkte.<br />
Wir sollten also das Diskrete zunächst<br />
bei Bekanntem suchen.<br />
Ein integrierender Zugang<br />
THESE: Die Übergänge zwischen Mathematik,<br />
Numerik und Informatik sind fließend, und so<br />
sollten sie auch in der Schule erscheinen. — Dies<br />
ist mit einer Integration informatischer <strong>Ideen</strong> in<br />
den <strong>Mathematikunterricht</strong> (der Sekundarstufe I)<br />
leichter möglich als mit einem abgespaltenen Fach<br />
Informatik.<br />
VORSCHLAG zur Diskussion: Es sollte in<br />
der Sekundarstufe I — ab Klasse 7, 8 oder 9? —<br />
ein integriertes Fach „Mathematik & Informatik“<br />
eingerichtet werden.<br />
4 Exemplarisches Beispiel <strong>für</strong><br />
den Unterricht<br />
Die in den vorherigen Abschnitten gelegten theoretischen<br />
Grundlagen zu allgemeiner Informatik<br />
und der Mathematik und Informatik verbindenden<br />
Idee Diskretisierung werden wir nun an beziehungshaltigen<br />
Beispielen <strong>für</strong> den Unterricht exemplarisch<br />
konkretisieren. Diese sind dabei so gewählt,<br />
dass sie in den derzeitigen alltäglichen <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
— <strong>im</strong> Rahmen der üblichen<br />
Lehrpläne der Sekundarstufe I — problemlos integriert<br />
werden können.<br />
4.1 Ein rund(?)er Anfang<br />
Der Computer vermittelt als Neues Medium und<br />
Werkzeug <strong>im</strong> Unterricht zwischen Mensch und<br />
Welt. Er erweitert mitprägend unsere Wahrnehmung.<br />
Konstruieren wir [. . . ] die Welt<br />
nach dem Bild des Computers, oder<br />
erschließen wir uns mit seiner Hilfe<br />
die Wirklichkeit? (Bauer-Wabnegg,<br />
2001, 33)<br />
Zeichnen wir mit einem DGS einen Kreis, erhalten<br />
wir ein Bild wie das folgende (hier: mit dem<br />
DGS des Casio Classpad 300):<br />
93
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Wir sehen einen Kreis, weil wir bereits wissen,<br />
was ein Kreis ist. Wenn wir Objekte zeichnen,<br />
die wir noch nicht kennen, dann erkennen wir sie<br />
nicht. Man kann die Beobachtung machen, dass<br />
Schülerinnen und Schüler, die Parabeln noch nicht<br />
kennen — aufgrund der durch die Bildschirmauflösung<br />
notwendigen Treppen — Probleme haben,<br />
die Parabeln vom Display „genau“ abzuzeichnen<br />
(vgl. Lambert, 2005b, 260).<br />
Was steckt eigentlich hinter den Treppen? Genaues<br />
Hinsehen ergibt: Der Rechner hat nur endlich<br />
viele Zeichenpunkte zur Verfügung! Bei der<br />
Untersuchung des Phänomens können wir ein<br />
Tabellenkalkulationsprogramm nutzen. Das Programm<br />
offenbart sich dadurch als ein sehr mächtiges<br />
Werkzeug (dazu Hischer, 2002, 241), das auch<br />
Dinge kann, <strong>für</strong> die es ursprünglich gar nicht gedacht<br />
ist.<br />
S<strong>im</strong>ulieren wir also die obige Kreisdarstellung<br />
(vgl. dazu auch Hubwieser, 2004, 137ff.,<br />
wo durch Tabellenkalkulation Rastergrafik und<br />
Vektorgrafik veranschaulicht werden): Wir setzen<br />
einen Pixel, falls die Kreisgleichung annähernd<br />
erfüllt ist.<br />
Dazu können wir wie folgt vorgehen: In Zeile<br />
1 bzw. Spalte A haben wir x- bzw. y-Koordinaten<br />
eingetragen, In Zelle D3 bis D7 finden sich Mittelpunkt,<br />
Radius und Näherungsschranken <strong>für</strong> die<br />
Kreisberechnung. Der kurze Befehl <strong>für</strong> die in der<br />
Abbildung markierte Zelle X7 lautet:<br />
=WENN(<br />
UND(<br />
(X$1-$D$3)^2+($A1-$D$4)^2>=$D$5^2-$D$6;<br />
(X$1-$D$3)^2+($A1-$D$4)^2
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
Taschenrechner Mit dem Taschenrechner<br />
wurde die Präzision der Näherungen erhöht und<br />
das Bewusstsein über numerische Fehler reduziert.<br />
Einheitskreis Früher konnte man Einheitkreise<br />
als Unterrichtmaterialien in Gestalt von Funktionsanzeigern<br />
erwerben (aus Lietzmann, 1923,<br />
176).<br />
Heute können sich die Lernenden selbst mit einem<br />
DGS einen beweglichen Eindruck vom Einheitskreis<br />
zum Funktionsgraphen verschaffen.<br />
Funktionsgraph Biegbare Kurvenlineale und<br />
starre Schablonen halfen früher be<strong>im</strong> Darstellen<br />
glatter Graphen. Oder man ließ sich technisch unterstützen<br />
(mit direktem Bezug zu den entsprechenden<br />
physikalischen Aspekten): durch Oszilloskop<br />
bzw. x-t-Schreiber oder auch durch St<strong>im</strong>mgabel<br />
und Rußplatte (Lietzmann, 1925, 145).<br />
Funktionsplots als Ergebnis mehrfacher Diskretisierung<br />
(vgl. Hischer, 2004, 40f) stellen heute<br />
Funktionsgraphen notwendig treppig dar. Aber<br />
es gibt auch einen wirklichen mediendidaktischen<br />
Durchbruch (vgl. Hischer, 2002, 249): Heute können<br />
wir Funktionsgraphen auf dem Computerbildschirm<br />
entstehen lassen (siehe oben) und über<br />
auf Formvariable wirkende virtuelle Schieberegler<br />
interaktiv bewegen. Für Letzteres eignet sich<br />
hervorragend das vom Lehrer Robert Triftshäuser<br />
programmierte, frei erhältliche und einfach handhabbare<br />
Paraplot2, das zu vom Nutzer verwendeten<br />
Formvariablen automatisch Schieberegler generiert.<br />
. . . und in der Sekundarstufe II<br />
Reihe Für die rigorose Analysis spielt es eine<br />
Rolle, dass sich der Sinus als unendliche Reihe<br />
sin(x) =<br />
∞<br />
∑<br />
k=0<br />
(−1) k x2k+1 (2k+1)!<br />
darstellen lässt; sie kann dies als Definition nehmen.<br />
Den Grenzübergang können wir uns heute<br />
leicht ansehen.<br />
Mathematische und andere Pendel Bei<br />
der Beschreibung von Schwingungen spielt die<br />
Sinusfunktion eine wichtige Rolle. Dabei erhalten<br />
wir in einer gegebenen Situation unterschiedliche<br />
Aussagen über das Verhalten eines Pendels,<br />
je nachdem was wir zur Lösung verwenden (wollen).<br />
Ein wirkliches (nicht angeregtes) Pendel<br />
schwingt, einmal angestoßen, natürlich mit fallender<br />
Amplitude, bis es schließlich zum Stillstand<br />
kommt.<br />
Das wie üblich zum mathematischen Pendel<br />
linearisierte — hier wird der Sinus <strong>im</strong> Ansatz<br />
durch seine lineare Näherung ersetzt, damit man<br />
eine exakte Lösung erhalten kann — Anfangswertproblem<br />
¨x(t) = −x(t), ˙x(0) = 1, x(0) = 0<br />
hingegen hat den ewig schwingenden Sinus als<br />
Lösung.<br />
Und lösen wir diese Differentialgleichung<br />
über das naiv — d. h. analysisfrei — diskretisierende<br />
Eulerverfahren numerisch (siehe unten, mit<br />
Maple), so wächst die Amplitude der Schwingung<br />
beständig. Durch Verkleinerung der Schrittweite,<br />
können wir diese Lösung zwar verbessern, aber<br />
letztlich wäre der Grenzübergang dann doch wieder<br />
kontinuierliche Analysis.<br />
f:=(t,x,y)->y;<br />
g:=(t,x,y)->-x;<br />
t[0]:=0; x[0]:=0; y[0]:=1;<br />
h:=0.1; schritte:=400;<br />
for k from 0 to schritte do<br />
t[k+1]:=t[k]+h;<br />
x[k+1]:=x[k]+h*f(t[k],x[k],y[k]);<br />
y[k+1]:=y[k]+h*g(t[k],x[k],y[k])<br />
od:<br />
95
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Das Beispiel zeigt auch, dass eine strikte Trennung<br />
von Mathematik- und Physikunterricht leider<br />
die Beziehungshaltigkeit vieler (auch hier<br />
nicht genannter) Aspekte des Begriffes Sinus reduziert,<br />
die exemplarisch <strong>für</strong> die Beziehungshaltigkeit<br />
von Mathematik und Physik stehen könnte.<br />
Periodisches Aliasing be<strong>im</strong> Plotten von<br />
Sinusfunktionen<br />
Funktionenplotter sind oft ein nützliches Werkzeug<br />
zum Erkennen von Funktionseigenschaften.<br />
Dabei ist ihnen durch die diskrete Auflösung der<br />
Funktionsgraphen in Pixel eine technische Grenze<br />
<strong>für</strong> Darstellungsmöglichkeiten gesetzt, die uns<br />
bewusst sein muss, damit wir uns nicht in die Irre<br />
führen lassen. Man kann sich leicht überlegen,<br />
dass es auf einem Bildschirm mit m mal n Pixeln,<br />
die nur die Werte Schwarz bzw. Weiß annehmen,<br />
genau 2 mn verschiedene Bilder gibt, gewiss zu wenig,<br />
um unendlich viele unterschiedliche Funktionen<br />
auch unterschiedlich darzustellen.<br />
Die Pixel bilden ein periodisches Raster, der<br />
Sinus ist eine periodische Funktion, da ist es nicht<br />
abwegig bei zwingend auftretenden Fehldarstellungen<br />
auch periodische Phänomene zu erwarten,<br />
Mathematik und Informatik haben schließlich System.<br />
Durch systematisches Probieren kann man<br />
entdecken: Der Funktionsplot auf dem TI Voyage<br />
200 etwa zeigt uns über dem Intervall [−π,π]<br />
und<br />
sin(x) = sin(239x) = sin(477x) = ···<br />
sin(2x) = sin(240x) = sin(478x) = ···<br />
usw. (vgl. Herget et al., 2002) und der auf dem<br />
Casio Classpad 300 (Lambert, 2005b, 262f)<br />
und<br />
sin(x) = sin(155x) = sin(309x) = ···<br />
sin(2x) = sin(156x) = sin(310x) = ···.<br />
Wie kommt das zustande? Die Plotter berechnen<br />
und zeichnen die Werte an den durch ihre Bildschirmauflösung<br />
gegebenen Stützstellen. An diesen<br />
fallen die Werte der unterschiedlichen Funktionen<br />
offensichtlich zusammen. Offensichtlich —<br />
96<br />
aber warum? Ein Additionstheorem erhellt den<br />
Zusammenhang (vgl. Hischer, 2002, 58):<br />
sin((a+ks)xσ)<br />
= sin(axσ)cos(kσ2π)+cos(axσ)sin(kσ2π)<br />
<strong>für</strong> k ∈ Z, die Abtastrate s und die Stützstellen<br />
xσ = 2πσ<br />
s mit σ = 1...s. Darin ist cos(kσ2π) = 1<br />
und sin(kσ2π) = 0 <strong>für</strong> alle k und σ. Vom Term<br />
rechts des Gleichheitszeichens bleibt also tatsächlich<br />
nur sin(axσ) stehen, und das sehen wir. So<br />
lässt sich dann auch die Abtastrate s best<strong>im</strong>men.<br />
Haben wir das verstanden, so können wir eine erklärende<br />
Abbildung erzeugen — mit überschaubarer<br />
Frequenz des Sinus und passender Abtastrate<br />
in einer Wertetabelle (hier auf dem Casio<br />
Classpad 300):<br />
Spannend ist hier auch die letzte Zeile der Wertetabelle,<br />
die uns etwas über die interne (Un-<br />
)Genauigkeit der Maschine verrät. Vergleichbare<br />
Beobachtungen kann man auch leicht mit einer<br />
Tabellenkalkulation machen.<br />
Das Phänomen möglicher Fehldarstellungen<br />
bei äquidistanter Abtastung ist von hoher Anwendungsrelevanz:<br />
Es spielt z. B. eine wesentliche<br />
Rolle bei der Digitalisierung — also Diskretisierung<br />
— von Tonsignalen bei Audioaufnahmen.<br />
Als Ausweg haben wir Shannons Abtasttheorem,<br />
das sicherstellt, dass wir, wenn wir ein Signal mit<br />
einer Frequenz abtasten, die mehr als doppelt so<br />
groß ist wie die höchste der in dem abzutastenden<br />
Signal enthalten Frequenzen, das Originalsignal<br />
wieder vollständig rekonstruieren können. Dazu<br />
verwendet man die schnelle Fouriertransformation<br />
(FFT), die, in wenigen Zeilen programmierbar,<br />
<strong>im</strong> Untericht von der Lehrperson leicht demonstriert<br />
werden kann – man kann nicht alles die Lernenden<br />
selbst entdecken lassen.<br />
Oben haben wir die inzwischen historisch gewachsene<br />
Trennung von Mathematik- und Physikunterricht<br />
be<strong>im</strong> Thema Sinus bedauert. Eine Trennung<br />
von Mathematik- und Infomatikunterricht<br />
<strong>im</strong> Alltag würde noch vorhandene Chancen angebrachter<br />
Vernetzung — die hier exemplarisch angedeutet<br />
wurde — vergeben. (Zwischen-) Bilanzierend<br />
möchten wir hier festhalten:
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
Am Beispiel des Begriffs „Sinus“ lässt<br />
sich Diskretisierung <strong>im</strong> Zusammenspiel<br />
von Mathematik, Numerik & Informatik<br />
erkennen-erkunden-erfahren-erklären.<br />
4.3 Ein Modell von Modellbildung be<strong>im</strong><br />
reflektierenden Einsatz von<br />
Computern <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
In Erweiterung des Modells von Modellbildung<br />
von (Schupp, 1988, 11) <strong>für</strong> den anwendungsorien-<br />
Schupp hat den Modellbildungskreislauf<br />
strukturiert, indem er die Seiten Problem und Lösung<br />
und die Ebenen Welt und Mathematik bewusst<br />
unterscheidet.<br />
Wir möchten dem Modell be<strong>im</strong> Computereinsatz<br />
zwei weitere Ebenen hinzufügen: Die Ebene<br />
„Auf dem Computer“ und die Ebene „Im Computer“.<br />
Wir übersetzen (falls möglich!) unser mathematisches<br />
Modell so, dass wir es dem Computer<br />
übergeben können. Der übersetzt es sich wiederum<br />
so, dass er binär damit rechnen kann. Das<br />
Resultat seiner Rechnung transformiert er dann<br />
wieder in eine <strong>für</strong> uns verständliche Sprache zurück,<br />
woraus wir schließlich ein Ergebnis gewinnen<br />
können.<br />
Wir sehen bei der Nutzung eines CAS, das <strong>für</strong><br />
uns algebraisch operiert, nicht, dass dies <strong>im</strong> Computer<br />
durch Binärarithmetik realisiert ist.<br />
Das Modell erinnert uns daran, dass wir in vielen<br />
Fällen zuerst Mathematisieren und dann Diskretisieren<br />
(sollten), und dass erst die Kenntnis der<br />
Möglichkeiten und Grenzen des Computers einen<br />
verständigen Umgang mit diesem ermöglicht.<br />
4.4 Pixelphänomene<br />
Diskrete Auflösung durch Pixel spielt noch an vielen<br />
weiteren Punkten in den Mathematik- und Informatikunterricht<br />
hinein.<br />
Phänomene die zwischen die Pixel fallen<br />
Auf Bildschirmen haben wir <strong>im</strong>mer Diskretisierung<br />
vor Augen, die Phänomene des Unendlichen<br />
verendlicht. Ohne eine angemessene Reflexion<br />
der Situation lassen sich leicht Fehlschlüsse<br />
tierten <strong>Mathematikunterricht</strong> schlagen wir angeregt<br />
durch die Betrachtungen am exemplarischen<br />
Beispiel Sinus folgendes Modell <strong>für</strong> den entsprechenden<br />
Einsatz <strong>im</strong> Mathematik & Informatik -<br />
Unterricht vor; typisch informatische Anwendungen<br />
wie etwa Datenbanken sollen von diesem Modell<br />
nicht beschrieben werden.<br />
ziehen.<br />
Auf einen präzisen Grenzwertbegriff<br />
wird verzichtet. Dies geschieht<br />
auch in dem Zusammenhang, dass<br />
wir uns in einem Übergang vom<br />
industriellen Zeitalter ins Informationszeitalter<br />
befinden. Mathematische<br />
Grundlage <strong>für</strong> das industrielle Zeitalter<br />
war die traditionelle Analysis.<br />
Basis <strong>für</strong> das Informationszeitalter ist<br />
eher die diskrete Mathematik. (Weitendorf,<br />
2000)<br />
Untersuchen wir also nun etwa die Krümmung der<br />
recht s<strong>im</strong>plen Funktion<br />
<strong>für</strong><br />
f : R + → R, x ↦→ xln(x)<br />
x → 0.<br />
Ein Blick auf das Display des Classpad 300 zeigt<br />
uns den Plot über [−0,5..1,5] ×[−1..1] bzw. eine<br />
Auschnittsvergrößerung:<br />
97
Anselm Lambert und Pia Selzer, Saarbrücken<br />
Das Krümmungsverhalten scheint harmlos zu<br />
sein. Wie <strong>im</strong>mer bei Funktionsplots differenzierbarer<br />
Funktionen ist das Bild lokal linear — was<br />
ja <strong>im</strong> Unterricht Funktionenmikroskope ermöglicht<br />
(vgl. Kirsch, 1979). Es suggeriert uns aber<br />
auch leicht Krümmung 0 – ein prinzipielles Problem.<br />
Ein Plot der zugehörigen Krümmungsfunktion<br />
lässt bei geschicktem Zoomen etwas Anderes<br />
möglich scheinen. Eine analytische Betrachtung<br />
— bei der ein CAS Arbeit abn<strong>im</strong>mt — verblüfft<br />
schließlich endgültig damit, dass <strong>für</strong> x gegen 0 die<br />
Krümmung gegen ∞ geht.<br />
Sie haben mal Leute zitiert, die<br />
behauptet haben, daß Newton und<br />
Leibniz die Differential- und Integralrechnung<br />
nicht erfunden hätten,<br />
wenn sie Taschenrechner gehabt hätten!<br />
Diese Aufgabe zeigt, was das <strong>für</strong><br />
ein Unsinn ist. (Schülerin nach Steinberg,<br />
2005, 46)<br />
Übrigens: Wir leben <strong>im</strong> (Informations-) Zeitalter,<br />
in dem man dank Computer Schiller zitieren kann,<br />
ohne ihn wirklich selbst gelesen zu haben (vgl.<br />
auch Swift oben). Und so finden wir passend zum<br />
Schillerjahr leicht ein hier passendes Zitat:<br />
Theoretischerhaben ist ein Gegenstand,<br />
insofern er die Vorstellung<br />
der Unendlichkeit mit sich führet, deren<br />
Darstellung sich die Einbildungskraft<br />
nicht gewachsen fühlt. (Schiller,<br />
1793)<br />
Und deren Darstellung diskrete Computer nicht<br />
gewachsen sein können.<br />
Weitere Phänomene, die zwischen den<br />
Pixeln emporsteigen<br />
Aliasing be<strong>im</strong> Plotten des Sinus lässt sich als Phänomen<br />
bei der Überlagerung periodischer Strukturen<br />
beschreiben. Dies birgt <strong>für</strong> den Unterricht ein<br />
Verallgemeinerungspotential. Überlagerung periodischer<br />
Strukturen haben wir auch in der folgenden<br />
Situation: Der Scan eines leicht gedrehten<br />
Streifenmusters (mit einem Scanner, aber auch<br />
bei Bilschirmdarstellung) zeigt Moiré-Phänomene<br />
(vom frz. moiré: schillernd).<br />
Zur Untersuchung <strong>im</strong> Unterricht der Sekundarstufe<br />
I benötigen wir unterschiedliche Folien<br />
mit äquidistanten Steifenmustern, die wir leicht<br />
mit LATEX (oder auch einem Grafikprogramm) erzeugen:<br />
98<br />
\documentclass[12pt,a4paper]{article}<br />
\begin{document}<br />
\setlength{\unitlength}{1cm}<br />
\begin{picture}(5,15)<br />
\linethickness{0.1 cm}<br />
\multiput(0,0)(0.2,0){70}{\line(0,1){15}}<br />
\end{picture}<br />
\end{document}<br />
Dieser kurze Quellcode erzeugt ein Muster mit<br />
Streifenbreite 0,1 cm (Zeile 5) und der Periode<br />
0,2 cm (Zeile 6).<br />
Legt man zwei dieser Folien übereinander und<br />
verdreht sie gegeneinander, so kann man abhängig<br />
vom Drehwinkel und vom Frequenzverhältnis<br />
Streifen sehen, die in keiner der Folien selbst enthalten<br />
sind.<br />
Wir sehen hier den so genannten (1,−1)-<br />
Moiré <strong>für</strong> die Frequenzverhältnisse q = 1 bzw.<br />
q = 1,1 und einen Drehwinkel von etwa 6 ◦ (aus<br />
Selzer, 2005, 42).<br />
Die Sichtbarkeit <strong>im</strong> Folienexper<strong>im</strong>ent ist auch<br />
abhängig davon, ob man in das Moiré hinein- oder<br />
aus ihm herausdreht (Selzer, 2005, 103).<br />
Aus mathematischer Sicht interessant ist die<br />
Frage, ob und wie man ggf. aus den Perioden der<br />
Ausgangsfolien und dem Drehwinkel den Moiré<br />
best<strong>im</strong>men kann.<br />
Ein möglicher Weg, der schließlich zu einer<br />
verständigen S<strong>im</strong>ulation von Moirés bei Streifenmustern<br />
mit einem DGS führen kann, ist in (Lambert,<br />
2005a) beschrieben.
Schillernde Diskretisierung – eine Schnittstelle von Mathematik und Informatik<br />
Was wir hier sehen ist eine didaktische Reduktion<br />
der Fourieranalyse: Links sind Richtung und<br />
Größe der jeweiligen Frequenzen dargestellt; Frequenz<br />
und Richtung des Moirés ergibt sich durch<br />
lineare Superposition (kennt man aus dem Physikunterricht<br />
von Kräften), also durch Vektoraddition.<br />
Bei anderen als dem (1,−1)-Moiré kommen<br />
entsprechende andere Vielfache der Vektoren zum<br />
Zug.<br />
Neben Streifenmustern können auch weitere<br />
periodische Muster betrachtet werden, was die<br />
visuelle Entdeckung ermöglicht, dass <strong>im</strong> Moiré<br />
Information aus den Ausgangssignalen zu sehen<br />
ist. Überlagern wir etwa zweifach periodisch angeordnete<br />
weiße Kreise auf schwarzen Grund<br />
mit zweifach periodisch angeordneten schwarzen<br />
Herzchen auf weißem Grund, so wird bei geringem<br />
Drehwinkel ein Moiré sichtbar, der verschwommen<br />
vergrößerte Herzen aufweist (vgl.<br />
Selzer, 2005, 88).<br />
Das Vergrößerungsphänomen hat man schon<br />
früher zur Qualitätsbest<strong>im</strong>mung von Seidenstoffen<br />
verwendet. Dort spielen Moirés auch bei der<br />
Herstellung von schillernden Stoffen eine Rolle<br />
— bereits <strong>im</strong> alten China (vgl. dazu Selzer, 2005,<br />
6).<br />
Mit dem Wissen um Moirés kann man diese<br />
dann auch <strong>im</strong> Alltag jenseits des Computers wiederfinden<br />
(Abb. aus Selzer, 2005, 5) — man sieht,<br />
was man weiß.<br />
4.5 Ein rund(?)es Ende<br />
Hat man die Idee der Diskretisierung verstanden,<br />
kann man sie schließlich selbst kreativ nutzen. Wir<br />
können dazu den <strong>im</strong>pliziten 3D-Funktionenplotter<br />
DPGraph einsetzen, der leicht zu bedienen und<br />
preiswert zu erhalten ist, und der sich <strong>für</strong> mathematische<br />
Anwendungen und mathematische Spielereien<br />
<strong>im</strong> Unterricht eignet.<br />
graph3d.mesh:=false<br />
graph3d.resolution := 99<br />
graph3d.contrast := 0.6<br />
graph3d.highlight := 0.3<br />
graph3d.shading := 0.8<br />
graph3d.color := (x+y+z)/5<br />
graph3d.min<strong>im</strong>umx := -2<br />
graph3d.max<strong>im</strong>umx := 2<br />
graph3d.min<strong>im</strong>umy := -2<br />
graph3d.max<strong>im</strong>umy := 2<br />
graph3d.min<strong>im</strong>umz := -2<br />
graph3d.max<strong>im</strong>umz := 2<br />
graph3d(<br />
((x-3/2)^2+(y-3/2)^2+(z-3/2)^2=0.1875,<br />
x^2+y^2+z^2=0.4969,<br />
(x-3/4)^2+(y-3/4)^2+(z-3/4)^2=0.1875,<br />
(x+5/4)^2+(y+5/4)^2+(z+5/4)^2=2.8*0.1875)<br />
)<br />
Bei diesen vier Kugeln sind Mittelpunkte<br />
und Radien so gewählt, dass sie<br />
bei Reduktion des stützenden Gitters auf<br />
graph3d.resolution := 9 (fast) aussehen<br />
wie arch<strong>im</strong>edische und platonische Körper<br />
— sehen sie als Kugeln eigentlich aus wie Kugeln?<br />
Literatur<br />
Bauer-Wabnegg, Walter (2001): Logische Tiefe und freundliche<br />
Oberflächen – Neue Mythen des Alltags. In: Bürdeck,<br />
Bernhard E. (Hg.): Der digitale Wahn, Suhrkamp, 29–43<br />
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eines künftigen <strong>Mathematikunterricht</strong>s unter Berücksichtigung<br />
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Beutelsbacher, Albrecht & Marc-Alexander Zschigener<br />
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Vieweg<br />
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und allgemeinbildender Kern. In: Heinrich, Bauersfeld,<br />
Michael Otte & Hans Georg Steiner (Hg.): Informatik <strong>im</strong> Unterricht<br />
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<strong>für</strong> Informatik<br />
Hardy, G. H. (1967): A mathematician’s apology. Cambridge:<br />
At The University Press<br />
Herget, Wilfried, Karl-Heinz Keunecke, Elvira Malitte & Sibylle<br />
Stachniss-Carp (2002): Sinus-Graphen und Rechner-<br />
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Hischer, Horst (2002): <strong>Mathematikunterricht</strong> und Neue Medien.<br />
Hintergründe und Begründungen in fachdidaktischer und<br />
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Humbert, Ludger (2005): Didaktik der Informatik – mit praxiserprobtem<br />
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99
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einer Grundvorstellung vom Ableitungsbegriff. MU, 25,<br />
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Klafki, Wolfgang (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie<br />
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den Mittleren Schulabschluss. Bonn: Sekretariat der Ständigen<br />
Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik<br />
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Krüger, Heinz-Hermann (1997): Einführung in Theorien und<br />
Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich<br />
Lambert, Anselm (2003): Begriffsbildung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
In: Bender, Peter, Wilfried Herget, Hans-Georg Weigand<br />
& Thomas Weth (Hg.): Lehr- und Lernprogramme <strong>für</strong><br />
den <strong>Mathematikunterricht</strong>, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 91–104<br />
Lambert, Anselm (2005a): Bildung und Standards <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
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steht. In: Bender, Peter, Wilfried Herget, Hans-Georg Weigand<br />
& Thomas Weth (Hg.): Neue Medien und Bildungsstandards,<br />
Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 70–80<br />
Lambert, Anselm (2005b): Ich sehe was, was Du nicht siehst –<br />
Computerdarstellungen reflektieren. In: Barzel, Bärbel, Stefan<br />
Hussmann & T<strong>im</strong>o Leuders (Hg.): Computer, Internet & Co.<br />
Im <strong>Mathematikunterricht</strong>, Berlin: Cornelsen Scriptor, 256–268<br />
Lietzmann, Walther (1923): Methodik des mathematischen<br />
Unterichts. II. Teil: Didaktik der einzelnen Gebiete des mathematischen<br />
Unterrichts. Leipzig: Quelle & Meyer<br />
100<br />
Lietzmann, Walther (1925): Funktion und graphische Darstellung.<br />
Breslau: Ferdinant Hirt<br />
Lietzmann, Walther (1926): Methodik des mathematischen<br />
Unterichts. I. Teil: Organisation, Allgemeine Methode und<br />
Technik des Unterrichts. Leipzig: Quelle & Meyer<br />
Schiller, Friedrich (1793): Vom Erhabenen<br />
Schubert, Sigrid & Andreas Schwill (2004): Didaktik der Informatik.<br />
Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
Schupp, Hans (1988): Anwendungsorientierter <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in der Sekundarstufe I zwischen Tradition und neuen<br />
Impulsen. MU, 34(6), 5–16<br />
Schwill, Andreas (1993): Fundamentale <strong>Ideen</strong> der Informatik.<br />
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Schriften/ZDM.pdf<br />
Selzer, Pia (2005): Überraschende Phänomene bei der Darstellung<br />
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Steinberg, Günter (2005): Kurvendiskussionen: Wirklich Diskussion<br />
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Steinbuch, Karl (1966): Die informierte <strong>Gesellschaft</strong>. Stuttgart:<br />
DVA<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2003): Computer <strong>im</strong><br />
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Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
Weitendorf, Jens (2000): Realitätsbezogener Analysisunterricht<br />
<strong>für</strong> die Klasse 11. URL www.erzwiss.<br />
uni-hamburg.de/Personal/Gkaiser/db83.<br />
html#ch242
• Erlebnis Mathematik mit Computer — Realisierung am<br />
Beispiel des Folgenbegriffs<br />
Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
In diesem Artikel wird ein prozessorientierter Ansatz <strong>für</strong> die Anwendung des Computers in der<br />
Mathematik-Lehramtsausbildung vorgestellt, der an der PH Ludwigsburg entwickelt und erprobt<br />
wurde.<br />
1 Einleitung<br />
Das Gebiet „Mathematik mit Computer“ ist schon<br />
fast nicht mehr diskutierbar, da bei Argumenten<br />
sehr verschiedene didaktische Situationen gemeint<br />
sein können; es ist also leicht aneinander<br />
vorbei zu reden. So meinen wir <strong>im</strong> Folgenden<br />
nicht etwa die Rolle, die die Mathematik pragmatischerweise<br />
bei der Vermittlung von Basiskenntnissen<br />
und -fähigkeiten der Informationstechnologie<br />
— etwa nach dem FITness-Curriculum (Fluency<br />
with Information Technology) — <strong>im</strong>mer<br />
noch spielt oder spielen muss, solange es ein<br />
durchgreifendes Fach Informatik noch nicht gibt.<br />
Wobei hier offen bleiben kann, ob es dies überhaupt<br />
geben sollte.<br />
Wir denken <strong>im</strong> Folgenden auch nicht an die<br />
Nutzung von Anwendersoftware <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Wie <strong>im</strong>mer ist die <strong>im</strong> Unterricht verwendete<br />
Software gegenüber inhaltlichen Vorgaben<br />
dominierend und in der Regel werden didaktische<br />
Urteile von ihr beeinflusst. Man denke nur<br />
an Tabellen-, Geometrie- oder Algebrasysteme,<br />
die jeweils schon fast eine eigene Mediendidaktik<br />
innerhalb der Mathematikdidaktik induzieren.<br />
Auch die Frage, welche informatischen Inhalte,<br />
Denkweisen und Techniken <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
mit Erfolg nutzbar sind, stellt ein weites Feld<br />
didaktisch-methodischer Diskussionen dar. Während<br />
ein iterativ algorithmisches Denken schon etwas<br />
in das Blickfeld der Schulmathematik gekommen<br />
ist, sieht es bei echt rekursiven Denken noch<br />
eher düster aus. Auch das Vermeiden von Indices,<br />
die ja eine Technik der statisch verstandenen<br />
Mathematik darstellen, wird kaum zur Stärkung<br />
eines mehr dynamisch mathematischen Denkens<br />
genutzt. Wir werden dazu später ein Beispiel mit<br />
dem Folgenbegriff haben.<br />
All dies soll jedoch <strong>im</strong> Folgenden nicht <strong>im</strong><br />
Vordergrund stehen.<br />
2 Von Inhalten zu Prozessen<br />
Das Grundproblem, das wir zur Zeit sehen ist, wie<br />
bringen wir es fertig von inhaltsbezogenem didaktischen<br />
Denken zu einem Denken in prozessorientierten<br />
Arbeits- und Lernstilen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
zu kommen?<br />
Dass dies dem gegenwärtigen Einsichten in<br />
der Didaktik der Mathematik entspricht, ist nach<br />
TIMSS, PISA etc., den NCTM-Standards (1978<br />
bis 2000), den zur Zeit sich entwickelnden Bildungsstandards<br />
und nicht zuletzt diversen Projekten<br />
wie SINUS usw. offensichtlich. Formulliert ist<br />
diese Form des mathematischen Lernens und aktiven<br />
Arbeitens als Prozess in den Prozessstandards<br />
der NCTM, die ja auch in den Bildungsstandards<br />
bei uns einige Spuren hinterlassen haben.<br />
Das Problem dabei ist — besonders in<br />
Deutschland und vor allem am Gymnasium —<br />
wie <strong>im</strong>plementiert man ensprechende Lehr- und<br />
Lernstile in den Schulen. Es gibt sicherlich den<br />
guten Willen dazu, aber die Lehrer sind über<br />
das Wie eher ratlos. Lehrende können nur dann<br />
methodische Fantasie <strong>für</strong> ihren Unterricht entwickeln,<br />
wenn sie auf ein entsprechendes eigenes<br />
Lernerlebnis zurückgreifen können. Im Lehramtsstudium<br />
stehen leider genau wie <strong>im</strong> Schulunterricht<br />
eher die Inhalte und weniger die Prozesse<br />
mathematischen Arbeitens und Lernens <strong>im</strong> Vordergrund.<br />
Wesentlich ist also das Erleben von Mathematik<br />
und weniger das Wissen über Mathematik.<br />
Leider ist es aber so, dass nur wenige Studierende<br />
daran gewöhnt sind eigeninitiativ und aktiv<br />
Mathematik zu betreiben, indem sie Vorlesungen<br />
nacharbeiten, Übungen aktiv durchführen und<br />
sich die Mathematik zur „eigenen Sache“ zu machen.<br />
Es besteht also die Aufgabe <strong>für</strong> Studium und<br />
Schule Lernumgebungen <strong>für</strong> zentrale Inhalte der<br />
Mathematik zu gestalten und Studierende da<strong>für</strong> zu<br />
gewinnen.<br />
Für diese Aufgabe sind die didaktischen <strong>Ideen</strong><br />
Seymour Paperts (und der ihn umgebenden<br />
Projekte seit 1968) <strong>im</strong>mer noch (oder gerade erst<br />
richtig) aktuell. Eine Möglichkeit methodisch zu<br />
arbeiten kann darin bestehen, dass man Lernen<br />
durch aktive explorative Arbeit in einer mathematikhaltigen<br />
Softwareumgebung organisiert.<br />
An der Pädagogischen Hochschule wurden in<br />
den letzten 15 Jahren eine Reihe von Vorlesungen<br />
<strong>für</strong> das Grundstudium mit Übungen und Computerübungen<br />
entwickelt, wobei letztere eine Lernumgebung<br />
darstellen sollten. Basis ist jeweils<br />
ein Skript, das relativ straff die Inhalte darstellt<br />
und rechte Seiten, die <strong>für</strong> aktive Arbeit während<br />
der Vorlesung Anregungen und Platz bieten. Hinzu<br />
treten von Tutoren geleitete klassische Papier-<br />
Bleistift-Übungen und Computerübungen. Beide<br />
Übungsformen leiden unter der Inaktivität vieler<br />
101
Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
Studierender, die sich mit dem Anhören der Vorlesung<br />
und Absitzen der Übungen erst einmal zufrieden<br />
geben. Es bleibt also die Frage, ob man<br />
nicht unter Ausnutzung von informatischen Techniken<br />
mehr Studierende in eine aktiv explorierende<br />
Lernhaltung „hineinziehen“ kann. Dabei kann<br />
es sich nicht nur um Demonstrationen des Vortragenden<br />
(etwa durch Beamer) handeln. Nach unseren<br />
Erfahrungen werden solche Demonstrationen<br />
eher inaktiv konsumiert als produktiv als Arbeitsanreiz<br />
<strong>für</strong> die spätere Übung verstanden. Es ist sogar<br />
