Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger
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Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, daß es ein<br />
Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie<br />
erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet. Die<br />
aporetischen Erfahrungen sind ebenso unwahrscheinliche<br />
wie notwendige Erfahrungen der Gerechtigkeit, das heißt<br />
jener Augenblicke, da die Entscheidung zwischen dem Gerechten<br />
und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt<br />
und abgesichert wird.<br />
lch muß, iclr soll mi ch also an Sie ricbtenlm'adresserlutd<br />
Probleme "adressieren", ich muß, icl.r soll mich dabei kurz<br />
fassen, ich muß, ich soll es in einer fremden Spr-ache tun.<br />
Um mich kurz fassen zu können, muß ich so direkt wie<br />
möglich reden, geradewegs (auf Sie zu) ltout droit), ohne<br />
Umwege, ohne historisches Alibi, ohne mich von der Seite<br />
her zu nähern, au{ Sie zugehend, ar.rf Sie, die ersten ver<br />
meintlichen Empfänger oder Adressaten dieses Diskurses,<br />
aber auch zugleich in Riclrtung auf jenen Ort, wo dic fraglichen<br />
Probleme sich wesentlich entscheiden. Vie die Richtung,<br />
wie die Richtigkeit, verrät auch das Sich-richten-an<br />
etwas, was mit dem Recht zu tun hat, mit dem, was man<br />
nicht verfehlen darf, wenn man Gerechtigkeit will, wenn<br />
man sich gerecht oder angemessen zu verhalten sucht; das<br />
ist die Richtigkeit des Sich-richtens-an ladresse). Mar darf<br />
es nicht an Höflichkeit fehlen lassen, man muß sich richtig,<br />
auf rechte lffeise an den anderen richten, es muß jemanden<br />
geben, an den man sich richtet, r/ ne faut pas manquer<br />
d'adresse, würde ich auf Französisch sagen. Man darf sich<br />
nicht auf falsche, unrichtige, unrechte Veise an jemanden<br />
richten, man darf sich nicht an die falsche Adresse wenden.<br />
Jedesmal handelt es sich um ein besonderes Sich-richten-an,<br />
um eine besondere Adresse, um eine besondere Bestimmung.<br />
Das Sich-richten-an, die Adresse oder der Adressat<br />
sind stets besonders, eigentümlich, sie haben stets eine ihnen<br />
eigene Sprache; in der Gestalt des Rechts scheint die<br />
Gerechtigkeit aber die Allgemeinheit einer RegeJ, einer<br />
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Norm oder eines universalen Imperativs vorauszusetzen.<br />
'Wie soll man den Akt der Justizlacte deTzsdce], der stets ein<br />
Besonderes in einer besonderen Lage betrifft, Individuen,<br />
Gruppen, unersetzbare Existenzen, mrch, einen/ d.en/ als<br />
anderen, mit der Regel, der Norm, dem lVert oder dem<br />
lmperativ der Justiz in Einklang bringen, wenn diese<br />
zwangsläufig eine allgemeine Form aufweisen, mag es sich<br />
auch um eine Allgemeinheit handeln, die eine jeweils besondere<br />
Anwendung vorschreibt? Begnüge ich mich damit,<br />
eine angemessene, richtige Regel anzuwenden, ohne Gerechtigkeitssinn<br />
und ohne jedesmal die Regel und das Beispiel<br />
gleichsam zu erfinden, werde ich vielleicht vom Recht<br />
gedeckt, s/erde ich dem objektiven Recht gemäß handeln,<br />
aberich werde nicht gerecht sein. Kant würde sagen, daß ich<br />
pJlih tmäl3ighandle, nicht aber arzs Pflicht, aus Aclc tung vor<br />
dem Gesetz. Kann man je sagen, daß eine Handlung nicht<br />
nur rechtmäßig, sondern alrch gerecht ist? Daß eine Person<br />
nicht nur ihr Recht wahrnimmt, sondern auch sich gerecht<br />
verhält? Daß jemaod, daß eine Entscheidung gerecht ist?<br />
Kann man je sagen: ich weiß, daß ich gerecht bin? Gestatten<br />
Sie mir, mich auf einen weiteren lJmweg zu begeben.<br />
Sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten,<br />
ist, wie es scheint, die Bedingung jeder möglichen<br />
Gerechtigkeit; anscheinend Iäßr sich dies jedoch nicht mit<br />
aller erforderlichen Strenge durchführen (ich kann nämlich<br />
die Sprache des anderen einzig in dem Maße sprechen, in<br />
dem ich sie mir aneigne und sie mir nach dem Gesetz eines<br />
eingeschlossenen Dritten anverwandle); es ist sogar deshalb<br />
ausgeschlossen, weil die Gerechtigkeit in der Gestalt des<br />
Rechts ein Element der Allgemeinheit impliziert: den Rekurs<br />
aufein Drittes, das die Einseitigkeit oder die Besonderheit<br />
der jeweils eigenen Sprachen au{hebt.<br />
'Wenn ich mich auf Englisch an jemanden richte, ist dies<br />
für mich immer eine Prüfung. Ich stelle mir vor, daß es dem<br />
Empfänger, dem Adressaten - Ihnen nicht anders ergeht.<br />
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