Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger
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gende Zeichen oder Blitzlichter sich abzeichnen und einzig auf<br />
vinuelle, indirekte oder elliptische Veise (von der Seite her) behandelt<br />
werden wird, möchte ich einige Hypothesen vorbringen,<br />
die die Möglichkeiten betreffen, heute, nach dem Aufkommen des<br />
Nazismus und dem Ereignis der Endlösung diesen Text aus dem<br />
Jahre rgzr zu lesen.<br />
Bevor ich nun eine Lesart dieses besonderen, eigentümlichen<br />
Textes vorschlage und einige Fragen aufwer{e, dieim engeren Sinne<br />
sich an ihn richten, muß ich in dieser bereits allzu langen Einführung<br />
kurz etwas zu dem Kontext sagen, in dem ich - zu einem<br />
Zeitpunkt, da ich an dieses Colloquium noch gar nicht denken<br />
konnte - damit begonnen habe, ihn zu lesen. Es handeit sich um<br />
einen doppelten Kontext; ich möchte ihn so schemarisch wie irgend<br />
möglich definieren und beschränk€ mich auf jene Züge, die<br />
uns hier, heute abefld interessieren können, weil sie in meiner Lesart<br />
eine Spur hinterlassen haben.<br />
(r) Zunächst muß ich eine lange, einjährige Seminarfolge erwähnen<br />
(Kant, der Jude, der Deutscbe l.der Yortrag Interpreations at<br />
War, veröffendicht in dem Sammelband PDizomönologie et Politiqke.<br />
Milanges offerts ä Jacques Taminiaux, Brüssel r99o, ist daraus<br />
hervorgegangen, A.d.Ü.]), die im Rahmen eines über drei<br />
Jahre hinweg fortdauernden Seminars zum Thema ,Philosophische<br />
Nationalitäten und Nationalismen" gestanden hat. In dieser<br />
Seminarfolge habe ich die verschiedenartige, aber doch beharrlich<br />
wiederkehrende Bezugnahme auf Kant, ja auf ein bestimmtes Judentum<br />
Kants, untersucht; diese Bezugnahme läßt sich bei all<br />
jenen Denkern und Schriftstellern ausmachen, die, von Ifagner<br />
und Nietzsche bis Adorno, sich anschicken, auf die Frage "\Yar<br />
ist d,eutscb?o" zt ant:worten. Besonders interessiert hat mich dabei<br />
das, wes rch als jädisch -de atsche Psyche oder als jüdisch-d.e utscben<br />
DrebEiegel bezeichnet habe: also die Logik gewisser Phänomene,<br />
die sich durch eine beunruhigende und verstörende Spiegelung<br />
auszeichnen, durch eine Spiegelung, die sich in manchen großen<br />
jüdisch-deutschen Schriftsteller- und Denkergeshlten dieses Jehrhunderts<br />
ihrerseits spiegelt: ich meine zum Beispiel Cohen, Buber,<br />
Rosenzweig, Scholem, Adorno, Arendt - und eben Benjamin.<br />
Eine emstzunehmende Reflexion über den Nazismus und die<br />
"Endlösung.<br />
kann, glaube ich, eine mutige, unendliche und viei-<br />
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llicl:ige Analyse der Geschichte und der Struktur dieser jüdischdeutschen<br />
"Psyche"<br />
(Spiegelung) sich nicht ersparen. §üir haben<br />
irr dem angeführten Seminar unter anderem bestimmte - zuweilcn<br />
besonders zweider:tige und unheimliche - Analogien studiert,<br />
Llic zwiscl, en den Diskursen mancher "großer"<br />
deutscher Denker<br />
uncl mancher "großer"<br />
deutsch-jüdischer Denker bestehen: zu<br />
diesen analogen Merkmalen zählen ein gewisser Patriotismus, ein<br />
zicmlich häufiger Nationalismus, manchmal sogar (während des<br />
Ilrsten \{/eltkriegs und danach) ein deutschcr Militarismus, zum<br />
I3eispiel bei Cohen oder Rosenzweig doch erschöpfen sich die<br />
Analogien nicht in diesen Merkmalen. Genau in diesem Zusammenhang<br />
haben mich begrenzte, aber bestimmbare Affinitäten<br />
zwischen Beniamins Aüsatz Zar Kritih der Gewalt und Texten<br />
Carl Schmitts, ja Heideggers fasziniert und neugierig gemacht.<br />
Von derartigen Affinitäten kann man nicht nur aufgrund einer<br />
{emeinsamen Feindseligkeit gegenüber derparlamentarischen Dernokratie,<br />
der Demokratie überhaupt und der AuJklärung't red.et,<br />
und auch nicht nur aufgrund einer gewissen Deottr,g des polemos,<br />
dcs Kriegs, der Gewalt und der Sprache: von Affinitäten läßt<br />
sich ebenfalls arfgrund einer gemeinsamen Thematik deoDestruktion«<br />
sprechen, die zu jener Zeit weit verbreitet war. Zwar<br />
geht Heideggers Desrruhtion't nicht einfach in den Begriffder Zerstörung<br />
über, der im Mittelpunkt des Benjaminschen Denkens<br />
steht; man kann sich jedoch fragen, was zwischen den beiden\feltkriegen<br />
eine Thematik bedeutet, vorbereitet oder ankündigt, die<br />
cinc so große Heimsuchungskra{t besitzt: um so mehr, als diese<br />
DestruLtion auch die Bedingung einer authentischen Tradition,<br />
cines cchten Gedächtnisses und einer Bezugnahme auf eine Ursprache<br />
sein soll.<br />
(z) Ein anderer Kontext: bei Gelegenheit eines vor kurzem an<br />
der Cardozo Law School ofYeshiva University (NewYork) veranstalteten<br />
Colloquiums, dessen Gegenstand die Dekonstruktion<br />
und die Möglichkeit der Gerechtigkeit war, irabe ich - nach einer<br />
langen Besinnung über Dekonstruktion und Gerechtigkeit im allgemeinen<br />
- damit angefangen, diesen Text Benjamins zu analysierel;<br />
ich wollte mit der größtmöglichen Vorsicht einer irreführenden<br />
Bahn folgen, einer aporetischen Bahn, die in ihrer Aporie<br />
selbst seltsame Ereignisse zeitigt: nämlich eine Art Seibstzerstö-<br />
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