so, dass Lernende gar keinen Anlass mehr sehen<br />
aktiv arbeitend sich mit Problemen am Computer<br />
auseinander zu setzen, wenn sie meinen,<br />
oberflächlich eine Demonstration verstanden zu<br />
haben.<br />
Soweit unsere eher ernüchternde Erfahrungen<br />
aus dem Lehrbetrieb. Dies hat jedoch meinen Ludwigsburger<br />
Kollegen Siegfried Krauter nicht davon<br />
abgehalten ein Lehrbuch „Erlebnis Geometrie“<br />
zu schreiben, in dem der Leser durchgehend<br />
aufgefordert wird, Exper<strong>im</strong>ente mit einem Dynamischen<br />
Geometriesystem zu machen (Krauter,<br />
2005). Es wird dabei vom Lernenden erwartet,<br />
dass er aktiv lesend sich den geometrischen Inhalt<br />
erschließt, indem er Exper<strong>im</strong>ente am Computer<br />
macht.<br />
3 Die Lernumgebung „Folgen“<br />
Im folgende soll ein Schritt weiter gegangen und<br />
ein konkretes Beispiel beschrieben werden, wie<br />
man unter Ausnutzung informatischer Techniken<br />
vielleicht den Abstand zwischen Buch oder Skript<br />
einerseits und der Lernumgebung auf dem Computer<br />
verkleinern kann, indem man nämlich die<br />
Lernumgebung mit dem Computer in das Skript<br />
(als pdf-File) integriert. Zur verwendeten Technik<br />
wird später noch einiges ausgeführt.<br />
Als Pilotvorhaben haben wir den Folgenbegriff<br />
ausgewählt, wie er etwa in der Analysis auftritt.<br />
Das klassische Vorgehen in der Analysis ist<br />
<strong>für</strong> Lernen unter der didaktischen Leitidee „Lernumgebung<br />
<strong>für</strong> aktives, explorierendes Lernen“<br />
wenig geeignet. Es handelt sich um typische veröffentlichte<br />
Mathematik ohne viel Möglichkeiten<br />
zum Explorieren, auch Schulbücher sind hier<br />
nicht besser. Die übliche Analysis bietet vorgeprägte<br />
Lösungsrezepte und ermutigt Routine und<br />
Klapperatismus.<br />
Schon die übliche Definition der Folge als<br />
Funktion von N in irgendwas (z.B. R) koppelt die<br />
Indizierung an den Begriff, obwohl wir die Folge<br />
eher als ein eigenständiges Abstraktum verstehen<br />
sollten, damit das Denken nicht pr<strong>im</strong>är<br />
durch das Ausdenken geschickter Indizierungen<br />
belastet wird. Man benötigt Folgen um jegliche<br />
diskrete oder diskret modellierten Prozesse darzustellen,<br />
z.B. Wachstum, Finanzprozesse, Inter-<br />
102<br />
agieren von Populationen, Schweine-Zyklus etc.<br />
Man stellt numerische Verfahren mit Folgen dar<br />
und untersucht ihr Verhalten, indem man die Folge<br />
der Näherungswerte als Ganzes definiert und danach<br />
untersucht, wie das Konvergenzverhalten ist.<br />
Sogar begrifflich Abstraktes wie der Aufbau der<br />
reelle Zahlen als Fundamentalfolgen oder durch<br />
Intervallschachtelungen kann mit Folgen geschehen,<br />
wobei in allen Fällen die Indizierung <strong>für</strong> die<br />
praktische Arbeit unwesentlich ist. Erst bei infinites<strong>im</strong>alen<br />
Beweistechniken erhält sie einige Berechtigung.<br />
Man macht sich <strong>für</strong> praktische Arbeit von der<br />
Indizierung frei, indem man Folgen als potentiell<br />
unendliche Datenstruktur versteht und als Denkstil<br />
eine iterativ algorithmische Vorstellung heranzieht.<br />
Technisch ist dies durch „lazy evaluation“<br />
möglich. In Scheme ist dies durch „streams“ geschehen,<br />
in LUCS benutzen wir eine folgenspezifische<br />
Terminologie.<br />
Im Anhang sind die ersten beiden Seiten des<br />
Skripts, ein pdf-File, zu Folgen abgedruckt.<br />
In der linken Spalte gibt es jeweils ein Link<br />
„Praxis“. Be<strong>im</strong> Anklicken wird dann die Originalsoftware<br />
LUCS (Otto, 2000) mit einer Lernumgebung<br />
aufgerufen. Die Praxis beginnt mit dem Vorspielen<br />
von explorierendem Verhalten zum Abtasten<br />
von Begriffen und Zusammenhängen und endet<br />
mit der Aufforderung weiter zu arbeiten. Im<br />
Anhang ist jeweils <strong>für</strong> die ersten zwei Seiten das<br />
„Drehbuch“ <strong>für</strong> den Einstieg in die Lernumgebung<br />
angegeben. Der Text wird in der Endversion gesprochen<br />
und als Audiofile synchron an die Vorführung<br />
zu gekoppelt.<br />
Auch dieses Lehr-Lern-Arrangement sollte<br />
man eher nüchtern beurteilen. Es gilt weiterhin <strong>für</strong><br />
die Lernenden: Wer nicht ernsthaft liest, nicht die<br />
Praxis aufruft, nicht aktiv mitdenkt, nicht weiterarbeitet,<br />
der lernt nichts!<br />
4 Technische Realisierung<br />
Die technische Realisierung geschieht mit der<br />
Software Clever PHL, die auf jacareto (java capture<br />
and replay tool) beruht. Die von Christian<br />
Spannagel entwickelten Systeme (siehe dazu auch<br />
Schroeder & Spannagel, 2004; Spannagel et al.,<br />
2005) können bei jeder in Java geschriebenen<br />
Software jede Aktion aufzeichnen, z.B. also eine<br />
Lehrervorführung. Diese Aufzeichnung kann authentisch<br />
in der Java-Software wieder abgespielt<br />
werden, z.B. also durch den Praxis-Link <strong>im</strong> pdf-<br />
File. Authentisch heisst dabei, dass es sich um<br />
eine wirkliche Neuausführung der Aktionen und<br />
nicht um eine Video-Abspielung handelt. Lernende<br />
können folglich damit weiterarbeiten und auch<br />
<strong>für</strong> eigene Aktionen die Vorführung unterbrechen,<br />
in der augenblicklichen Umgebung exper<strong>im</strong>entieren<br />
und dann fortsetzen. Die bisherigen Einsätze
Erlebnis Mathematik mit Computer — Realisierung am Beispiel des Folgenbegriffs<br />
von jacareto in Ludwigsburg waren alle <strong>im</strong> Forschungskontext.<br />
Christian Spannagel untersuchte<br />
mit Clever PHL das Verhalten von Schülern bei<br />
Modellierungen mit einem Tabellensystem, Dieter<br />
Klaudt nutzte MSW-Logo mit Clever PHL als<br />
Werkzeug zur Erforschung des mentalen Zahlenstrahls<br />
von Erstklässlern.<br />
Literatur<br />
Krauter, Siegfried (2005): Erlebnis Geometrie. Spektrum Akademischer<br />
Verlag<br />
Otto, Marcus (2000): Eine Computersprache <strong>für</strong> die Lehrerausbildung<br />
in Mathematik. In: Vorträge auf der 34. Tagung<br />
<strong>für</strong> Didaktik der Mathematik, Beiträge zum <strong>Mathematikunterricht</strong>,<br />
Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 482–485, URL http://<br />
www.ph-ludwigsburg.de/download.html<br />
Schroeder, Ulrik & Christian Spannagel (2004): The case for<br />
action-oriented e-learning. In: Cantoni, L. & C. McLoughlin<br />
(Hg.): World Conference on Educational Mult<strong>im</strong>edia, Hypermedia<br />
and Telecommunications 2004(1), Norfolk, VA: AACE,<br />
2449–2454<br />
Spannagel, Christian, Michaela Gläser-Zikuda & Ulrik<br />
Schroeder (2005): Application of qualitative content analysis<br />
in user-program interaction research. Forum Qualitative<br />
Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research,<br />
6(2), URL http://www.qualitative-research.<br />
net/fqs-texte/2-05/05-2-29-e.htm<br />
103
Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
Anhang<br />
Im Anhang finden Sie die „Drehbücher“ <strong>für</strong> die ersten zwei Seiten des Scriptes, sowie die daraus produzierten<br />
Script-Seiten.<br />
Drehbuch 1<br />
Wir haben eine Funktion vordefiniert, die eine Folge mit Zufallsziffern von 0 bis 9 liefert. Der Aufbau ist<br />
<strong>für</strong> Sie derzeit völlig uninteressant.<br />
Wir definieren eine Beispielsfolge mit Namen z <strong>im</strong> Schreibfenster<br />
(def z (zzif))<br />
Die definierten Objekte werden übersetzt durch Anklicken des grünen Pfeils.<br />
In der Eingabe können wir jetzt Beispiele ausführen lassen:<br />
• schauen wir nach was sich bei der Ausführung von z ergibt: irgendeine interne Darstellung, die wir nicht<br />
deuten können und auch nicht deuten müssen — ein abstraktes Objekt.<br />
• Es sollte uns die Folge in einer anschaulichen Weise <strong>für</strong> unsere Augen gezeigt werden.<br />
Ein Beispiel wäre die Aufzählung mit Kommas:<br />
(zgf z) "Zeige die Folge z" (erste zehn Glieder von z)<br />
Die Folge hat ja gar nicht unendlich viele Glieder, sondern nur 10. Dies liegt aber nicht an der Folge z,<br />
sondern an der Ausgabe<br />
• Dem können wir abhelfen:<br />
(zgf z 20) "Zeige die ersten 20 Glieder von z"<br />
oder auch die ersten 100 Glieder:<br />
(zgf z 100)<br />
• Diese Form der Ausgabe ist jedoch nur eine Möglichkeit. Die Zufallsfolge mit Ziffern könnte ja von<br />
einem Dez<strong>im</strong>albruch stammen.<br />
• Dann wollen wir die Ziffern lückenlos hintereinander ausgedruckt haben:<br />
(zgzf z) "Zeige die ersten 10 Glieder als Ziffernfolge"<br />
(zgzf z 90) "Zeige die ersten 90 Glieder als Ziffernfolge"<br />
Für jeden Zweck muss man sich eine geeignete Ausgabe entwickeln, so wie es <strong>für</strong> unser Auge geeignet<br />
ist.<br />
• Eine Folge ist ja aus Kopfglied und Restfolge aufgebaut: Schauen wir uns das Kopfglied an:<br />
(kopfglied z) "Kopfglied von z"<br />
ok, wir können mit diesem Funktionswert natürlich auch rechnen, z.B.<br />
(10 * (kopfglied z))<br />
• Schauen wir uns die Restfolge von z an:<br />
(restfolge z) "Restfolge von z"<br />
Ok, aber dies ist ja die interne Darstellung einer Folge, also benötigen wir wieder „Zeige Folge“:<br />
(zgf (restfolge z)) "Zeigen der Restfolge, die ersten 10 Glieder"<br />
• Folgen sind ein eigener Datentyp in LUCS, der von anderen getrennt angesprochen werden kann. Mit<br />
einem Prädikat kann man testen, ob etwas eine Folge ist oder nicht:<br />
(folge? z) Prädidikat, das "wahr" ergibt, wenn z eine Folge ist<br />
(folge? 123) sonst "falsch"<br />
Arbeiten Sie kurz weiter: Wie erhalten Sie das zweite Glied einer Folge, wie das dritte Glied?<br />
104
Drehbuch 2<br />
Erlebnis Mathematik mit Computer — Realisierung am Beispiel des Folgenbegriffs<br />
Wir wollen jetzt Folgen konstruieren und definieren. Dazu müssen wir das Kopfglied und die Restfolge<br />
festlegen. Der Konstruktor folge baut daraus eine Folge zusammen.<br />
Das einfachste Beispiel ist die Konstantenfolge, d.h. eine Folge, deren Glieder alle gleich sind. Dann ist<br />
nämlich die Restfolge gleich der Folge selbst:<br />
• Führen wir dies beispielsweise mit der 5 durch<br />
(def konstantenfolgen5 (folge 5 konstantenfolge5))<br />
• Lassen wir uns die Folge anzeigen:<br />
(zgf konstangenfolge5)<br />
• Die Verallgemeinerung <strong>für</strong> eine beliebige Konstante ist offensichtlich<br />
(def (konstantenfolge k) (folge k (konstantenfolge k)))<br />
Es handelt sich also um eine Funktion, die nach Angabe des konstanten Gliedes k eine Konstantenfolge mit<br />
diesem Glied erzeugt. Ein Beispiel ist die Folgen-Eins, die wir später noch benötigen:<br />
(def folgen1 (konstantenfolge 1))<br />
Betrachten wir die Veranschaulichung <strong>für</strong> ein anderes Verfahren zur Konstruktion einer Folge, und zwar<br />
durch eine Iterationsregel, hier <strong>im</strong> Beispiel „+3“. Das jeweilige Glied entsteht aus dem vorhergehenden<br />
durch Addition von 3. Irgendwo muss man anfangen: Anfangsglied a (<strong>im</strong> Beispiel 5). „5 plus 3 gibt 8 plus<br />
3 gibt 11 plus 3 gibt 14 und so weiter“<br />
Man nennt dies eine arithmetische Folge: Anfangsglied a, Differenz zum nächsten Glied d:<br />
(def (arith-folge-ab a d)<br />
Sicher ist die Restfolge nicht identisch mit der Folge selbst, sie ist jedoch um d „verschoben“ zu ihr:<br />
(folge a (arith-folge-ab (a + d) d)))<br />
Alle Glieder der Restfolge sind um d größer als die der Folge selbst. Lassen wir uns die arithmetische Folge<br />
ab 5 mit Differenz 3 anzeigen:<br />
(zgf (arith-folge-ab 5 3)30)<br />
Die wichtigste arithmetische Folge sind die natürlichen Zahlen:<br />
(def nat (arith-folge-ab 1 1))<br />
(zgf nat 100)<br />
Verallgemeinern wir noch einmal: multiplizieren statt addieren. Dies gibt die geometrische Folge mit Anfangsglied<br />
a und Quotient q (aus nächstem Glied und aktuellem Glied).<br />
(def (geom-folge-ab a q)<br />
Das nächste Glied entsteht durch Multiplikation mit q:<br />
(folge a (geom-folge-ab (a * q) q)))<br />
Bei Anfangsglied a = 4 und Quotient q = 2 ergibt sich:<br />
(zgf (geom-folge-ab 4 2))<br />
Bearbeiten Sie jetzt die Aufgaben.<br />
105
Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
Script Seite 1<br />
106
Script Seite 2<br />
Erlebnis Mathematik mit Computer — Realisierung am Beispiel des Folgenbegriffs<br />
107
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
108
• Gute Seiten, schlechte Seiten — Internetangebote <strong>für</strong> den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten<br />
Moderne Unterrichtsvorbereitung und -gestaltung mit Hilfe des Internet wird <strong>für</strong> Lehrer und Lehramtsstudierende<br />
zunehmend interessanter. Wie findet man allerdings spannende und <strong>für</strong> den MU<br />
nützliche Internetangebote? Welche Seiten gibt es? Und wie gut sind diese?<br />
Bisher liegen keine systematisierten Übersichten und kein transparentes Bewertungssystem vor, anhand<br />
dessen Internetnutzer effizient entscheiden können, welche der vielfältigen Internetangebote<br />
den von ihnen intendierten Zwecken dienen.<br />
In einem Kooperationsseminar von Mathematik- und Mediendidaktik erarbeiteten <strong>im</strong> Sommer 2005<br />
Lehramtsstudierende der Pädagogischen Hochschule Weingarten Kriterien zur Bewertung von Internetangeboten<br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong>. Die Kriterien generieren sich sowohl aus fachdidaktischen<br />
Aspekten des <strong>Mathematikunterricht</strong>s und aus mediendidaktischen Aspekten der Webgestaltung,<br />
als auch aus der intuitiven Bewertung der Lehramtsstudierenden. Ziel der Veranstaltung war<br />
weiter der Aufbau einer Datenbank, welche die <strong>im</strong> Seminar recherchierten Seiten sowie deren Beurteilung<br />
auf Grundlage des erarbeiteten Bewertungssystems erfasst und kategorisiert.<br />
Inzwischen liegen ein Bewertungssystem in Form eines Fragenkatalogs sowie erste Ergebnisse der<br />
Bewertungsarbeit vor.<br />
1 Ausgangslage und Ziele<br />
Lehrerinnen und Lehrer kennen das Problem. Sie<br />
möchten zur Vorbereitung einer Unterrichtsstunde<br />
das Internet nutzen, verwerfen dieses Vorhaben<br />
aber wieder, nachdem die ersten zwanzig<br />
bis dreißig „besten“ Suchergebnisse bei Google<br />
(http://www.google.de) oder einer anderen<br />
Suchmaschine nichts Brauchbares hervor gebracht<br />
haben. Dies führt dann zu wenig verwunderlichen<br />
Aussagen bezüglich des Interneteinsatzes<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>, wie etwa folgenden:<br />
„In der Regel finde ich nie das, was ich suche!“<br />
oder „Wenn ich endlich mal vernünftiges Material<br />
gefunden habe, dann habe ich da<strong>für</strong> so lange<br />
gebraucht, dass ich es gleich selbst hätte erstellen<br />
können.“<br />
1.1 Ansatz<br />
Die diesen Aussagen zu Grunde liegenden Probleme<br />
sind darin zu sehen, dass es inzwischen<br />
trotz oder gerade wegen der übergroßen Fülle an<br />
Internetangeboten <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
(man gebe z.B. die Suchbegriffe Mathematik oder<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> in eine Suchmaschine ein)<br />
enorm schwierig ist, die guten Angebote heraus<br />
zu filtern. Dazu muss man sich darüber <strong>im</strong> Klaren<br />
sein, was denn unter einem guten Angebot überhaupt<br />
zu verstehen ist, wodurch es sich auszeichnet<br />
und wie man es erkennen kann. Welche Anforderungen<br />
sind zu stellen? Welche Kriterien zu<br />
Grunde zu legen? Außerdem kann man fragen, ob<br />
denn nicht schon andere (Lehr-)Personen vor einem<br />
selbst Material zu genau demselben Zweck<br />
gesucht und gefunden haben.<br />
Mit diesen und ähnlichen Fragen befasste sich<br />
auch eine Arbeitsgruppe auf der Tagung des Arbeitskreises<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik<br />
2001 und erarbeitete dabei Vorschläge <strong>für</strong> die<br />
Gestaltung mathematikdidaktischer Internetseiten<br />
(„Wie soll die Mathematikdidaktik <strong>im</strong> Netz erscheinen?“<br />
). Als wichtig werden u. a. die Nennung<br />
des Adressatenkreises, eine leichte Nutzung<br />
sowie ergiebige Suchergebnisse heraus gestellt.<br />
Auch soll nach Ansicht der Teilnehmer der Informationsgehalt<br />
von Internetangeboten <strong>im</strong> Vordergrund<br />
stehen. „Für die Schule geeignete mathematische<br />
Themen sollen didaktisch aufbereitet und<br />
zur eigenständigen Erarbeitung <strong>für</strong> die Schüler bereitgestellt<br />
werden“ (Hartmann & Ludwig, 2002)<br />
Dabei sollte die Aufbereitung altersgemäß, sachlich<br />
strukturiert, anwendungsbezogen und leicht<br />
zugänglich sein.<br />
1.2 Internet <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Die oben geschilderte Problematik lässt sich von<br />
der Frage des Interneteinsatzes zur Unterrichtsvorbereitung<br />
übertragen auf Fragen zum Einsatz<br />
von mathematischen Internetangeboten <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
1 . Sieht man ab von den bekannten<br />
und vielfach genutzten Möglichkeiten der Beschaffung<br />
von Datenmaterial, der Recherche und<br />
der Kommunikation, so kann das Internet auch<br />
an vielen anderen Stellen <strong>im</strong> Unterricht eingesetzt<br />
werden. Als Beispiele sind downloadbare Abbildungen<br />
zu Präsentationszwecken, Applets, Bastelvorlagen,<br />
Aufgabensammlungen und Arbeitsblätter<br />
oder auch ganze Unterrichtsentwürfe zu nennen.<br />
Das Auffinden solcher Materialien, welche<br />
geeignet erscheinen und eine hohe Qualität auf-<br />
1 Es sei an dieser Stelle auch an das Tagungsthema „WWW und Mathematik — Lehren und Lernen <strong>im</strong> Internet“ des Arbeitskreises<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> und Informatik <strong>im</strong> Jahr 2003 erinnert<br />
109
Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten<br />
weisen, gestaltet sich oft schwierig.<br />
Es bleibt insgesamt fest zu halten, dass es bisher<br />
sowohl an sinnvoll konzipierten Übersichtsangeboten<br />
als auch an einem transparenten Bewertungssystem<br />
fehlt. Daher ist es schwierig und<br />
aufwendig, sich <strong>im</strong> Internet zurechtzufinden und<br />
Material <strong>für</strong> den Unterricht aufzuspüren — auch<br />
wenn dieses in großer Anzahl und guter Qualität<br />
existiert.<br />
1.3 Zielsetzungen des Projekts:<br />
Internetangebote <strong>für</strong> den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Damit sind zwei Kernpunkte genannt, die es<br />
durchaus lohnenswert erscheinen lassen, sich mit<br />
ihnen zu befassen: ein Bewertungssystems <strong>für</strong> mathematische<br />
Internetangebote und ein Übersichtsangebot,<br />
beispielsweise in Form einer Rangliste.<br />
Ein solches Ranking kann später insbesondere<br />
(angehenden) Lehrern eine Hilfe anbieten, welche<br />
es erleichtert, geeignete Internetangebote <strong>für</strong><br />
die Unterrichtsvorbereitung und den Unterrichtseinsatz<br />
auszuwählen. Durch eine detaillierte Erfassung<br />
angebotsspezifischer Daten (z.B. inhaltliche<br />
Fragen, Medienangebot, Zielgruppe, usw.)<br />
sollte es außerdem möglich sein, eine Vorauswahl<br />
bzw. eine Einschränkung der Rangliste nach gewissen,<br />
vom Nutzer wählbaren Kriterien zu treffen.<br />
2 Seminarkonzept<br />
Um die angesprochenen Ziele zu verfolgen wurde<br />
<strong>im</strong> Sommersemester 2005 an der Pädagogischen<br />
Hochschule Weingarten ein Seminar durchgeführt,<br />
das die Beurteilung von Internetangeboten<br />
aus dem Bereich der Mathematik und deren<br />
Einsatzmöglichkeiten <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
thematisierte. Das Kooperationsseminar<br />
von Mathematikdidaktik und Mediendidaktik<br />
sollte ein Beurteilungsraster erarbeiten, das den<br />
Teilnehmern einerseits ermöglicht, Internetangebote<br />
zur Mathematik auf Grundlage transparenter<br />
Kriterien zu beurteilen. Damit sollte den Studierenden<br />
die Bedeutung einer kriterienorientierten<br />
Bewertung von Lernangeboten verdeutlicht<br />
werden. Andererseits stand eine erste Begutachtung<br />
eines Ausschnitts aus der Vielzahl mathematischer<br />
Internetangebote <strong>im</strong> Fokus.<br />
Trotz Hochschulkontext stellen die Bewertungen<br />
das Urteil professioneller Nutzer dar, die<br />
kriterienbezogen Rückmeldung über die Qualität<br />
des Angebots geben. Die Ergebnisdarstellung<br />
soll über das Gesamturteil hinaus die Bewertung<br />
in den einzelnen Kriterien transparent<br />
machen, und es den Nutzern ermöglichen, die<br />
Benotung von Einzelfragen einzusehen. Insofern<br />
stellt das Ranking derzeit zwar einen auf<br />
110<br />
2 Unter dieser Adresse kann auch das Befragungsinstrument eingesehen werden<br />
geringer Stichprobe basierenden Teilausschnitt<br />
aus einer kaum überschaubaren Gesamtmenge<br />
von mathematischen Internetangeboten dar, kann<br />
aber als ein <strong>im</strong> Aufbau befindliches Informationsangebot<br />
<strong>für</strong> den Einsatz einzelner Netzangebote<br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong> verstanden<br />
werden. Das tagesaktuelle Ranking kann eingesehen<br />
werden unter http://mathematik.<br />
ph-weingarten.de/mathetopten/ 2 .<br />
2.1 Didaktisches Konzept<br />
Bezug nehmend auf konstruktivistische Lerntheorien<br />
(Gruber et al., 1996; Henninger & Mandl,<br />
2003) wurde in dem Seminar auf eine erfahrungsbasierte<br />
Herangehensweise Wert gelegt. Die<br />
Studierenden erarbeiteten gemeinsam mit den<br />
Seminarleitern den Kriterienkatalog in dem sie<br />
in speziellen Arbeitsaufträgen Internetrecherchen<br />
durchführten und auf dieser Erfahrungsgrundlage<br />
die Kriterien definierten, die ihren Einschätzungen<br />
zu Grunde lagen. Dieser Prozess wurde durch<br />
Input-Referate zu Themen der Mathematikdidaktik<br />
und der Mediendidaktik unterstützt.<br />
2.2 Inhaltliche Aspekte<br />
Im Bereich Mathematikdidaktik wurden zunächst<br />
die verschiedenen Möglichkeiten des Computereinsatzes<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> diskutiert<br />
(Weigand & Weth, 2001), um anschließend speziell<br />
den Interneteinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in den Fokus zu rücken. Den Studierenden wurde<br />
so zunächst vermittelt, welche Möglichkeiten<br />
es grundsätzlich gibt, den Computer einzusetzen<br />
und wo jeweils deren Vor- und Nachteile gesehen<br />
werden können. Einen wesentlichen Aspekt stellte<br />
dabei der Werkzeugcharakter von Dynamischen<br />
Geometrie Systemen und von Computeralgebrasystemen<br />
dar, aber auch deren Potential <strong>für</strong> exper<strong>im</strong>entelles<br />
und erforschendes Vorgehen.<br />
Weiter wurden Möglichkeiten des Interneteinsatzes<br />
<strong>im</strong> Unterricht allgemein sowie <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
<strong>im</strong> Speziellen vorgestellt (<strong>für</strong> eine<br />
Übersichtsdarstellung siehe Schumann, 2003;<br />
Schuman, 2003; Weigand & Weth, 2001). Insbesondere<br />
kam dabei die Kombination von Dynamischen<br />
Geometrie Systemen bzw. von Computeralgebrasystemen<br />
mit dem Internet in Form von<br />
Applets und Online-Tools zur Sprache. Präsentiert<br />
wurden in diesem Zusammenhang Beispiele<br />
<strong>für</strong> den Einsatz von mult<strong>im</strong>edialen Elementen in<br />
Form interaktiver Arbeitsblätter mit dem Geometriesystem<br />
Cinderella (Richter-Gebert & Kortenkamp,<br />
1999) und mit den Online-Versionen der<br />
Computeralgebrasysteme webMathematica und<br />
LiveMath (Mann et al., 2004, vgl.). Anschließend<br />
wurde ihre Bedeutung <strong>für</strong> didaktische Unterrichtskonzepte<br />
herausgearbeitet.<br />
Im Themenbereich Mediendidaktik wurden
Gute Seiten, schlechte Seiten — Internetangebote <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
auf Grundlage aktueller kognitiver Prozessmodelle<br />
(Mayer, 1997; Mayer & Moreno, 2003)<br />
und Theorien zur mult<strong>im</strong>edialen Informationsverarbeitung<br />
(Baddeley, 2000; Chandler & Sweller,<br />
1991; Schnotz et al., 2001) Designvorschläge vorgestellt,<br />
die Ansprüche an die Gestaltung von medial<br />
aufbereiteten Lehr-Lernangeboten formulieren.<br />
Zentrale Aspekte waren dabei Überlegungen<br />
zur Interaktivität, zur Integration von Text und<br />
Bildinformationen, die Kombination mult<strong>im</strong>odal<br />
präsentierter Lernmaterialien und die Segmentierung<br />
des Lernstoffes in nutzergesteuerten Einheiten.<br />
2.3 Kriterien zur Bewertung<br />
Auf dieser Basis erarbeitete die genannte Projektgruppe<br />
Bewertungskriterien, aus denen drei Kriterienblöcke<br />
resultierten:<br />
• Gestaltung und Layout,<br />
• mathematikdidaktische Kriterien und<br />
• mediendidaktische Kriterien.<br />
Der erste Block erfasst die Bewertung von allgemeinen<br />
Kriterien der Websitegestaltung wie der<br />
Menügliederung, der Link-Struktur oder der Aktualität<br />
des Angebots. Im zweiten Block stehen<br />
didaktische Aspekte aus Sicht des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
<strong>im</strong> Zentrum. Hier werden u. a. die dargestellten<br />
Inhalte bewertet, deren didaktische Aufbereitung<br />
und ihr Nutzwert <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Im letzten Kriterienblock geht es dann<br />
um die mediendidaktische Perspektive. Es werden<br />
die Informationsgliederung, die Interaktivität des<br />
Lernmaterials und die mediale Aufbereitung und<br />
Unterstützung beurteilt. Am Ende soll eine Abschlussbewertung<br />
vorgenommen werden, die den<br />
Gesamteindruck der Bewertenden vom zu bewertenden<br />
Internetangebot wiedergibt.<br />
2.4 Durchführung als hybrides Seminar<br />
Das Seminar wurde über das gesamte Semester<br />
hinweg virtuell unterstützt. Dazu stand die<br />
virtuelle Lernplattform „ComVironment“ 3 zur<br />
Verfügung . Neben dem Austausch von Daten<br />
diente diese Plattform zur Besprechung wesentlicher<br />
Fragestellungen in einem Diskussionsforum<br />
(vgl. Abb. 14.1). Außerdem stellte sie die Funktionalität<br />
zur Verfügung, welche benötigt wird, um<br />
ein Befragungsinstrument mittels eines Online-<br />
Fragebogens erstellen und später auswerten zu<br />
können.<br />
3 Das Befragungsinstrument<br />
Die internetbasierte Befragung 4 startet mit einer<br />
kurzen Einleitung in der die Ziele der Be-<br />
fragung und der Umgang mit dem Befragungsinstrument<br />
dargestellt werden (Abb. 14.2). Des<br />
Weiteren werden Kontaktadressen und Ansprechpartner<br />
<strong>für</strong> Rückfragen genannt. Im Anschluss<br />
muss die Adresse der zu bewertenden Internetseite<br />
eingetragen oder aus einem Pool an bereits<br />
registrierten Angeboten ausgewählt werden. Danach<br />
soll der bewertende User kurz in eigenen<br />
Worten beschreiben, womit sich die betreffende<br />
Seite beschäftigt. Im nächsten Schritt folgen<br />
die drei Kriterienblöcke. Dabei können generell<br />
zwei Arten von Items unterschieden werden: Bewertungsfragen<br />
und Auswahlfragen. Die Bewertungsfragen<br />
sind so aufgebaut, dass die einzelnen<br />
Kriterien zunächst benannt (z.B. „Interaktivität“,<br />
vgl. Abb. 14.3) und dann durch einen erläuternden<br />
Text (Zielformulierung) definiert werden<br />
(Beispiel: „Das Angebot bietet hohe Interaktionsmöglichkeiten<br />
(Berechnungen, Graphengenerierung,<br />
veränderbare Kurvenverläufe, Puzzles,<br />
etc. sind integriert). Die Steuerungsmöglichkeiten<br />
sind eindeutig erklärt und funktional sinnvoll.“ ).<br />
Die Bewertung des Angebots hinsichtlich der Kriterien<br />
kann anhand einer elfstufigen Notenskala<br />
(Schulnoten 1–6 mit Zwischennoten) vorgenommen<br />
werden (die Bewertungsskala wurde ebenfalls<br />
in Abst<strong>im</strong>mung mit den Leitern des Seminars<br />
von der Projektgruppe erarbeitet).<br />
Diese Fragen bilden die Grundlage <strong>für</strong> die Berechnung<br />
der Gesamtbewertung eines Internetangebots.<br />
Neben den Benotungsfragen gibt es eine<br />
zweite Klasse von Items, die Auswahlfragen,<br />
bei denen von vorgegebenen Antwortalternativen<br />
die jeweils zutreffenden angekreuzt werden sollen<br />
(z.B. „Zielgruppe: Lehrer, Studierende, Schüler,<br />
Dozierende, nicht erkennbar, Sonstige“ ).<br />
Hier stellt beispielsweise die Angabe, welches<br />
inhaltliche Angebot eine Seite macht, eine wertvolle<br />
Information zur späteren Kategorisierung in<br />
Themengebieten dar. Ein Lehrer, der sich auf der<br />
Suche nach Angeboten mit geometrischen Inhalten<br />
befindet, kann sich somit nur die hier<strong>für</strong> in Frage<br />
kommenden Seiten anzeigen lassen. 5 In der Ergebnisaufbereitung<br />
sollen diese Kriterien als Basis<br />
<strong>für</strong> eine Suchfunktion herangezogen werden<br />
und einen gezielten Zugriff auf Daten speziell ausgewählter<br />
Angebote erlauben. Damit wird ein Zugriff<br />
aus unterschiedlichen Motivationslagen realisiert.<br />
Suchen Nutzer eine besonders gute Seite zu<br />
ganz speziellen Anforderungen, kann dann über<br />
die Suchfunktion das Angebot so eingeschränkt<br />
werden, dass nur relevante Treffer erscheinen.<br />
Zum Ende der Beurteilung wird wie bereits<br />
erwähnt eine Abschlussbewertung <strong>für</strong> den Ge-<br />
3 http://comvironment.de/<br />
4 Die vollständige Fassung des Fragebogens ist kann unter http://mathematik.ph-weingarten.de/mathetopten/<br />
eingesehen oder als PDF-Datei herunter geladen werden<br />
5 In der aktuell vorliegenden Version (31.10.2005) ist die Suchfunktion noch nicht integriert<br />
111
Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten<br />
112<br />
Abbildung 14.1: Die Lernplattform zur virtuellen Unterstützung des Seminars<br />
Abbildung 14.2: Startseite des internetgestützten Fragebogens
Gute Seiten, schlechte Seiten — Internetangebote <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Abbildung 14.3: Ausschnitt aus dem Fragebogen: mediendidaktische Kriterien<br />
samteindruck abgegeben.<br />
Tab. 14.1 zeigt die derzeitige Ergebnisausgabe<br />
des Rankings. Zu sehen sind die Durchschnittsnoten<br />
der drei Kriterienblöcke und die berechnete<br />
Gesamtnote, in die die Einzelnoten mit unterschiedlicher<br />
Gewichtung eingehen. Durch die Gewichtung<br />
soll die wesentliche Bedeutung der fachdidaktischen<br />
Aspekte hervorgehoben werden.<br />
3.1 Praktische Durchführbarkeit<br />
Bei der Entwicklung des beschriebenen Befragungsinstruments<br />
spielten auch pragmatische<br />
Aspekte eine Rolle, d.h. die Praktikabilität und<br />
Durchführbarkeit der eigentlichen Bewertungsarbeit.<br />
Diese sollte stets auch <strong>für</strong> Personengruppen<br />
wie Studenten und Lehrer gewährleistet sein, die<br />
in der Regel nicht als fach- und mediendidaktische<br />
Experten anzusehen sind. Auch die Dauer <strong>für</strong> eine<br />
vollständige Bewertung muss überschaubar bleiben.<br />
Die Erfahrungen mit dem Fragebogen zeigen,<br />
dass dies auch gewährleistet ist. Zwar wurden<br />
auch bis zu 45 Minute zur Bewertung einer<br />
Seite benötigt, dies jedoch nur dann, wenn sowohl<br />
der Bewertungsbogen als auch das Internetangebot<br />
unbekannt waren. Denn dann muss sich die<br />
bewertende Person zunächst einen Überblick über<br />
das Angebot verschaffen, ehe sie überhaupt mit<br />
der eigentlichen Durchführung beginnen kann. In<br />
den Fällen, in denen den Studierenden sowohl der<br />
Fragebogen, als auch das Internetangebot bereits<br />
vertraut waren, reduzierte sich die Dauer eines Bewertungsdurchlaufs<br />
auf etwa zehn bis fünfzehn<br />
Minuten.<br />
4 Erste Ergebnisse<br />
Das Projekt Internetangebote <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
lieferte bisher zwei wesentliche Ergebnisse:<br />
den Bewertungsbogen selbst und eine erste<br />
Übersicht über bereits bewertete Internetangebote<br />
in Form einer Rangliste. Dieses tagesaktuelle<br />
Ranking kann unter der oben genannten Adresse<br />
eingesehen werden. Die Autoren wollen darauf<br />
hinweisen, dass die Bewertung nicht repräsentativ<br />
