Gesetzeskraft - Hans-Joachim Lenger
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schaft, Entscheidung usw.); jede Dekonstruktion dieses<br />
begrifflichen Netzes, dieser in einer gewissen Form vorgegebenen<br />
oder vorherrschenden Begriffe kann einer Entla<br />
stung der Verantwortung, einem Beitrag zur Vergrößerung<br />
der IJnverantwortlichkeit ähneln und zwar gerade in dem<br />
Augenblick, in dem die Dekonstruktion einen Zuwachs an<br />
Verantwortung fordert. rü/ann immer die Dekonstruktion<br />
einem Axiom den Kredit entzieht oder aufkündigt (dies ist<br />
ein strukturell notwendiges Moment), kann man des Glaubens<br />
sein, daß es für die Gerechtigkeit keinen Platz mehr<br />
gibt, weder {ür die Gerechtigkeit selbst noch für das theoretische<br />
lnteresse, das den Problemen der Gerechdgkeit entgegengebracht<br />
wird. Dieses Moment der Auitündigung,<br />
der Suspension, diese Zeir d.er Epocbd, ohne die in der Tat<br />
keine Dekonstruktion möglich ist, sind beängstigend, doch<br />
wer wird behaupten, daß er gerecht ist, wenn er die Angst<br />
ausspart? Das Moment beängstigender Suspension, das<br />
auch den Zvrischenraum der Verräumlichung darstellt, in<br />
denen juridisch-politische Verwandlungen, ja Revolutionen<br />
stattfinden, vermag einzig in der Forderung nach einem Zuwachs<br />
an Gerechtigkeit, nach einem Gerechtigkeits-Supplement<br />
(also einzig in der Erfahrung einer IJnangemessenheit,<br />
eines Sich-nicht-Anpassens, einer unberechenbaren<br />
Disproportion) seinen Grund haben und den ihm eigenen<br />
Zug oder die ihm eigene Stoßkraft finden. Denn woher<br />
würde die Dekonstruktion ihre Kraft schöpfen, woher<br />
vrürde sie ihre Gewalt nehmen, woher würde sie ihren Bewegungsimpuls<br />
oder ihre Motivierung haben, wenn nicht<br />
von diesem immer unzufriedenen Ruf, von dieser nie zufriedenzustellenden<br />
Forderung, jenseits der vorgegebenen und<br />
überlieferten Bestimmungen dessen, was man in bestimm<br />
ten Zusammenhängen als Gerechtigkeit, als Möglichkeit<br />
der Gerechtigkeit bezeichnet? Doch es bedarf noch einer<br />
Deutung dieser Disproportion. Venn ich sage, daß ich<br />
nichts kenne, was gerechter und angemessener ist als jenes,<br />
1z<br />
was ich heute Dekonstruktion nenne (ich sage nicht, daßich<br />
nichts kenne, was so legal und so legitim ist), so weiß ich,<br />
daß ich damit unvermeidlich etwas sage, was überraschend<br />
und anstößig klingt, nicht bloß für die mit Bestimmtheit<br />
aufrretenden Gegner der Dekonstruktion (oder dessen, was<br />
sie sich unter diesem Namen vorstelien), sondern auch für<br />
jene, die als ihre Anh;inger, als ihre praktischen Vertreter<br />
gelten, für jene, die sich dafür ausgeben. lch sage es aiso<br />
nicht, zumindest nicht auf direkte Weise und ohne mich<br />
zuvor au{ einige Umwege zu begeben, um die nötige Vorsicht<br />
walten zu lassen.<br />
'Wie Sie wissen, hat in vielen Ländern eine der für das<br />
Gesetz oder für die Au{erlegung und Durchsetzung des<br />
Staatsrechts grund Iegenden Gewalttaten darin bestanden,<br />
daß man den nationalen oder ethnischen Minderheiten, die<br />
cin Staat zusammenfaßt, eine Sprache auferlegt hat; dies ist<br />
in der Vergangenheit so gewesen und ist heute immer noch<br />
so. ln Frankreich ist mindestens zweimal eine solche Gewalt<br />
angetan worden! zunächst, als der Erlaß von Villers-Cotterer<br />
die Einheit des monarchischen Staates ge{estigt hat:<br />
dieser Erlaß hat das Französische als juridisch-administrative<br />
Sprache aulerlegt und verboten, daß das Lateinische,<br />
die Sprache des Rechts oder der Kirche, es allen Einwohnern<br />
des Königtums erlaubt, sich durch einen vermittelnden<br />
und übersetzenden Anwalt in einer gemeinsamen Sprache<br />
vertreten zu Iassen, ohne Au{erlegung des Französischen,<br />
das noch eine besondere, partikulare Sprache war. Es<br />
stimmt freilich, daß das Lateinische bereits etwas Gewaltsames<br />
an sich hatte und daß aus solcher Sicht de. Übe.ga.,g<br />
vom Lateinischen zum Französischen nichts anderes gewe<br />
sen ist als de. Übergang von einer Gewalt(tat) zur anderen.<br />
Das zweite bedeutende Moment der Auferlegung war das<br />
der Französischen Revolution, als die sprachliche Vereinheitlichung<br />
manchmal pädagogische Züge annahm, die<br />
äußerst unterdrückend, in jedem Fall ausgesprochen autori-<br />
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