Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger
Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger
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"allein<br />
würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierbare<br />
Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen.<br />
Sie wäre vielleicht rechtens, nicht aber gerecht. Im<br />
Augenblick der Suspension, der der Augenblick des Unenrscheidbaren<br />
ist, ist sie allerdings ebensowenig gerecht, da<br />
allein eine Entscheidung gerecht sein kann (um den Sarz<br />
eine Entscheidung kann gerecht sein. zu rechtfertigen,<br />
muß man keineswegs die Entscheidung auf die Struktur<br />
eines Subjekts oder auf die propositionelle Form eines<br />
Urteils beziehen). Hat sie sich der Prüfung des Unentscheidbaren<br />
unterzogen, hat sie dessen Erfahrung gemacht,<br />
gehören Prüfung und Erfahrung zur Vergangenheit (ist dies<br />
möglichl), so hat die Entscheidung wieder eine Regel befolgt,<br />
so hat sie sich selbst erneut eine Regel vorgegeben;<br />
sie hat eine Regel erfunden oder wieder erfunden, wieder<br />
behauptet und ist gegenurirtig, in der Gegenled.rt nicht länger<br />
voll und ganz gerecht. Vie es scheint, kano man niemals<br />
sagen, daß eine Entscheidung jetzt, im gegenwärtigen<br />
Augenblick vollkommen gerecht ist: entweder hat man sich<br />
noch nicht entschieden und dabei eine Regel befolgt (nichts<br />
erlaubt uns in diesem Fall, zu sagen, die Entscheidung sei<br />
gerecht) - oder man hat schon eine Regel befolgt - empfangen,<br />
bestätigt, erhalten, wieder erfunden -, die ihrerseirs<br />
nicht absolut verbürgr werden kann; wäre diese Regel eine<br />
verbürgte Regel, wäre also die Entscheidung eine verbürgte<br />
Entscheidung, so häme sie sich in ein Berechenbares verwandelt,<br />
und man könnte wiederum nicht sagen, sie sei<br />
gerecht. Deshalb ist die Erfahrung, die Prüfung des Unentscheidbaren,<br />
durch die, wie ich gerade ausgeführt habe, jede<br />
Entscheidung hindurch muß, die den Namen einer Entscheidung<br />
verdient, niemals ein Vergangenes. überholtes<br />
oder Überschrittenes, sie ist nie ein in Jer Entscheidung,<br />
durch die Entscheidung a af ge lt ob e n e s't Moment. Jeder Entscheidung,<br />
jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem<br />
Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie<br />
,o<br />
ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespe[st. Sein Gespensterhaftes<br />
dekonstruiert im [nneren iede Gegenwarts-<br />
Versicherung, jede Gewißheit, jede vermeintliche Kriteriologie,<br />
welche die Gerechtigkeit einer Entscheidung (eines<br />
Entscheidungs-Ereignisses) (ver)sichert, ja welche das Entscheidungs-Ereignis<br />
selbst sicherstellt. V'er wird jemals<br />
(ver)sichern können, daß sich eine Entscheidung als solche<br />
ereignet hat? Daß sie nicht auf diesem oder ienem Umweg<br />
einem Grund, einem Zweck, einem Rechmhandel, einer Berechnung,<br />
einer Regel Befolgt ist - ohne diese kaum wahrnehmbare<br />
Suspension, die jede freie Entscheidung auszeichnet,<br />
im Augenblick, da eine Regel angewendet oder<br />
nicht angewendet wird?<br />
Die gesamte subjektale Axiomatik der Veranrwortung,<br />
des Bewußtseins, der lntentionalität, der Eigenschaft und<br />
des Eigenen, Eigentümlichen, die den gegenwärtig vorherrschenden<br />
juridischen Diskurs und die Kategorie der<br />
Entscheidung (die Bestellung medizinischer Gutachten einbegriffen)<br />
bestimmt, ist derart anfällig und theoretisclr<br />
grobschlächtig, daß man darauf nicht eigens hinweisen<br />
muß. Die Auswirkungen dieser Begrenztheit sind konkret<br />
und auffällig genug, um ein Aufzählen von Beispielen überflüssig<br />
erscheinen zu lassen.<br />
Diese zweite Aporie oder diese zweite Gestalt der nämlichen<br />
Aporie macht bereits deutlich, daß die Dekonstruktion<br />
des Glaubens an die bestimmende Gewißheit einer<br />
gegenv/ärrigen Gerechtigkeir selber von der "Idee der Gerechdgkeit",<br />
von der Idee einer unendlichen Gerechtigkeit<br />
ausgeht: unendlich ist diese Gerechtigkeit, weil sie sich<br />
nicht reduzieren, auf etwas zurückführen läßt, irreduktibel<br />
ist sie, weil sie dem Anderen gebührt, dem Anderen sich<br />
verdankt; dem Anderen verdankt sie sich, gebührt sie vor<br />
jedem Venragsabschluß, da sie vom Anderen aus, vom Anderen<br />
her gekommen, da sie das Kommen des Anderen ist,<br />
dieses immer anderen Besonderen. In meinen Augen ist<br />
,I