ist (oder sein will) und das Ranking in seiner<br />
derzeitigen Form auf eine geringe Stichprobe<br />
zurück zuführen ist. Aktuell liegen Bewertungen<br />
<strong>für</strong> 25 verschiedene Internetangebote aus dem<br />
Themenfeld Mathematik vor, welche mit dem vorgestellten<br />
Befragungsinstrument erstellt wurden.<br />
Dabei wurden bisher lediglich fünf dieser Angebote<br />
mehrfach bewertet. Dies verdeutlicht die angesprochene<br />
geringe Datenbasis.<br />
Wie in Tab. 14.1 ersichtlich reicht die durchschnittliche<br />
Bewertung (Durchschnittsnote) von<br />
einer Gesamtnote von 1,21 bis zu einer Gesamtnote<br />
von 5,24. Dies verdeutlicht, dass in der Bewertung<br />
die Spannbreite, die durch das halbstufige<br />
Schulnotensystem möglich ist, auch tatsächlich<br />
ausgenutzt wird.<br />
4.1 Der Spitzenreiter<br />
Die derzeit am besten bewertete Seite ist ein Angebot<br />
der Universität Bayreuth zum Thema Goldener<br />
Schnitt (vgl. Abb. 14.4). Was bei diesem In-<br />
113
Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten<br />
ternetangebot besonders hervorzuheben ist, ist eine<br />
klare Segmentierung der Inhalte in kleine, gut<br />
nachvollziehbare Schritte, die sinnvoll aufeinander<br />
aufbauen und referieren. Durch Vor- und Zurückbuttons<br />
ist eine Lernersteuerung realisiert, die<br />
jedem Lernenden ein individuelles Lerntempo ermöglicht.<br />
Das Angebot ist übersichtlich gestaltet<br />
und bleibt in seinen wesentlichen Steuerungsmodulen<br />
über alle Unterseiten hinweg konstant. Das<br />
heißt, die Nutzer müssen sich nicht mit jedem<br />
Klick an eine neue Umgebung gewöhnen und finden<br />
Menü- und Steuerungselemente <strong>im</strong>mer an der<br />
gleichen Stelle. Die Texte sind zielgruppengerecht<br />
formuliert und bieten alle notwendigen Informationen.<br />
Sehr gelungen ist bei der Beweisführung<br />
eine Art graphisches Signaling, bei dem sich entsprechende<br />
Text- und graphische Teile bei Kontakt<br />
mit dem Mauszeiger identisch einfärben. Der<br />
Lernende kann somit leicht informationsäquivalente<br />
Strukturen identifizieren und in Zusammenhang<br />
bringen. Dies spiegelt sich in der sehr guten<br />
Bewertung von Gestaltung und Layout (Note<br />
1,25) sowie der mediendidaktischen Bewertung<br />
(Note 1,5) wieder.<br />
Aber auch die inhaltliche und mathematikdidaktische<br />
Bewertung des Angebots ist sehr gut:<br />
die mathematikdidaktischen Charakteristika wurden<br />
durchschnittlich mit 1,08 bewertet. Diese Bewertung<br />
begründet sich <strong>im</strong> z.B. klaren Aufbau.<br />
Die Seite beginnt mit einem motivierenden Einstieg,<br />
beschäftigt sich anschließend mit den inhaltlichen<br />
Aspekten und stellt zum Abschluss<br />
Anwendungsaspekte des goldenen Schnitts vor.<br />
Diese werden in Form eines Umweltbezugs <strong>für</strong><br />
das Auftreten des goldenen Schnitts in Natur<br />
und in der Kunst aufgezeigt. Fachlich wird zunächst<br />
die Konstruktion schrittweise erklärt, wobei<br />
dies in jedem Schritt mit Hilfe von integrierten<br />
dynamischen Geometrieelementen nachvollzogen<br />
werden kann. Anschließend ist dann eine<br />
Überprüfung vorgesehen, wozu ein Online-<br />
Taschenrechner zur Verfügung gestellt wird, bevor<br />
der anspruchsvolle algebraische Beweis geführt<br />
wird. Schüler können somit auf ganz unterschiedlichen<br />
Niveaustufen an den goldenen Schnitt herangeführt<br />
werden. Für Lehrer finden sich eine Reihe<br />
von Demonstrationselementen. Auch ein Ein-<br />
114<br />
Tabelle 14.1: Ausschnitt aus der der Rangliste<br />
satz des Angebots <strong>im</strong> Unterricht (<strong>im</strong> Computerraum)<br />
ist gut vorstellbar.<br />
Den zweiten Platz in der Rangliste belegt mit<br />
einer Durchschnittsnote von 1,42 eine weitere Seite<br />
der Universität Bayreuth zum Thema Achsenspiegelung,<br />
Platz drei n<strong>im</strong>mt aktuell das Angebot<br />
„MADIN — Mathematikdidaktik <strong>im</strong> Netz“<br />
mit einer Durchschnittsnote von 1,48 ein, welches<br />
als Kooperationsprojekt der Universitäten<br />
Braunschweig, Erlangen / Nürnberg, Münster und<br />
Würzburg entstand.<br />
4.2 Umgang mit dem Ranking<br />
Das unter http://mathematik.ph-weingarten.<br />
de/mathetopten vorliegende Ranking stellt<br />
aus Sicht der Autoren ein offenes Angebot an<br />
Lehrpersonen, Studierende und Interessierte dar.<br />
Wie können diese mit den Ergebnissen einer<br />
Bewertungsrangliste umgehen? Im Allgemeinen<br />
wird man sich nur in den wenigsten Fällen bei der<br />
Einsicht eines Rankings spontan <strong>für</strong> den Spitzenplatz<br />
entscheiden. Vielmehr wird man doch hinterfragen,<br />
was denn diesen Spitzenplatz ausmacht.<br />
Man wird sich informieren, wie das Ergebnis zustande<br />
gekommen ist und sich möglicherweise<br />
einige der Teilkriterien genauer betrachten, <strong>für</strong><br />
sich selbst werten oder gewichten. Ausgehend<br />
von solch einer subjektiven, zweckgebundenen<br />
Analyse wird man sich schließlich <strong>für</strong> die daraus<br />
resultierenden Ergebnisse entscheiden. Somit<br />
stellt das Ranking sicher eine Hilfe und einen ersten<br />
Anhaltspunkt dar, es wird aber in der Regel<br />
auch auf einen zweiten Blick darauf ankommen.<br />
Auch das hier vorgestellte Ranking kann in dieser<br />
Art genutzt werden. Da alle Teilergebnisse sowie<br />
der Fragenkatalog offen einsehbar bzw. frei<br />
verfügbar sind, kann jeder Nutzer nach ganz best<strong>im</strong>mten<br />
Kriterien fahnden, diese <strong>für</strong> sich bewerten<br />
und somit beispielsweise auch Einträge aus<br />
dem Ranking übergehen. Unsere Intention liegt<br />
darin, je nach persönlicher Suche ein passendes<br />
und lohnendes Internetangebot anzubieten. Das<br />
eigenständige Überprüfen des Angebots kann aus<br />
Sicht der Autoren nicht ausbleiben.<br />
5 Ausblick<br />
Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass<br />
das aktuelle Ranking gewissermaßen „Work-in-
Gute Seiten, schlechte Seiten — Internetangebote <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Abbildung 14.4: Startseite des Spitzenreiters „Der goldene Schnitt“ 6<br />
progress“ darstellt. Die momentane Datenbasis ist<br />
noch klein, liefert aber bereits interessante Eindrücke<br />
von einer beachtenswerten Anzahl an Internetangeboten.<br />
Ziel ist, die Bewertungsgrundlage<br />
durch zukünftige Beurteilungen weiter auszubauen<br />
und somit zu aussagekräftigen Mehrfachbewertungen<br />
zu gelangen. Ferner ist es wie bereits<br />
erwähnt angedacht, die Ergebnisdarstellung<br />
dahingehend zu erweitern, dass durch ein gezieltes<br />
Anklicken einer gerankten Seite differenzierte<br />
Auskünfte über das Abschneiden dieses Angebots<br />
auf den jeweiligen Kriterien nachzulesen ist. Dies<br />
erfordert allerdings zusätzliche Programmierleistung<br />
und ist derzeit noch nicht zu realisieren. Bei<br />
dieser Erweiterung wird auch eine Suchfunktion<br />
integriert werden. Dies würde über die reine Vergleichsmöglichkeit<br />
unterschiedlicher Mathematikangebote<br />
<strong>im</strong> Internet auch eine gezielte Suche<br />
nach speziellen Angeboten ermöglichen. Es wäre<br />
dann beispielsweise möglich, eingeschränkt nach<br />
Arbeitsmaterialien zu best<strong>im</strong>mten Themen zu suchen<br />
und sich nur diejenigen Seiten anzeigen zu<br />
lassen, die ein solches Angebot machen.<br />
Ein Problem, das derzeit noch nicht endgültig<br />
gelöst ist, stellen die unterschiedlichen Auflösungsgrade<br />
der bewerteten Internetangebote dar.<br />
Während die genannten Angebote der Universität<br />
Bayreuth ein thematisch stark eingegrenztes<br />
Spektrum bieten, stellt zum Beispiel MADIN<br />
ein sehr breites, umfassendes Angebot zur Mathematikdidaktik<br />
dar. Andererseits sind die <strong>im</strong><br />
Ranking aufgeführten Wikipedia-Einträge lediglich<br />
Teilaspekte eines umfassenden Lexikons, das<br />
nicht schwerpunktmäßig mathematische Inhalte<br />
aufweist. Zusammengefasst bedeutet das, dass<br />
die unterschiedlichen Bewertungsobjekte unterschiedliche<br />
Anforderungen befriedigen. Für eine<br />
Bewertung auf Basis der erarbeiteten Kriterien ist<br />
das kein wirkliches Problem. Alle Kriterien können<br />
sowohl an einzelne, sehr spezifisch ausgerichtete<br />
Seiten angelegt werden, als auch an umfassendere<br />
Informationsangebote. Es kann allerdings<br />
nicht dokumentiert werden, wie viele Informationen<br />
bei der Bewertung größerer Internetangebote<br />
tatsächlich in die Bewertung mit einfließen<br />
und inwieweit die jeweilige Bewertung somit<br />
auf das Gesamtangebot oder lediglich auf einen<br />
Ausschnitt daraus referiert. Der Umgang mit diesem<br />
Phänomen wird in der Autorengruppe diskutiert.<br />
Zusammenfassend kann der aktuelle Stand<br />
des Projektes als ein interessanter Einstieg in die<br />
kriterienorientierte Bewertung von Internetangeboten<br />
zur Nutzung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> verstanden<br />
werden.<br />
5.1 Ausbau des Rankings<br />
Aus unserer Sicht ist mit den vorgestellten Ergebnissen<br />
ein erster Schritt getan — weitere sollen<br />
jedoch folgen. Zunächst wird es darum gehen, die<br />
Anzahl der Bewertungen, die <strong>für</strong> ein Internetangebot<br />
abgegeben wurden, zu erhöhen. Gleichzeitig<br />
muss auch die Anzahl der verschiedenen bewerteten<br />
Seiten steigen, um die Auswahl an Angeboten<br />
115
Georg Hauck, Markus Mann, Weingarten<br />
zu erhöhen und die Such- bzw. Filterfunktionen<br />
ergiebig zu gestalten. Weiterhin wird das zugehörige<br />
Internetangebot detaillierter werden, so dass<br />
verschiedene Such- und Sortiermöglichkeiten angeboten<br />
werden und alle verfügbaren Daten <strong>für</strong><br />
Besucher zu Verfügung stehen. Schließlich sollen<br />
die Ergebnisse in einem weiteren Seminar überprüft<br />
werden.<br />
Literatur<br />
Baddeley, Alan (2000): The Episodic Buffer: a new component<br />
of working memory? Trends in Cognitive Science, 4(11),<br />
417–423<br />
Chandler, Paul & John Sweller (1991): Cognitive Load Theory<br />
and the format of instruction. Cognition and Instruction, 8,<br />
293–332<br />
Gruber, Hans, L.-C. Law, Heinz Mandl & A. Renkl (1996): Situated<br />
learning and transfer: State of the art. In: Re<strong>im</strong>ann, P.<br />
& H. Spada (Hg.): Learning in humans and machines, Oxford:<br />
Pergammon, 168–188<br />
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Seiten <strong>im</strong> Netz. In: Herget, Wilfried, R. Sommer,<br />
Hans-Georg Weigand & Thomas Weth (Hg.): Medien verbreiten<br />
Mathematik. Bericht über die 19. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
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Franzbecker, 167–168<br />
Henninger, Michael & Heinz Mandl (2003): Zuhören — Verstehen<br />
— Miteinander reden. Verlag Hans Huber<br />
116<br />
Mann, Markus, Wolfgang Weigel & Gerald Wittmann (2004):<br />
Das Projekt MaDiN — Die Module „Didaktik der Analysis“<br />
und „Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>“. In: Reiss,<br />
Kristina (Hg.): Beiträge zum <strong>Mathematikunterricht</strong>, Franzbecker<br />
Mayer, Richard E. (1997): Mult<strong>im</strong>edia Learning: Are we asking<br />
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Mayer, Richard E. & R. Moreno (2003): Nine Ways to Reduce<br />
Cognitive Load in Mult<strong>im</strong>edia Learning. Educational Psychologist,<br />
38(1), 43–52<br />
Richter-Gebert, Jürgen & Ulrich Kortenkamp (1999): The Interactive<br />
Geometry Software Cinderella. Berlin, Heidelberg:<br />
Springer-Verlag, URL http://cinderella.de<br />
Schnotz, Wolfgang, T. Seufert & M. Bannert (2001): Lernen<br />
mit Mult<strong>im</strong>edia: Pädagogische Verheißungen aus kognitionspsychologischer<br />
Sicht. In: Silbereisen, R.K. & M. Reitzle<br />
(Hg.): Psychologie 2000. Bericht über den 42. Kongress der<br />
Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Psychologie in Jena 2000, Lengerich:<br />
Pabst, 457–467<br />
Schuman, Heinz (2003): <strong>Mathematikunterricht</strong> und Internet.<br />
Ein Überblick über den Inhalt des Themenheftes MU 4, 2003.<br />
In: Bender, Peter, Wilfried Herget, Hans-Georg Weigand &<br />
Thomas Weth (Hg.): Lehren und Lernen <strong>im</strong> Internet, Bericht<br />
über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises „<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Schumann, Heinz (2003): Internet und <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
— eine Übersicht. Der <strong>Mathematikunterricht</strong>, 49(4), 7–26<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2001): Computer <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>. Heidelberg: Spektrum Akademischer<br />
Verlag
• Papageiengeplapper versus verstandene<br />
Sprachproduktion<br />
Fritz Nestle<br />
Bei einer Metabetrachtung sind Esoterik, Fußball, Informatik, Mathematik, . . . als Lernstoff weitgehend<br />
austauschbar.<br />
Während früher wesentliche Teile des mathematischen SI-Schulstoffs <strong>für</strong> den Alltag relevant waren,<br />
trifft dies heute nur noch in geringem Maß zu. Die Bedeutung des Mathematiklernens <strong>im</strong> Kindesund<br />
Jugendalter ist überwiegend auf ein kognitives Konditionstraining reduziert und in dieser Funktion<br />
durch andere Lerngebiete ersetzbar geworden. Solche können aus der Informatik kommen, zum<br />
Beispiel auch heute noch Programmieraufgaben und als Voraussetzung dazu Strukturierungsaufgaben.<br />
Die Programmierungsaufgaben sind — auch bei der Verwendung von Programmgeneratoren -<br />
mit etwas höherem Anspruch denen des Zahlenrechnens vergleichbar. Die Strukturierungsaufgaben<br />
sind eine Verallgemeinerung von Mathematisierungsproblemen.<br />
Neben der praktischen Nutzbarkeit des Inhalts ist ein wichtiges Kriterium <strong>für</strong> die Auswahl, auf<br />
welchem taxonomischen Niveau Anwendungen möglich sind. Die Spannweite reicht von verständnislosem<br />
Papageiengeplapper bis zur verstandenen Sprachproduktion.<br />
1 Die Inflation der Lernstoffe<br />
Es vergeht kaum einen Woche, in der nicht irgend<br />
ein Interessenverband die Aufnahme neuer<br />
Themen in den Schulunterricht fordert. Einmal<br />
soll die Schule <strong>für</strong> Verkehrserziehung und Führerscheine<br />
zuständig sein, ein anderes Mal sind<br />
es Psychologie, Politik, Wirtschaft oder — aktuell<br />
<strong>für</strong> uns - die Integration informatischer <strong>Ideen</strong><br />
in den <strong>Mathematikunterricht</strong> oder gar ein eigenes<br />
Fach Informatik.<br />
Während sich rasch Gruppen finden, die Forderungen<br />
dieser Art unterstützen, bleibt es merkwürdig<br />
still um einige Fragen, die mit der Umsetzung<br />
zusammenhängen. Auf einen Teil davon will<br />
dieser Beitrag eingehen:<br />
• Wie können wir ein Lernthema charakterisieren;<br />
liefert dies Kriterien zur Auswahl?<br />
• Welche Ziele wollen wir bei den Lernenden erreichen?<br />
• Welche Ziele könnten wir <strong>im</strong> Rahmen der Lernfähigkeit<br />
und -willigkeit erreichen?<br />
• Welche Ziele erreichen wir tatsächlich und auf<br />
welchem Niveau?<br />
2 Lernthemen der Gegenwart<br />
Kanon der klassischen Schulfächer:<br />
• Deutsch<br />
• „alte“ Fremdsprachen (Latein, Griechisch, Althebräisch,<br />
Aramäisch, . . . )<br />
• „neue“ Fremdsprachen (Chinesisch, Englisch,<br />
Französisch, Spanisch, Türkisch, . . . )<br />
• Mathematik<br />
• Musische Fächer<br />
• Naturwissenschaften<br />
• Sozial- und Geisteswissenschaften<br />
• Sport<br />
Was davon dauerhaft vermittelt wird, bleibt<br />
weitgehend unbekannt. Der kleine Spalt, durch<br />
den TIMSS und PISA einen Lichtstrahl geworfen<br />
haben, wurde in Deutschland schnell durch<br />
die sogenannten Bildungs-“ Standards“ (KMK,<br />
2003) wieder geschlossen. Den Sachverständigen<br />
der KMK ist es gelungen, die Forderungen der<br />
Bildungspläne zusätzlich zu vernebeln statt sie<br />
zu konkretisieren; mit der Gründung des IQB<br />
hat die KMK wieder ein paar Jahre Zeit gewonnen.<br />
Ob die Kultusminister aus Unkenntnis<br />
oder aus anderen Motiven getönt haben, dass mit<br />
den Bildungs-“ Standards“ der Übergang zur Outputsteuerung<br />
<strong>im</strong> Schulwesen gelungen sei und<br />
jetzt klar sei, welche Forderungen an die Schüler<br />
gestellt werden, ist nicht feststellbar und nicht<br />
richtig (oder welche Präzision erkennt die Lehrkraft<br />
in Wortgeklingel wie „Die Schülerinnen<br />
und Schüler.entwickeln sinntragende Vorstellungen<br />
von . . . Zahlen und nutzen diese entsprechend<br />
der Verwendungsnotwendigkeit ““?)<br />
Einen gewissen Einblick in die Vorstellungen<br />
von Didaktikern über Ergebnisse des<br />
Mathematik- und Informatiklernens, der dringend<br />
vertieft und besser abgesichert werden sollte,<br />
vermittelt www.bildungsoptionen.de/ifragen.htm<br />
oder mein Beitrag „Fragebogenaktion: Vorstellungen<br />
über Lernziele und Lernergebnisse in diesem<br />
Buch.“<br />
Wie weit schulisches Lernen Langzeitergebnisse<br />
bewirkt, zeigt eine Selbstbeobachtung des<br />
Autors: Ich muß einräumen, dass ich erst seit kurzem<br />
nicht mehr zuverlässig aus dem Gedächtnis<br />
auf die in der Schule vor mehr als sechzig Jahren<br />
gelernten Gedichte, Gesangbuchverse, Stammreihen<br />
unregelmäßiger altgriechischer Verben, Geschichtszahlen<br />
aus dem Mittelalter, . . . zugreifen<br />
kann. Sogar manche mathematische Beweise fal-<br />
117
Fritz Nestle<br />
len mir nicht mehr auf Anhieb ein. Dieses Wissen<br />
war mir in der Schule eigentlich als dauerhafter<br />
Besitz vermittelt worden. Dazu kontrastiert,<br />
dass manche Didaktiker der Auffassung sind, man<br />
dürfe in Klasse 8 nicht auf das Bruchrechnen,<br />
bei Abiturienten nicht auf Prozentrechnen zurückgreifen!<br />
Tatsache ist, dass fast durchgehend die Fiktion<br />
aufrecht erhalten wird, Bildung sei um so<br />
erfolgreicher, je länger sie dauert, unabhängig<br />
davon, was als dauerhaftes Wissen oder Fähigkeit<br />
übrig bleibt.. Tatsache ist ferner, dass viele<br />
der oft als bildungsschwach abklassifizierten<br />
Hauptschüler in schulfremden Gebieten (Computerspiele,<br />
Fußballergeb-nisse und -spieler, . . . )<br />
erstaunlich leistungsfähig sind. Die unbefriedigenden<br />
Leistungen der Hauptschüler sind unter<br />
Umständen weit mehr ein Problem der Motivation<br />
als eine Frage der Lernfähigkeit! (Siehe auch<br />
www.bildungsoptionen.de/handy.htm)<br />
3 Neue Lernstoffe<br />
Es muss nicht gerade Esoterik sein mit Magnetpunkten<br />
in den Schuhen oder <strong>im</strong> Armreif oder<br />
die Beachtung des auf- und absteigenden Mondes<br />
sein, obwohl viele unserer Zeitgenossen, auch<br />
Akademiker, überzeugt sind, damit ihr Leben<br />
verbessern zu können. Es gibt tatsächlich viele<br />
neue Anforderungen, z.B. aus Politik, Wirtschaft<br />
und natürlich Informatik, bei denen erörtert<br />
werden muss, ob die Schule damit befasst werden<br />
soll oder nicht. Interessenvertreter der klassischen<br />
Schulfächer lehnen vielfach aus Fachegoismus<br />
neue Fächer ab, wenn da<strong>für</strong> bei etablierten<br />
Fächern gekürzt werden müsste. Sie folgen dem<br />
Prinzip „Nicht <strong>für</strong> das Leben, <strong>für</strong> die Schule lernen<br />
wir!“, das längst das alte lateinische Prinzip<br />
„Non scolae sed vitae disc<strong>im</strong>us“ an vielen Stellen<br />
abgelöst hat.<br />
Zeitweise — zeitweise auch nicht — geht man<br />
auch <strong>im</strong> kognitiven Bereich davon aus, dass es<br />
formale Bildung gibt und diese das Lernen neuer<br />
Inhalte fördert. (Bei Sport oder Musik geht<br />
man <strong>im</strong>mer davon aus, dass intensives Training<br />
die Grundlage jeden Erfolgs ist.)<br />
Wenn man nach dem Beispiel des Sports formalem<br />
Lernen Bedeutung be<strong>im</strong>isst, muss man<br />
auch <strong>im</strong> kognitiven Bereich prüfen, welche<br />
Lernthemen Kindern und Jugendlichen angeboten<br />
werden sollen:<br />
4 Charakterisierung kognitiver<br />
Lernthemen und Kriterien der<br />
Auswahl<br />
4.1 Umfang des Vokabulars<br />
Das Vokabular kann endlich oder unendlich sein.<br />
Je weniger „Vokabeln“ zu einem Themengebiet<br />
118<br />
gehören, desto schneller sind Lernerfolge zu erwarten.<br />
Dienes, der <strong>im</strong> letzten Jahrhundert viel Mathematikdidaktiker<br />
— und Kinder — begeistert hat,<br />
hat bei seinen Vorführstunden stets Themen gewählt,<br />
zu denen die Voraussetzungen in wenigen<br />
Minuten geschaffen werden konnten. Sehr wenig<br />
Vokabeln gibt es be<strong>im</strong> Einstieg in eine endliche<br />
Geometrie. Die vielen Schriftzeichen in Sprachen<br />
wie Chinesisch oder Japanisch — allein die<br />
Grundschrift Kanji benützt mehr als 6 000 Zeichen<br />
— machen es dagegen dem Europäer schwer,<br />
über die Schrift in eine solche Sprache einzudringen.<br />
4.2 Regeln und logische<br />
Verknüpfungsmöglichkeiten<br />
Die die einzelnen Vokabeln können voneinander<br />
unabhängig sein oder Beziehungen untereinander<br />
haben und einem Regelwerk unterliegen; durch<br />
Verknüpfung von Vokabeln können neue Vokabeln<br />
entstehen. Die Erfahrung zeigt, dass die Einstiegsschwelle<br />
schnell sehr hoch zu liegen kommt,<br />
schon wenn nur wenige Regeln zu beachten sind.<br />
Erfolgreiche Computerspiele, wie zum Beispiel<br />
die zahlreichen Tetris- oder Moorhuhnvarianten,<br />
treffen hierbei das richtige Maß.<br />
Die Bruchrechnung zeigt unter anderem, dass<br />
viele Kinder schnell überfordert sind, wenn zwei<br />
Regeln hintereinander angewendet werden müssen.<br />
Entsprechend ist von der Prozentrechnung<br />
bekannt, dass schon der Prozentbegriff selbst<br />
wegen seiner Nähe zur Bruchrechnung Schwierigkeiten<br />
macht. Die Zuordnung von Daten zu<br />
Grundwert, Prozentwert und Prozentsatz ist bereits<br />
stark von der Reihenfolge der Nennung der<br />
Daten abhängig und kann häufig inhaltlich nicht<br />
gedeutet werden. (So haben vielfach auch Akademiker<br />
nicht verstanden, dass die 25% des Kirchhoffmodells<br />
<strong>für</strong> die Steuer vor der Bundestagswahl<br />
2005 nicht bedeuten, dass die Steuersumme<br />
<strong>für</strong> alle Bürger gleich ist, wie auch früher schon in<br />
der Quellensteuerdiskussion viele Leute meinten,<br />
dass jährlich 15% des Vermögens (und nicht der<br />
Einkünfte aus dem Vermögen) weggesteuert werden<br />
sollten.)<br />
Noch schwerer ist es <strong>für</strong> viele, einen axiomatischen<br />
Aufbau mit abstrakten Grundbegriffen<br />
anhand von Regeln nachzuvollziehen. Vor mehr<br />
als 100 Jahren hat sich schon Hilbert damit auseinandersetzen<br />
müssen, dass die Äquivalenz des<br />
Begriffspaars Punkt-Gerade mit dem Begriffspaar<br />
Bierseidel-Tabakspfeifen bei sonst gleichen Axiomen<br />
seine Umwelt zum Teil auch in Fachkreisen<br />
überfordert hat.<br />
Wenn es um formale Bildung geht, ist daher<br />
die Auswahl von Lernthemen mit adressatengerechten<br />
Systemen von Regeln ein entscheidender<br />
Gesichtspunkt — und ebenso der Mode unterwor-
fen wie <strong>im</strong> Publikumssport die aktuellen Sportgeräte<br />
(2005 nordic walking, . . . ).<br />
4.3 Alltagsrelevanz<br />
Der Lernbereich kann — subjektiv — irrelevant<br />
sein oder <strong>für</strong> das Subjekt gesellschaftlich, emotional<br />
oder kognitiv von Bedeutung sein.<br />
Vor hundert Jahren gab es eine Unterscheidung<br />
zwischen dem Rechenunterricht mit bürgerlichem<br />
Rechnen, geometrischen Zeichnen, . . . <strong>für</strong><br />
die „niederen Stände“ und dem <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
<strong>für</strong> die höheren. Die Gegenstände des<br />
Rechenunterrichts waren ausgewählt unter dem<br />
Gesichtspunkt der Anwendbarkeit <strong>im</strong> Arbeitsleben.<br />
Der <strong>Mathematikunterricht</strong> gab vor, wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse und Einsichten unabhängig<br />
von ihrer praktischen Nutzbarkeit zu vermitteln,<br />
blieb aber dann doch an der sphärischen Trigonometrie<br />
<strong>für</strong> Astronomen und Kapitäne sowie<br />
an der Analysis der Ingenieurwissenschaften hängen.<br />
Der Rechenunterricht wurde in der zweiten<br />
Hälfte des letztenJahrhunderts in Mathematik umbenannt,<br />
die Oberschulen in Gymnasien. Inhaltlich<br />
hatte sich zunächst dadurch nichts geändert.<br />
Der Drill früherer Jahrzehnte und die intensive<br />
Übung wurden vermindert — eigentlich in der<br />
Absicht, den Nachdruck auf verständiges Lernen<br />
zu legen. Dies wäre eine sinnvolle Grundlage <strong>für</strong><br />
die Nutzung von Hilfsmitteln, ist indessen vermutlich<br />
nur in geringem Maß gelungen. Inzwischen<br />
sind auch Ziele <strong>im</strong> Bereich der elementaren<br />
Fähigkeiten, teilweise zurecht, aufgegeben worden:<br />
Auf das große Einmaleins wird verzichtet;<br />
be<strong>im</strong> Divisionsalgorithmus beschränkt man sich<br />
auf zweistellige Divisoren, ; Beweisen, sphärische<br />
Trigonometrie oder darstellende Geometrie sind<br />
zu Orchideenangeboten geworden. Die Bedeutung<br />
solcher Themen ist von der inhaltichen Relevanz<br />
auf ein reines Kognitionstraining geschrumpft; die<br />
Themen selbst könnten daher durch andere Themen<br />
mit vergleichbarer kognitiver Struktur ersetzt<br />
werden.<br />
Die frei werdende Lernkapazität würde Raum<br />
schaffen <strong>für</strong> die Begegnung mit zeitgemäßen<br />
Hilfsmitteln wie CAS, DGS oder Tabellenkalkulation.<br />
Leider bleibt der Zugang dazu vielen Schülern<br />
— und an den Hochschulen den Studierenden<br />
einschlägiger Fächer - bis heute sowohl als<br />
Erweiterung der Arbeits- und Denkmöglichkeiten<br />
als auch als Abenteuerspielplatz verschlossen.<br />
4.4 „Lernbarkeit“<br />
Die Anforderungen an den Lernenden können gering,<br />
mäßig oder unüberwindbar hoch sein. Entscheidend<br />
sind — neben der Lernmotivation —<br />
die Kriterien Umfang des Vokabulars und Regelwerk.<br />
Bei zu geringen Anforderungen in der Schule<br />
Papageiengeplapper versus verstandene Sprachproduktion<br />
suchen die Kinder und Jugendlichen andere Möglichkeiten,<br />
etwas zu leisten, oder sie verfallen in<br />
Lethargie. Lethargie ist vielfach auch das Ergebnis<br />
der Arbeit der Schule bei Überforderung. In<br />
diesem Fall haben die Lehrkräfte das Problem,<br />
wie sie mangelhafte Unterrichtsergebnisse durch<br />
gute Noten kaschieren. Dies ist bekanntlich solange<br />
einfach, wie keine klassenübergreifenden, externen<br />
Maßstäbe angewendet werden.<br />
4.5 Tradition<br />
Die Dominanz dieses Kriteriums bei der Auswahl<br />
der Lernstoffe <strong>für</strong> die allgemeinbildenden Schulen<br />
ist offenkundig.<br />
5 Lern- bzw. Arbeitsziele<br />
5.1 Initiationsritus<br />
Lernen kann als Initiationsritus verstanden werden,<br />
mit dessen Hilfe sich Erwachsene vor Heranwachsenden<br />
oder „bessere“ gesellschaftliche<br />
Gruppen vor anderen schützen.<br />
Dieser Aspekt ist um so bedeutsamer, je länger<br />
die Bildungsdauer ist. Durch das Vergessen<br />
n<strong>im</strong>mt der Nettolernzuwachs asymptotisch gegen<br />
Null ab. (Die Aufnahme neuer Information ist näherungsweise<br />
linear; die aufgenommene Information<br />
zerfällt nach einem Exponentialgesetz. Die<br />
„Konstante“ ist individuell verschieden und vermutlich<br />
themenabhängig.)<br />
5.2 „formale“ Bildung<br />
Im Sport ist die formale Bildung unumstritten. Für<br />
Schifahren oder Fußball ist begleitende Gymnastik<br />
unerlässlich.<br />
Das Urteil darüber, ob es auch <strong>im</strong> kognitiven<br />
Bereich formale Bildung gibt und diese das Lernen<br />
neuer Inhalte fördert, ist der Mode unterworfen.<br />
5.3 Dauererwerb von nützlichen<br />
Kenntnissen und Fähigkeiten<br />
Im elementaren Bereich — laufen, lesen, schreiben,<br />
rechnen lernen — findet man schnell einen<br />
Konsens darüber, dass da dauerhafte Fähigkeiten<br />
erworben werden sollen. Unter Mathematikdidaktikern<br />
scheint es auch einen Konsens darin zu<br />
geben, das das kleine Einmaleins nicht <strong>für</strong> <strong>für</strong> drei<br />
Wochen am Ende von Klasse 3 sondern lebenslang<br />
verfügbar sein sollte (Siehe auch http://<br />
www.bildungsoptionen.de/ifragen.<br />
htm#m1). Be<strong>im</strong> Bruchrechnen wird dagegen hingenommen,<br />
dass ein halbes Jahr intensiver Arbeit<br />
nicht nur be<strong>im</strong> Rechnen sondern auch be<strong>im</strong><br />
Bruchbegriff nur bei wenigen einen nachhaltigen<br />
Erfolg zeitigt. Bekannt ist der Fußballer, dem<br />
in der Frühzeit des Profifußballs ein Drittel des<br />
Reinerlöses seines Vereins angeboten wurde. Er<br />
war damit nicht zufrieden und verlangte mindestens<br />
ein Viertel. Ähnliches gilt <strong>für</strong> Prozent- und<br />
119
Fritz Nestle<br />
Zinsrechnung. Bei einer Umfage unter Experten<br />
glaubt mehr als die Hälfte, dass weniger als die<br />
Hälfte der Abiturienten eine normale Aufgabe aus<br />
der Zinsrechnung richtig bearbeiten wird — und<br />
die anderen sind wohl hoffnungsvolle Opt<strong>im</strong>isten<br />
(http://www.bildungsoptionen.<br />
de/ifragen.htm#m3). Das alte lateinische<br />
Prinzip „non multa, sed multum“ - besser weniges<br />
richtig als vielerlei unzureichend — wird in der<br />
heutigen Sekundarstufe kaum mehr berücksichtigt<br />
mit der Folge, dass die Bildungszeit <strong>im</strong>mer<br />
länger, das Ergebnis jedoch <strong>im</strong>mer weniger tragfähig<br />
wird. Im Hochschulstudium müssen daher<br />
die BWLer versuchen, die Prozentrechnung zu<br />
verstehen, in den Ingenieurwissenschaften geht es<br />
um eine Pysik <strong>für</strong> Biologen, Maschinenbauer, . . . ,<br />
die nach den Lehrplänen zu einem beträchtlichen<br />
Teil bereits in der Mittelstufe des Gymnasiums<br />
erarbeitet sein sollte. Bei Geschichte, Biologie,<br />
Geographie dürfte es nicht viel besser aussehen.<br />
Viele Lehrer und Hochschullehrer in der Lehrerbildung<br />
retteten sich in der Zeit, in der die programmierte<br />
Instruktion <strong>im</strong> Mittelpunkt der Diskussion<br />
stand, in die These, dass man die wahre<br />
Bildung nicht mit kleinlichen Details verdunkeln<br />
dürfe: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn<br />
man alles Schulwissen vergessen hat.“<br />
Zum Überleben in einer globalen Zivilisation<br />
genügt das freilich nicht. Unsere Kinder müssen<br />
später mit Kindern konkurrieren, die in effektiveren<br />
Bildungsystemen aufwachsen. Was in der<br />
Kindheit versäumt wird, kann später nur noch mit<br />
größter Anstrengung oder gar nicht ausgeglichen<br />
werden.<br />
Wenn wir eine effektivere Lernorganisation<br />
wollen, muß am Anfang das Problem gelöst werden:<br />
Wie kontrolliert man das Lernergebnis? Vor<br />
200 Jahren war die einzige Lösung da<strong>für</strong>, dass<br />
Hunderte oder Tausende von Mathematiklehrern<br />
in handwerklicher Einzelarbeit ihre Lernkontrollen<br />
entwickeln. Standardisierung erfolgte nur sehr<br />
begrenzt über Unterrichtsvisitationen. Im Zeitalter<br />
der schnellen Datenübertragung und des<br />
Internet ist dieses Vorgehen ein teurer und ineffektiver<br />
Anachronismus. Das Dortmunder Manifest<br />
(www.bildungsoptionen.de/manifest.htm)<br />
schlägt einen Weg vor, wie man heute<br />
vorgehen könnte; eine Präzisierung<br />
mit Programmbeispiel findet man hier<br />
(www.bildungsoptionen.de/dilli/fuchsorg.htm).<br />
Beiden Vorschlägen gemeinsam ist eine Vergrößerung<br />
der Chancengerechtigkeit <strong>im</strong> Bildungswesen<br />
und die Unterstützung selbstorganisierten<br />
Lernens.<br />
6 Taxonomische Betrachtungen<br />
Taxonomien beschreiben, auf welchem Niveau die<br />
Auseinandersetzung mit einem Problem und die<br />
120<br />
Ausführung eines Auftrags erfolgen. Die meisten<br />
Taxonomievorschläge sind Variationen des Ansatzes<br />
