Heiko Ernst Diplom-Psychologe und seit 1979 Chefredakteur von „Psychologie Heute“. Lehrauftrag für Wissenschaftsjournalismus an der Universität Leipzig. Das Kommen und Vergehen von kulturellen Strömungen folgt einem Wechselspiel zwischen dem Begehren nach Naturdominanz und dem nach Naturimmanenz, einem Pendeln zwischen, summarisch ausgedrückt, klassischen und romantischen Strebungen. Klassik und Romantik sind die Polarität, das stilistische Grundmuster vor allem europäischer Geistes- , Kunst- und Kulturgeschichte: Europa bewegt sich seit Jahrhunderten zwischen Form und Auflösung, Ratio und Gefühlsüberschwang, Trieb und Triebmanagement. Das Sinnbild für diese Polarität, für die zwei prototypischen Auffassungen von natürlicher Ordnung und geordneter Natur sind der französische und der englische Garten. Beide sind zwar Kulturprododukte und damit künstlich, aber sie spiegeln doch unterschiedliche Ordnungsprinzien: „Herrschen“ und „Sehnen“, mit diesen beiden Begriffen beschrieb der Sozialwissenschaftler und Ökonom Joseph Huber die Pole des menschlichen Weltempfindens. Ordnungen sind die kristalline Form von Prozessen, der erstarrte Fluss von proteischen, also ursprünglich form-losen und fließenden Gedanken und Ideen. Die Erstarrung ist der Preis der Ordnung. Sicherheit und Verlässlichkeit statt Entwicklung. Und weil Entwicklung unvermeidlich ist, müssen auch ihre inneren, etwa die epigenetischen Gesetze erfasst werden, um Fehlentwicklungen vorzubeugen: ein quasi-orthopädisches Verständnis von Ordnung auch in der Veränderung. Denn das Neue verliert seinen Schrecken, wenn es sich entwickelt, und das heißt: wenn es in wohlgeordneten, berechenbaren Stadien und Phasen entsteht und wenn seine zeitliche Ordnung klar erkennbar ist. Der kristalline Aggregatzustand von prinzipiell Veränderlichem erscheint uns über lange Zeiten hinweg als wohltuende wenn nicht gar „heilige“ Ordnung, als Ruhepunkt im Ewig-Veränderlichen. Aber jede Ordnung enthält den Keim der Entropie, des Verfalls. „...denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“, sagt Mephisto. Alles fließt, nichts bleibt wie es ist. Veränderung bringt Unordnung, sie stört das gefundene, mitunter mühsam erhaltene Gleichgewicht. Die Geschäftsgrundlage jeder Ordnung ist also das Regelwerk, auf das sich die Mehrheit in Gemeinschaften, vor allem den scientific communities, geeinigt hat: Nach diesem Methodenkanon forschen, lehren, bauen, gestalten, leben wir. Jede Ordnung ist zu einem guten Teil Willensausdruck, entweder von Autokratie oder von gewollten oder pragmatischen Mehrheitswillen. Das wird evident, wenn wir an politische Ordnungen denken – und an ihre unterschiedlichen Grade der Plastizität. Qualitätsmerkmale von Ordnungen sind die Offenheit für Reformen, der Bereitschaft bei den „Einwohnern“ einer Ordnung zur Neu-Ordnung, und sei es unter dem Druck der Verhältnisse, die sich unaufhaltsam ändern. Dabei sind die Revolutionäre von gestern die Reaktionäre von heute, die die einmal gefundene Ordnung „ihrer Zeit“ mit Zähnen und Klauen verteidigen. Oder sie finden zu einer neuen, friedvollen Form von Veränderung, der Re-Form. Jede Ordnung ist von Entropie bedroht, von Verfall und „Verwitterung“. Es sei denn, sie gerät selbst in einen Fluss, der dynamisch und doch vergleichsweise harmonisch zu einer neuen Ordnung führt, zu einer Synthese. Idealerweise entstehen aus der Dialektik von Unordnung und Ordnung neue, komplexere oder auch einfachere Formen: jeder individuelle Stil, jede wahre Innovation, jede Problemlösung von „höherer Ordnung“ wird so möglich, ohne eine Episode der Anarchie, des Chaos oder der „kreativen Zerstörung“ durchleben zu müssen. Aber auch die letzteren Zwischenstufen sind nicht immer vermeidbar, und mitunter können sie auch lustvoll erlebt werden... Die Revolution - geht schon in Ordnung! Heiko Ernst 18 Zukunft-Training 12/2011
„Ordnung ist das halbe Leben - woraus mag die andere Hälfte bestehen?“ Heinrich Böll Zukunft-Training 12/2011 19