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Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger

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Anstatt Ihnen den Grund dafür zu nennen und mit solchen<br />

Erklärungen Zeit zu verlieren, beginne ich in medias res,<br />

und zwar mit einigen Bemerkungen, die in meinen Augen<br />

die peinigende Ernsthaftigkeit dieses Sprachproblems an die<br />

Frage der Gerechtigkeit und ihrer Möglichkeit binden.<br />

Erste Bemerhung: Auf der einen Seite scheint es zzs (aus<br />

grundlegenden Erwägungen) richtig, angemessen, gerecht<br />

zu sein, daß man "Recht<br />

spricht", rezdre la justice,wie es iot<br />

Französischen heißt: in einer gegebenen, besonderen Sprache,<br />

in einer Sprache, von der man annimmt, daß alle betroffenen<br />

"Subjekte"<br />

sie beherrschen; alle betroffenen "Sub<br />

jekte" sind dazu fähig, zu verstehen und zu deuten, jene<br />

also, die Gesetze festsetzen, jene, die urteilen, und jene, die<br />

verurteilt werden, jene, die Zeugen im weiten, und jene, die<br />

Zeugen im engen Sinne sind, jene schließlich, die sich dafür<br />

verbürgen und dafür sorgen, daß das Recht ausgeübt werden<br />

kann. Es ist ungerecht, lemanden zu verurteilen (beur<br />

teilen), der die Sprache nicht versteht, der das Gesetz<br />

einbeschrieben, in der es niedergeschrieben ist, in der das<br />

Urteil ergeht usw. \Vir könnten dramatische Beispiele aufzählen,<br />

die uns Situationen der Gewalt vor Augen führen, in<br />

denen einzelne oder Gruppen verurteilt werden, ohne daß<br />

sie die besondere Sprache verstehen, deren sich jene bedienen,<br />

die sie verurteilen; zuweilen verstehen sie diese Sprache<br />

kaum, manchmal aber auch überhaupt nicht. So wenig die<br />

subtilen Unterschiede ins Gewicht fallen mögen, die über<br />

die Fähigkeit entscheiden, eine besondere Sprache zu beherrschen:<br />

das Gewaltsame, das die Ungerechtigkeit auszeichnet,<br />

Iäßt sich bereits dort ausmachen, vzo die besondere<br />

Sprache nicht allen Mitgliedern einer Gemeinschaft in<br />

gleicherrVeise zu eigen ist, wo nicht alle den gleichen Anteil<br />

an ihr haben. Da eine solche ideale Siruation streng gesprochen<br />

sich nie herstellen läßt, nie möglich ist, kann man<br />

bereits einen Schluß ziehen, der jenes betrifft, was der Titel<br />

unseres Colloquiums "die<br />

Möglichkeit der Gerechtigkeit"<br />

36<br />

nenrt. Das Gewaltsame der Ungerechtigkeit, die darin besteht,<br />

daß man die verurteilt, die die besondere Sprache<br />

nicht verstehen, in der Recht gesprochen wird und Gerechtigkeit<br />

widerfahren soll (im Französisch en sagt mar. justice<br />

est faite), ist nicht unbedeutend, und es ist auch nicht einfach<br />

das Gewaltsame einer unbedeutenden Ungerechtigkeit.<br />

Diese Ungerechtigkeit supponiert, daß der andere, das<br />

Opfer der Ungerechtigkeit der Sprache, fähig ist, eine Sprache<br />

im allgemeinen zu sprechen; daß das Op{er ein Mensch<br />

im Sinne eines sprechenden Tieres ist, in dem Sinne, denwir<br />

Menschen dem lVort verleihen. Vormals (das<br />

"Sprache.<br />

waren<br />

Zeiten, die noch nicht allzu weit zurückliegen und die<br />

sogar noch andauern) bedeutete "wir Menschen" soviel wie<br />

"wir erwachsenen vzeißen männlichen fleischessenden opferbereiten<br />

Europäer".<br />

In dem Raum, dem ich diese Bemerkungen zuordne oder<br />

in dem ich diesen Diskurs wiederherstelle, sagt man nicht,<br />

daß einem Tier Unrecht oder Gewalt angetan wird; noch<br />

weniger redet man von Gewalt und Ungerechtigkeit im<br />

Hinblick auf Pflanzen und Steine. Man kann ein Tier quälen,<br />

man kann es Ieiden lassen; niemals wird man jedoch im<br />

eigentlichen Sinne behaupten, daß es sich um ein Subiekr<br />

handelt, dem man Schaden zugefügt hat, um das Opfer einer<br />

Gewalttat, eines gewaltsamen Todes, einer Vergewaltigung<br />

oder eines Raubs, eines Meineids; a {ortiori gilt, wie<br />

man glaubt, daß man so auch nicht über Pflanzen und Mineralien<br />

(oder über dazwischenliegende Arten wie den<br />

Schwamm) reden kann. Es hat im Menschengeschlecht viele<br />

"Subjekte"<br />

gegeben (es gibt sie immer noch), die man nicht<br />

als solche anerkannt hat (und nicht anerkennt) und die wie<br />

ein Tier behandelt worden sind (und behandelt werden).<br />

Das ist die noch anhaltende, noch nicht an ihr Ende gelangte<br />

Geschichte, auf die ich gerade angespielt habe. §(as den unbestimmten,<br />

keineswegs eindeutigen Namen des Tiers erhält<br />

(das bloß Lebendige), ist kein Subjekt des Gesetzes<br />

37

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