von Bloom und viele erliegen dem Fehler, mit<br />
einer Taxonomie ließen sich Aufgaben charakterisieren.<br />
In Wirklichkeit hängt die Einordnung in<br />
eine der Kategorien von Bloom<br />
• Wissen<br />
• Verstehen<br />
• Anwendung<br />
• Analyse<br />
• Synthese<br />
• Bewertung<br />
nicht monokausal mit den Anforderungen zusammen,sondern<br />
wird wesentlich vom Lernstand des<br />
Individuums best<strong>im</strong>mt.<br />
Ein Beispiel zeigt dies: Wer weiß, wie es geht,<br />
löst die Aufgabe, vier kongruente gleichseitige<br />
Dreiecke aus sechs Streichhölzern zu bilden, auf<br />
der Ebene des Wissens; wer es nicht weiß, hat unter<br />
Umständer erst nach mühsamer Synthese die<br />
Lösung gefunden (Hinweis: Tetraeder).<br />
Zwei andere Beispiele: Viele Schülerinnen<br />
und Schüler lösen eine Aufgabe, vor allem in Fächern<br />
wie Physik, Chemie, . . . wie Google. Sie suchen<br />
in ihrem Gedächtnis nach Umgebungen eines<br />
Stichworts aus der Aufgabe. Diese Umgebung<br />
reproduzieren sie. In einer Biologiestunde bat ich<br />
einmal einen Schüler in einer neu übernommenen<br />
Klasse, mir an einem menschlichen Skelett das<br />
Stirnbein zu zeigen. Als Antwort war er bereit, mir<br />
wie ein Papagei oder ein Tonband die Namen aller<br />
Knochen des menschlichen Körpers herzusagen,<br />
konnte jedoch von keinem einzigen die Lage <strong>im</strong><br />
Körper zeigen.<br />
Vor einigen Jahren hatte einmal die Firma<br />
IBM zur Vorführung eines Computerprogramms<br />
eingeladen, das Freiantworten auswerten sollte.<br />
Ich durfte die Frage „Wie heißt die Hauptstadt von<br />
Baden-Württemberg?“ beantworten und schrieb<br />
„Stuttgart ist nicht die Hauptstadt von Baden-<br />
Württemberg.“ Der Computer lobte mich <strong>für</strong> diesen<br />
Satz und erklärte ihn <strong>für</strong> richtig. Zwischenzeitlich<br />
sind die Programme natürlich besser geworden;<br />
mit einer falschen Antwort, die durch s<strong>im</strong>ple<br />
Negation der richtigen Antwort entsteht, lassen sie<br />
sich nicht mehr täuschen.<br />
Mit diesen Beispielen soll nicht der Wert des<br />
Wissens herabgesetzt werden. Auf — auch mechanisches<br />
- Wissen als Grundlage kann bei keinem<br />
Lernthema verzichtet werden. Be<strong>im</strong> menschlichen<br />
Lernen sollte freilich die Anwendung des<br />
Wissens zur Problemlösung auf verschiedenen Niveaus<br />
<strong>im</strong> Vordergrund stehen, das heißt die Produktion<br />
von Sprache mit dem einschlägigen Vokabular.<br />
Zur Erläuterung betrachten wir das Problem,<br />
eine HTML-Seite zu schreiben, auf der eine Ant-
worten auf Fragen angefordert und anschließend<br />
ausgewertet werden sollen.<br />
Bei der synthetischen Lösung müssen aus der<br />
Gesamtheit der Sprachelemente die benötigten<br />
ausgewählt und in der richtigen Syntax aneinandergefügt<br />
werden. Dies ist recht mühsam bei<br />
Sprachen mit vielen Elementen; es erfordert ein<br />
Durchforsten eines großen Teils des Vokabulars,<br />
bis passende Befehle gefunden worden sind. Die<br />
Syntax schafft zusätzliche Schwierigkeiten. Trotzdem<br />
werden <strong>im</strong>mer noch viele Fremd- und Programmiersprachen<br />
auf diese Weise gelehrt.<br />
Bei anderem Vorgehen nähert man sich dem<br />
Problem mit fertigen „Sätzen“, die ein analoges<br />
Problem lösen. Entsprechend dem Erlernen der<br />
Muttersprache werden diese Sätze <strong>für</strong> das neue<br />
Problem nur adaptiert. Das hat den großen Vorteil,<br />
dass man die Syntax einfach übernehmen kann.<br />
Der Kode <strong>für</strong> ein pr<strong>im</strong>itives Formular in<br />
Abb. 15.1 zeigt das Vorgehen:<br />
<br />
<br />
Formular mit Pflichtfeldern<br />
<br />
<br />
<br />
Klicken Sie das Feld an und tragen<br />
Sie den Namen ein:<br />
<br />
<br />
Wenn Sie<br />
<br />
anklicken, sehen Sie, ob Ihre Einsetzung<br />
angemommen wurde.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Abbildung 15.1: HTML-Datei mit einem Eingabefeld<br />
Der Satz „Klicken Sie in das Feld und tragen<br />
Sie den Namen ein“ wird wörtlich so auf der<br />
Webseite angezeigt. Dieser könnte ersetzt werden<br />
durch “ Wie heißt das allgemeinste punktsymmetrische<br />
Viereck?“, “ Wie lang ist die Hypotenuse<br />
eines rechtwinkligen Dreiecks, wenn die Katheten<br />
5 und 12 cm lang sind?“ oder eine andere Lernanforderung.<br />
Das klassische Formular ist also strukturgleich<br />
mit üblichen Abfragen.<br />
In spitzen Klammern stehen neben Formatierungsangaben<br />
die Befehle <strong>für</strong> das Anfordern<br />
Papageiengeplapper versus verstandene Sprachproduktion<br />
der Eingabe und das Abschicken. Sie werden<br />
in der durch „action“ aufgerufenen Datei<br />
0te.PHP durch PHP-Anweisungen ausgewertet<br />
(Abb. 15.2).<br />
<br />
<br />
Formular mit Pflichtfeldern<br />
<br />
<br />
<br />
Ihr Name:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Abbildung 15.2: Die Datei zur Auswertung der<br />
Eingabe<br />
Wenn Sie mit diesen beiden Dateien spielen<br />
wollen, müssen Sie diese in das gleiche Verzeichnis<br />
<strong>im</strong> Netz bei einem Provider einstellen, der<br />
PHP unterstützt oder auf Ihrem Rechner einen eigenen<br />
Server mit PHP (z.B. Xampp) installieren.<br />
Im Gegensatz zum Papageiengeplapper des<br />
Knochenbeispiels zeigt das Formularbeispiel eine<br />
verstandene Sprachproduktion, wobei das rein<br />
synthetische Vorgehen schwieriger ist als das<br />
analytisch-synthetische. Letzteres wurde unter anderem<br />
dazu benützt, um mit einer Seniorengruppe<br />
(www.senioren-ulm.de), die <strong>für</strong> gemeinnützige<br />
Einrichtungen Internetseiten erstellt, Anmeldeformulare<br />
<strong>für</strong> eine Jugendkunstschule zu erarbeiten.<br />
Was Senioren leisten können, schaffen auch<br />
Schüler — wenn man sie dazu motiviert. Das ist<br />
viel einfacher, als viele Kollegen denken. Dann<br />
gilt <strong>für</strong> die Schüler: „Docendo disc<strong>im</strong>us“. (Wenn<br />
man eine Sache lehrt, wird man sie irgendwann<br />
einmal auch verstehen.): Wohl die effektivste<br />
Form des Lernens!<br />
Literatur<br />
KMK (2003): Bildungsstandards <strong>im</strong> Fach Mathematik <strong>für</strong><br />
den Mittleren Schulabschluss. Bonn: Sekretariat der Ständigen<br />
Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik<br />
Deutschland Ref. IV A<br />
121
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
122
• Vom Nutzen und vom Nachteil der Informatik <strong>für</strong> den<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Reinhard Oldenburg, Heidelberg<br />
Wenn ein Titel auf Friedrich Nietzsche anspielt, kann man zu Recht erwarten, dass der Autor provozieren<br />
will — dies war <strong>im</strong> vorliegenden Fall ursprünglich auch beabsichtigt. Es zeigte sich aber <strong>im</strong><br />
Verlauf der Arbeitskreis-Tagung, dass die Positionen zu Fragen der Einbeziehung informatorischer<br />
Inhalte in den <strong>Mathematikunterricht</strong> extrem weit auseinander liegen, so dass auch die hier aufgestellten<br />
Thesen recht unterschiedlich bewertet wurden und werden. Die Überlegungen folgenden<br />
dicht dem Tagungsthema. Es soll diskutiert werden, welche Inhalte und Methoden der Informatik<br />
den <strong>Mathematikunterricht</strong> bereichern können.<br />
1 Ausgangspunkte<br />
Computer sind in unserer <strong>Gesellschaft</strong> ein extrem<br />
leistungsfähiges Hilfsmittel zur Problemlösung,<br />
Problemanalyse und manchmal auch Problemgenerierung<br />
geworden. Eine kurze Recherche <strong>im</strong> Internet<br />
und die Beachtung der enormen Dynamik<br />
dieser Entwicklung sollte Teil a) der folgenden<br />
These bestätigen:<br />
These: a) Der wechselseitige Einfluss<br />
von Computern und Mathematik wird<br />
— gerade in der Schule — <strong>im</strong>mer<br />
noch unterschätzt. b) Deshalb werden<br />
die Möglichkeiten des PCs zur Problemlösung<br />
<strong>im</strong> Schulunterricht nicht<br />
adäquat abgebildet.<br />
Teil b) der These ist problematischer. Natürlich<br />
müssen Schüler Einblicke erhalten in die technologische<br />
Basis unserer <strong>Gesellschaft</strong>, und <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
ist es Aufgabe, die mathematischen<br />
Anteile daran transparent zu machen. Wie<br />
viel es aber dazu bedarf, wie konkret Schüler die<br />
Lösung mathematischer Probleme mit dem Computer<br />
und die Nutzung in Anwendungen kennen<br />
lernen müssen, bedarf der didaktischen Diskussion.<br />
Während die Fachwissenschaft Mathematik<br />
mitsamt ihren Vernetzungen ein dynamischer Prozess<br />
ist, ist die Schulmathematik eher starr und<br />
<strong>im</strong>mer noch stark <strong>im</strong> 19. Jh. verwurzelt. Dies soll<br />
an zwei Fragestellungen der analytischen Geometrie<br />
exemplarisch kontrastiert werden:<br />
Traditionelle Fragestellung Welcher Anteil des<br />
Volumens eines Tetraeders n<strong>im</strong>mt die einbeschriebene<br />
Kugel ein? Steigerung: Wie<br />
hoch steigt der Anteil, wenn auch die vier<br />
freien Ecken mit je einem Kügelchen max<strong>im</strong>aler<br />
Größe ausgefüllt werden?<br />
Aktuelle Fragestellung Eine Videokamera<br />
n<strong>im</strong>mt Bilder vorbeifahrender Autos und<br />
ihrer Fahrer auf. Daraus soll ein 3D-Modell<br />
der Gesichtsoberflächen berechnet werden,<br />
aus dem sich biometrische Daten extrahieren<br />
lassen. Das grundlegende Verfahren zur<br />
Lösung dieser Fragestellung kann <strong>im</strong> Unterricht<br />
vollständig behandelt werden. Die<br />
Schüler lernen dabei zweierlei, zum einen,<br />
wie man an Fördergelder des Bundesinnenministeriums<br />
herankommt, und zum<br />
zweiten, wie man gesellschaftlich-kritisch<br />
denkt.<br />
2 Mathematik und Informatik —<br />
ein schwieriges Verhältnis<br />
Die Mathematik stellt eine der wichtigsten Wurzeln<br />
der Informatik dar, <strong>für</strong> die nicht Hardwaregebundenen<br />
Teile sogar die wichtigste. In der rasanten<br />
Entwicklung dieses Fachs hat die Informatik<br />
aber einen erheblichen Bestand an eigenen<br />
Methoden und Inhalten hervorgebracht, der<br />
die Eigenständigkeit als universitäres Fach wie als<br />
Schulfach eindrucksvoll unterstreicht. Für die Didaktik<br />
der Informatik gilt ähnliches. Insbesondere<br />
<strong>im</strong> Zuge der didaktischen Aufarbeitung der Methoden<br />
des Designs von Informatiksystemen, wie<br />
sie besonders am Vordringen der Objektorientierten<br />
Modellierung (OOM) in den Informatikunterricht<br />
sichtbar wird, hat sich eine Mathematikferne<br />
Grundhaltung etabliert. Dies spiegelt sich<br />
wieder in den deutlichen Worten der Abgrenzung<br />
zur Mathematik, wie man sie in der Literatur der<br />
Informatikdidaktik findet. So argumentieren beispielsweise<br />
(Schubert & Schwill, 2004): „..Mathematik<br />
[arbeitet] meist mit kontinuierlichen und<br />
elementaren Größen. . . Informatik . . . mit strukturierten<br />
Objekten. . . ?. Eine solche Unterscheidung<br />
ist <strong>für</strong> die Fachwissenschaft falsch, man denke etwa<br />
an reich strukturierte mathematische Begriffe<br />
wie Vektorraumbündel oder Tensorkategorien.<br />
Sie ist tendenziell richtiger <strong>im</strong> Bereich der Schulmathematik,<br />
aber auch dort muss widersprochen<br />
werden, denn beispielsweise sind Funktionsgraphen<br />
keineswegs elementar, und eine Reklamation<br />
des ganzen Gebietes der diskreten Mathematik <strong>für</strong><br />
die Informatik kann auch nicht <strong>im</strong> Sinne des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
sein, zumal in einer Zeit, in<br />
der dieses Gebiet <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> zunehmend<br />
Unterstützung erfährt. These: Eine deontologische<br />
Abgrenzung kann wegen zu enger Ver-<br />
123
Reinhard Oldenburg, Heidelberg<br />
wandtschaft der Fächer nicht gelingen.<br />
Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht<br />
Inhalte gäbe, die man eindeutig in einem der Fächer<br />
verorten kann, aber die Fachcharakteristika<br />
ermöglichen keine klare Trennlinie, und es gibt<br />
daher einen riesigen Überschneidungsbereich. Es<br />
ist daher sinnvoll, wenn es beide Fächer gibt, und<br />
wenn die Aufgabenverteilung nach pragmatischen<br />
Kriterien, wie der Verfügbarkeit von Lehrkräften,<br />
den organisatorischen Rahmenbedingungen (z.B.<br />
Informatik als Wahl(pflicht)fach oder als Pflichtfach)<br />
und natürlich nicht zuletzt nach inhaltlichen<br />
Bildungszielen erfolgt.<br />
Das angesprochene Überschneidungsgebiet<br />
soll nun durch eine unvollständige Aufzählung<br />
etwas belichtet werden: Logik, Berechenbarkeit,<br />
Komplexität, Korrektheitsbeweise, Zahlentheorie,<br />
Kryptographie, Informationstheorie, Datenkompression,<br />
diskrete Mathematik, Graphentheorie,<br />
Kombinatorik, Opt<strong>im</strong>ierung, Numerik, Computeralgebra,<br />
Computergrafik, Virtual Reality,<br />
Künstliche Intelligenz, Bildverarbeitung, künstliches<br />
Sehen, Robotik, Statistik, Monte-Carlo-<br />
S<strong>im</strong>ulationen.<br />
Neben dieser großen Grauzone zwischen den<br />
Fächern gibt es genuin mathematische Gebiete,<br />
beispielsweise die Topologie, und genuin informatorische<br />
Gebiete, wie Softwaredesign, OOM,<br />
Echtzeitsysteme, Theorie der Betriebssysteme<br />
u.s.w.. Die Eigenständigkeit dieser Gebiete untermauert<br />
die Stellung der Informatik als eigenes<br />
Fach.<br />
Neben inhaltlichen Anregungen kann der <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
auch methodischen Input von<br />
der Informatik nutzen. Im Informatikunterricht ist<br />
der Projektunterricht eine tragende Form. Das ist<br />
möglich, weil der Computer den Schülerinnen<br />
weitreichende Handlungsmöglichkeiten eröffnet.<br />
Für den <strong>Mathematikunterricht</strong> gilt analog das gleiche.<br />
Es ist bedenkenswert, ob man unter diesem<br />
Gesichtspunkt die Inhalte des gegenwärtigen <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
überdenken muss, denn Unterricht<br />
wird nicht nur durch Inhalte legit<strong>im</strong>iert,<br />
sondern auch durch die Methoden und Prozesse,<br />
die in ihm möglich sind.<br />
3 Algorithmen sind gut!<br />
Algorithmisierung ist allgemein als fundamentale<br />
Idee der Mathematik anerkannt (siehe z.B. Tietze<br />
et al., 1997, 38ff) Bedauerlicherweise verzichten<br />
allerdings die KMK-Bildungsstandards <strong>für</strong> den<br />
mittleren Schulabschluss (KMK, 2003) auf eine<br />
entsprechende Würdigung des Algorithmenbegriffs.<br />
Möglicherweise liegt dies begründet in<br />
der Beobachtung, dass <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
das kalkülhafte Arbeiten einen zu hohen Stellenwert<br />
einn<strong>im</strong>mt. Man beachte aber, dass Algorith-<br />
124<br />
1 http://www.g<strong>im</strong>p.org<br />
misierung als fundamentale Idee <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
nicht dazu führen sollte, dass die Schüler<br />
wiederholt Algorithmen ausführen. Satt dessen<br />
sollen sie Algorithmen entwerfen, bewerten und<br />
über ihre Korrektheit und angemessene Nutzung<br />
kritisch reflektieren. Für eine sinnvolle Nutzung<br />
sollte die Algorithmisierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
wirklich als Prozess erlebbar werden. Algorithmen<br />
kodieren und kombinieren Erkenntnisse.<br />
Dazu müssen Erfahrungen gesammelt, zu mathematischen<br />
Aussagen verdichtet und in ein Verfahren<br />
übersetzt werden, das wieder Gegenstand mathematischer<br />
Reflexion sein wird. Exemplarisch<br />
soll dies am Beispiel des Euklidischen Algorithmus<br />
zur Best<strong>im</strong>mung des größten gemeinsamen<br />
Teilers zweier Zahlen erläutert werden. Die Phasen<br />
des Algorithmisierungsprozesses können sein:<br />
1. Erfahrung:<br />
Zahlenbeispiele werden gesammelt<br />
2. Beobachtungen werden zu Regeln verdichtet:<br />
ggT(n,n) = n, ggT(n,1) = 1, ggT(n,m) =<br />
ggT(m,n), ggT(n,m) = ggT(n,m − n)<br />
3. Umsetzung in einen Algorithmus:<br />
ggT(n,m):=<br />
if n>m : ggT(m,n)<br />
else if n=1 : 1<br />
else if n=m : n<br />
else : ggT(n,m-n)<br />
4. Korrektheitsbeweis<br />
Wenn Schüler einen solchen Prozess durchlaufen<br />
können, ist das Zitat „Algorithmen sind gut!? von<br />
(Freudenthal, 1972) bestätigt.<br />
4 Mathematik als<br />
Zuliefer-Wissenschaft<br />
Schüler kennen in der Regel viele Anwendungen,<br />
in denen mathematische Verfahren angewendet<br />
werden, beispielsweise Bildverarbeitungsprogramme<br />
und Soundeditoren. Eine Strategie des<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>s kann darin bestehen, solche<br />
Programme punktuell zu öffnen und die mathematischen<br />
Grundlagen den Schülern direkt zugänglich<br />
zu machen.<br />
Bildbearbeitungsprogramme bieten viele<br />
Möglichkeiten, Helligkeit und Kontrast eines Bildes<br />
zu ändern. Dabei wird eine Funktion best<strong>im</strong>mt,<br />
die die Menge der Helligkeitswerte (also<br />
die ganzen Zahlen von 0 bis 255) auf sich<br />
selbst abbildet. Im kostenlosen Bildbearbeitungsprogramm<br />
G<strong>im</strong>p 1 kann diese Funktion (genauer<br />
gesagt, ihr Funktionsgraph) explizit angezeigt und<br />
sogar mit der Maus verändert werden (siehe Abb.<br />
16.1). Viele Computeralgebraprogramme (Mu-<br />
PAD, Maple, Mathematica) oder ein kleines Programm<br />
(siehe Abb. 16.2) des Autors ermöglichen<br />
auch, die Transformationsfunktion algebraisch zu
Vom Nutzen und vom Nachteil der Informatik <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Abbildung 16.1: Einstellung der Helligkeitswerte in GIMP<br />
Abbildung 16.2: Anwenden einer durch einen Term gegebenen Funktion auf die Helligkeitswerte eines<br />
Bildes<br />
125
Reinhard Oldenburg, Heidelberg<br />
spezifizieren. Dies ermöglicht eine schöne Darstellung<br />
des S<strong>im</strong>ultanaspektes von Funktionen.<br />
In eine ähnliche Richtung geht die Verwendung<br />
von Funktionstermen zur Modellierung von<br />
Klängen. Mit einem vom Autor erhältlichen Zusatzmodul<br />
kann das CAS MuPAD Funktionen<br />
als Schalldruckpegel eines zu erzeugenden Tonsignals<br />
verstehen. Beispielsweise erzeugt<br />
PlayFunction(<br />
0.5*(sin(2*PI*441*t)<br />
+sin(2*PI*440*t)),<br />
t=0..2.0)<br />
eine zwei Sekunden lange Schwebung. Schülern<br />
machen solche und auch einfachere Beispiele (etwa<br />
ein Ton, dessen Frequenz langsam ansteigt)<br />
von Schallmodellierung viel Spaß. Algebra wird<br />
zum Mittel, es lustig piepsen zu lassen.<br />
Ein weiteres Beispiel bilden die in Mailprogrammen<br />
integrierten Spamfilter. Welche Mail als<br />
Spam gilt, hängt vom Nutzer ab, es ist eine individuelle<br />
Entscheidung. Deswegen sollten Spamfilter<br />
lernfähig sein. Zum Lernen aus Erfahrung<br />
bietet sich die Bayesstatistik an, die ermöglicht,<br />
aus der beobachteten Häufigkeit eines best<strong>im</strong>mten<br />
Wortes in der bisher als Spam klassifizierten<br />
Mail zu errechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit<br />
eine einkommende Mail, in der dieses Wort<br />
gefunden wurde, Spam ist:<br />
P(Spam|„Viagra“ ) =<br />
P(„Viagra“ |Spam)<br />
P(„Viagra“ |Spam)+P(„Viagra“ |Ham)<br />
Natürlich stützt man sich in der Praxis nicht<br />
nur auf ein Wort, sondern auf viele, und auch über<br />
deren geschickte Auswahl kann man statistisch argumentieren.<br />
Eine große Klasse von realen Anwendungen<br />
erschließt sich der <strong>Mathematikunterricht</strong>,<br />
wenn er Opt<strong>im</strong>ierungsalgorithmen behandelt,<br />
da dies in Oldenburg (2006) ausführlich dargestellt<br />
werden soll, bleibt es hier bei diesem Hinweis.<br />
4.1 S<strong>im</strong>ulationen<br />
S<strong>im</strong>ulationen können den MU an vielen Stellen<br />
bereichern, vor allem bei Versuchen zur Wahrscheinlichkeitstheorie.<br />
Dabei können fertige Programme<br />
eine wichtige Rolle spielen. Besser ist<br />
aber, wenn die Schüler lernen, mit einem Werkzeug<br />
beliebige Fragestellungen s<strong>im</strong>ulieren zu können.<br />
Dies kann z.B. mit einer Tabellenkalkulation<br />
erfolgen. Dabei treten allerdings technische<br />
Schwierigkeiten (z.B. das Auszählen von Erfolgen<br />
in einer Spalte) auf, die den Problemen be<strong>im</strong> Programmieren<br />
u.U. ebenbürtig sein können. Gänzlich<br />
an seine Grenzen stößt ein solches Werkzeug,<br />
wenn sehr große Versuchszahlen durchzuführen<br />
126<br />
sind. Beispielsweise zeigt Meyer (2006) wie der<br />
<strong>für</strong> Anwendungen extrem wichtige t-Test auf Basis<br />
von mit S<strong>im</strong>ulationen gewonnen Erkenntnissen<br />
angewendet werden kann, ohne wesentliche Teile<br />
der traditionellen Theorie zu benötigen. Dazu sind<br />
allerdings große Anzahlen (> 10 6 ) von Versuchsdurchführungen<br />
nötig, und das ist mit einer Tabellenkalkulation<br />
unmöglich. Natürlich ist es nicht<br />
prinzipiell nötig, dass jeder Schüler ein solches<br />
S<strong>im</strong>ulationsprogramm selbst schreibt, man sollte<br />
aber bedenken, dass eine solche S<strong>im</strong>ulation nur<br />
dann Überzeugungskraft hat, wenn die S<strong>im</strong>ulationsprinzipien<br />
vollkommen klar sind und <strong>im</strong> Vorfeld<br />
ausreichend vertrauensbildende Maßnahmen<br />
durchgeführt wurden. Ein Weg dazu ist das eigenständige<br />
Programmieren. Eine Bewertung dieses<br />
Weges <strong>im</strong> Vergleich zu Alternativen steht aus.<br />
Hier soll ein weiteres Themengebiet vorgestellt<br />
werden, das durch S<strong>im</strong>ulation behandelt<br />
werden kann, und das sich durch den Fächerübergriff<br />
von Mathematik, Informatik und Physik<br />
auszeichnet. Unter dem Begriff Perkolation<br />
fasst man eine Reihe statistischer Modelle zusammen.<br />
Das einfachste Perkolations-Modell besteht<br />
aus einem zweid<strong>im</strong>ensionalen Quadratgitter, dessen<br />
Knoten mit einer best<strong>im</strong>mten vorgegebenen<br />
Besetzungswahrscheinlichkeit als besetzt (sonst<br />
als frei) markiert werden. In einem Realmodell<br />
kann man eine Mischung von Glas- und Stahlkugeln<br />
herstellen und in eine zweid<strong>im</strong>ensionale<br />
Schicht bringen. Eine sinnvolle Frage ist dann,<br />
ob eine elektrische Verbindung über die Stahlkugeln<br />
vom linken zum rechten Rand der Schicht<br />
hergestellt wird. Natürlich ist sofort klar, dass die<br />
Wahrscheinlichkeit P einer leitenden Verbindung<br />
mit der Besetzungswahrscheinlichkeit p (Stahlkugelanteil)<br />
steigt. Das — <strong>für</strong> viele überraschende<br />
— S<strong>im</strong>ulationsergebnis ist, dass P unstetig von<br />
p abhängt, <strong>für</strong> kleine Werte von p ist P = 0, bei<br />
einem Schwellenwert aber springt P auf 1, d.h.<br />
das Modell zeigt einen Phasenübergang. Eine Erkenntnis,<br />
die enorme praktische Rückwirkungen<br />
hat bei Fragen der Ausbreitung von Waldbränden<br />
oder be<strong>im</strong> Einschluss von Erdgas in porösen Gesteinsschichten.<br />
Das S<strong>im</strong>ulationsprogramm (siehe<br />
Abb. 16.3) zeigt auch, dass an der Sprungstelle<br />
fraktale leitende Gebilde entstehen.
Vom Nutzen und vom Nachteil der Informatik <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Abbildung 16.3: Fraktalbildung bei Perkolation<br />
4.2 Working Models — das Prinzip<br />
verstehen<br />
Für viele gängige und bekannte Programmarten,<br />
z.B. Compiler, Interpreter, Browser, Dynamische<br />
Geometrie, Computeralgebra, Klassensystem,<br />
Chatserver, können <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
„Working models“ also Funktionsmodelle erstellt<br />
werden. Diese Programme sollen nicht trivial sein,<br />
sondern wirklich funktionieren, dabei aber soweit<br />
reduziert sein, dass ihre Arbeitsweise <strong>im</strong> Detail<br />
verstanden werden kann. Ziel ist Transparenz herzustellen<br />
und eine Grundlage <strong>für</strong> Aktivitäten der<br />
Schüler zu geben, die dabei Einsicht in reale Probleme<br />
der Softwareentwicklung gewinnen können.<br />
Aus dem Sicht des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
ist es beispielsweise interessant, wenn <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
ein Dynamisches Geometrieprogramm<br />
(DGS) erstellt wird. In diesem Fall<br />
bringt die Mathematik die Beschreibungsmethoden<br />
<strong>für</strong> Graden, Strecken und Kreise und die Berechnungsmethoden<br />
<strong>für</strong> Lote, Schnittpunkte und<br />
ggf. auch Tangenten u.ä. in den Informatikunterricht<br />
ein. Der Informatikunterricht dagegen wird<br />
an diesem Beispiel vor allem schätzen, dass die<br />
OOM daran überzeugend dargestellt werden kann.<br />
Dies zeigt einmal mehr, dass MU und IU unterschiedliche<br />
Ziele verfolgen. Im MU kann das<br />
Thema auch ohne eigenes Programmieren genutzt<br />
werden. Die Arbeitsweise eines DGS kann dekonstruiert<br />
werden, d.h. die Schüler beschreiben umgangssprachlich,<br />
nach welchem Algorithmus und<br />
auf Basis welcher Informationen die neue Konfiguration<br />
<strong>im</strong> Zugmodus aus der alten berechnet<br />
werden kann.<br />
Eine ähnliche Quelle von Anregungen bietet<br />
die 3D-Computergrafik, deren Nützlichkeit <strong>für</strong><br />
den <strong>Mathematikunterricht</strong> von Andreas Filler gegenwärtig<br />
gründlich untersucht wird (siehe Filler,<br />
2008, in diesem Band, S. 63).<br />
5 Prozess-Objekt-Dualität<br />
Auf den ersten Blick ist klar, was Daten (Objekte)<br />
und was Prozeduren sind. Interessanterweise hält<br />
dies einem zweiten Blick nicht stand: Datenstrukturen<br />
und Prozeduren können identifiziert werden.<br />
In der Informatik kennt man schon seit fast 30<br />
Jahren die Entstehung von Objekten aus Prozeduren<br />
(Operationen) und nutzt sie z.B. bei der Implementation<br />
von Klassensystemen in Lisp. In der<br />
Mathematikdidaktik hat diese Erkenntnis verspätet<br />
und unabhängig Einzug gehalten. Die Lehre<br />
aus dieser Beobachtung ist, dass die Informatik<br />
in der Lage ist, sinnvolle metaphorische Beschreibungen<br />
von Lernprozessen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
zu liefern. Ein konkretes Beispiel ist die Repräsentation<br />
von nichtabbrechenden Dez<strong>im</strong>albrüchen.<br />
Schüler haben regelmäßig ontologische Probleme<br />
mit Dez<strong>im</strong>alzahlen mit unendlich vielen,<br />
nichtperiodischen Stellen, die ja nie vollständig<br />
angegeben werden können. Eine informatorische<br />
Modellierung einer solchen Dez<strong>im</strong>alzahl ist gegeben<br />
durch eine realisierbare Funktion (also durch<br />
einen Algorithmus), die als Eingabe die Anzahl<br />
der zu berechnenden Stellen n<strong>im</strong>mt und einen entsprechenden<br />
Näherungswert produziert. Ähnlich<br />
wie auch bei der Beherrschung des Grenzwertbegriffs<br />
werden die „unendlich vielen“ Stellen durch<br />
„beliebig viele“ Stellen ersetzt.<br />
Eine weitere metaphorische Leistung der Informatik<br />
liegt <strong>im</strong> Bereich der Begriffsbildung. Angenommen,<br />
es soll der folgende größte gemeinsame<br />
Teiler berechnet werden: ggT(1,1111 4 444).<br />
In den meisten Programmiersprachen würden zunächst<br />
die Argumente ausgewertet, das heißt die<br />
Exponentiation wird ausgerechnet — eine erhebliche<br />
Arbeit mit riesigem Ergebnis. Dieser Wert<br />
wird allerdings gar nicht benötigt, denn die erste<br />
Zahl <strong>im</strong> Aufruf von ggT ist 1 und also muss<br />
auch der ggT selbst 1 sein. Aus der Einsicht,<br />
dass solche Situationen auch in weniger künstlichen<br />
Situationen vorkommen können, wurden<br />
funktionale Programmiersprachen mit sogenannter<br />
lazy evaluation entwickelt. Diese schieben die<br />
Auswertung von Ausdrücken solange wie möglich<br />
auf. Genau das passiert auch bei der Begriffsbildung:<br />
5/2 und √ 3 sind zunächst Handlungsanweisungen.<br />
Die löbliche Faulheit besteht darin,<br />
diese Operationen zunächst nicht auszuführen, die<br />
Operationen also „einzufrieren“, so dass sie zu einem<br />
handhabbaren Eisblock (Objekt) werden. Bei<br />
Bedarf kann dieser aufgetaut werden — und dann<br />
zeigt sich seine Bedeutung. Dies liefert ein durch<br />
die Informatik gestütztes Modell der Begriffsbildung,<br />
das wichtige Erkenntnisse stützt, die bereits<br />
auf anderem Wege gewonnen wurden, etwa das<br />
Begriffsbildung kein schneller Prozess ähnlich ei-<br />
127
Reinhard Oldenburg, Heidelberg<br />
ner mathematischen Definition sondern ein aktiver<br />
Konstruktionsschritt ist. Nicht ganz so offensichtlich<br />
ist die Folgerung, zum Zwecke der Begriffsbildung<br />
Aktivität zu Gunsten von Reflexion<br />
gezielt zurück zu stellen.<br />
6 Methoden-Werkzeugkasten<br />
Methoden der Informatik können nicht nur als<br />
Metapher in didaktischen Überlegungen nützlich<br />
sein, sondern u.U. lassen sie sich unmittelbar <strong>im</strong><br />
Unterricht einsetzen. Hier sollen einige Beispiele<br />
zur Algebra zusammen gestellt werden.<br />
Kortenkamps Klammergebirge (siehe Kortenkamp,<br />
2008, in diesem Band, S. 77) nutzen Methoden<br />
wie sie auch bei der Programmierung von<br />
Parsern verwendet werden, um Schülern be<strong>im</strong><br />
Umgang mit geklammerten Termen zu helfen.<br />
Graphische Beschreibungsmethoden erleben in<br />
der Informatik eine Blüte, <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
sind dagegen die Termbäume so selten geworden,<br />
dass sich viele Lehramtsstudenten nicht<br />
mehr daran erinnern.<br />
Objekte <strong>für</strong> den schnellen Zugriff zu sortieren<br />
ist eine bekannte Technik. Interessante Diskussionen<br />
mit Schülern habe ich angesichts der Ordnung<br />
in einer Formelsammlung erlebt zur Frage, wie<br />
man Terme (alphabetisch?) sortieren kann. Dies<br />
ist eine wunderbare offene Aufgabe, bei der viel<br />
sonst nur <strong>im</strong>plizites Wissen über den Aufbau von<br />
Termen explizit gemacht werden muss.<br />
Eine weit verbreitete Strategie der Softwareentwicklung<br />
ist die Model-View-Abstraktion, d.h.<br />
die Daten und Methoden, die die Modellbeschreibung<br />
betreffen, sollen getrennt werden von denen,<br />
die die Darstellung betreffen. Der gleiche Term,<br />
verschiedene Schreibweisen, das kennt die Mathematik<br />
schon lange, hier aber noch mal eine neue<br />
Anregung über Termschreibweisen und die Übersetzung<br />
zwischen ihnen nachzudenken.<br />
Ähnliches gilt <strong>für</strong> Normalformen und kanonische<br />
Formen von Termen. Wenn die Schüler <strong>im</strong><br />
Sinne der Metakognition über ihre Möglichkeiten<br />
zur Termumformung reflektieren, helfen diese Begriffe<br />
aus dem Bereich der Computeralgebra bei<br />
der Systematisierung!<br />
Ebenfalls aus der Computeralgebra bekannt ist<br />
das Pattern-Matching, also die Problemstellung,<br />
einen Term an ein best<strong>im</strong>mtes Muster anzupassen.<br />
Das liefert viele Aufgabenstellungen unterschiedlichen<br />
Schwierigkeitsgrades. Eine eher einfache<br />
Aufgabe ist: Passt der Term 5 − x auf das Muster<br />
Ax+B?<br />
7 Problematische Aspekte<br />
In einer unvoreingenommen Diskussion dürfen<br />
Punkte nicht ausgespart bleiben, bei denen die<br />
Informatik einen problematischen Einfluss ausübt.<br />
In der mathematischen Praxis geht man an<br />
128<br />
vielen Stellen flexibel mit Begriffen um. Kanonische<br />
Isomorphien werden oft vergessen, etwa<br />
wenn die konstanten Funktionen mit den reellen<br />
Zahlen identifiziert werden, oder, ähnlich gelagert,<br />
wenn zwischen Funktion und Funktionsterm<br />
nicht konsequent unterschieden wird. In der Informatik<br />
muss man solche Fragen etwas strenger<br />
sehen, um die passenden Datentypen auswählen<br />
zu können. Andererseits werden auch mathematisch<br />
traditionell unterschiedene Objekte in Informatiksystemen<br />
oft gleich repräsentiert(z.B Listendarstellung<br />
sowohl von Vektoren als auch von Teilern<br />
einer Zahl). Auch bei der Anwendung von Informatiksystemen<br />
ist zu beachten, dass in der Mathematik<br />
häufig vorgenommene Identifizierungen<br />
nicht gelten, so gilt etwa in vielen Geometriesystemen,<br />
dass eine Parabel als Funktionsgraph etwas<br />
andere ist als eine Parabel als Kegelschnitt.<br />
Die Informatik erfordert präzise Beschreibungen<br />
und sorgfältige Planungen, und der Informatikunterricht<br />
fordert diese ein. Dies geht teilweise<br />
parallel zu Zielen des <strong>Mathematikunterricht</strong>s,<br />
aber es gibt auch Differenzen. Der <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
versucht u.a. auch zu einem exper<strong>im</strong>entellen,<br />
interaktiven Arbeiten anzuregen. Dies<br />
sind Arbeitsweisen, die in der informatorischen<br />
Praxis zwar auch vorkommen, die aber von der<br />
stark durch Theorie geleiteten Informatikdidaktik<br />
als defizitär angesehen werden. Zwar gibt es auf<br />
diesem Feld eine leichte Entspannung, aber das<br />
Ziel der konsequenten Objektorientierten Modellierung<br />
vor der (und oft auch ohne) Realisierung<br />
ist doch best<strong>im</strong>mend. Exper<strong>im</strong>entelle Aktivitäten<br />
mit dem Rechner müssen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
deshalb bewusst als Gegenmodell zur Praxis<br />
des Informatikunterrichts angeboten werden.<br />
Im Zusammenhang damit steht die seit 100<br />
Jahren <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> propagierte fundamentale<br />
Idee des funktionalen Zusammenhangs.<br />
In der Informatik hat funktionales Denken<br />
zwar auch wichtige Spuren hinterlassen, der<br />
Informatikunterricht setzt gegenwärtig aber stärker<br />
auf objektorientierte denn auf funktionale Modellierung.<br />
Wenn sich die Lehrer beider Fächer<br />
über diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung<br />
<strong>im</strong> klaren sind, muss daraus aber kein Nachteil<br />
erwachsen, <strong>im</strong> Gegenteil, Methodenpluralismus<br />
kann fruchtbar wirken! Allerdings zeigt gerade<br />
die Objektorientierte Modellierung die Ambivalenz<br />
der Beziehung der beiden Schulfächer.<br />
Aus dem <strong>Mathematikunterricht</strong> ist die Mengenlehre<br />
wieder weitgehend verschwunden, ihre informatorische<br />
Übersetzung (Klasse=Menge, Objekt=Element,<br />
Unterklasse=Teilmenge, abstrakte<br />
Klasse=Kategorie) aber schickt sich gerade an,<br />
in die (bayerische) Sekundarstufe I einzudringen.<br />
Die Freude, hier mathematische Konzepte <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
zu sehen, weicht der Ernüch-
Vom Nutzen und vom Nachteil der Informatik <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
terung, dass dieser Ansatz Gefahr laufen könnte,<br />
ähnlich zu scheitern wie die mathematische Mengenlehre.<br />
Einige der Ansätze in diese Richtung<br />
laufen darauf hinaus, dass die Schüler eine Sprache<br />
lernen (es gibt konsequenter Weise auch Abschnitte<br />
zum Lernen der „Vokabeln?), <strong>für</strong> die es<br />
keinen wirklichen Bedarf gibt. Aber etwas Neues<br />
zu lernen, nur um bekannte Dinge anders beschreiben<br />
zu können, motiviert Schüler nicht dauerhaft,<br />
es muss mit den neuen Werkzeugen auch<br />
wirklich etwas getan werden.<br />
8 Abschlussthesen<br />
Dieser Aufsatz hat versucht zu belegen, dass der<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong> von vielen <strong>Ideen</strong> der Informatik<br />
profitieren kann, sowohl auf inhaltlicher wie<br />
auf methodischer Ebene. Vieles davon ist ohne<br />
Programmierkenntnisse der Schüler und Schülerinnen<br />
möglich. Für einige Anwendungen sind<br />
diese aber nützlich, um <strong>im</strong> Sinne eines handlungsorientierten,<br />
auf Konstruktion gerichteten Unterrichts<br />
nennenswerte Eigentätigkeit zu ermöglichen.<br />
Das ist vor allem auch deshalb sinnvoll,<br />
weil der Informatikunterricht sich weit von seinen<br />
mathematischen Wurzeln entfernt hat. Dabei<br />
haben neue, eigenständig informatorische Inhalte<br />
viele traditionelle mathematische Programme<br />
verdrängt. Wenn Schüler mathematische Algorithmen,<br />
wie das Sieb des Erathostenes, das Heron-<br />
verfahren, den Euklidischen Algorithmus oder die<br />
Bisektion zur Lösung von Gleichungen kennen<br />
lernen sollen, ist das exklusiv eine Aufgabe des<br />
<strong>Mathematikunterricht</strong>s.<br />
Literatur<br />
Filler, Andreas (2008): Dynamische Aspekte von Parameterdarstellungen:<br />
Generieren von Bewegungsbahnen sowie von<br />
Geraden und Kurven als Punktmengen. In: Kortenkamp et al.<br />
(2008), 63–72<br />
Freudenthal, Hans (1972): Mathematik als pädagogische Aufgabe.<br />
Klett<br />
KMK (2003): Bildungsstandards <strong>im</strong> Fach Mathematik <strong>für</strong><br />
den Mittleren Schulabschluss. Bonn: Sekretariat der Ständigen<br />
Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik<br />
Deutschland Ref. IV A<br />
Kortenkamp, Ulrich (2008): Algorithmen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
In: Kortenkamp et al. (2008), 77–86<br />
Kortenkamp, Ulrich, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth<br />
(Hg.) (2008): <strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Bericht über die 23. Arbeitstagung des Arbeitskreises „<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Meyer, Jörg (2006): Ein einfacher Zugang zu t-Tests. In:<br />
ISTRON-Band, Franzbecker<br />
Oldenburg, Reinhard (2006): Numerische Opt<strong>im</strong>ierung — ein<br />
schneller Weg zur Modellbildung. In: ISTRON-Band, Franzbecker<br />
Schubert, Sigrid & Andreas Schwill (2004): Didaktik der Informatik.<br />
Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag<br />
Tietze, Uwe, Manfred Klika & H. Wolpers (1997): <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
in der Sekundarstufe II<br />
129
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
130
• Dynamik von DGS — Wozu und wie sollte man sie nutzen?<br />
Jürgen Roth, Würzburg<br />
In der Literatur zum Einsatz von dynamischer Geometriesoftware (DGS) <strong>im</strong> Unterricht wird <strong>im</strong>mer<br />
wieder darauf verwiesen, dass der wesentliche Vorteil dieser Software die Möglichkeit ist, sehr<br />
einfach Bewegungen bzw. Veränderungen von Konfigurationen realisieren zu können. Es stellt sich<br />
allerdings die Frage, bei welchen Inhalten diese Möglichkeit sinnvoll eingestetzt werden kann. Selbst<br />
nach einer Beantwortung bleibt weiterhin zunächst offen, wie ein Einsatz von DGS <strong>im</strong> Unterricht<br />
aussehen sollte, um diese Möglichkeiten auch auszuschöpfen. Ferner darf die Entwicklungsarbeit<br />
nicht unterschätzt werden, die notwendig ist, um entsprechende DGS-Dateien zu erzeugen. Diese<br />
Problemstellungen werden hier diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Konzeptionen zum DGS-<br />
Einsatz zwei D<strong>im</strong>ensionen berücksichtigen müssen. Dies ist zum einen die „Inhaltsd<strong>im</strong>ension“, die<br />
den Zweck des Einsatzes betrifft und zum anderen die „Unterstützungsd<strong>im</strong>ension“, die den Grad der<br />
zur Verfügung gestellten Fokussierungshilfen betrifft. Es wird an konkreten Beispielen dargestellt,<br />
welche Aspekte diese beiden D<strong>im</strong>ensionen beinhalten und wie sie ineinander greifen.<br />
1 Alte Idee der beweglichen<br />
Konfigurationen<br />
Die alte Idee, sich Konfigurationen beweglich vorzustellen<br />
und dies als Argumentationsgrundlage<br />
zu nutzen, wird spätestens seit der Meraner Reform<br />
<strong>im</strong>mer wieder in der didaktischen Diskussion<br />
aufgegriffen und <strong>für</strong> den Geometrieunterricht<br />
(GU) propagiert (vgl. etwa Bender, 1989).<br />
Auswirkungen auf den realen <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
waren bisher allerdings kaum festzustellen.<br />
Krüger (2000) spricht diesbezüglich sogar vom<br />
„Scheitern der Meraner Reform“. Als ein Grund<br />
da<strong>für</strong> wird angeführt, dass es früher schwierig<br />
war, derartige Bewegungen zu visualisieren oder<br />
der Aufwand zur Herstellung von entsprechenden<br />
Medien, z.B. Mathematikfilme oder gegenständliche<br />
Modelle, ganz erheblich ist bzw. war. Darüber<br />
hinaus haben Unterrichtsfilme den Nachteil,<br />
dass Eingriffe in den Ablauf eines einmal erstellten<br />
Films nur in geringem Umfang durchführbar<br />
sind. Damit sind aber entdeckendes Lernen und<br />
das Beschreiten eigener Lernwege nur sehr eingeschränkt<br />
möglich. Diese Problematik hat sich<br />
durch die Verfügbarkeit von Computern und die<br />
Entwicklung von dynamischer Geometriesoftware<br />
(DGS) grundlegend geändert. Mit ihrer Hilfe<br />
können Visualisierungen mathematischer Konfigurationen<br />
relativ einfach erzeugt und dynamisch<br />
variiert werden. Wichtig ist dabei die Möglichkeit,<br />
einzelne Variable der Konfiguration gezielt und<br />
stetig bzw. „quasistetig“ zu verändern. Diese Variation<br />
kann z.B. mit Hilfe von Schiebereglern realisiert<br />
werden. Diese Vorgehensweise bietet sich<br />
dann an, wenn viele verschiedene, vorab bereits<br />
feststehende Veränderungsmöglichkeiten nebeneinander<br />
zur Verfügung gestellt werden sollen.<br />
Darüber hinaus bietet DGS infolge des Zugmodus<br />
große Freiheiten in den Variationsmöglichkeiten<br />
und ist einfach und intuitiv zu bedienen. Der<br />
letztgenannte Aspekt ist insbesondere <strong>im</strong> Hinblick<br />
darauf, dass das Arbeiten mit Bewegungen und<br />
Veränderungen meiner Ansicht nach den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
spätestens ab der 5. Jahrgangsstufe<br />
begleiten sollte, ein entscheidendes Kriterium<br />
be<strong>im</strong> Einsatz von Computern <strong>im</strong> Unterricht.<br />
2 Funktionen des DGS-Einsatzes<br />
(Wozu?)<br />
Die Tatsache, dass Veränderungen mit Hilfe geeigneter<br />
Computerprogramme sehr einfach durchgeführt<br />
und von Schülerinnen und Schülern in gewissen<br />
Grenzen selbst gesteuert werden können,<br />
birgt alleine allerdings noch keinen didaktischen<br />
Vorteil. Die Bewegung bzw. Veränderung muss<br />
zwar nicht mehr hineingesehen werden, weil sie<br />
bereits bildhaft vor dem Auge der Schülerin bzw.<br />
des Schülers abläuft, um aber aus dieser Bewegung<br />
Informationen oder <strong>Ideen</strong> <strong>für</strong> eine Argumentation<br />
zu erhalten, ist eine intensive Auseinandersetzung<br />
mit der Problematik notwendig, die nicht<br />
einfach durch oberflächliches Betrachten von Bewegungen<br />
erreicht wird. Genau genommen setzt<br />
ein Gewinn bringender Einsatz von Software, die<br />
„benutzergesteuerte“ dynamische Veränderungen<br />
zulässt, bereits die Fähigkeiten des Beweglichen<br />
Denkens (Roth, 2005a) voraus. Es handelt sich dabei<br />
um folgende drei Fähigkeiten:<br />
1. Bewegung hineinsehen und damit argumentieren<br />
Hier geht es um die Fähigkeit, in ein (statisches)<br />
Phänomen eine Bewegung bzw. eine<br />
Veränderung hineinsehen zu können. Darüber<br />
hinaus gehört zu dieser Komponente des<br />
Beweglichen Denkens aber auch die Fähigkeit,<br />
diese vorgestellte Bewegung bzw. Veränderung<br />
zur Argumentation be<strong>im</strong> Lösen von<br />
Problemen, Entdecken von Zusammenhängen<br />
und ganz allgemein be<strong>im</strong> Erforschen von (mathematischen)<br />
Phänomenen benutzen zu können.<br />
2. Gesamtkonfiguration erfassen und analysieren<br />
131
Jürgen Roth, Würzburg<br />
Zum Beweglichen Denken gehört die Fähigkeit,<br />
eine reale bzw. vorgestellte („hineingesehene“<br />
) Bewegung/Veränderung in ihren Auswirkungen<br />
auf die Gesamtkonfiguration erfassen<br />
und analysieren zu können. Dies erfordert,<br />
die Fokussierung auf best<strong>im</strong>mte Aspekte<br />
wechseln und so jeweils <strong>für</strong> gerade betrachtete<br />
Fragestellungen relevante Veränderungen bzw.<br />
Invarianten in den Blick nehmen zu können.<br />
3. Änderungsverhalten erfassen und beschreiben<br />
Der dritte Aspekt des Beweglichen Denkens<br />
ist die Fähigkeit, die Frage nach der Art und<br />
Weise der Veränderung beantworten, also das<br />
Änderungsverhalten qualitativ erfassen und beschreiben<br />
zu können.<br />
Für einen Menschen, der versiert <strong>im</strong> Beweglichen<br />
Denken ist, kann der Computer mit entsprechender<br />
Software drei wesentliche Funktionen erfüllen:<br />
1. Kontrollinstanz<br />
Er ist eine externe Kontrollinstanz, mit der <strong>im</strong><br />
Kopf abgelaufene bewegliche Denkvorgänge<br />
auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft und kritisch<br />
hinterfragt werden können.<br />
2. „Denkzeug“<br />
Der Computer ist ein Werkzeug, das das Bewegliche<br />
Denken unterstützt, in Anlehnung an<br />
Dörfler (1991) also ein „Denkzeug“, weil er bei<br />
komplexen Problemstellungen, die nicht mehr<br />
<strong>im</strong> Kopf erfassbar sind, dazu dient, die Komplexität<br />
in den Griff zu bekommen. Dies geschieht<br />
dadurch, dass das Gedächtnis entlastet<br />
wird und einzelne Fähigkeitsaspekte des Beweglichen<br />
Denkens an den Rechner delegiert<br />
werden. Folgende Aspekte sind hier zu nennen:<br />
132<br />
• Am Computer arbeitende Menschen benötigen<br />
die Fähigkeit „Bewegung hineinsehen“<br />
nicht mehr <strong>im</strong> gleichen Umfang wie jene ohne<br />
Werkzeug, da die Bewegung zwar noch<br />
geplant, aber nicht mehr mental realisiert<br />
werden muss.<br />
• Das Gedächtnis wird nicht mehr so stark<br />
belastet, weil die Gesamtkonfiguration ständig<br />
zur Verfügung steht und nötige Fokussierungen<br />
auf jeweils relevante Details nur<br />
noch antizipiert werden müssen. Geeignete<br />
Hilfsmittel, die das Computerprogramm bietet,<br />
können zur Konzentration der Aufmerksamkeit<br />
auf diesen Aspekt genutzt werden.<br />
• Diese Entlastung in den genannten kognitiven<br />
Bereichen erlaubt be<strong>im</strong> Problemlösen<br />
mit Hilfe des Beweglichen Denkens die Konzentration<br />
auf Aspekte der Planung, Interpretation,<br />
Analyse und Argumentation. Voraussetzung<br />
dazu ist allerdings die Fähigkeit, mit<br />
der jeweiligen Software umgehen und ihren<br />
zielgerichteten Einsatz planen und <strong>im</strong> Laufe<br />
des verteilten Denkprozesses ggf. auch reorganisieren<br />
zu können.<br />
3. Kommunikationsmittel<br />
Der Computer ist ein Hilfsmittel, um Ergebnisse<br />
beweglicher Denkvorgänge und ihr Zustandekommen<br />
gerade auch solchen Menschen<br />
zu vermitteln, deren Fähigkeit zum Beweglichen<br />
Denken weniger stark ausgeprägt ist. Dabei<br />
spielen die Möglichkeiten des dynamischen<br />
„Vorführens“ von Veränderungen und der Aufmerksamkeitsfokussierung<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Diese drei genannten Funktionen des Computers<br />
gelten <strong>für</strong> Personen, deren kognitives Standardrepertoire<br />
das Bewegliche Denken als selbstverständlichen<br />
Bestandteil umfasst. Sie eröffnen aber<br />
auch einen Zugang zu sinnvollen Einsatzmöglichkeiten<br />
des Computers <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>,<br />
wenn es um die Entwicklung Beweglichen Denkens<br />
geht. Dabei sind zwei wesentliche Zielrichtungen,<br />
dass die Schülerinnen und Schüler auch<br />
mit Hilfe des Computereinsatzes dazu befähigt<br />
werden,<br />
• ohne Computer, also <strong>im</strong> Kopf, Bewegungen hineinzusehen,<br />
zu analysieren und Änderungsverhalten<br />
zu erfassen, sowie<br />
• bei komplexeren Gegebenheiten einen geeigneten<br />
Computereinsatz zu planen, vorzustrukturieren<br />
und während des Denkprozesses ggf. zu reorganisieren.<br />
3 Fokussierungshilfen<br />
Auf dem Weg zu diesen Zielen ermöglicht der<br />
Einsatz des Computers der Lehrkraft die Komplexität<br />
des beweglichen Denkprozesses dadurch zu<br />
reduzieren, dass Strukturierungs- bzw. Fokussierungshilfen<br />
bereits in eine Lernumgebung eingebaut<br />
werden und den Schülerinnen und Schülern<br />
so eine Konzentration auf Analyse- und Argumentationsprozesse<br />
ermöglicht wird. Dabei wird man<br />
<strong>im</strong> Zuge der Entwicklung des Beweglichen Denkens<br />
die Strukturierungshilfen in den Lernumgebungen<br />
schrittweise verringern. In der Endform<br />
erzeugen die Schülerinnen und Schüler die zu untersuchenden<br />
Konfigurationen mit Hilfe von DGS<br />
komplett selbst, planen selbstständig Fokussierungshilfen<br />
und setzen sie um bzw. nutzen DGS<br />
zur Kontrolle der Ergebnisse des <strong>im</strong> Kopf abgelaufenen<br />
Beweglichen Denkens. Diese Endform<br />
kann aber nur das Ziel eines langfristigen, sich<br />
über mehrere Jahre erstreckenden Prozesses sein.<br />
Für diesen Zeitraum müssen von Lehrern und Didaktikern<br />
auf DGS basierende Lernumgebungen<br />
entwickelt werden, die jeweils angemessene Fokussierungshilfen<br />
enthalten. Die Gestaltung von<br />
Fokussierungshilfen erfordert dabei einen erheblichen<br />
und nicht zu unterschätzenden Aufwand
<strong>im</strong> Hinblick auf die Konzeption, aber auch auf<br />
die Umsetzung der gewünschten Fokussierungshilfen.<br />
Oft sind dazu trickreiche und nicht nahe<br />
liegende Konstruktionen notwendig, die ein DGS<br />
so nicht unmittelbar zur Verfügung stellt. Auch<br />
wäre eine einzelne Lehrkraft überfordert, wollte<br />
sie zu allen Themen des Lehrplanes geeignete<br />
auf DGS basierende Lernumgebungen entwickeln.<br />
Hier ist eine Internet-Plattform notwendig,<br />
auf der bereits fertige Lernumgebungen zu<br />
verschiedenen Themen vorliegen. Dort findet man<br />
— <strong>im</strong> Idealfall — bereits eine Umsetzung zu einem<br />
gewünschten Thema, die man als Lehrkraft<br />
an die eigenen Bedürfnisse anpassen kann, oder<br />
man erhält zumindest Anregungen dazu, wie eigene<br />
<strong>Ideen</strong> mit Hilfe von DGS umgesetzt werden<br />
können. Einen Ansatz dazu stellt meine Homepage<br />
http://www.juergen-roth.de dar.<br />
Hier stelle ich unter der Rubrik „EUKLID DynaGeo“<br />
eine ganze Reihe von Lernumgebungen<br />
zur Verfügung, die von mir konzipiert und umgesetzt<br />
wurden und die auf DynaGeoX-Applets basieren.<br />
Sie können online genutzt, aber auch heruntergeladen<br />
und gemäß den eigenen Vorstellungen<br />
und Bedürfnissen geändert werden. Außerdem<br />
zeigen sie exemplarisch, welche Arten von<br />
Fokussierungshilfen möglich sind.<br />
Grundsätzlich kann man drei Stufen der Fokussierungshilfen<br />
unterscheiden:<br />
1. Eine Konfiguration ist vollständig vorgegeben.<br />
• Für die wesentlichen zu beobachtenden<br />
Aspekte sind bereits Fokussierungshilfen<br />
(z.B. durch Farbgebung, Linienstärken, die<br />
Mitführung von Messwerten u.ä.) enthalten.<br />
• Evtl. sind Variationsmöglichkeiten an der<br />
Konfiguration bewusst eingeschränkt.<br />
• Evtl. können einzelne Elemente ein- und<br />
ausgeblendet werden.<br />
Beispiele hier<strong>für</strong> sind in Abb. 17.1 und<br />
Abb.17.2 wiedergegeben. Die zugehörigen<br />
DynaGeoX-Applets findet man unter<br />
http://www.juergen-roth.de →<br />
EUKLID DynaGeo und dort unter → N →<br />
Nebenwinkel bzw. → S → Schachtel.<br />
Abbildung 17.1: Scheitel- und Nebenwinkel (Eigenschaften)<br />
Dynamik von DGS — Wozu und wie sollte man sie nutzen?<br />
Abbildung 17.2: Oben offene Schachtel<br />
2. Eine veränderbare (Teil-)Konfiguration ist vorgegeben.<br />
• Sie kann (bzw. muss) ergänzt oder verändert<br />
werden.<br />
• Es sind nur einzelne Fokussierungshilfen<br />
vorhanden.<br />
Ein Beispiel hier<strong>für</strong> ist in Abb.17.3 wiedergegeben.<br />
Das zugehörige DynaGeoX-<br />
Applet findet man unter http://<br />
www.juergen-roth.de → EUKLID<br />
DynaGeo→ D → Dreiecksgrundformen →<br />
gleichschenkliges Dreieck.<br />
Abbildung 17.3: Begriffsumfang: „Gleichseitiges<br />
Dreieck“<br />
3. Es wird mit einer leeren, unstrukturierten<br />
DGS-Datei gearbeitet, eine dynamische Geometriesoftware<br />
wird völlig selbstständig und<br />
ohne Vorgaben als Werkzeug benutzt.<br />
Insgesamt muss darauf hingearbeitet werden,<br />
dass die Schülerinnen und Schüler sich be<strong>im</strong> Arbeiten<br />
mit dem Computer intensiv mit den beobachtbaren<br />
Veränderungen und Invarianten auseinander<br />
setzen und auch beginnen ihr Vorgehen<br />
(Welche Veränderungen sollten als nächstes<br />
mit welchem Ziel untersucht werden?) zu planen.<br />
Geschieht dies nämlich nicht, besteht die Gefahr,<br />
dass der Computereinsatz die Entwicklung<br />
des Beweglichen Denkens nicht nur nicht unterstützt,<br />
sondern ggf. sogar kontraproduktiv wirkt,<br />
133
Jürgen Roth, Würzburg<br />
weil evtl. nur „wild mit der Maus gezogen wird“,<br />
man nette Effekte auf dem Bildschirm betrachtet<br />
(Computerspiel!) und kein Denkvorgang einsetzt.<br />
Erleben die Schülerinnen und Schüler aber nicht,<br />
dass man mit Bewegungen argumentieren kann<br />
und sie das Verständnis unterstützen, so wird der<br />
Computereinsatz an dieser Stelle <strong>im</strong>mer nur als<br />
„Spielerei“ eingeordnet und der erwünschte Aufbau<br />
der Fähigkeiten des Beweglichen Denkens<br />
findet nicht statt.<br />
Neben den oben angesprochenen Hilfen zur<br />
Aufmerksamkeitsfokussierung wird versucht, die<br />
Auseinandersetzung mit den beobachteten Veränderungen<br />
dadurch zu intensivieren, dass Vorhersagen,<br />
Begründungen und Ergebnisfixierungen<br />
in Wort und Schrift eingefordert werden. Darüber<br />
hinaus ist es notwendig, die Schülerinnen<br />
und Schüler durch regelmäßiges Aufgreifen und<br />
explizites Ansprechen an heuristische Strategien<br />
bzw. Arbeitsstrategien zu gewöhnen, die charakteristisch<br />
<strong>für</strong> das Arbeiten <strong>im</strong> Sinne des Beweglichen<br />
Denkens sind. Solche Strategien sind z.B.:<br />
1. In ein statisch formuliertes Phänomen eine Bewegung<br />
hineinsehen.<br />
2. Bedingungen jeweils einzeln und kontrolliert<br />
variieren.<br />
3. Veränderungen bewusst bis hin zu Extremlagen<br />
ausführen.<br />
4 Sinnvoller Einsatz der<br />
dynamischen Möglichkeiten<br />
von DGS (Wie?)<br />
Im Folgenden werden verschiedene Einsatzweisen<br />
<strong>für</strong> eine DGS <strong>im</strong> Rahmen eines Unterrichts beschrieben,<br />
der das Bewegliche Denken der Schülerinnen<br />
und Schüler fördern will.<br />
4.1 Kommunikation einer Idee<br />
Eine DGS wird genutzt, um die Idee einer Argumentation<br />
zu kommunizieren, die Elemente des<br />
Beweglichen Denkens nutzt. Ich möchte dies an-<br />
134<br />
Abbildung 17.4: Eigenschaften von Achsenpunkten<br />
hand des Beweises zu folgendem Satz knapp erläutern:<br />
Satz: Jeder Punkt P, der nicht auf der<br />
Achse a liegt, ist unterschiedlich weit<br />
von einem Punkt A und dessen Bildpunkt<br />
A ′ bei Achsenspiegelung an der<br />
Achse a entfernt.<br />
Eine mit einer DGS erzeugte Konfiguration<br />
wird <strong>im</strong> Unterricht als dynamische Grundlage <strong>für</strong><br />
ein Unterrichtsgespräch genutzt (vgl. Abb. 17.4).<br />
Das zugehörige DynaGeoX-Applet findet man<br />
unter http://www.juergen-roth.de →<br />
EUKLID DynaGeo → K → Kongruenzabbildungen<br />
→ Eigenschaften von Achsenpunkten<br />
Dabei werden bewusst Fokussierungshilfen<br />
verwendet. (Hier dienen die unterschiedliche Färbung<br />
der Strecken [AP] und [A ′ P] sowie das Einzeichnen<br />
des Schnittpunktes S von [AP] bzw. [A ′ P]<br />
und der Achse a als Fokussierungshilfen.) Im Unterrichtsgespräch<br />
wird herausgearbeitet, welchen<br />
Vorteil die Vorstellung der Bewegung <strong>für</strong> die Argumentation<br />
bietet. Bereits die einfache Strategie,<br />
zunächst Grenzlagen zu erzeugen und wieder zu<br />
verlassen, führt auf die entscheidende Idee. Bewegt<br />
man nämlich P von a weg, so stellt man fest,<br />
dass abhängig von der Bewegungsrichtung eine<br />
der beiden Strecken [AP] oder [A ′ P] die Achse a<br />
<strong>im</strong> Punkt S schneidet. Als Achsenpunkt ist er von<br />
A und A ′ gleich weit entfernt. Die Strecke [A ′ P]<br />
in Abb. 17.4 (links) lässt sich also aus den Seiten<br />
[AS] und [SP] des Dreiecks ΔASP zusammensetzen.<br />
Die Summe dieser beiden Streckenlängen ist<br />
größer als [AP] (Dreiecksungleichung). Damit ist<br />
aber der Satz bereits bewiesen, weil das dynamische<br />
Argument sofort ergibt, dass jede Bewegung<br />
von P von der Achse a weg einen Schnittpunkt S<br />
erzeugt.<br />
Weitere interessante Beispiele findet man z.B.<br />
bei Danckwerts & Vogel (2003). Abb. 17.4 kann<br />
noch in einer anderen Weise als oben gedeutet<br />
werden:
4.2 Vermittlung einer Beweisidde<br />
Mit einer DGS erzeugte dynamische Konfigurationen<br />
können bei Beweisen dazu eingesetzt werden,<br />
die gesamte Beweisidee zu vermitteln, sie also<br />
„auf einen Blick“ erfass- und verstehbar zu machen.<br />
Abbildung 17.5: Satz des Pythagoras — da Vinci-<br />
Beweis<br />
Wenn man sich vor Augen hält, wie schwierig<br />
es oft <strong>für</strong> Lernende (nicht nur in der Schule!) ist,<br />
eine Beweisidee (d.h. den „roten Faden“ des Beweisganges)<br />
zu erfassen, wird deutlich, welches<br />
Potenzial das Bewegliche Denken und (mit einer<br />
DGS erzeugte) dynamische Konfigurationen hier<br />
eröffnen. Ein anderes Beispiel <strong>für</strong> eine über Bewegungen<br />
eingefangene und dem Verständnis zugänglich<br />
gemachte Beweisidee ist in Abb. 17.5 <strong>für</strong><br />
einen auf da Vinci zurückgehenden Beweis des<br />
Satzes des Pythagoras angedeutet. Das zugehörige<br />
DynaGeoX-Applet findet man unter http://<br />
www.juergen-roth.de → EUKLID Dyna-<br />
Geo → P → Pythagoras → Beweis des Leonardo<br />
da Vinci.<br />
Elschenbroich (2001) geht auf weitere Aspekte<br />
be<strong>im</strong> Einsatz von DGS <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />
dem Beweisen ein. Wichtig ist dabei insbesondere<br />
auch der unten unter „exper<strong>im</strong>entelles Arbeiten“<br />
aufgeführte Aspekt „Finden von <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> Problemlöseprozess“.<br />
4.3 Dynamische Verständnisgrundlage<br />
Mit einer DGS konstruierte Konfigurationen können<br />
dynamische, weil variierbare und damit in<br />
ihrem Umfang und in ihren Grenzen besser erfassbare<br />
Verständnisgrundlagen <strong>für</strong> Begriffe und<br />
ihre Eigenschaften sein. Abb. 17.6 zeigt dies exemplarisch<br />
<strong>für</strong> die Winkeltypen und die zugehörigen<br />
Winkelsätze an Parallelenkreuzungen.<br />
Dynamik von DGS — Wozu und wie sollte man sie nutzen?<br />
Abbildung 17.6: Verständnisgrundlage <strong>für</strong> Winkel<br />
an Parallelenkreuzungen<br />
Das zugehörige DynaGeoX-Applet findet man<br />
unter http://www.juergen-roth.de →<br />
EUKLID DynaGeo → P → Parallelenkreuzung<br />
→ Merkfigur.<br />
Zu beachten ist dabei, dass diese dynamischen<br />
Verständnisgrundlagen den Schülerinnen<br />
und Schülern erst nach einer Erarbeitungsphase<br />
(<strong>im</strong> Sinne von Postorganizern nach Ausubel)<br />
zur Verfügung gestellt werden. Ein weiteres Beispiel<br />
hierzu zeigt Abb. 17.7. Das DynaGeoX-<br />
Applet zu Begriffen am Dreieck findet man<br />
unter http://www.juergen-roth.de →<br />
EUKLID DynaGeo→ D → Dreieck.<br />
Abbildung 17.7: Verständnisgrundlage <strong>für</strong> Begriffe<br />
am Dreieck<br />
Es geht dabei insbesonder um den Aufbau und<br />
die Entwicklung von Grundvorstellungen zu mathematischen<br />
Begriffen (hier Begriffen am Dreieck)<br />
<strong>im</strong> Sinne von vom Hofe (1995).<br />
4.4 Exper<strong>im</strong>entelles Arbeiten<br />
Mit DGS kann man <strong>im</strong> Hinblick auf Bewegliches<br />
Denken exper<strong>im</strong>entell arbeiten. Auf diese Weise<br />
können Zusammenhänge entdeckt werden. Dies<br />
erfolgt mit Hilfe von DGS-Dateien, die die zu erarbeitenden<br />
Beziehungen nicht bereits durch Fokussierungshilfen<br />
wie z.B. die Farbgebung, mitgeführte<br />
Messwerte u.ä. nahe legen. In Abb. 17.8<br />
wird beispielsweise eine Konfiguration gezeigt,<br />
135
Jürgen Roth, Würzburg<br />
mit deren Hilfe Schülerinnen und Schüler in Partnerarbeit<br />
die Eigenschaften der Achsenspiegelung<br />
erarbeiten. Wichtig ist dabei, von Anfang an<br />
sehr viel Wert auf Begründungen von entdeckten<br />
Zusammenhängen zu legen. Dies erhöht die<br />
Chance auf eine intensive Auseinandersetzung.<br />
Das DynaGeoX-Applet zu diesem Beispiel findet<br />
man unter http://www.juergen-roth.de<br />
→ EUKLID DynaGeo → K → Kongruenzabbildungen<br />
→ Eigenschaften der Achsenspiegelung.<br />
Abbildung 17.8: Erarbeitung der Eigenschaften<br />
der Achsenspiegelung<br />
Ein weiteres Beispiel zeigt Abb. 17.9. Dort<br />
wird in direkter Gegenüberstellung ein Dreieck<br />
jeweils verschiedenen Kongruenzabbildungen<br />
und einer schiefen Achsenspiegelung unterworfen.<br />
Durch dynamische Exploration wird den<br />
Schülerinnen und Schülern die Entdeckung ermöglicht,<br />
dass Längen-, Winkel- und Geradentreue<br />
als Abbildungseigenschaften etwas besonderes<br />
sind, und dass der rechte Winkel zwischen der<br />
Verbindungsstrecke von Punkt und Bildpunkt und<br />
der Symmetrieachse bei der Achsenspiegelung <strong>für</strong><br />
diese Eigenschaften wesentlich ist.<br />
Abbildung 17.9: „Längen-, Winkel- und Geradentreue“<br />
Auch das Finden von <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> Problemlöseprozess<br />
geschieht <strong>im</strong> Rahmen eines exper<strong>im</strong>entellen,<br />
zielgerichteten Arbeitens. Zur Illustration soll<br />
folgendes Problem dienen (vgl. Abb. 17.10):<br />
136<br />
Abbildung 17.10: „Halbierter Rechter“ — <strong>Ideen</strong><br />
finden be<strong>im</strong> Problemlösen<br />
Die Winkelhalbierende des rechten Winkels<br />
in einem rechtwinkligen Dreieck teilt das Quadrat<br />
über der Hypotenuse in zwei Teilflächen gleichen<br />
Flächeninhalts. Hier hilft es weiter, wenn<br />
man sich die oben bereits erwähnten Strategien<br />
in Erinnerung ruft: Den Einfluss der Bedingungen<br />
auf ein Problem, kann man am einfachsten<br />
abschätzen, wenn man sie jeweils einzeln variiert<br />
und dabei die anderen Bedingungen konstant<br />
hält. Eine der möglichen Variationen, nämlich die<br />
Bewegung des Scheitelpunkt des rechten Winkels<br />
auf dem Thaleskreis führt zu einer entscheidenden<br />
Idee. Bei dieser Bewegung ändert sich auch die<br />
Lage der Winkelhalbierenden des rechten Winkels.<br />
Man kann vermuten, dass es sich um eine<br />
Drehung handelt. Es stellt sich die Frage, um welchen<br />
Punkt diese Drehung erfolgt. Oft hilft es —<br />
zur Klärung von Fragen wie dieser — die Veränderungen<br />
bis hin zu Extremlagen auszuführen.<br />
Wendet man diese Strategie auf die hier betrachtete<br />
Bewegung an, so bedeutet das, den Punkt auf<br />
dem Thaleskreis so weit zu ziehen, dass er (fast)<br />
mit den Endpunkten der Hypotenuse zur Deckung<br />
kommt. In diesen Lagen scheint die Winkelhalbierende<br />
jeweils (näherungsweise) mit einer der Diagonalen<br />
des Hypotenusenquadrates zusammenzufallen.<br />
Die Diagonalen schneiden sich aber <strong>im</strong><br />
Mittelpunkt des Quadrates. Dies legt die Vermutung<br />
nahe, dass der Drehpunkt der Winkelhalbierenden<br />
der Mittelpunkt des Hypotenusenquadrates<br />
ist. Das ist besonders deshalb interessant,<br />
weil sich in diesem Punkt auch die Mittelsenk-
echte der Hypotenuse und der Thaleskreis schneiden.<br />
Diese Vermutung ist der Kern der Problemlösung.<br />
Alles weitere lässt sich nun mit einer einfachen<br />
Kongruenzüberlegung (Die Gerade durch<br />
den Scheitel des rechten Winkels und den Mittelpunkt<br />
des Quadrats halbiert die Quadratfläche.)<br />
bzw. mit Winkelbetrachtungen an gleichschenkligen<br />
Hilfsdreiecken (Die Gerade durch den Scheitel<br />
des rechten Winkels und den Mittelpunkt des<br />
Quadrats ist die Winkelhalbierende des rechten<br />
Winkels.) zeigen. Das DynaGeoX-Applet zu diesem<br />
Beispiel findet man unter http://www.<br />
juergen-roth.de → EUKLID DynaGeo →<br />
K → Knobelaufgabe.<br />
Weitere Beispiele zum exper<strong>im</strong>entellen und<br />
heuristischen Arbeiten mit DGS findet man etwa<br />
in Weth (2002).<br />
4.5 Reflexion von<br />
Problemlöseprozessen<br />
Ein wesentlicher Aspekt des Einsatzes dynamischer<br />
Visualisierungen liegt in der Reflexion von<br />
Problemlöseprozessen, in denen ohne (Computer-<br />
)Werkzeug gearbeitet wird und bei denen Heuristiken<br />
und Fähigkeiten des Beweglichen Denkens<br />
eingesetzt werden. Dabei werden die Schülerinnen<br />
und Schüler mit Problemen konfrontiert und<br />
erhalten als Werkzeuge (zunächst) nur Papier und<br />
Bleistift. Be<strong>im</strong> anschließenden Computereinsatz<br />
stehen drei Gesichtspunkte <strong>im</strong> Mittelpunkt, nämlich<br />
• die Kontrolle der Richtigkeit der dynamischen<br />
Argumentation,<br />
• die Kommunikation von Gedankengängen und<br />
Ergebnissen und<br />
• die Reflexion über eingesetzte heuristische Strategien<br />
und deren Verallgemeinerbarkeit.<br />
Abbildung 17.11: „Dreieckssehne“ — Reflexion<br />
von Problemlöseprozessen<br />
Zur Illustration soll das Problem der Längenänderung<br />
einer „Sehne“ <strong>im</strong> gleichseitigen Dreieck<br />
dienen. Dabei wird ein Endpunkt der Sehne<br />
festgehalten und der andere wird gleichmäßig<br />
Dynamik von DGS — Wozu und wie sollte man sie nutzen?<br />
(mit konstanter Bahngeschwindigkeit) entlang der<br />
Dreiecksperipherie bewegt. Wie ändert sich dabei<br />
die Länge der Sehne (vgl. Abb. 17.11)? Eine<br />
ausführliche Darstellung des Problems und seiner<br />
Lösung findet man in Roth (2005b). Dynamische<br />
Arbeitsblätter zur zugehörigen Unterrichtssequenz<br />
stehen <strong>im</strong> Netz unter http://www.<br />
juergen-roth.de → EUKLID DynaGeo →<br />
S → Kurvenerzeugende Sehnen.<br />
5 D<strong>im</strong>ensionen des Einsatzes<br />
von DGS<br />
Liest man die vorstehende Liste von Einsatzmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> eine DGS <strong>im</strong> Rahmen eines auf Bewegliches<br />
Denken ausgerichteten <strong>Mathematikunterricht</strong>s,<br />
so wird deutlich, dass (fast) bei jedem<br />
Punkt graduelle „Feineinstellungen“ insbesondere<br />
<strong>im</strong> Hinblick auf Fokussierungshilfen möglich<br />
und nötig sind. Dies liegt darin begründet, dass<br />
der Einsatz von DGS (nicht nur) <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit Beweglichem Denken zwei unabhängige<br />
D<strong>im</strong>ensionen besitzt, nämlich die „Inhaltsd<strong>im</strong>ension“,<br />
die das Ziel des DGS-Einsatzes betrifft<br />
und die „Unterstützungsd<strong>im</strong>ension“, die den<br />
Grad der Fokussierungshilfen umfasst. In Tabelle<br />
1 wird <strong>für</strong> jeden Verwendungszweck durch ein<br />
„Kreuz“ X gekennzeichnet, welcher Grad der Fokussierungshilfen<br />
jeweils angemessen sein kann.<br />
Die in Klammern gesetzten „Kreuze“ (X) in der<br />
Spalte „Leere, unstrukturierte DGS-Datei“ bedeuten,<br />
dass hier geeignete Dateien zwar von fortgeschrittenen<br />
Schülerinnen und Schülern selbst erstellt<br />
werden können, der Einsatz <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
das Inhaltsziel aber einen anderen Grad der Fokussierungshilfe<br />
erforderlich macht.<br />
Literatur<br />
Bender, Peter (1989): Anschauliches Beweisen <strong>im</strong> Geometrieunterricht<br />
— unter besonderer Berücksichtigung von (stetigen)<br />
Bewegungen bzw. Verformungen. In: Kautschitsch & Metzler<br />
(Hg.): Anschauliches Beweisen. 7. und 8. Workshop zur „Visualisierung<br />
in der Mathematik“ in Klagenfurt <strong>im</strong> Juli 1987<br />
und 1988, Stuttgart: Teubner, 95–145<br />
Danckwerts, Rainer & Dankwart Vogel (2003): Dynamisches<br />
Visualisieren und <strong>Mathematikunterricht</strong> — Ein Ausloten der<br />
Chancen an zwei Beispielen. mathematik lehren, 117, 19–22,<br />
39<br />
Dörfler, Willibald (1991): Der Computer als kognitives Werkzeug<br />
und kognitives Medium. In: Dörfler, Willibald (Hg.):<br />
Computer — Mensch — Mathematik: Beiträge zum 6. Internationalen<br />
Symposium zur Didaktik der Mathematik, Stuttgart:<br />
Teubner, 51–75<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen (2001): DGS als Werkzeug zum<br />
präformalen visuellen Beweisen. In: Elschenbroich, Hans-<br />
Jürgen, Thomas Gawlick & Hans-Wolfgang Henn (Hg.):<br />
Zeichnung — Figur — Zugfigur, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker,<br />
41–53<br />
vom Hofe, Rudolf (1995): Grundvorstellungen mathematischer<br />
Inhalte. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer<br />
Verlag<br />
Krüger, Katja (2000): Erziehung zum Funktionalen Denken<br />
— Zur Begriffsgeschichte eines Didaktischen Prinzips. Berlin:<br />
Logos Verlag<br />
137
Jürgen Roth, Würzburg<br />
Ziel des DGS-Einsatzes<br />
Fertig vorgegebene<br />
Konfiguration (evtl.<br />
Möglichkeit zum<br />
Ein- und<br />
Ausblenden von<br />
Elementen)<br />
Grad der Fokussierungshilfen<br />
Veränderbare<br />
Konfiguration mit<br />
einzelnen Fokussierungshilfen<br />
Leere,<br />
unstrukturierte<br />
DGS-Datei<br />
Bewegliche Argumentation kommunizieren<br />
X (X)<br />
Beweisideen vermitteln X (X)<br />
Verständnisgrundlagen <strong>für</strong> Begriffe<br />
und ihre Eigenschaften bilden<br />
Exper<strong>im</strong>entelles Arbeiten / Entdecken<br />
von Zusammenhängen<br />
Exper<strong>im</strong>entelles Arbeiten / Finden<br />
von <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> Problemlöseprozess<br />
Reflexion von Problemlöseprozessen<br />
Roth, Jürgen (2005a): Bewegliches Denken <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Roth, Jürgen (2005b): Kurvenerzeugende Sehnen — Kurvendiskussion<br />
einmal anders. mathematik lehren, (130), 8–10<br />
138<br />
X X (X)<br />
X X X<br />
X X<br />
X X<br />
Tabelle 17.1: Einsatzmöglichkeiten von DGS<br />
Weth, Thomas (2002): Der Computer als heuristisches Werkzeug<br />
<strong>im</strong> Geometrieunterricht. In: Peschek, Werner (Hg.): Beiträge<br />
zum <strong>Mathematikunterricht</strong>, Franzbecker, 511–514
• Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit<br />
CAS-Rechnern<br />
Reinhold Thode, Kiel<br />
• Im Unterricht — auch und gerade <strong>im</strong> Leistungsfach Mathematik — werden zunehmend Inhalte<br />
der Linearen Algebra zu Gunsten der Analytischen Geometrie verdrängt, nach meinem Empfinden<br />
eine eher unglückliche Entwicklung.<br />
• Schüler beurteilen <strong>im</strong>mer wieder eine numerische Lösung von Gleichungen oder Gleichungssystemen<br />
als minderwertig, nachgerade „unanständig“. Sie erwarten — und nur das halten sie <strong>für</strong><br />
„mathematisch angemessen“ — eine geschlossene Lösung. Unser Unterricht hauptsächlich in der<br />
Mittelstufe scheint die Schüler zu verbilden.<br />
• Numerische Verfahren bieten sich natürlich zur Programmierung an. In der Programmierung<br />
selbst liegt dann allerdings kaum noch Erkenntniszugewinn <strong>für</strong> den mathematischen Inhalt. CAS-<br />
Systeme erlauben eine „halbautomatische“ Lösung, die oft das Lösungsverfahren der Wahl darstellen<br />
können.<br />
Der Artikel beschäftigt sich mit den drei genannten Aspekten und berichtet über einen Unterrichtsversuch<br />
<strong>im</strong> Leistungskurs Mathematik unter Einbeziehung des ClassPad 300 von Casio. Zentrum<br />
der Darstellung ist das numerische Lösen von Linearen Gleichungssystemen.<br />
Ergebnisse und auch „Arbeitsaufträge“ aus dem zugehörigen Arbeitskreis während der Tagung werden<br />
— so weit vorhanden — in diese Ausführungen eingearbeitet.<br />
Vita brevis arithmetica longa<br />
Mein alter Lateinlehrer schrieb mir diesen<br />
Spruch als Widmung in ein Buch über diskrete<br />
Mathematik, das er mir schenkte.<br />
Diese Weisheit ist sicher bedeutsam, aber es<br />
gibt doch <strong>im</strong>mer wieder Zeiten, in denen auch <strong>für</strong><br />
Mathematiker das Leben die wirkliche Relevanz<br />
darstellt, siehe Abb. 18.1.<br />
Abbildung 18.1: Meine Enkelin Larissa bei ihren<br />
ersten Kommunikationsversuchen mit ihrem<br />
Großvater.<br />
1 Vorbemerkung<br />
Ich werde nicht müde, <strong>im</strong>mer wieder die folgenden<br />
beiden Thesen zu vertreten und mich damit<br />
bewusst zu wiederholen:<br />
These1: Der Einsatz mächtiger Software hätte<br />
mindestens Teile des Unterrichtes revolutionieren<br />
müssen.<br />
Damit ist i. W. gemeint:<br />
• Computeralgebra-System<br />
• Dynamisches Geometriesystem<br />
• Tabellenkalkulation<br />
• Interaktive Internetseiten<br />
• Internetrecherche<br />
• Eigene Programmierung<br />
• Lernprogramme<br />
Die Reihenfolge der aufgeführten Tools<br />
möchte ich als Ranking interpretiert wissen.<br />
Andererseits denke ich:<br />
These 2: Dies ist jedenfalls flächendeckend —<br />
wenn überhaupt — nur in geringem Umfang eingetreten.<br />
Wesentliche Gründe da<strong>für</strong> liegen:<br />
• <strong>im</strong> Bereich der KollegInnen<br />
• <strong>im</strong> Bereich Ministerium, Fachaufsicht, z.T.<br />
Fortbildungsinstitute<br />
• in der nicht gegebenen permanenten Verfügbarkeit<br />
der Software<br />
Der dritte Unterpunkt ist die entscheidende<br />
Motivation, mich mit CAS-Rechnern, hier dem<br />
ClassPad 300 von Casio, zu beschäftigen.<br />
Erst kürzlich beklagte die Fachaufsicht in<br />
Schleswig-Holstein, dass trotz aller Bemühungen<br />
der Einsatz von CAS und DGS offenbar nicht<br />
Standard <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> sei. Es soll erneut<br />
ein diesmal größer angelegter Modellversuch<br />
angestoßen werden, bei dem die neuen Medien<br />
139
Reinhold Thode, Kiel<br />
und insbesondere auch CAS- und DGS-Rechner<br />
eine gewichtige Rolle spielen sollen (vgl. meinen<br />
Betrag in dieser Reihe aus dem Jahre 2002, ich berichtete<br />
dort über einen Unterrichtsversuch in den<br />
Jahren 1993-95).<br />
2 Eine Unterrichtseinheit zu<br />
linearen Gleichungssystemen<br />
Im folgenden wird über eine Unterrichtseinheit<br />
berichtet, die die drei Fragen<br />
• Können wir auf die Lineare Algebra zunehmend<br />
verzichten?<br />
• Brauchen wir <strong>im</strong>mer geschlossene Auflösungsformeln?<br />
• Müssen wir <strong>im</strong>mer numerische Verfahren programmieren?<br />
aus der Ankündigung aufgreift. Dabei werden<br />
<strong>im</strong>mer wieder Aspekte des Tagungsthemas „Informatorische<br />
<strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>“ eine<br />
wesentliche Rolle spielen.<br />
2.1 Unterrichtliche Voraussetzungen<br />
Es handelte sich um einen Leistungskurs Mathematik<br />
des 12. Jahrgangs. Der Kurs wurde auf der<br />
Basis des aktuellen Lehrplans, der in Schleswig-<br />
Holstein spiralig aufgebaut ist, unter wesentlicher<br />
Verwendung neuer Medien durchgeführt.<br />
D.h. den Schülern stand <strong>im</strong> Unterricht und<br />
zu Hause je ein Casio ClassPad 300 zur Verfügung.<br />
Wahlweise fand der Unterricht auch <strong>im</strong> Medienraum<br />
statt, so dass darüber hinaus Internetzugang<br />
sowie Derive und Excel zum Einsatz kommen<br />
konnte. (CAS und Tabellenkalkulation gehören<br />
natürlich auch zum Softwareumfang des ClassPad).<br />
Die Schule besitzt Campuslizenzen <strong>für</strong> alle<br />
angegebenen Softwaretools, so dass auch bei<br />
der häuslichen Arbeit die Schüler über den Einsatz<br />
des geeigneten Mediums selbst entscheiden<br />
konnten.<br />
Inhaltliche Voraussetzung <strong>für</strong> das vorgegebene<br />
Thema war u.a.:<br />
Lösen von Linearen Gleichungssystemen<br />
aufbauend auf den Kenntnissen der Mittelstufe<br />
etwa <strong>im</strong> Zusammenhang mit der<br />
analytischen Geometrie<br />
Elementarer Umgang mit Matrizen etwas <strong>im</strong><br />
Zusammenhang mit dem Gauss-Verfahren<br />
Numerische Lösung von Gleichungen<br />
Newton-Verfahren, Iteration etc.<br />
Zu den Unterpunkten jeweils einige kurze Bemerkungen<br />
— insbesondere auch in Hinblick auf<br />
den Einsatz des ClassPad 300:<br />
• Eine herkömmliche Eingabe eines LGS, wie<br />
man es von der Mittelstufe her kennt, wäre auf<br />
dem ClassPad wie in Abb. 18.2 zu erledigen.<br />
140<br />
Abbildung 18.2: Eingabe eines LGS auf dem<br />
ClassPAD<br />
• Das Gauss-Verfahren steckt hinter dem<br />
ClassPad-Befehl ref(A), das Jordan-<br />
Verfahren (vollständige Überführung der Koeffizientenmatrix<br />
in die Einheitsmatrix) hinter<br />
dem Befehl rref(A).<br />
• Wenn den Schülern die Darstellung eines LGS<br />
in der Form A�x =�c und die entsprechende Umformung<br />
(bei regulären Matrizen)�x = A −1 �c bekannt<br />
ist, lässt sich dies direkt auf den ClassPad<br />
übertragen. Die Abb. 18.3 zeigt Beispiele.<br />
• Numerische Verfahren sollten an Beispielen<br />
eingeführt werden, bei denen man (ehrlich!)<br />
keine Chance hat, der Lösung anders beizukommen.<br />
Im Unterricht lautete das einführenden<br />
Beispiel: Welches ist die Lösung der Gleichung<br />
x + lnx = 0? (Diese existiert offensichtlich<br />
— wie der Graph in Abb. 18.2 zeigt —, die<br />
Gleichung ist aber geschlossen nicht lösbar.)<br />
Abbildung 18.4: Der Graph von x+lnx
Weitere Einzelheiten des vorangegangenen<br />
Unterrichtsgeschehen sollen hier — da nicht unbedingt<br />
zum Thema gehörig — nicht detailliert<br />
dargestellt werden. Insbesondere die Diskussion<br />
Gauss- vs. Jordan-Verfahren oder die Frage, welches<br />
numerische Verfahren wann angebracht ist,<br />
soll hier nicht vertieft werden.<br />
Ich komme aber z. T. <strong>im</strong> folgenden darauf zurück!<br />
2.2 Eine Kontextaufgabe<br />
Es ist heute üblich geworden, Aufgaben aus einem<br />
zunächst nichtmathematischen Kontext heraus<br />
zu stellen. Dieses (oft vernünftige) Vorgehen<br />
n<strong>im</strong>mt nach meiner Auffassung manchmal schon<br />
fast zwanghafte Züge an. Ich bin nicht der Meinung,<br />
dass innermathematische Fragestellungen<br />
nachrangig oder gar nicht behandelt werden sollten.<br />
Viele interessante und weiterführende Problemlösungen<br />
haben kein Pendant außerhalb der<br />
Mathematik. Diese ist eben nicht nur Anwendung<br />
bzw. Hilfswissenschaft! Das dürfen Schülern gern<br />
erfahren und erleben!<br />
Hierin liegt nach m.E. auch eine wesentliche<br />
Begründung (vgl. die einführende Fragestellung)<br />
<strong>für</strong> das Hintanstellen von Inhalten der Linearen<br />
Algebra gegenüber solchen der Analytischen<br />
Geometrie. Interessanterweise habe ich die<br />
Erfahrung gemacht, dass etliche Kollegen keinen<br />
Unterschied zwischen den Gebieten sehen. Das<br />
finde ich erstaunlich, es sei denn, diese Kollegen<br />
empfinden die Analytische Geometrie als Teil-<br />
(Anwendungs-)gebiet der Linearen Algebra. Dadurch<br />
würde allerdings der geometrische Aspekt,<br />
der mir ohnehin in der Schule zu kurz kommt,<br />
wiederum weiter zurückgedrängt.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer, ein Beispiel <strong>für</strong> eine kontextbezogene<br />
Aufgabe, wie sie <strong>im</strong> Unterricht (eigent-<br />
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
Abbildung 18.3: Lösung von LGS mit dem ClassPad<br />
lich zu Wiederholungszwecken) auftauchte, soll<br />
auch hier aufgeführt werden.<br />
Die vorgegebene Rechnung (Abb. 18.5) war<br />
einer echten Rechnung der Kieler Stadtwerke<br />
nachempfunden. Die Schüler hinterfragten dies,<br />
verwiesen auf die physikalischen Ungere<strong>im</strong>theiten,<br />
insbesondere was die Einheiten anlangt, und<br />
machten sich auf die Suche nach den Tarifbedingungen.<br />
Auf den Internetseiten der Stadtwerke<br />
wurden sie fündig und konnten dann mit den dort<br />
enthaltenen Informationen die offenen Fragen beantworten<br />
(Abb. 18.6).<br />
2.3 Gedanken zum unterschiedlichen<br />
Einsatz des Gauss-Verfahrens <strong>im</strong><br />
Unterricht<br />
Wenn der Gauss-Algorithmus den Schülern nahe<br />
gebracht wird, muss ihnen zumindest intuitiv klar<br />
sein, dass elementare Matrixumformungen nichts<br />
an der Lösungsmenge ändern. Bei Zeilen- und<br />
Spaltenvertauschungen ist das ja auch evident, bei<br />
Ersatz einer Zeile oder Spalte durch eine Linearkombination<br />
anderer müsste man eigentlich erst<br />
etwas genauer hinschauen.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer, der Algorithmus selbst ist<br />
von der Begrifflichkeit her <strong>für</strong> Schüler kein Problem.<br />
Sollen sie aber ein gegebenes System nach<br />
der Methode händisch lösen, scheitern sie (natürlich)<br />
reihenweise an Rechenfehlern.<br />
Hier kann ein CAS-Rechner Abhilfe schaffen.<br />
Der ClassPad stellt dazu u.a. Befehle zum Zeilentausch<br />
(swap), zur Zeilenaddition (RowAdd),<br />
zur S-Multiplikation einer Zeile (mRow) und<br />
zur S-Multiplikation mit anschließender Addition<br />
(mRowAdd) zur Verfügung.<br />
Das Beispiel in Abb. 18.7 zeigt die Verwendung.<br />
Später bei einer reinen Anwendung wird<br />
man selbstverständlich auf die Befehle ref und<br />
141
Reinhold Thode, Kiel<br />
Rechnung<br />
Jahresabrechnung<br />
Mehrfamilienhaus<br />
Waldstr. 42<br />
24768 Rendsburg<br />
Verbrauchsunabhängiger Grundpreis pro Einheit 221,34 �.<br />
Verbrauchsabhängige Leistungen<br />
Familie<br />
Meier<br />
Niebuhr<br />
Umwali<br />
Gas / KWh<br />
25.000<br />
30.000<br />
24.000<br />
Strom / KWh<br />
2.000<br />
2.800<br />
3.000<br />
Zahlbar bis Ende des laufenden Quartals.<br />
Wasser / m 3<br />
80<br />
70<br />
70<br />
Endpreis / �<br />
2.343,54<br />
2.699,76<br />
2.406,04<br />
Knooper Weg<br />
24114 Kiel<br />
Was kann man<br />
sich fragen?<br />
Fingierte<br />
Rechnung??<br />
Gas, Strom in KWh??<br />
Was ist mit dem<br />
Grundbetrag?<br />
Was kosten die<br />
Einheiten jeweils?<br />
Ist das günstig?<br />
Sind die <strong>im</strong> richtigen<br />
Tarif?<br />
Die allgemeinen Preise der Grundversorgung entsprechen den Allgemeinen Tarifen <strong>für</strong> die Versorgung mit Gas (Kieler<br />
Gastarife) der Stadtwerke Kiel AG. Die Allgemeinen Preise <strong>für</strong> die Versorgung mit Gas gelten bis auf weiteres auch <strong>für</strong> die<br />
Ersatzversorgung.<br />
142<br />
Abbildung 18.5: Eine „Rechnung“
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
Abbildung 18.6: Tarifinformation der Kieler Stadtwerke<br />
143
Reinhold Thode, Kiel<br />
rref (vgl. oben) zurückgreifen.<br />
Abbildung 18.7: Elementare Matrixoperationen<br />
Aus geometrischen Überlegungen, etwa Interpretation<br />
eines 2 × 2-LGS als Schnitt zweier Geraden<br />
oder eines 3 × 3-Systems als Schnitt dreier<br />
Ebenen, ist den Schülern klar, dass die Fälle<br />
1. genau eine Lösung, 2. keine Lösung oder 3.<br />
unendlich viele Lösungen auftreten können. Am<br />
Beispiel mit den Ebenen ist auch sofort klar, dass<br />
PROGRAM Gauss_El<strong>im</strong>ination;<br />
USES Crt;<br />
CONST Max = 10;<br />
TYPE Matrix = ARRAY [1..Max,1..Max+1] OF REAL;<br />
Vektor = ARRAY [1..max] OF REAL;<br />
VAR A : Matrix;<br />
x : Vektor;<br />
v : ARRAY [1..max] OF INTEGER;<br />
n, i : INTEGER;<br />
das Lösungsgebilde in diesem Fall die D<strong>im</strong>ension<br />
Null (Punkt), Eins (Gerade) oder Zwei (Ebene)<br />
annehmen, also die Aussage „unendlich viele Lösungen“<br />
weiter präzisiert werden kann.<br />
Auf die Theorie der Lösungsmannigfaltigkeiten<br />
gehe ich weiter unten noch kurz ein. Zu diesem<br />
Zeitpunkt ist <strong>im</strong> Unterricht klar (ohne Thematisierung<br />
der Begriffe D<strong>im</strong>ension oder Rang<br />
u.ä.), dass das Verfahren scheitert, wenn in die<br />
betreffende Diagonalstelle (auch nach Tausch von<br />
Spalten) kein Element ungleich Null mehr hingeschafft<br />
werden kann. In diesem Fall ist das LGS<br />
offensichtlich nicht eindeutig lösbar.<br />
Hiermit könnte man es sein Bewenden sein<br />
lassen. In der „Vor-CAS-Zeit“ allerdings wurde<br />
in vielen Fällen das Gauss-Verfahren (in irgendeinem<br />
Programmentwicklungssystem) programmiert.<br />
Die Frage ist, welchen Gewinn bei welchem<br />
Aufwand das <strong>für</strong> den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
bringt?<br />
Ein Algorithmus beispielsweise in Pascal<br />
(oder Delphi) könnte wie folgt aussehen:<br />
PROCEDURE Eingabe;<br />
VAR i, j, k : INTEGER;<br />
BEGIN<br />
Write(’Geben Sie die Anzahl der Unbekannten ein (
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
h : Vektor;<br />
BEGIN<br />
i := Stelle+1;<br />
WHILE (A[Stelle,i]=0) AND (i
Reinhold Thode, Kiel<br />
Kriterien entwickelt.<br />
• „pragmatisch“: nicht zu beseitigende Nullen<br />
in der Hauptdiagonalen etwa be<strong>im</strong> Gauss-<br />
Algorithmus. Benutzt man die ClassPad-<br />
Befehle ref und rref in Verbindung mit<br />
der erweiterten Koeffizientenmatrix, können die<br />
Schüler direkt ablesen, ob das Gleichungssystem<br />
unlösbar oder mehrdeutig ist.<br />
• „theoretisch“: Lineare Abhängigkeit der<br />
Spalten- oder Zeilenvektoren. Wenn <strong>im</strong> Unterricht<br />
die Theorie der Lösungsmannigfaltigkeit<br />
behandelt wurde, wissen die Schüler,<br />
dass die Lösung des Systems in der Form<br />
�x =�x0 + λ�x1 + μ�x2 gegeben ist, also durch eine<br />
spezielle Lösung des inhomogenen und die<br />
allgemeine Lösung des homogenen Systems.<br />
Mit rref angewandt auf die erweiterte Koeffizientenmatrix<br />
sieht das beispielsweise auf dem<br />
ClassPad wie in Abb. 18.8.<br />
Abbildung 18.8: Anwendung auf die erweiterte<br />
Koeffizientenmatrix<br />
Abbildung 18.9: Schlecht konditionierte LGS<br />
Das LGS ist schlecht konditioniert<br />
Geometrisch: Die Geraden haben schleifenden<br />
Schnitt. Algebraisch: Die Zeilenvektoren sind<br />
„fast“ linear abhängig.<br />
Welche Bedeutung haben diese Fälle?<br />
• bei ungenau gegebenen Koeffizienten, etwa aus<br />
Messungen, ist höchste Aufmerksamkeit und<br />
kritische Bewertung der Ergebnisse angezeigt!<br />
146<br />
• Ggf. kann Akkumulation von Rundungsfehlern<br />
ein „Katastrophe“ auslösen!<br />
Was schafft Abhilfe?<br />
• Pivotisierung (War diesmal nicht Gegenstand<br />
des Unterrichtes)<br />
• selbstkorrigierende Iterationsverfahren (s.u.)<br />
Zeitverhalten und Speichereffizienz sind<br />
nicht opt<strong>im</strong>al<br />
Bei einigen Anwendungen kann das Gleichungssystem<br />
exorbitant groß werden, z.B.<br />
• wirtschaftliche Verflechtungsmatrizen<br />
• meteorologische Gleichungssysteme<br />
• Computertomographie (hier bis zu 106 Gleichungen)<br />
Wie oben erwähnt, wächst etwa be<strong>im</strong> Gauss-<br />
Algorithmus der Zeitaufwand mit der dritten Potenz<br />
der Anzahl der Variablen. N<strong>im</strong>mt man etwa<br />
<strong>für</strong> ein LGS mit 10 Variablen eine Bearbeitungszeit<br />
von 0,01s an, so ergibt sich bei 105 Variablen<br />
eine Rechenzeit von mehr als 300 Jahren! Zudem<br />
sind die dauernd zu berechnenden Matrizen sehr<br />
speicherintensiv!<br />
Was schafft Abhilfe?<br />
• Nutzung besonderer Eigenschaften der LGSe<br />
(z.B. Dreiecksform, Tridiagonalität, als Koeffizienten<br />
kommen nur Nullen oder Einsen vor<br />
(wie bei Tomographie) etc.)<br />
• selbstkorrigierende Iterationsverfahren<br />
Letzteres war eingehend Thema des Unterrichtes,<br />
auch — vgl. die Eingangsfragestellung —<br />
um den Schülern zu verdeutlichen, dass numerische<br />
und insbesondere näherungsweise Lösung<br />
ein normales, gleichwertiges und oft vorkommendes<br />
Verfahren darstellt.<br />
3 Iteratives Lösen von<br />
Gleichungssystemen<br />
Als Vorübung wurde zum Finden des Algorithmus<br />
ein einfaches Gleichungssystem gegeben.<br />
Die Schüler erhielten den Auftrag das LGS gleichsam<br />
durch „solve by inspection“, ohne große<br />
Rechnungen, jedenfalls ohne Anwendung eines<br />
der ihnen bekannten Verfahren zu lösen.<br />
Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion<br />
wie in Abb. 18.10 dargestellt.<br />
Diese Idee eines iterativen Algorithmus führt<br />
zu folgender theoretischer Umsetzung:<br />
Gegeben sei ein LGS in der Form Ax = c, wobei<br />
A = (ai j) regulär ist. Dann kann ohne Beschränkung<br />
der Allgemeinheit angenommen —<br />
mindestens erreicht — werden, dass alle Hauptdiagonalelemente<br />
von Null verschieden sind, aii �=<br />
0 <strong>für</strong> alle i.
Wir ersetzen A durch B − C, wobei B = (bi j)<br />
wie folgt gewählt wird:<br />
bii = aii,bi j = 0 <strong>für</strong> i �= j .<br />
B enthält also nur die Diagonalelemente von A.<br />
Damit ist C = (ci j) mit<br />
cii = 0,ci j = −ai j <strong>für</strong> i �= j .<br />
C enthält damit <strong>im</strong> Prinzip die restlichen Elemente<br />
von A.<br />
Ax = (B −C)x = Bx −Cx = c bzw. Bx = Cx+<br />
c.<br />
Die inverse Matrix von B lässt sich nach deren<br />
Wahl leicht angeben, nämlich B−1 = (b ′ i j ) mit<br />
b ′ ii = 1/aii,b ′ i j = 0 <strong>für</strong> i �= j .<br />
Daher folgt weiter x = B −1 Cx + B −1 c bzw.<br />
x = Hx + b, mit H = B −1 C und b = B −1 c, dabei<br />
gilt H = (hi j) mit hi j = −ai j/aii <strong>für</strong> i �= j und<br />
hii = 0 bzw. bi = ci/aii.<br />
Die letzte Gleichung x = Hx+b erinnert deutlich<br />
an die entsprechende — den Schülern bekannte<br />
— Besserungsfunktion aus dem Thema<br />
„Numerisches Lösen einer Gleichung durch Iteration“.<br />
Wir erzeugen daher einen Näherungsfolge<br />
durch die Zuordnung xn+1 = Hxn + b bzw.<br />
dynamisch x := Hx + b bzw. in der ClassPad-<br />
Schreibweise H x + b ==> x.<br />
Nach der obigen Umformung gilt offenbar der<br />
Satz: Wenn das Verfahren konvergiert, also einen<br />
Fixpunkt besitzt, dann ist dieser Fixpunkt Lösung<br />
des gegebenen Gleichungssystems.<br />
Anschließend wird die Theorie auf dem ClassPad<br />
umgesetzt. Der besseren Übersicht halber<br />
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
Abbildung 18.10: Diskussion unter Schülern<br />
wird der Algorithmus in Abb. 18.11 nicht als<br />
Hardcopy wiedergegeben, sondern als normaler<br />
Text.<br />
Diese BASIC-Version des ClassPad ist weitgehend<br />
selbsterklärend. Dennoch einige Hinweise:<br />
• Es gibt keine eigentliche Variablenvereinbarung,<br />
Festlegung von Name und Typ geschieht<br />
über Belegung einer Variablen.<br />
• Dies geschieht hier durch Unterprogramme<br />
(Subroutinen, s.u.)<br />
• Die Goto-Anweisungen in der Case-<br />
Anweisung sind notwendig, da die Implementation<br />
von Case fehlerhaft ist (wurde an Casio<br />
gemeldet)<br />
• Für Schüler mit Programmierkenntnissen etwas<br />
gewöhnungsbedürftig ist die Wertzuweisung<br />
a := b („a gesetzt gleich b“ ), die (natürlich)<br />
in der ClassPad-Philosophie b ==> a<br />
(„b wird zugewiesen a“ ) lautet.<br />
• Der ClassPad unterscheidet durchgängig zwischen<br />
kleinen und großen Buchstaben, weswegen<br />
Matrix B und Vektor b nebeneinander benutzt<br />
werden können.<br />
Eine Analyse des Algorithmus ergibt, dass das<br />
Zeitverhalten dieses Verfahrens proportional zu<br />
z · n 2 ist, dabei ist n die Anzahl der Variablen,<br />
z die der Iterationen. Bei größeren, schnell konvergierenden<br />
Systemen also deutlich schneller als<br />
Gauss- oder Jordanverfahren. Zudem ist das Verfahren<br />
— wenn es denn konvergiert — selbst korrigierend,<br />
also weitgehend unempfindlich gegenüber<br />
Rundungsfehlern oder schlechter Konditionierung.<br />
Neben der Belegungs-Subroutine zeigen die<br />
147
Reinhold Thode, Kiel<br />
’LGS Iterativ’<br />
’Eingabe’<br />
ClrText<br />
Input d, "D<strong>im</strong>ension(2-4)?", "LGS Iterativ"<br />
’Variablenvereinbarung’<br />
Switch d<br />
Case 2<br />
SDIM2(): Goto Ende<br />
Case 3<br />
SDIM3(): Goto Ende<br />
Default<br />
SDIM4()<br />
SwitchEnd<br />
Lbl Ende<br />
For 1 ==> i To d<br />
For 1 ==> j TO d<br />
Input A[i,j], "A[i,j]?", Koef.-Mat. Zeilenweise"<br />
Next<br />
Next<br />
For 1 ==> i To d<br />
Input c[i], "c[i]?", "Konstantenvektor"<br />
Next<br />
’Initialisierung’<br />
For 1 ==> i To d<br />
A[i,j] ==> B[i,j]<br />
Next<br />
For 1 ==> i To d<br />
For 1 ==> j TO d<br />
If i ? j<br />
Then<br />
- A[i,j] ==> C[i,j]<br />
IfEnd<br />
Next<br />
Next<br />
B^-1*C ==> H: B^-1*c ==> b<br />
’Iteration’<br />
Input n, "Wieviele Schritte"<br />
For 1 ==> i To n<br />
H*x + b ==> x<br />
Next<br />
’Ausgabe’<br />
SetDec<strong>im</strong>al<br />
Print<br />
Print "Ergebnis"<br />
Print x<br />
148<br />
Abbildung 18.11: Iterative Lösung eines Gleichungssystem auf dem ClassPad in BASIC
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
Abbildung 18.12: Iterative Lösung von Gleichungssystemen<br />
149
Reinhold Thode, Kiel<br />
Hardcopys in Abb. 18.12 Teile des Programmlaufes.<br />
3.1 Eine weitere Anwendungsaufgabe<br />
Die drei Systemhäuser Ahrendsen, Becker und<br />
Clausen vereinbaren eine Kooperation derart,<br />
dass sie sich zeitweise gegenseitig nach Bedarf mit<br />
Arbeitsstunden unterstützen. Das vermeidet ggf.<br />
teure Überstunden und ein kurzfristiges „hire and<br />
fire“.<br />
Am Ende des Jahres zahlt die Fa. Ahrendsen<br />
bei 10.000 eigenen Arbeitsstunden, 2.000 von<br />
Becker und 1.500 von Clausene1,080 Mill. Lohn.<br />
Becker hat entsprechend bei 8.000 eigenen Stunden,<br />
1.500 von Ahrendsen und 2.000 von Clausen<br />
Lohnkosten vone0,805 Mill. und schließlich<br />
Clausen mit 9.000 eigenen Stunden, 2.500 von Ahrendsen<br />
und 1.000 von Becker solche vone1,040<br />
Mill..<br />
Man kann sich z.B. fragen, ob die Firmen gleichen<br />
Lohn bezahlen. Dann müsste man etwa folgendes<br />
Gleichungssystem lösen:<br />
⎛<br />
10000<br />
⎜<br />
⎝ 1500<br />
2000<br />
8000<br />
⎞ ⎛ ⎞<br />
1500 10800000<br />
⎟ ⎜ ⎟<br />
2000 ⎠�x = ⎝ 80500 ⎠<br />
2500 1000 9000 1062500<br />
Die Lösung lautet exakt<br />
⎛ ⎞<br />
80<br />
⎜ ⎟<br />
�x = ⎝ 75 ⎠ .<br />
85<br />
In diesem Beispiel sind etliche Iterationsschritte<br />
zur Lösung notwendig. Zusammen mit<br />
dem Einführungsbeispiel entsteht bei den Schülern<br />
die Vermutung, dass eine Dominanz der<br />
Hauptdiagonalelemente <strong>für</strong> Konvergenz hinreichend<br />
sein könnte. Je stärker diese Dominanz, um<br />
so schneller die Konvergenz.<br />
Nach der Einführung geeigneter Normen kann<br />
man (<strong>im</strong> Leistungskurs) das Zeilensummen- bzw.<br />
das Spaltensummenkriterium beweisen, die genau<br />
die Vermutung der Schüler bestätigen. Auf<br />
die (bekannten bzw. in der Literatur nachlesbaren)<br />
Beweise kann hier verzichtet werden.<br />
Mit Hilfe der ClassPad-Befehle rowNorm<br />
und colNorm, die jeweils die max<strong>im</strong>ale absolute<br />
Summe einer Zeile bzw. Spalte angeben, kann<br />
eine Überprüfung auf diese Kriterien erfolgen.<br />
150<br />
Abbildung 18.13: Zeilensummen und Spaltensummenkriterium<br />
4 Schlussbemerkung<br />
Schleswig-Holstein hat sich sehr zu meinem Leidwesen<br />
nun auch spät (zu spät) entschieden das<br />
Zentralabitur in fast allen wesentlichen Fächern<br />
einzuführen.<br />
Ich habe den Beitrag mit einem lateinischen<br />
Spruch begonnen in Abwandlung des bekannten<br />
Zitates des alten Cato möchte ich auch so enden:<br />
Ceterum censeo:<br />
abituram communem prohibendam esse!<br />
Das Zentralabitur ist aus meiner Sicht der<br />
natürliche Feind der neuen Aufgabenkultur und<br />
des Einsatzes neuer Medien <strong>im</strong> Mathematik-<br />
Unterricht<br />
Letzten Herbst in Dillingen habe ich mich<br />
noch <strong>für</strong> eine Kompromisslösung aus zentralem<br />
Fundamentum und unterrichtsbezogenem Additum<br />
stark gemacht.<br />
Zum diesjährigen schriftlichen Abitur gab es<br />
aus dem Ministerium die Aufforderung, unsere<br />
Aufgaben sollten u.a. sicher stellen, dass sie den<br />
Nachweis führen, die Schüler hätten Sozialkompetenz<br />
erworben. Das fand ich eher absurd und<br />
habe daher <strong>für</strong> die Fachaufsicht unter meinen Aufgabenvorschlag<br />
folgende Bemerkung gesetzt:<br />
Ich bin der Überzeugung, dass der geforderte<br />
Nachweis von Selbst- und Sozialkompetenz durch<br />
eine übliche Aufgabenstellung nicht oder nur teilweise<br />
gelingen kann. . . .
Wenn man die o.a. Kompetenzen und zusätzlich<br />
die in den Standards genannten Fähigkeiten<br />
wie Argumentieren, Modellieren, Präsentieren<br />
etc. abprüfen will, muss man sich von der bisherigen<br />
Art der individualistischen, schriftlichen Einzelprüfung<br />
komplett verabschieden, weil sie nicht<br />
das Messinstrument <strong>für</strong> derlei Fähigkeiten darstellt.<br />
Auch und gerade das Zentralabitur ist in<br />
diesem Sinne rückschrittig und kontraproduktiv.<br />
Andere Vorstellungen von Prüfungen, wie sie<br />
etwa außerhalb der Schule Anwendung finden, geben<br />
Hinweise, wie man vorgehen könnte. Ich wäre<br />
dankbar, wenn hierüber ein Gespräch (möglicherweise<br />
mündend in einen Modellversuch) mit der<br />
Fachaufsicht stattfinden könnte.<br />
Seit dem Schreiben der zweiten Seite dieses<br />
Berichtes bis zum Schreiben dieser Seite ist (leider)<br />
viel Zeit vergangen. 1 In dieser Zeit hat sich<br />
allerdings einiges Erfreuliches getan.<br />
In Schleswig-Holstein wird — beginnend mit<br />
dem kommenden Schuljahr — ein neuer Modellversuch<br />
CIMS-SH (ein ähnlicher Versuch läuft<br />
in Hamburg) durchgeführt, in dem es wesentlich<br />
um den Einsatz neuer Medien <strong>im</strong> Mathematik-<br />
Unterricht geht.<br />
Es gibt Hinweise und gewisse Chancen, dass<br />
1 Dank <strong>für</strong> die Geduld an die Herausgeber!<br />
Lineare Gleichungssysteme <strong>im</strong> Unterricht mit CAS-Rechnern<br />
es evtl. möglich ist, tatsächlich diesem Modellversuch<br />
eine neue weitere Facette zu geben, nämlich<br />
die Entwicklung und Erprobung alternativer Prüfungsformen,<br />
etwa in der Richtung, die ich oben<br />
gefordert habe. Sollte dies so kommen, werde ich<br />
vor der MU&I berichten.<br />
Literatur<br />
Gjone, Gunnar & Tor Andersen (2004): Form und Zahl. Eine<br />
Einführung zum Einsatz des ClassPad 300 <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>.<br />
Norderstedt: Casio Europe<br />
Kowalsky, Hans-Joach<strong>im</strong> (1974): Einführung in die Lineare<br />
Algebra. Berlin: Walter de Gruyter<br />
Padlitz, Ludwig (2004): Mathematische Modelle und<br />
wissenschaftlich-technische Anwendungen. Norderstedt:<br />
Casio Europe, Bildungsverlag E1NS<br />
Thode, Reinhold (1992): Numerische Algorithmen. Hannover:<br />
Metzler<br />
Thode, Reinhold (2001): Neue Medien <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
— Erfahrungsbericht aus dem SSchulalltag". In: Herget,<br />
Wilfried & Rolf Sommer (Hg.): Lernen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
mit Neuen Medien, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 21–28<br />
Thode, Reinhold (2004): Beispiele <strong>für</strong> den Einsatz des ClassPad<br />
300 <strong>im</strong> Unterricht. In: Bender, Peter, Wilfried Herget,<br />
Hans-Georg Weigand & Thomas Weth (Hg.): Neue Medien<br />
und Bildungsstandards, Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 128–136<br />
Todd, Philip, Michael Siebold & Brian Maguire (2002): Wie<br />
Sie das Meiste aus dem ClassPad machen. Beaverton, OR,<br />
USA: Saltire Software<br />
151
Raum <strong>für</strong> Notizen<br />
152
• Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Bert Xylander, Gera<br />
Eine Übertragung objektorientierter Denkweisen in den <strong>Mathematikunterricht</strong> eröffnet den Schülerinnen<br />
und Schülern oftmals eine veränderte Sicht auf mathematische Inhalte und erweitert ihr<br />
methodisches Repertoire. In den Vordergrund treten stoffbezogene sowie stoffübergreifende Zusammenhänge<br />
und Analogien; es werden strukturierende und systematisierende Arbeitsweisen entwickelt<br />
und ein analytisches und synthetisierendes Denken gefördert. Der Artikel skizziert grundlegende<br />
informatische Konzepte der Objektorientierung, überträgt anschließend die begrifflichen und<br />
konzeptuellen Grundgedanken in die Sprache und Denkweise der Mathematik und gewinnt somit<br />
einen geeigneten Ausgangspunkt <strong>für</strong> eine beispielbezogene Diskussion der inhaltlichen, methodischen<br />
und didaktischen Konsequenzen, die eine objektorientierte Durchdringung des <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
mit sich führt.<br />
1 Einleitung<br />
Objektorientierung ist ein weitläufiger Begriff,<br />
der in vielen Fachgebieten anwendbar ist und<br />
auch angewendet wird. Besondere Bedeutung erwächst<br />
jedoch in der Informatik, in der Objektorientierung<br />
als eine der grundlegenden Leitideen<br />
erscheint. Objektorientierung durchdringt dabei<br />
nicht nur das Feld der Programmierung —<br />
auf das es oftmals reduziert wird — sondern umspannt<br />
viel mehr: Denkweisen, Interpretationsmuster<br />
und Modellierungsprozesse. Wie in der Fachwissenschaft,<br />
sind auch <strong>im</strong> Informatikunterricht<br />
objektorientierte Herangehensweisen von grundlegender<br />
Bedeutung. Allerdings differieren die didaktischen<br />
Auffassungen über Zeitpunkt, Umfang<br />
und Tiefe der unterrichtlichen Behandlung. 1<br />
Warum aber erfolgt hier nun eine Diskussion<br />
über Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong>?<br />
Es gibt wichtige Gründe. Objektorientierung<br />
zeichnet sich durch strukturierende und systematisierende<br />
Denk- und Arbeitsweisen aus; charakteristisch<br />
ist ebenso der inhaltliche und methodische<br />
Transfer zwischen vergleichbaren Strukturen.<br />
Dies sind fundamentale Kompetenzen, die<br />
auch <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> eine große Bedeutung<br />
besitzen und eben dort entwickelt und erworben<br />
werden sollen. Mithin lässt sich Objektorientierung<br />
als eine Komponente des <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
verstehen, die mit ihren Ansätzen<br />
und Herangehensweisen den Schülerinnen<br />
und Schülern die ureigene mathematische Denkweise<br />
zumindest ein Stück näher bringt. Allein<br />
dieses Ansinnen rechtfertigt bereits eine Auseinandersetzung<br />
mit den informatischen Konzepten.<br />
Hinzu tritt aber noch, dass eine objektorientierte<br />
Sichtweise den <strong>Mathematikunterricht</strong> bereichern<br />
kann und interessante Ansätze <strong>für</strong> das Erkennen<br />
und Entwickeln von inhaltlichen Zusammenhän-<br />
gen bietet, wie in nachfolgenden Beispielen gezeigt<br />
werden kann.<br />
Die folgenden Ausführungen beleuchten zunächst<br />
grundlegende informatische Konzepte der<br />
Objektorientierung. Im zweiten Schritt werden<br />
diese Konzeptideen durch Begriffe und Inhalte aus<br />
der Mathematik interpretiert, um damit einen Ausgangspunkt<br />
<strong>für</strong> die inhaltliche Übertragung der<br />
Objektorientierung in den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und die damit verbundene Diskussion der didaktischen<br />
und methodischen Konsequenzen zu haben.<br />
Zuletzt wird eine Unterrichtseinheit vorgestellt,<br />
mit der aus objektorientierter Sicht die Polygone<br />
abschließend in der Klasse 7 bzw. 8 behandelt<br />
und systematisiert werden können.<br />
2 <strong>Informatische</strong> Konzepte der<br />
Objektorientierung<br />
In der Informatik stellt sich Objektorientierung<br />
als ein facettenreiches Konzeptgefüge dar, das<br />
oft auf ein Programmierparadigma reduziert wird<br />
(Beschreiben, Strukturieren und Lösen informatischer<br />
Probleme), oft aber auch in einem umfassenderen<br />
Zusammenhang mit informatorischen<br />
Interpretations- und Denkmustern steht. Die Verständigung<br />
über den Begriff der Objektorientierung<br />
zeigt sich dadurch erschwert, dass die objektorientierten<br />
Konzepte je nach Betrachtung eine<br />
unterschiedliche Wichtung erfahren, und dass<br />
darüber hinaus ein und dasselbe Konzept unterschiedlich<br />
interpretiert werden kann.<br />
Im Folgenden werden einige grundlegende<br />
Konzepte der Objektorientierung 2 skizziert, damit<br />
die sich anschließende Diskussion der objektorientierten<br />
Ausgestaltung des <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
eine begriffliche Basis erhält. Das Konzept<br />
der Objekte: Objekte sind gegenständliche<br />
Eigenschaftsstrukturen, die sowohl realer als auch<br />
künstlicher, d. h. theoretisch-abstrakter Natur sein<br />
1Die Stellung und die Behandlung objektorientierter Konzepte <strong>im</strong> Informatikunterricht werden etwa bei Schulte (2001) und Thomas<br />
(2004) diskutiert.<br />
2Eine vertiefende Darstellung der Objektorientierung, ihrer Konzepte und der damit verbundenen Spannungsfelder finden sich z.<br />
B. bei Berard (1998), Balzert (2000) und Forbrigg (2002).<br />
153
Bert Xylander, Gera<br />
können. Ein Objekt zeichnet sich durch einen definierten<br />
Zustand aus. Führt eine äußere Einwirkung<br />
zu einer Zustandsänderung, so wird das Objekt<br />
als passives Objekt bezeichnet; erfolgt eine<br />
Zustandsänderung von innen heraus, handelt es<br />
sich um ein aktives Objekt.<br />
Das Konzept der Klassen und Instanzen Das<br />
Konzept der Klassen unterliegt in der Informatik<br />
drei verschiedenen Bedeutungszuweisungen<br />
(Berard, 1998): Klassen werden<br />
betrachtet als ein Muster von strukturell<br />
identischen Dingen, den Instanzen, die unter<br />
Benutzung der Klasse erzeugt werden.<br />
Berard spricht diesbezüglich von einer Vorstellung<br />
eines „cookie cutter“. Die zweite<br />
Sichtweise auf eine Klasse beschreibt die<br />
Klasse als „Instanzenfabrik“: ein System,<br />
bestehend aus einem Muster und einem<br />
Mechanismus, in dem der Mechanismus<br />
dem Muster entsprechende Gegenstände<br />
(Instanzen) generiert. Die dritte Interpretation<br />
sieht eine Klasse als die Menge aller<br />
Instanzen eines best<strong>im</strong>mten Musters.<br />
Die Kapselung von Informationen Ein Objekt<br />
ist nach außen durch seine Eigenschaftsstruktur<br />
charakterisiert. Verborgen bleibt allerdings,<br />
wie diese Struktur <strong>im</strong> Inneren des<br />
Objektes organisiert (<strong>im</strong>plementiert) wird.<br />
Dieses Verstecken der objekt<strong>im</strong>manenten<br />
und existentiellen Informationen wird als<br />
Kapselung bezeichnet. Die Kapsel schirmt<br />
das Objekt gegen eine externe Manipulation<br />
der internen Informationen und Abläufe<br />
ab und verhindert somit eine Destabilisierung<br />
des Objektzustandes. Das Konzept<br />
der Kapselung sieht gleichzeitig eine Bereitstellung<br />
definierter Schnittstellen vor, an<br />
denen objekt- und gesamtsystemrelevante<br />
Information ausgetauscht werden können.<br />
Das Konzept der Schnittstellen Für eine monound<br />
bidirektionale Kommunikation mit seiner<br />
Umgebung stellt ein Objekt eine öffentliche<br />
Schnittstelle zur Verfügung. Eine<br />
Schnittstelle kann drei Informationskategorien<br />
realisieren: Daten (auch bezeichnet<br />
als Werte oder Konstanten), Methoden<br />
(auch bezeichnet als Operationen oder<br />
Prozesse) und Ausnahmen (auch bezeichnet<br />
als Exceptions bzw. Fehler). Die Daten<br />
in der Schnittstelle besitzen mit festen<br />
Inhalten einen konstanten Status. Demgegenüber<br />
können Methoden einer Schnitt-<br />
stelle einen dynamischeren Status aufweisen.<br />
Vorstellbar sind Methoden, die nur statisch<br />
Daten austauschen, bis hin zu Methoden,<br />
die Prozesse auslösen und den Zustand<br />
des Objektes verändern. 3 Die Ausnahmen<br />
in der Schnittstelle charakterisieren undefinierte<br />
Zustände des Objektes. Mit diesen<br />
Informationen können das Objekt und die<br />
Umgebung des Objektes irreguläre Situationen<br />
behandeln und verarbeiten.<br />
Das Konzept der Vererbung Die Vererbung<br />
(auch als Spezialisierung oder Ableitung<br />
bezeichnet) beschreibt die Übertragung wesentlicher<br />
Eigenschaften eines Objektes auf<br />
ein neues Objekt. Dabei kann das neue Objekt<br />
um weitere Eigenschaften erweitert (d.<br />
h. ergänzt) werden. In der Objektorientierung<br />
wird das Konzept der Vererbung zumeist<br />
<strong>im</strong> Zusammenhang mit Klassenstrukturen<br />
verwendet.<br />
Das Konzept der abstrakten Klassen Abstrakte<br />
Klassen sind unvollständig definierte Klassen<br />
mit einer verallgemeinerten Eigenschaftsstruktur.<br />
Sie dienen als Grundlage<br />
und Muster <strong>für</strong> die Vererbung. Mit den<br />
Konzepten der abstrakten Klassen und der<br />
Vererbung wird das das Prinzip einer hierarchischen<br />
Strukturierung in der Objektorientierung<br />
begründet. 4<br />
3 Mathematische<br />
Interpretationen der<br />
objektorientierten<br />
Konzeptideen<br />
Auf dem Weg der Objektorientierung von der<br />
informatorischen Idee hin zu einer gestaltenden<br />
Sichtweise <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> ist es<br />
unerlässlich, die begrifflichen und konzeptuellen<br />
Grundgedanken der Informatik in die Sprache<br />
und Denkweise der Mathematik zu übertragen.<br />
Dabei erweist sich eine mathematisierende<br />
Herangehensweise an die Objektorientierung und<br />
die sie durchsetzenden informatischen Konzepte,<br />
d. h., der Versuch, Objektorientierung und ihre<br />
Konzepte mit mathematischen Begriffen und<br />
Strukturen zu beschreiben, als durchaus problematisch.<br />
Es stellt sich nämlich heraus, dass es<br />
nicht <strong>im</strong>mer möglich ist, eine wirklich angemessene<br />
und deckungsgleiche mathematische Beschreibung<br />
der informatischen Gedanken zu finden.<br />
Deshalb wird <strong>im</strong> Folgenden mit Bedacht der Begriff<br />
der Interpretation gebraucht.<br />
3 Im Zusammenhang mit Objektmethoden ist zu beachten, dass die öffentlich zugänglichen Methoden der Objektschnittstelle von<br />
den internen, gekapselten Methoden eines Objektes zu unterscheiden sind.<br />
4 Neben den skizzierten kennt die Informatik weitere Konzepte, die <strong>für</strong> die Objektorientierung von Bedeutung sind, so z. B. die<br />
Komposition und Aggregation von Objekten, die Bildung von Objektsystemen und die Kopplung und innere Bindung von Objekten.<br />
Da diese und andere Konzepte in den nachfolgenden Betrachtungen nicht untersucht werden, wird hier auf eine weitere Diskussion<br />
verzichtet.<br />
154
Objekte lassen sich in der Mathematik in vielerlei<br />
Gestalt identifizieren. Seien es scheinbar<br />
einfache Objekte wie eine einzelne Zahl oder sehr<br />
komplex aufgebaute Objekte wie eine Funktion.<br />
Allen mathematischen Objekten ist gemein, dass<br />
sie durch ein Eigenschaftsgefüge gekennzeichnet<br />
sind, das sie einerseits von Objekten gleichen<br />
Typs unterscheidet und mit dem anderseits unterschiedliche<br />
Objekttypen charakterisiert werden<br />
können. Die Suche nach einer mathematischen Interpretation<br />
des Objektes <strong>im</strong> informatischen Sinne<br />
führt zu einer Mengensichtweise. Objekte können<br />
als Elemente einer Menge betrachtet werden,<br />
die sich durch eine gleichartige Eigenschaftsstruktur<br />
auszeichnen, voneinander dennoch wohlunterscheidbar<br />
sind durch eine charakteristische Variation<br />
in eben dieser Eigenschaftsstruktur.<br />
Diese mathematische Interpretation fortschreibend,<br />
lässt sich in Anlehnung an die Mengentheorie<br />
eine Klasse in der Objektorientierung<br />
auffassen als eine Menge von Objekten. Die Klasse<br />
stellt sich dann dar als die Menge aller ihrer<br />
Instanzen, d. h. als die Menge aller der durch sie<br />
erzeugten Objekte mit identischer Eigenschaftsstruktur.<br />
Die mengentheoretische Interpretation der<br />
Objekte und Klassen deckt wesentliche Bestandteile<br />
der informatischen Inhalte beider Begriffe<br />
ab, versagt teilweise jedoch bei einer genaueren<br />
Betrachtung der Objekteigenschaften und ihrer<br />
Veröffentlichung in Form der Objektschnittstellen.<br />
Daten eines mathematischen Objektes können<br />
als statische Eigenschaften eines Mengenelementes<br />
interpretiert werden und Ausnahmen finden<br />
z. B. in der Form von Definitionsbereichsgrenzen<br />
bei komplexeren mathematischen Objekten<br />
eine Sinnentsprechung.<br />
Interpretationsprobleme bereiten die Methoden,<br />
die mit der Objektschnittstelle verbunden<br />
sind. Die damit verbundene Möglichkeit einer aktiven<br />
oder passiven Zustandsänderung der Objekte<br />
lässt sich oft nur schwer <strong>im</strong> mathematischen Kontext<br />
wieder finden. Ein Beispiel <strong>für</strong> eine solche dynamische<br />
Methode eines mathematischen Objektes<br />
ist die Wirkung einer Abbildung auf ein ebenes<br />
Polygon (Abb. 19.1).<br />
Ebenfalls Mühe bereitet der Versuch, das informatische<br />
Konzept der Kapselung, d. h. der Informationsabschirmung<br />
nach außen, in mathematischen<br />
Ausdrucksformen darzustellen. Eine inhaltliche<br />
Ähnlichkeit findet sich vielleicht am ehesten<br />
in der Mathematik bei algorithmischen Verfahren.<br />
Algorithmen sind charakterisiert durch<br />
Startbedingungen, durch eine Folge elementarer<br />
Handlungen die zu einer Problemlösung führen<br />
und durch einen Endzustand. Die Folge der elementaren<br />
Handlungen lässt sich nun auffassen als<br />
diejenigen Informationen, die definiert existieren,<br />
Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
ohne dass von außen in den Ablauf des Verfahrens<br />
eingegriffen werden muss oder kann. Damit erscheint<br />
dieser Teil des gesamten Algorithmus als<br />
gekapselt. Startbedingungen und Endzustand würden<br />
dann der Objektschnittstelle zugeordnet werden.<br />
Allerdings widerspricht diese Interpretation<br />
der realen Bedeutung des algorithmischen Verfahrens<br />
in der Mathematik, da <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
gerade die elementaren Schritte und ihre Abfolge<br />
eigentlicher Mittelpunkt der Untersuchungen<br />
und Betrachtungen sind. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit<br />
der Kapselung findet sich in dem<br />
Ansatz, zwei verschiedene Zustände eines mathematischen<br />
Objektes zu betrachten und den Prozess<br />
zwischen Anfang und Ende als gekapselte Informationen<br />
und Methoden aufzufassen. Der Prozess<br />
wird dann als einheitliches Ganzes, mithin als<br />
Kapsel, angesehen.<br />
Die Konzepte der Vererbung und der abstrakten<br />
Klassen führen eine Strukturierung in die (informatische)<br />
Objektorientierung ein, mit der eine<br />
Klassenhierarchie geschaffen werden kann. Dem<br />
und der Mengeninterpretation der Klassen entsprechend,<br />
lässt sich Vererbung in der Mathematik<br />
als eine Ordnungsrelation auffassen, die zu einer<br />
Mengenhierarchie führt. Die abstrakten Klassen<br />
stellen in diesem Sinnzusammenhang die Wurzeln<br />
der Hierarchiestrukturen dar. Vererbung darf dabei<br />
nicht als eine Teilmengenrelation betrachtet werden,<br />
denn gerade die Strukturgestaltung von den<br />
verallgemeinerten (abstrakten) hin zu den konkreten<br />
Eigenschaftsgefügen, die gegenüber den Wurzeln<br />
um zusätzliche Eigenschaften erweitert werden<br />
können, stehen dieser Sicht diametral entgegen.<br />
4 Objektorientierung <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Nachdem wesentliche informatische Konzepte der<br />
Objektorientierung benannt und die Konzeptideen<br />
mathematischen Begriffen und Denkweisen<br />
zumindest teilweise zugeordnet werden konnten,<br />
wird nun untersucht, welche objektorientierten<br />
Sichtweisen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> bedeutsam<br />
sind und wie Schülerinnen und Schüler einen Zugang<br />
zu diesen Sichtweisen gewinnen. Eine Begründung<br />
<strong>für</strong> die Integration der Objektorientierung<br />
als Idee <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> ergibt sich<br />
dann aus eben dieser Diskussion.<br />
Die Betrachtung mathematischer Objekte <strong>im</strong><br />
Unterricht wird die Eigenschaftsstruktur der Objekte<br />
in den Vordergrund rücken. Hervorgehoben<br />
werden die charakterisierenden Objekteigenschaften<br />
in der Absicht, auf das Wesentliche und Wichtige<br />
zu fokussieren. Am Beispiel lässt sich diese<br />
Vorgehensweise nachvollziehen. Das Objekt regelmäßiges<br />
Fünfeck wird betrachtet mit seinen<br />
fünf gleichlangen Seiten und seinen fünf gleich-<br />
155
Bert Xylander, Gera<br />
Abbildung 19.1: Eine Abbildungsoperation als mathematische Interpretation einer Objektmethode. Das Polygon,<br />
hier <strong>im</strong> Beispiel ein regelmäßiges Fünfeck, ist das mathematische Objekt. Die charakterisierenden<br />
Eigenschaften sind neben den typischen Eigenschaften regelmäßiger Fünfecke auch die Seitenlänge a und<br />
die konkrete Lage in der Ebene. Wird eine Abbildung (hier eine Spiegelung an der Spiegelgeraden g) auf die<br />
Ebene angewendet, so kann die Abbildungsoperation als eine Objektmethode des regelmäßigen Fünfecks<br />
aufgefasst werden. Die Wirkung der Methode (die Spiegelung) verändert die konkrete Lage des Polygons<br />
und mithin den Zustand des mathematisches Objektes.<br />
großen Innenwinkeln von jeweils 108deg Größe.<br />
Diskutiert werden kann die Bedeutung einer<br />
konkreten Seitenlänge a <strong>für</strong> ein konkretes Fünfeckobjekt<br />
in einer Ebene. Eine Veränderung in<br />
a erzeugt dann ein neues Fünfeckobjekt. Diskutiert<br />
werden kann auch die Bedeutung der gleichgroßen<br />
Innenwinkel <strong>im</strong> Hinblick auf zwei voneinander<br />
verschiedene regelmäßige Fünfecke. Ein<br />
tieferes Eindringen in das Spannungsfeld der charakterisierenden<br />
Eigenschaften lässt sich erreichen,<br />
wenn zudem zwei unterschiedliche Definitionsansätze<br />
gegenübergestellt und diskutiert werden:<br />
Das regelmäßige Fünfeck, das best<strong>im</strong>mt ist<br />
durch seine gleichlangen Seiten und gleichgroßen<br />
Innenwinkel, wird gegenübergestellt dem regelmäßigen<br />
Fünfeck, dessen Eckpunkte alle auf einem<br />
Kreis um einen Punkt M mit einem Radius<br />
r liegen, wobei die Kreissehnen zwischen jeweils<br />
zwei benachbarten Eckpunkten die Basisseiten<br />
von fünf kongruenten gleichschenkligen Dreiecken<br />
mit dem gemeinsamen Scheitelpunkt M bilden<br />
(Abb. 19.2). Aus einer solchen Diskussion erwächst<br />
den Schülerinnen und Schülern unmittelbar<br />
ein Gespür <strong>für</strong> unterschiedliche Definitionsformen,<br />
<strong>für</strong> eine geeignete und ungeeignete Beschreibung<br />
und Best<strong>im</strong>mung mathematischer Objekte.<br />
Im <strong>Mathematikunterricht</strong> treten Klassen zumeist<br />
als Mengen mathematischer Objekte in Erscheinung.<br />
Klassen lassen sich daher bilden und<br />
untersuchen als verallgemeinerte Eigenschafts-<br />
strukturen ihrer Objekte: Von konkreten Objekten<br />
ausgehend, abstrahieren die Schülerinnen und<br />
Schüler das allgemeine Objektmuster (die Klasse)<br />
bzw. aus der allgemeinen Klassenstruktur wird<br />
das konkrete Einzelobjekt spezialisiert. Eine zweite<br />
unterrichtliche Herangehensweise ist das vergleichende<br />
Betrachten von Klassen: die vergleichende<br />
Analyse des Beziehungsgefüges zwischen<br />
Klassen und Objekten sowie die Einordnung der<br />
Klassen in Hierarchien. Eine besondere Bedeutung<br />
gewinnen hierbei die abstrakten Klassen und<br />
die Vererbung und die damit verbundene Generalisierung<br />
und Spezialisierung innerhalb der Klassenhierarchien.<br />
Wie auch <strong>im</strong> nachfolgenden Beispiel deutlich<br />
wird, führt das Behandeln von Klassen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
aus didaktischer Sicht zur Systematisierung<br />
von Wissensinhalten. Ein zweiter<br />
wichtiger Aspekt ist die Analogiebildung: Der<br />
Vergleich zweier Klassen und die Erzeugung einer<br />
neuen Klasse durch Vererbung überträgt das<br />
inhaltliche Gefüge einer Klassenstruktur auf eine<br />
zweite Klasse. Die Untersuchung von Polygonen<br />
erfolgt <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> gemeinhin<br />
an den Dreiecken und Vierecken. Vielecke dagegen<br />
werden oftmals nur in ihrer Regelmäßigkeit<br />
betrachtet. Eine objektorientierte Sichtweise<br />
auf die Klassen der Polygone könnte in gewohnter<br />
Manier bei den einzelnen Dreieck- und Viereckklassen<br />
ansetzen. Betrachtet werden etwa die<br />
Klassen der unregelmäßigen, gleichschenkligen<br />
5 Im streng mathematischen Sinne handelt es sich bei der Ordnung der Dreiecke nach ihren Seitenlängen um eine Teilmengenbeziehung,<br />
wohingegen die Einteilung nach den Winkelgrößen eine echte Äquivalenzklasseneinteilung der Dreiecke darstellt. Zu beachten<br />
ist daher hier und <strong>im</strong> Nachhinein der informatisch geprägte Sprachgebrauch von den Klassen der Dreiecke und Vierecke.<br />
156
Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Abbildung 19.2: Zwei unterschiedliche Definitionsansätze <strong>für</strong> das Objekt regelmäßiges Fünfeck.<br />
und gleichseitigen Dreiecke oder die Klassen der<br />
spitz-, recht- und stumpfwinkligen Dreiecke. 5 Von<br />
diesen konkreten Dreieckklassen ausgehend, lässt<br />
sich eine allgemeine Dreieckklasse inhaltlich ergründen.<br />
In ähnlicher Weise wird aus den Klassen<br />
der Quadrate, Rhomben, Rechtecke, Trapeze bis<br />
hin zur Klasse der unregelmäßigen Vierecke eine<br />
allgemeine Viereckklasse entwickelt. Die Klasse<br />
der regelmäßigen Fünfecke, Sechsecke usw.<br />
ergänzt die einfache objektorientierte Umsetzung<br />
der üblichen unterrichtlichen Vorgehensweise.<br />
Mit der gerade beschriebenen Inhaltskonstruktion<br />
wird aber nur eine Facette der objektorientierten<br />
Denkweise <strong>im</strong> Hinblick auf die Polygonklassen<br />
beleuchtet. Eine konsequente Anwendung der<br />
objektorientierten Konzepte ruft geradezu nach<br />
einer umfänglichen Strukturierung der Polygonklassen<br />
in einer Klassenhierarchie. Denkbar wäre<br />
eine Erarbeitung, die von der einzelnen konkreten<br />
Polygonklasse (etwa der Klasse der gleichseitigen<br />
Dreiecke) ausgeht und zu einer vollständigen<br />
Systematik der Polygonklassen gelangt. Dabei<br />
stellt die (allgemeine) Klasse der Polygone<br />
eine abstrakte Klasse dar, von der <strong>im</strong> zweiten<br />
Schritt ausgehend, durch Vererbung und Erweiterung<br />
um zusätzliche Eigenschaften weitere abstrakte<br />
und konkrete Klassen abgeleitet werden.<br />
Somit lässt sich die Hierarchie der Polygonklassen<br />
von der Wurzel her durchlaufen (Abb. 19.3).<br />
Bedeutsam ist in dieser objektorientierten Sichtweise<br />
eine möglichst vollständige Erfassung der<br />
ableitbaren Klassen, so dass etwa unregelmäßige<br />
Vielecke ebenso thematisiert werden können<br />
wie Punkte und Strecken als eine Form entarteter<br />
Polygonklassen. In diesem Zusammenhang muss<br />
aber betont werden, dass eine vollständige Systematisierung<br />
der Polygonklassen, die z. B. in Form<br />
eines Hierarchiebaumes 6 entwickelt wird, von die<br />
Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Abstraktionsvermögen<br />
einfordert, was sich insbesondere<br />
bei den Überlegungen zu den entarteten Polygonen<br />
zeigt.<br />
Das Behandeln der Polygonklassen be-<br />
schränkt sich natürlich nicht nur auf ein systematisches<br />
Erarbeiten der gesamten Klassenstruktur.<br />
Gerade die (objektorientiert motivierte) vergleichende<br />
Untersuchung von Klassen der gleichen<br />
Hierarchiestufe — etwa von Dreiecken und Vierecken<br />
— führt durch Analogiebetrachtungen zu<br />
überraschenden Einsichten, die mit den bisherigen<br />
Klassifikations- und Eigenschaftsbetrachtungen<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> in der Deutlichkeit<br />
nicht in Erscheinung traten. Solche Zusammenhänge<br />
und Erkenntnisse werden exemplarisch <strong>im</strong><br />
folgenden Abschnitt vorgestellt und erläutert.<br />
Das Konzept der Kapselung ist <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
nur in ausgewählten Situationen und<br />
nur behutsam thematisierbar. Der bereits beschriebene<br />
Vergleich zwischen einem Ausgangszustand<br />
und einem Endzustand eines Objektes kann die<br />
Schülerinnen und Schüler zu der Frage nach dem<br />
„Dazwischen“ führen. Damit lässt sich die Einsicht<br />
gewinnen, dass bei einer Zustandsänderung<br />
eines mathematischen Objektes nicht alle Teilschritte<br />
eines Prozesses (oder nicht alle Teile eines<br />
Algorithmus) bekannt sein müssen, und dennoch<br />
das gesamte inhaltliche Gefüge genau best<strong>im</strong>mbar<br />
und auch einer Untersuchung zugänglich<br />
ist. Das Beispiel der Kongruenz zweier Polygone<br />
führt zu einer solchen Diskussion. Beide Polygone<br />
lassen sich als Anfangszustand und Endzustand<br />
ein und desselben mathematischen Objektes<br />
auffassen. Beide Zustände werden mit einer<br />
Lageveränderung, die auf einer Bewegungsabbildung<br />
beruht, ineinander übergeführt. Diese Lageveränderung<br />
lässt sich genau analysieren und etwa<br />
als Verschiebung, als Drehung oder als Spiegelung<br />
in der Ebene identifizieren. Genauso gut lässt<br />
sich die Abbildung aber auch als Folge von Spiegelungen<br />
auffassen (Dreispiegelungssatz). Für die<br />
Untersuchung der Kongruenz der beiden Polygonzustände,<br />
d. h., <strong>für</strong> die Untersuchung des Objektes<br />
an sich, ist die Form der Abbildung unerheblich;<br />
wesentlich ist vielmehr ihre Wirkung. Deshalb<br />
können die Informationen über die Abbildungsoperation<br />
und der dynamische Prozess, der<br />
6 Mit den Möglichkeiten der Strukturierung, Systematisierung und Darstellung von Wissensinhalten setzt sich tiefgründig die formale<br />
Begriffsanalyse auseinander, vgl. dazu etwa Dahlberg (1987) und Wille (1987).<br />
157
Bert Xylander, Gera<br />
Abbildung 19.3: Eine Hierarchie der Polygonklassen. Die Darstellung der Klassenstruktur beschränkt sich<br />
hier auf die Einteilung der Dreiecke, die nach verschiedenen Eigenschaftskomponenten, etwa nach Seitenlängen<br />
und Winkelgrößen, erfolgt.<br />
mit der Abbildung verbunden ist, als gekapselt<br />
aufgefasst werden. Dieses Beispiel unterscheidet<br />
sich <strong>im</strong> Übrigen von dem oben verwendeten Beispiel<br />
der Spiegelung als Objektmethode, da hier<br />
die Abbildung gerade nicht betrachtet wird.<br />
Das Behandeln des objektorientierten Schnittstellenkonzeptes<br />
kann <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
vielgestaltig erfolgen. Statische Werte eines mathematischen<br />
Objektes sind Gegenstand des Unterrichts,<br />
sobald statische Eigenschaften des mathematischen<br />
Gegenstandes ermittelt und berechnet<br />
werden. Objektmethoden erscheinen <strong>im</strong> Fokus<br />
der Schülerinnen und Schüler, sobald Parameter<br />
eines mathematischen Objektes best<strong>im</strong>mt werden<br />
und ihr Einfluss auf den Objektzustand untersucht<br />
wird. Ausnahmen widerspiegeln die Suche<br />
nach den Definitionsbereichen der mathematischen<br />
Objekte. Insgesamt sind Eigenschaften,<br />
Parameter und Definitionsbereiche von mathematischen<br />
Sachverhalten (Objekten) grundlegende<br />
und zentrale Inhalte des mathematischen Unterrichts.<br />
Entsprechend umfassend gestaltet sich aber<br />
auch das didaktisch-methodische Repertoire, mit<br />
dem diese Konzeptideen bereits <strong>im</strong> Unterricht verankert<br />
sind, so dass hier außerhalb des nachfolgenden<br />
Beispiels nicht tiefgründig darauf eingegangen<br />
werden muss.<br />
Ein regelmäßiges Fünfeck als mathematisches<br />
Objekt weist sich in seinen statischen Eigenschaften<br />
wie etwa dem Umfang oder dem Flächeninhalt<br />
oder auch seiner konkreten Lage aus. Diese<br />
und viele andere Fünfeckeigenschaften, die nicht<br />
nur als Zahlenwerte erfassbar sein müssen, stellen<br />
die Werte der Objektschnittstelle dar. Wird<br />
das Objekt nun so konstruiert, dass mittels Methoden<br />
der Objektzustand veränderbar ist, dann<br />
enthalten diese Methoden zumeist Parameterwer-<br />
158<br />
te, die den Zustand des Fünfecks dynamisieren.<br />
Denkbar wäre die Vorgabe einer neuen Seitenlänge<br />
oder auch die Vorgabe eines neuen Flächeninhaltes,<br />
so dass durch die Objektmethoden, die<br />
in der öffentlichen Schnittstelle zugänglich sind,<br />
eine Zustandsänderung des Objektes erfolgt. Hier<br />
entstehen zugleich auch Ansatzpunkte <strong>für</strong> die Behandlung<br />
von Ausnahmen, die etwa als Folge negativer<br />
Seitenlängen- und Flächeninhaltsvorgaben<br />
resultieren. In den vorangegangenen Ausführungen<br />
sollte insgesamt offenkundig geworden sein,<br />
dass die beschriebenen Vorgehensweisen <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
natürlich nicht neuartig sind.<br />
Der Anspruch gerade des <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
war und ist, Zusammenhänge offen zu legen,<br />
Analogien und Transfermöglichkeiten aufzuzeigen,<br />
das Abstraktionsvermögen zu entwickeln sowie<br />
analytisches und synthetisches Denken zu fördern.<br />
Zusammenfassend betrachtet, findet sich die<br />
Bedeutung und der Vorzug der Objektorientierung<br />
hauptsächlich darin begründet, dass sie hilft, diese<br />
Denk- und Vorgehensweisen methodisch zu bündeln<br />
und didaktisch zu beschreiben.<br />
5 Skizze einer<br />
„objektorientierten“<br />
Unterrichtseinheit<br />
Nach den überwiegend theoretischen Überlegungen<br />
zu den informatischen Konzepten der Objektorientierung,<br />
ihren mathematischen Entsprechungen<br />
und ihrer unterrichtspraktischen Umsetzung<br />
soll nun eine konkrete Unterrichtseinheit vorgestellt<br />
werden. Konzipiert ist die Unterrichtseinheit<br />
als ein zusammenfassender und systematisierender<br />
Abschluss des Unterrichtszyklus über<br />
die ebene Geometrie der Polygone, <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
angesiedelt in der Klassenstufe 7 und 8. Un-
terrichtsgegenstand sind die Dreiecke, Vierecke<br />
und regelmäßigen Vielecke sowie die Kongruenz<br />
und die Ähnlichkeit von Polygonen. Inhaltlich sollen<br />
die Schülerinnen und Schüler in der Unterrichtseinheit<br />
grundlegende Eigenschaften der Polygone<br />
erkennen und festigen, ein Beziehungsgefüge<br />
zwischen unterschiedlichen Polygonklassen<br />
entwickeln und eine Systematik der Polygone<br />
erarbeiten. Aus didaktischer Sicht stehen<br />
die Vernetzung bereits vorhandener Wissensinhalte<br />
und deren Transfer auf neu zu erschließende<br />
Wissensinhalte <strong>im</strong> Mittelpunkt. Methodisch wird<br />
die Unterrichteinheit gestaltet mit einer kooperativen<br />
Phase in Form einer Gruppenarbeit und mit<br />
einer Auswertungs- und Systematisierungsphase,<br />
die <strong>im</strong> gesamten Klassenverband stattfindet.<br />
5.1 Beschreibung der Gruppenphase<br />
Die Arbeit an den Polygonen führen die Schülerinnen<br />
und Schüler in Gruppen durch. Die Zusammensetzung<br />
der Gruppen sollte leistungshomogen<br />
erfolgen, damit die beteiligten Schülerinnen<br />
und Schüler sich in gleichem Maße inhaltlich<br />
und kreativ einbringen können und müssen.<br />
Zu Beginn der Zusammenarbeit einigen sich die<br />
Angehörigen einer Gruppe auf eine Funktionsverteilung;<br />
benötigt werden ein Moderator, ein Sprecher,<br />
ein Hilfesuchender sowie ein Zeit- und Regelmanager.<br />
7 Dem Moderator obliegt die Diskussionsführung,<br />
der Sprecher präsentiert in der Auswertungsphase<br />
die Gruppenergebnisse, der Hilfesuchende<br />
kontaktiert bei Bedarf den Lehrenden,<br />
um Hinweise und Tipps als Impulse <strong>für</strong> die Gruppenarbeit<br />
einzufordern, und der Zeit- und Regelmanager<br />
überwacht die Einhaltung vorgegebener<br />
Zeitabläufe und Organisationsregeln.<br />
Gebildet werden wenigstens sechs Gruppen,<br />
denen nach dem Leistungsvermögen der Gruppe<br />
unterschiedliche Aufgabenkomplexe zugeteilt<br />
werden. Die erste Gruppe setzt sich mit der Einteilung<br />
der Dreiecke und Vierecke nach ihren Seitenlängen<br />
auseinander. Die zweite Gruppe klassifiziert<br />
Dreiecke und Vierecke nach ihren Innenwinkelgrößen.<br />
8 Die dritte Gruppe untersucht regelmäßige<br />
Vielecke und versucht einen Zusammenhang<br />
zwischen der Eckpunktanzahl und der Innenwinkelsumme<br />
zu ermitteln. Die vierte Gruppe überträgt<br />
die Kongruenzsätze <strong>für</strong> Dreiecke auf Vierecke<br />
und regelmäßige Vielecke. Die fünfte Gruppe<br />
überträgt die Ähnlichkeitssätze <strong>für</strong> Dreiecke<br />
auf Vierecke und regelmäßige Vielecke. Die sechste<br />
Gruppe best<strong>im</strong>mt Kriterien <strong>für</strong> die Konstruierbarkeit<br />
von Dreiecken, Vierecken und regelmäßi-<br />
Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
gen Vielecken. 9<br />
Die Aufgabenkomplexe <strong>für</strong> die Gruppen sind<br />
mehrteilig gestaltet (Abb. 19.4). Aus objektorientierter<br />
Sicht enthalten die Komplexe solche Aufgaben,<br />
die die Schülerinnen und Schüler zu klassenstrukturierenden<br />
Erkenntnissen führen sollen.<br />
Diese werden aus der Entwicklung verschiedener<br />
Klassifikationskriterien der betrachteten Polygone<br />
und aus der Formulierung allgemeiner Eigenschaften<br />
der entsprechenden Polygonklassen gewonnen.<br />
Weiterhin werden die Schülerinnen und<br />
Schüler mit Konstruktionsaufgaben konfrontiert,<br />
anhand derer sie konkrete Objekte realisieren und<br />
zwischen den allgemeinen klassendefinierenden<br />
und den konkreten objektkonstituierenden Eigenschaften<br />
unterscheiden lernen sollen. Zum Dritten<br />
reflektieren die Schülerinnen und Schüler grundlegende<br />
Eigenschaften der von ihnen untersuchten<br />
Klassen und Objekte. Damit gewinnen sie einen<br />
Zugang zum objektorientierten Schnittstellenkonzept,<br />
da diese statischen und auch dynamischen<br />
Eigenschaften die öffentlich zugänglichen Daten<br />
und Methoden der Polygonklassen und Polygonobjekte<br />
darstellen.<br />
Die Gruppenarbeit wird vom Lehrenden begleitet,<br />
indem auf Nachfragen des Hilfesuchenden<br />
einer Gruppe mit Impulsen reagiert wird. Diese<br />
Impulse werden zum Teil gestuft eingebracht, so<br />
dass die Gruppe fortwährend in ihrer eigenständigen<br />
Arbeit gefordert ist (Abb. 19.5)<br />
Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden durch die<br />
Gruppen auf einem Poster festgehalten, das in<br />
der sich anschließenden Auswertungsphase präsentiert<br />
wird. Die Gruppenphase endet nach einer<br />
festgelegten Zeiteinheit — etwa nach 45 Minuten.<br />
5.2 Beschreibung der Auswertungs- und<br />
Systematisierungsphase<br />
Die Auswertungsphase <strong>im</strong> Klassenverband gestaltet<br />
sich <strong>im</strong> Allgemeinen sehr zeitintensiv, da allen<br />
Gruppen Raum gegeben werden muss, ihre Ergebnisse<br />
ausführlich darzustellen. Der Grund <strong>für</strong><br />
die umfängliche Präsentation ist die parallel dazu<br />
erfolgende Systematisierung der Polygonklassen<br />
in Form eines hierarchischen Schemas, dessen<br />
gemeinsame Entwicklung ein zentraler Bestandteil<br />
und zugleich krönender Abschluss der gesamten<br />
Unterrichtseinheit ist. Die hintergründige Verankerung<br />
der objektorientierten Konzeptideen in<br />
den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler<br />
erfordert vom Lehrenden, die Präsentationen dahingehend<br />
behutsam zu kommentieren. Zugleich<br />
führt er mit Hilfe von Beobachtungs- und Bewer-<br />
7Mehr als vier Mitglieder sollte eine Gruppe jedoch nicht umfassen, um eine intensive Arbeitsphase, in der sich alle Gruppenmitglieder<br />
einbringen müssen, zu ermöglichen.<br />
8Aus mathematischer Sicht führt die Systematisierung der Vierecke <strong>im</strong> Unterschied zur Einteilung der Dreiecke in beiden Fällen<br />
(Seitenlängen und Winkelgrößen) zu einer Ordnung entsprechend einer Teilmengenrelation.<br />
9Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den schulmathematisch relevanten Inhalten der ebenen Geometrie empfiehlt sich u.<br />
a. Hilbert (1986).<br />
159
Bert Xylander, Gera<br />
160<br />
Gruppe 1: Dreiecke und Vierecke und ihre Seitenlängen<br />
1. Sammelt Kriterien und formuliert eine Vorschrift, mit der Dreiecke nach ihren Seitenlängen<br />
eingeteilt werden können.<br />
2. Sammelt Kriterien und formuliert eine Vorschrift, mit der Vierecke nach ihren Seitenlängen<br />
eingeteilt werden können.<br />
3. Beschreibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Dreiecken und Vierecken!<br />
4. Konstruiert <strong>für</strong> jede „Seitenlängen-Klasse“ von Dreiecken und Vierecken zwei selbst<br />
gewählte Beispiele!<br />
5. Ermittelt die kleinste Anzahl der Größen, die <strong>für</strong> die jeweiligen Konstruktionen vorher<br />
festgelegt werden müssen! Welche Größen sind das? Gibt es mehrere Möglichkeiten?<br />
6. Formuliert wichtige Eigenschaften der Dreiecke und Vierecke (z. B. Umfang, Flächeninhalt,<br />
Winkelgrößen, besondere geometrische Punkte, Strecken und Geraden<br />
usw.) speziell <strong>für</strong> die einzelnen Dreieck- und Viereckklassen!<br />
Fasst Eure Ergebnisse übersichtlich auf einem Poster zusammen (mit Konstruktionsbeispielen).<br />
Präsentiert und erläutert Eure Ergebnisse mit dem Poster vor der Klasse.<br />
Abbildung 19.4: Aufgabenkomplex <strong>für</strong> die Gruppenarbeit.<br />
Gruppe 1: Dreiecke und Vierecke und ihre Seitenlängen — Arbeits<strong>im</strong>pulse<br />
1. (a) Vergleicht die Längen der drei Seiten eines beliebigen Dreieckes miteinander!<br />
(b) Welche Möglichkeiten der Längenverhältnisse zueinander gibt es (Gleichheit,<br />
Ungleichheit)?<br />
(c) Formuliert eine entsprechende Einteilung, nach der Dreiecke sortiert werden<br />
können!<br />
2. Verfahrt wie bei den Dreiecken entsprechend mit den Seitenlängen eines Vierecks.<br />
3. Stellt beide Vorschriften in möglichst gleichem Wortlaut dar!<br />
4. Denkt Euch selbst die Größen aus (Seitenlängen und/oder Winkelgrößen), die Ihr <strong>für</strong><br />
eine Konstruktion benötigt.<br />
5. (a) Gibt es die Möglichkeit, die Beispiele nur mit einer vorgegebenen Größe zu<br />
konstruieren?<br />
(b) Benötigt Ihr zwei Größen? Oder drei? . . .<br />
(c) Welche Größen sind das?<br />
Abbildung 19.5: Arbeits<strong>im</strong>pulse <strong>für</strong> die Gruppenarbeit
tungsaufgaben die nicht an der jeweiligen Präsentation<br />
beteiligten Gruppen zur Ergänzung des systematischen<br />
Überblicks über die Polygonklassen.<br />
Grundlegender Bestandteil der Auswertungsphase<br />
sollte natürlich eine Bewertung der Arbeitsleistungen<br />
aller Mitglieder einer Gruppe untereinander<br />
sein. Unterrichtspraktische Erfahrungen zeigen,<br />
dass die Schülerinnen und Schüler hierbei<br />
durchaus verantwortlich und auch selbstkritisch<br />
mit diesem Bewertungsinstrument umgehen. Insgesamt<br />
sollte <strong>für</strong> die Auswertungs- und Systematisierungsphase<br />
ein Zeitrahmen von 60 bis 90 Minuten<br />
vorgesehen werden. Ausgewählte Ergebnisse<br />
der Gruppenarbeit. Die Unterrichtseinheit zeigt<br />
mit ihrer unterrichtspraktischen Umsetzung überraschende<br />
Ergebnisse gerade in der Systematik<br />
der Vierecke, die in dieser Form üblicherweise<br />
nicht Gegenstand des <strong>Mathematikunterricht</strong>s sind.<br />
Dies erscheint umso verwunderlicher, da es sich<br />
um eine einfache Übertragung der Dreiecksystematisierung<br />
auf die Klassen der Vierecke handelt<br />
und es sich <strong>im</strong> mathematischen Sinne um Erkenntnisse<br />
handelt, die hautsächlich aus dem Umkehrschluss<br />
der üblichen Betrachtungsweise gewonnen<br />
werden. Hinzu tritt, dass auf diese Weise<br />
übergreifende Zusammenhänge und Beziehungen<br />
anschaulich geometrisch nachvollziehbar gestaltet<br />
werden. Die betreffenden Ergebnisse werden ausgehend<br />
von den Bezeichnungen <strong>im</strong> Viereck (Abb.<br />
19.6 in den folgenden Tabellen dargestellt (Tab.<br />
19.1 und 19.2).<br />
Abbildung 19.6: Bezeichnung der Winkelgrößen<br />
und Seitenlängen <strong>im</strong> Viereck<br />
Dabei handelt es sich, ausgehend von den<br />
gleichseitigen, gleichschenkligen und unregelmäßigen<br />
Dreiecken, um eine ähnliche Systematik<br />
<strong>für</strong> die Vierecke, die gleichseitige, gleichschenklige<br />
und unregelmäßige Vierecke konkretisiert und<br />
speziellen Vierecktypen zuweist (Abb. 19.1). In<br />
ähnlicher Weise lassen sich die Vierecke systematisieren,<br />
wenn von der Größe ihrer Innenwinkel<br />
ausgehend, rechtwinklige, stumpfwinklige<br />
und spitzwinklige Vierecke untersucht werden<br />
(Tab. 4).<br />
Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Durch das Hinzunehmen weiterer charakterisierender<br />
Eigenschaften können die Einteilungen<br />
nach den Seitenlängen und den Winkelgrößen<br />
noch verfeinert werden. So lassen sich aus den<br />
Lagen der Diagonalen, der Parallelität der Viereckseiten<br />
oder wechselseitig aus den Winkelgrößen<br />
(in der Einteilung nach den Seitenlängen) und<br />
den Seitenlängen (in der Einteilung nach den Winkeln)<br />
weitere Vierecktypen den Klassen zuordnen.<br />
Die Vermittlung der objektorientierten Konzepte<br />
in der gesamten Unterrichtseinheit erfolgt<br />
mittelbar. Die Schülerinnen und Schüler setzen<br />
sich intensiv mit den Eigenschaften der Polygone<br />
auseinander und erlangen so — fast intuitiv —<br />
eine Vorstellung von einem Polygon als mathematischem<br />
Objekt. Dreiecke, Vierecke und regelmäßige<br />
Vielecke werden bewusst als Mengen (Klassen)<br />
mathematischer Objekte untersucht und miteinander<br />
verglichen. Der Vergleich und die Übertragung<br />
der an einer Klasse gewonnenen Erkenntnisse<br />
auf eine andere Polygonklasse führen die<br />
Schülerinnen und Schüler zu einem tieferen Verständnis<br />
von komplexen Objektstrukturen, mithin<br />
von Klassen. Letztendlich geleitet die Systematisierung<br />
der Polygonklassen in Form einer Klassenhierarchie<br />
zu einer grundlegenden Einsicht in<br />
die strukturierenden Ordnungsprinzipien der Objektorientierung:<br />
Vererbung, Ableitung und Eigenschaftserweiterung.<br />
6 Fazit<br />
Der Wert einer objektorientierten Herangehensweise<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> erwächst aus<br />
zwei Betrachtungsrichtungen. Aus informatorischer<br />
Sicht werden Grundlagen geschaffen <strong>für</strong> ein<br />
späteres Verstehen und Entwerfen objektorientierter<br />
Konzepte und Problemlösungen. Für den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
selbst ist bedeutsam, dass eine<br />
objektorientierte Sicht auf Mathematik zum Teil<br />
ungewohnte, insgesamt aber bereichernde Einsichten<br />
und Zusammenhänge offenbaren kann.<br />
Dass die objektorientierte Herangehensweise so<br />
neu nicht ist und oftmals in einem anderen Kontext<br />
unter anderer Bezeichnung so oder so ähnlich<br />
bereits umgesetzt wird, ist sicherlich ebenfalls offenkundig.<br />
Die informatischen Konzepte der Objektorientierung<br />
lassen sich zum Teil nur mühsam in das<br />
inhaltliche und konzeptuelle Gefüge der Mathematik<br />
und damit auch des <strong>Mathematikunterricht</strong>es<br />
einbringen. Andererseits ist es auch gar nicht notwendig,<br />
die vollständige Umsetzung der Konzeptideen<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> anzustreben. Die<br />
Schülerinnen und Schüler sollen vielmehr angeregt<br />
werden, objektorientierte Denkmuster auszubilden<br />
als Ergänzung ihrer <strong>im</strong> bisherigen Lernprozess<br />
erworbenen kognitiven Strategien.<br />
Das didaktisch-methodische Potenzial der Ob-<br />
161
Bert Xylander, Gera<br />
Vierecke Klassendefinierende<br />
Eigenschaften<br />
Gleichseitige<br />
Vierecke<br />
Gleichschenklige<br />
Vierecke<br />
Unregelmäßige<br />
Vierecke<br />
Typisierung<br />
a = b = c = d Quadrat, Rhombus<br />
a = b = c Kein spezielles<br />
Viereck<br />
a = b; c = d Drachenviereck<br />
a = c; b = d Rechteck,<br />
Parallelogramm<br />
a = b Kein spezielles<br />
Viereck<br />
a = c Kein spezielles<br />
Viereck<br />
a �= b; a �= c; a �= d;<br />
b �= c; b �= d; c �= d<br />
Kein spezielles<br />
Viereck<br />
Tabelle 19.1: Systematisierung nach Viereckseiten. O. B. d. A. werden in der Tabelle die klassendefinierenden<br />
Eigenschaften beginnend mit der Seitenlänge a formuliert.<br />
Vierecke Klassendefinierende<br />
Eigenschaften<br />
Rechtwinklige<br />
Vierecke<br />
Stumpfwinklige<br />
Vierecke<br />
Spitzwinklige<br />
Vierecke<br />
Spezialfälle Typisierung<br />
α = β = γ = δ = 90deg Quadrat, Rechteck<br />
α = β = γ = 90deg Quadrat, Rechteck<br />
α = β = 90deg Rechtwinkliges<br />
Trapez<br />
α = γ = 90deg Sehnenviereck<br />
α = 90deg Viereck<br />
α,β,γ,δ > 90deg Kein Viereck!<br />
α,β > 90deg Viereck<br />
α + γ = β + δ =<br />
180deg<br />
Sehnenviereck<br />
α,γ > 90deg Viereck<br />
α = γ; β = δ Rhombus,<br />
Parallelogramm<br />
α > 90deg Viereck<br />
α,β,γ,δ < 90deg α,β,γ,δ < 90deg Kein Viereck!<br />
Tabelle 19.2: Systematisierung nach Viereckwinkelgrößen. O. B. d. A. werden in der Tabelle die klassendefinierenden<br />
Eigenschaften beginnend mit dem Winkel α formuliert.<br />
162
jektorientierung liegt zweifellos in dem Vermögen,<br />
Zusammenhänge und Analogien herstellen,<br />
ergründen und darstellen zu können sowie in der<br />
Fähigkeit, inhaltliche und methodische Strukturen<br />
auf vertraute und neue Wissensbereiche übertragen<br />
zu können. Objektorientierung sollte dabei<br />
verstanden werden als eine der vielen Möglichkeiten,<br />
einen modernen <strong>Mathematikunterricht</strong> zu<br />
entwickeln: weniger Inhalte vermitteln und mehr<br />
mathematisches Denken befördern.<br />
Literatur<br />
Balzert, H. (2000): Objektorientierung in 7 Tagen. Spektrum<br />
Akademischer Verlag<br />
Berard, E. V. (1998): Basic Object-Oriented Concepts. URL<br />
http://www.toa.com<br />
Objektorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Dahlberg, I. (1987): Die gegenstandsbezogene, analytische<br />
Begriffstheorie und ihre Definitionsarten. In: Ganter, B., Rudolf<br />
Wille & K. Wolff (Hg.): Beiträge zur Begriffsanalyse,<br />
Mannhe<strong>im</strong>, Wien, Zürich: BI Wissenschaftsverlag, 9–22<br />
Forbrigg, P. (2002): Objektorientierte Softwareentwicklung<br />
mit UML. Leipzig: Fachbuchverlag<br />
Hilbert, A. (1986): Ebene Geometrie. Fachbuchverlag<br />
Schulte, Carsten (2001): Vom Modellieren zum Gestalten<br />
— Objektorientierung als Impuls <strong>für</strong> einen neuen Informatikunterricht?<br />
informatica didactica, 3, URL http://www.<br />
informatica-didactica.de<br />
Thomas, Marco (2004): Objektorientierung und informatische<br />
Bildung: Stellenwert und Konkretisierung <strong>im</strong> Unterricht — mit<br />
BlueJ. LOG-IN, 128, 26–31<br />
Wille, Rudolf (1987): Bedeutung von Begriffsverbänden. In:<br />
Ganter, B., Rudolf Wille & K. Wolff (Hg.): Beiträge zur Begriffsanalyse,<br />
Mannhe<strong>im</strong>, Wien, Zürich: BI Wissenschaftsverlag,<br />
161–211<br />
163
Bert Xylander, Gera<br />
164
Teil III<br />
Arbeitsgruppen<br />
165
• Arbeitsgruppe: Computergrafik und <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
Andreas Filler, Heidelberg<br />
1996 gab es auf der 14. Arbeitskreistagung des Arbeitskreises MU & I in Wolfenbüttel eine Arbeitsgruppe<br />
„Computergrafik als Bindeglied zwischen Mathematik- und Informatikunterricht“. Seitdem<br />
wurden auf Arbeitskreistagungen viele Vorträge zur Einbeziehung der Computergrafik in den <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
gehalten — mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Zielen — sowie einschlägige<br />
Unterrichtserfahrungen gesammelt. Die Arbeitsgruppe „Computergrafik und <strong>Mathematikunterricht</strong>“<br />
auf der Arbeitskreistagung 2005 setzte sich das Ziel, eine Zwischenbilanz zu Zielen<br />
und Möglichkeiten der Einbeziehung der Computergrafik in den MU zu ziehen. Entsprechend dem<br />
Thema der Tagung „<strong>Informatische</strong> <strong>Ideen</strong> <strong>im</strong> MU“ sollten dabei auch Fragen der Berücksichtigung<br />
informatischer Aspekte bei der Erstellung von Computergrafiken und -an<strong>im</strong>ationen berücksichtigt<br />
werden.<br />
Es bestand in der Arbeitsgruppe Einigkeit darüber,<br />
dass Elemente der Computergrafik vor allem<br />
in der Sekundarstufe II und hier insbesondere <strong>im</strong><br />
Stoffgebiet „Analytische Geometrie“ zum Tragen<br />
kommen können.<br />
Die „Basisfunktion“ der Einbeziehung von<br />
Elementen der (insbesondere dreid<strong>im</strong>ensionalen)<br />
Computergrafik ist die Anfertigung von Visualisierungen<br />
räumlicher Sachverhalte. Dadurch lassen<br />
sich Inhalte der analytischen Geometrie des<br />
Raumes veranschaulichen, <strong>für</strong> welche dies ohne<br />
Computerhilfe oftmals schwierig ist, wenngleich<br />
traditionelle Anschauungsmodelle weiterhin verwendet<br />
werden sollten.<br />
Hervorgehoben wurde die Motivierung, welche<br />
die Erstellung (insbesondere fotorealistischer)<br />
Computergrafiken und -an<strong>im</strong>ationen durch die<br />
Schüler bewirken kann. Diese, <strong>für</strong> viele Schüler<br />
ausgesprochen interessanten, Gegenstandsbereiche<br />
eignen sich sehr gut, um den Realitätsbezug<br />
und die anwendungspraktische Relevanz von<br />
Inhalten der analytischen Geometrie <strong>für</strong> die Schüler<br />
anhand aktiver Tätigkeiten deutlich werden zu<br />
lassen. Voraussetzung da<strong>für</strong> ist natürlich die Verwendung<br />
einer Software, welche analytische Beschreibungen<br />
geometrischer Objekte und Szenen<br />
erfordert, um Grafiken bzw. An<strong>im</strong>ationen zu generieren.<br />
Die Arbeitsgruppe diskutierte über die Auswahl<br />
einer <strong>für</strong> die Nutzung <strong>im</strong> Stoffgebiet „Analytische<br />
Geometrie“ geeigneten Software, mit deren<br />
Hilfe dreid<strong>im</strong>ensionale grafische Darstellungen<br />
erstellt werden können. Aus dem bereits genannten<br />
Grunde, dass die Schüler bei der Arbeit<br />
mit der Software geometrische Objekte analytisch<br />
beschreiben sollten, kommen Programme, die <strong>für</strong><br />
den Raumgeometrieunterricht der Sekundarstufe I<br />
entwickelt wurden, sowie die meisten kommerziellen<br />
3D-Grafiksysteme nicht in Frage. Die Auswahl<br />
der Software hängt von der Zielsetzung und<br />
vom Umfang der Einbeziehung der Computergrafik<br />
in den Unterricht ab.<br />
• Sollen lediglich Visualisierungen zu den Stan-<br />
dardinhalten des gegenwärtigen Unterrichts angefertigt<br />
werden, so bietet sich die Nutzung spezieller,<br />
<strong>für</strong> das Stoffgebiet „Analytische Geometrie“<br />
entwickelter und sehr einfach zu erlernender,<br />
Software wie z. B. DreiDGeo an. Allerdings<br />
können in diesem Falle auch Computeralgebrasysteme<br />
(CAS) zum Einsatz kommen, deren<br />
grafische Möglichkeiten in den vergangenen<br />
Jahren erheblich ausgebaut wurden. Dies ist vor<br />
allem dann sinnvoll, wenn die Schüler bereits<br />
mit CAS gearbeitet haben.<br />
• Die Betrachtung nichtlinearer Objekte wie Kurven<br />
und Flächen ist sowohl mithilfe von CAS<br />
als auch unter Verwendung der durch eine<br />
Szenenbeschreibungssprache gesteuerten 3D-<br />
Grafiksoftware POV-Ray möglich. Auch elementare<br />
Programmierkonstrukte (wie Schleifen<br />
und Verzweigungen) lassen sich sowohl in POV-<br />
Ray als auch in CAS wie MuPAD, Maple oder<br />
Mathematica nutzen. Alle diese Softwarepakete<br />
ermöglichen auch die Erstellung von An<strong>im</strong>ationen.<br />
• Sollen mathematische Grundlagen der 3D-<br />
Computergrafik thematisiert werden, so ist dies<br />
vor allem anhand des in Bezug auf seine<br />
Funktionsweise relativ einfach verständlichen<br />
Raytracing-Verfahrens möglich. Da POV-Ray<br />
nach diesem Verfahren arbeitet, bietet sich dabei<br />
die Verwendung dieser Software an. Ein<br />
weiteres Argument <strong>für</strong> die Nutzung von POV-<br />
Ray besteht <strong>im</strong> Fotorealismus der erzeugten<br />
Darstellungen. Es wurde in der Arbeitsgruppe<br />
hervorgehoben, dass die von der verwendeten<br />
Software erzeugten Darstellungen hinreichend<br />
„schön“ sein sollten, da <strong>für</strong> die Motivierung<br />
der Schüler durch die Arbeit mit computergrafischen<br />
Darstellungen die ästhetische Komponente<br />
eine wichtige Bedeutung hat. Auch die<br />
Tatsache, dass die von POV-Ray erzeugten Bilder<br />
nicht an mathematische Illustrationen, sondern<br />
eher an computergenerierte Spielfilme oder<br />
Zeitschriftenbilder erinnern, wurde als motivierender<br />
Aspekt angeführt, da die Schüler hierbei<br />
167
Andreas Filler, Heidelberg<br />
erkennen, dass auch hinter diesen nicht „mathematisch<br />
aussehenden“ Bildern Mathematik<br />
steht. Allerdings ist zur Verwendung von POV-<br />
Ray anzumerken, dass sich die Nutzung dieser<br />
Software nur dann „lohnt“, wenn die Schüler<br />
nicht nur die Standardinhalte des Unterrichts<br />
in analytischer Geometrie visualisieren, sondern<br />
auch einige der Realität nachempfundene Objekte<br />
durch Koordinaten- bzw. Gleichungsbeschreibungen<br />
modellieren, was natürlich Unterrichtszeit<br />
erfordert.<br />
Die Teilnehmer an der Arbeitsgruppe vertraten<br />
einhellig die Auffassung, dass die (in etwas größerem<br />
Umfang erfolgende) Einbeziehung von Elementen<br />
der 3D-Computergrafik in den Unterricht<br />
in starkem Maße projektorientierte Arbeitsformen<br />
<strong>im</strong>pliziert. Schüler sollten an etwas umfangreiche-<br />
168<br />
ren Projekten arbeiten, deren Inhalt sie selbst mitbest<strong>im</strong>men<br />
können. Die mathematische Beschreibung<br />
dreid<strong>im</strong>ensionaler Objekte und Szenen und<br />
die auf dieser Grundlage erfolgende Erstellung<br />
von Computergrafiken bzw. -an<strong>im</strong>ationen kann Inhalt<br />
vieler unterschiedlicher Unterrichtsprojekte<br />
sein.<br />
Ohne diese Thematik vertiefen zu können,<br />
stellten die Teilnehmer fest, dass die Untersuchung<br />
von Kurven und Flächen übergreifendes<br />
Element des <strong>Mathematikunterricht</strong>s in der Sekundarstufe<br />
II sein könnte und dabei reichhaltige<br />
Ansatzpunkte <strong>für</strong> die Einbeziehung von Elementen<br />
der Computergrafik gegeben wären. Bedauert<br />
wurde, dass die gegenwärtigen Rahmenpläne die<br />
Behandlung von Kurven und Flächen <strong>im</strong> Stoffgebiet<br />
„Analytische Geometrie“ höchstens am Rande<br />
zulassen.
• Arbeitsgruppe: Konstruktion korrekturgünstiger Aufgaben<br />
— auch mit sofortiger automatischer Auswertung<br />
Fritz Nestle, Ludwigsburg<br />
1 Konstruktion<br />
korrekturgünstiger Aufgaben<br />
Zusammenstellung, Durchführung und Bewertung<br />
schriftlicher Lernkontrollen beanspruchen <strong>im</strong><br />
Fach Mathematik bei vielen Kollegen 10% bis<br />
20% ihrer gesamten Arbeitszeit — ein erster<br />
Grund, sich mit dem Thema näher zu befassen und<br />
sich mit den Rationalisierungsreserven in diesem<br />
Bereich auseinanderzusetzen. 1<br />
Ein zweiter Grund ist das Thema Korrekturgerechtigkeit.<br />
Nicht nur bei Aufsätzen sondern auch<br />
bei Mathematikklassenarbeiten (Schulaufgaben)<br />
hängt bei der derzeitigen Praxis die Bewertung unter<br />
anderem ab von der Reihenfolge der Korrektur<br />
(der Maßstab bleibt nicht konstant während der<br />
Korrektur), der Kondition des Korrigierenden und<br />
natürlich in besonderem Maß vom Korrigierenden<br />
selbst. 2 Die Erkenntnis, dass dies unter dem Gesichtspunkt<br />
der Chancengleichheit <strong>für</strong> die Lernenden<br />
eigentlich unerträglich ist, ist wenig verbreitet.<br />
Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus der oben<br />
angegebenen URL, die Bearbeitung eines Schülers<br />
zu Aufgabe 5 der betrachteten Klassenarbeit:<br />
Abbildung 21.1: Schülerlösung zur Aufgabe 5):<br />
Ein Händler kauft zwei teure und drei billige Fahrräder<br />
<strong>für</strong> zusammen 694 DM. Was kostet eines der<br />
billigen Fahrräder, wenn ein teures Fahrrad 158<br />
DM kostet?<br />
Wie will man diesem Schüler gerecht werden?<br />
Die Punktsumme <strong>für</strong> diese Bearbeitung<br />
schwankt — nach intensiv diskutierter Normierung<br />
— bei Korrektur durch 73 erfahrene<br />
Lehrer zwischen 9 und 16, die Note zwischen<br />
2,5 und 4. Wo bleibt die Gerechtigkeit?<br />
Wie will man diese Bearbeitung diagnostisch<br />
auswerten, damit man <strong>für</strong> den Schüler geeignete<br />
Therapiemaßnahmen ergreifen kann? Eine<br />
Trennung der Anforderungen in Gedächtnisleistungen,<br />
Formel/Rechenwegauswahl, Zahlenrechnungen,<br />
Übersetzungsprobleme, Textanalyse,<br />
. . . erleichtert Korrektur und Diagnostik und bringt<br />
mehr Gerechtigkeit.<br />
Schließlich ist in naher oder ferner Zukunft<br />
damit zu rechnen, dass die Vorteile von online-<br />
Lernkontrollen sowohl <strong>für</strong> Lehrende als auch besonders<br />
<strong>für</strong> Lernende genutzt werden. Wenn auf<br />
selbstorganisiertes Lernen Wert gelegt wird, sind<br />
sie unverzichtbar. Sie lassen sich heute <strong>im</strong> Internet<br />
(oder lokal) leicht erstellen; durch Kooperation<br />
unter den Lehrkräften würde sich der Zeitaufwand<br />
innerhalb eines Schuljahres amortisieren,<br />
wenn man das open-source-Verfahren anwendet<br />
3 .<br />
2 Online-Lernkontrollen<br />
Auf Wunsch der Teilnehmer lag der Schwerpunkt<br />
in der Arbeitsgruppe bei online-Lernkontrollen.<br />
Sie haben die Struktur eines online-Formulars in<br />
HTML das mit einer PHP-Datei ausgewertet werden<br />
kann.<br />
Durch Variation des Beispiels entstand so eine<br />
Lernkontrolle mit 2 Eingaben, wie in den Abbildungen<br />
dargestellt.<br />
Unter http://www.bildungsoptionen.de/<br />
dilli2/2te.htm finden Sie das Beispiel, unter http://<br />
www.bildungsoptionen.de/dilli/fuchsorg.<br />
htm weitere Erläuterungen zum Vorgehen.<br />
1 Siehe dazu http://www.BildungsOptionen.de/200mio.htm<br />
2 Siehe dazu http://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2e-<strong>im</strong>ix-t01/user_files/<br />
personal/nestle/alternativen/kap1.htm#16. Die Note entsteht in vier Willkürschritten: Auswahl der Anforderungen,<br />
Bewertung der Anforderungen, Zuweisung von Punkten, Umsetzung der Punkte in eine Schulnote.<br />
3 Siehe dazu auch http://www.bildungsoptionen.de/opens.htm<br />
169
Fritz Nestle, Ludwigsburg<br />
<br />
<br />
Formular mit Pflichtfeldern<br />
<br />
<br />
<br />
Klicken Sie das Feld an und tragen<br />
Sie den Namen ein:<br />
<br />
<br />
Wenn Sie<br />
<br />
anklicken, sehen Sie, ob Ihre Einsetzung<br />
angemommen wurde.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Formular mit Pflichtfeldern<br />
<br />
<br />
<br />
Ihr Name:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Abbildung 21.2: Beispieldateien <strong>für</strong> eine online-Lernkontrolle<br />
<br />
<br />
Wie heißt das allgemeinste Viereck<br />
ABCD mit einem Paar paralleler Seiten?<br />
<br />
<br />
<br />
Obiges Viereck soll zusätzlich<br />
punktsymmetrisch sein. Wie heißt jetzt<br />
das allgemeinste Viereck dieser Art?<br />
<br />
<br />
Wenn Sie<br />
<br />
anklicken, sehen Sie, ob Ihre Einsetzung<br />
angemommen wurde.<br />
<br />
170<br />
<br />
<br />
Deine Antwort ist<br />
<br />
Diese Antwort ist<br />
<br />
Abbildung 21.3: Änderungen an den Beispieldateien.
• Arbeitsgruppe: Wieviel Programmieren-Können braucht<br />
man in der Mathematiklehre?<br />
Dörte Haftendorn, Lüneburg<br />
Teilnehmer: Martin Epkenhans, Wolfgang Friebe, Dörte Haftendorn, Andreas Meier, Hartwig Meißner,<br />
Marianne Moormann, Reinhard Oldenburg, Wolfgang Schulz, Siegfried Zseby.<br />
1 Fragestellungen<br />
Wir haben uns den folgenden Fragen gewidmet:<br />
1. Was ist eigentlich Programmieren in mathematischem<br />
Zusammenhang?<br />
2. Welche Elemente der Programmierung sind<br />
wesentlich?<br />
3. Welche Werkzeuge eignen sich?<br />
4. Warum sollte man das können?<br />
5. Welche Mathematik-Lehrenden verstehen genug?<br />
6. Wie kann man Akzeptanz von MU mit Computer<br />
steigern?<br />
Dabei ging es vor allem um die Sicht auf<br />
Lehrende und Lehramt-Studierende. Ob die Lernenden<br />
dann auch programmieren, haben wir<br />
als nachrangig eingestuft. In Abwandlung des<br />
Themas hätten wir wohl bescheidenener von<br />
„Programmier-Verständnis“ reden sollen.<br />
1.1 Was ist eigentlich Programmieren in<br />
mathematischem Zusammenhang?<br />
Am ehesten werden die Lehrenden in Excel- (oder<br />
anderen TK-) Tabellen Formeln einfügen. Schon<br />
Schieberegler in Excel sind zwar sehr nützlich<br />
aber nicht verbreitet. In den CAS ist der Einsatz<br />
eines Folgenoperators noch einigermaßen üblich.<br />
Das Schreiben von eigenen internetfähigen<br />
HTML-Seiten, eigener Abfragen und Prozeduren<br />
in Excel oder den CAS liegt wohl allenfalls den<br />
Mathmatiklehrenden nahe, die auch Informatik<br />
als Fach haben. Das Programmieren in einer Programmiersprache<br />
(LOGO, Java, Visual Basic. . . )<br />
wird von diesen vielleicht sogar dann gemacht,<br />
wenn es in dem verfügbaren CAS oder TK viel<br />
einfacher ginge. Jedenfalls soll mit dem Programmieren<br />
grundsätzlich eine ganze Klasse von Problemen<br />
gelöst werden. Die Ziele werden bei 4. erläutert.<br />
1.2 Welche Elemente der<br />
Programmierung sind wesentlich?<br />
• Zählschleifen<br />
• Einfacher Folgenoperator<br />
• Zugriff auf Folgenelemente<br />
• Anwendung von Funktionen auf Folgen<br />
• Bedingte Schleifen<br />
• While, Repeat, Loop<br />
• Verzweigungen<br />
• If . . . Then . . . Else . . . .<br />
• Moduln, Prozeduren, Funktionen, Makros<br />
• Eingabe-Parameter, Eingabebedingungen<br />
• Lokale und globale Variable<br />
• Rückgabe<br />
• Elemente Objektorientierter Programmierung<br />
• Methoden, Eigenschaften, Vererbung, Zugriff<br />
auf Objekte<br />
• Speicherung, Datentransport, Datensicherung,<br />
. . .<br />
Vermutlich können die meisten heutigen<br />
Mathematik-Lehrenden damit wenig anfangen.<br />
Sie sollten sich allerdings klarmachen, dass „Windows“,<br />
Elemente <strong>im</strong> Malprogramm, Graphen <strong>im</strong><br />
CAS, Kreise <strong>im</strong> DGS,. . . — so gut wie alles was<br />
heutige Computer bieten, „Objekte“ sind. Man<br />
kann ja wohl nicht annehmen, dass die Verantwortung<br />
<strong>für</strong> die Bildung eines entsprechenden<br />
Verständnisses vornehmlich bei den Nicht-<br />
Mathematik-Lehrenden liegt. Es geht nicht um<br />
das „Unterrichten“ dieser Elemente, das wird man<br />
einem eventuell stattfindenden Informatikunterricht<br />
überlassen, sondern um das adäquate Bewusstsein<br />
und Handeln der Lehrenden, wann <strong>im</strong>mer<br />
solche Elemente vorkommen.<br />
1.3 Welche Wekzeuge eignen sich?<br />
• GTR, Graphenzeichner: Graphische TR, Matheass,<br />
Turboplot,. . . .<br />
• TK , Tabellenkalkulation: Excel, Starcalc, . . .<br />
• DMS, Dynamische-Mathematik-Systeme: Geo-<br />
Gebra<br />
• DGS, Dynamische-Geometrie-Systeme: Euklid<br />
Dynageo, Cabri Geomètre,. . .<br />
• CAS, Computer-Algebra-Systeme in der üblichen<br />
Art: MuPAD, Derive, Maple, . . .<br />
• CAS, als Programmierwerkzeug: MuPAD, s.o.<br />
. . .<br />
• Programmiersprachen: Visual-Basic, Excel, Javascript,<br />
Applets, Logo, Java,. . .<br />
1.4 Warum sollten Mathematik-Lehrende<br />
das können oder zumindest<br />
verstehen?<br />
Sowie man überhaupt Mathematik mit Computern<br />
betreibt, steht man vor solchen Fragen:<br />
• Wie werte ich den Term <strong>für</strong> mehrere Einsetzungen<br />
aus?<br />
• Wie erzeuge ich eine Folge von Bildern, die<br />
meine Unterrichtsidee unterstützen?<br />
171
Dörte Haftendorn, Lüneburg<br />
• Wie baue ich mir Hilfen <strong>für</strong> das Finden und Testen<br />
von Aufgaben?<br />
• Wie prüfe ich bei der Korrektur arbeitsökonomisch,<br />
ob der Prüfling folgerichtig weitergearbeitet<br />
hat?<br />
• Wie gebe ich den Objekten die Farben und<br />
Strickdicken, die man Projizieren oder Drucken<br />
kann?<br />
• Wie erzeuge ich einen hinreichend großen Karohintergrund,<br />
auf dem die Lernenden dann<br />
weitere Einzeichnungen machen können?<br />
• Wie erstelle ich Material zum Erkunden?<br />
• Wie visualisiere ich mein Lehrvorhaben?<br />
• Und wenn die Schüler selbst am Computer arbeiten:<br />
– Wie erstelle ich ein elektronisches Arbeitsblatt?<br />
– Wie gelangt es vor die Augen der Schüler?<br />
– Wie ermögliche ich interaktive Eingriffe der<br />
Schüler?<br />
– Wie schütze ich mein Vorhaben gegen unbeabsichtigte<br />
und mutwillige Fehlbedienung?<br />
– Wie sorge ich <strong>für</strong> Ergebnissicherung, passende<br />
Speicherung, arbeitsökonomische Beurteilung<br />
und Rückmeldung.<br />
1.5 Welche Mathematik-Lehrenden<br />
verstehen genug?<br />
Die Mathematik in Schule und Hochschule wird<br />
durch Computer enorm bereichert. Dieses ist <strong>für</strong><br />
die Teilnehmer dieser Tagung oft schon eine anderthalb<br />
Jahrzehnte alte Erfahrung und hat vor<br />
vielen Jahren zum „Arbeitskreis <strong>für</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong><br />
und Informatik“ geführt.<br />
Aber „<strong>im</strong> Lande“ ist diese Erkenntnis noch<br />
nicht hinreichend weit verbreitet. Er gibt bedeutende<br />
regionale Unterschiede, aber auch an ein<br />
und derselben Schule ist das Erfahrungsspektrum<br />
mitunter breit. Auch nach Schularten muss man<br />
unterscheiden.<br />
Leider gehören oft auch die jüngeren Lehrkräfte<br />
zu den Unerfahrenen, denn an den Hochschulen<br />
ist die Wichtigkeit einer entsprechenden<br />
Ausbildungskomponete zum Teil auch heute noch<br />
nicht erkannt. Man hat den Eindruck, dass „die<br />
Schulen“ da sogar weiter sind als die Hochschulen<br />
<strong>im</strong> Allgemeinen.<br />
Häufig mangelt es trotz entsprechender Angebote<br />
der Hochschulen in der Lehrerausbildung<br />
auch am Interesse der Studierenden. Sie glauben,<br />
Schule könne so bleiben, wie sie sie selbst erlebt<br />
haben. Es gibt auch Studierende, die das Lehramt<br />
wählen um „dem Computer“ zu entkommen.<br />
Als Schreibwerkzeug ist der Computer heute<br />
unumstritten, als Mathematikwerkzeug ist sein<br />
Potenzial bei weitem nicht ausgelotet. Das übertriebene<br />
„Einb<strong>im</strong>sen“ von Fertigkeiten, die man<br />
mit Computer in wenigen Minuten erledigt, ga-<br />
172<br />
rantiert keine mathematische Kompetenz. Das Argument,<br />
dass die „Abnehmer“ das so wollten, ist<br />
zwar leider wahr, aber dennoch eine Ausflucht,<br />
denn man hat es versäumt, die „Abnehmer“ in der<br />
Wandlungsprozess von <strong>Mathematikunterricht</strong> einzubeziehen.<br />
Außerdem ist ?so die Teilnehmer dieser<br />
Arbeitsgruppe- ja sogar anzunehmen, dass bei<br />
gewandeltem Unterricht auch die von den „Abnehmern“<br />
nachgefragten Kompetenzen erworben<br />
würden.<br />
Viele gute Ansätze sind aber zu beobachten<br />
und die in dieser Hinsicht innovativen Lehrkräfte<br />
an Schule und Hochschule erweitern langsam<br />
aber stetig ihren Wirkungskreis.<br />
Soweit zur Verbreitung des Einsatzes von<br />
Computern <strong>im</strong> MU. Wenn man allerdings das<br />
Programmieren-Können oder das Programmier-<br />
Verständnis <strong>im</strong> Sinne der obigen Ausführungen<br />
betrachtet, so reduziert sich die Zahl der entsprechend<br />
kompetenten Lehrenden wohl nochmals<br />
drastisch. Sogar unter denen mit Fakultas<br />
<strong>für</strong> Mathematik und Informatik gibt es<br />
leider viele, die keine oder kaum Computer-<br />
Mathematikwerkzeuge einsetzen.<br />
Programmier-Kompetenzen aber geben dem<br />
Lehrenden Freiheit <strong>für</strong> eigene <strong>Ideen</strong> und das ist<br />
allemal gut <strong>für</strong> nachhaltiges Lernen.<br />
1.6 Wie kann man Akzeptanz und<br />
Verständnis steigern?<br />
Hier geht es also überhaupt erstmal um Comptereinsatz<br />
<strong>im</strong> MU. Das Progammier-Verständnis ist<br />
sicher nachgeordnet. Um dessen eventuelle Vermittlung<br />
hat sich diese Arbeitsgruppe noch keine<br />
Gedanken gemacht.<br />
• Computereinsatz <strong>im</strong> MU muss in der Lehrerausbildung<br />
verpflichtendes Element werden, am<br />
besten integriert in alle Veranstaltungen. Das<br />
ist durchaus möglich: siehe http://www.<br />
mathematik-verstehen.de<br />
• Die Prägung der Lehramt-Studierenden durch<br />
den erlebten MU ist aufzubrechen.<br />
• Die Studienseminare sollten die Kompetenzen<br />
der Referendare gezielt fördern.<br />
• Schulinterne LFB regen das Gespräch unter den<br />
Kollgen an. Die psychologische Schwelle kann<br />
<strong>im</strong> Kreis der Kollegen erniedrigt werden. Der<br />
Austausch von Erfahrungen und Material am eigenen<br />
Arbeitsplatz ist sehr effektiv.<br />
• Tagungen (MNU, GDM, Lehrertag auf der<br />
GDM-Tagung,. . . ) ermutigen die innovationsbereiten<br />
Lehrkräfte und haben eine wichtige<br />
Multiplikatorenwirkung.<br />
• Unterstützung seitens der Schulleitungen, der<br />
Schulämter und Kultusministerien ist unerlässlich.<br />
Sie müssen in die Pflicht genommen werden,<br />
ihre <strong>im</strong> Amt befindlichen Lehrer weiterzubilden.
Arbeitsgruppe: Wieviel Programmieren-Können braucht man in der Mathematiklehre?<br />
• Durch Landeslizenzen könnte der finanzielle<br />
Druck auf die einzelnen Schule gemildert werden.<br />
• Materialien sind hilfreich. Es ist inzwischen<br />
viel Gutes erschienen, oft in Zusammenarbeit<br />
mit Teilnehmern gerade dieses Arbeitskreises<br />
der GDM. Eine wichtige Quelle <strong>für</strong> Publikationen<br />
ist die T 3 -Gruppe (http://www.<br />
t3deutschland.de).<br />
• Die Richtlinien und die Schulbücher müssen<br />
dementsprechende Anregungen geben und die<br />
allgemein verfügbaren Werkzeuge (GTR,TK,<br />
CAS, DMS, DGS) integrieren.<br />
• Die Zentralen Prüfungen müssen Aufgabentypen<br />
enthalten, die besser bewältigt werden,<br />
wenn der Unterricht Coputerwerkzeuge eingesetzt<br />
hat.<br />
• Eine wesentliche Komponente der Mathematik-<br />
Werkzeuge ist die Ermöglichung von Erkundung<br />
und selbstbest<strong>im</strong>mem Lernen.<br />
Als Fazit wurde festgestellt, dass durch „PI-<br />
SA“ in der Öffentlichkeit gerade ein <strong>für</strong> Wandlungen<br />
<strong>im</strong> MU offenes Kl<strong>im</strong>a herrscht, das man <strong>im</strong><br />
Sinne der genannten Ziele nutzen müsse.<br />
173