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Vom ukrainischen DP zum heimatlosen Deutschen

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34 Anne-Kathrin Topp<br />

der Fremdwahrnehmung Ausländerin in der Bundesrepublik Deutschland war. Ihr Geburtsname<br />

ist Marina, dem das ukrainische Diminutiv Rina zugeordnet ist. Bei der Schulanmeldung gab der<br />

Vater nur diesen Rufnamen an, sodass die deutschen Ämter sich sicher waren, den Namen Karina<br />

verstanden zu haben. Seitdem hieß Marina vor den Kasernentoren Karina Lubarsky. In der Schule<br />

war sie mit Kindern verschiedener Nationalität befreundet. Vormittags besuchte sie die deutsche<br />

Volksschule, am Nachmittag nahm sie am landessprachlichen Unterricht in der Kaserne teil. Als<br />

Schülerin musste sich Karina Lubarsky selbstständig um ihre Schulaufgaben kümmern. Von ihren<br />

Eltern konnte sie kaum Hilfe erwarten, da beide Elternteile die deutsche Sprache kaum beherrschten<br />

und ihre Schreib- und Lesefähigkeiten wenig entwickelt waren. Wie viele andere Kinder erhielt die<br />

Schülerin vom <strong>ukrainischen</strong> Lagerlehrer Emil Golovko Unterstützung bei den Hausaufgaben. In<br />

der dritten Klasse konnte sie nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen, da ihre Familie nicht über die<br />

nötigen finanziellen Mittel verfügte.<br />

Als junges Mädchen engagierte sich Karina Lubarsky in der <strong>ukrainischen</strong> Jugendbewegung, organisierte<br />

die Gruppe Hannover/Braunschweig und fuhr regelmäßig ins Sommerlager. 119 Durch die jährlichen<br />

Zeltlager und regelmäßigen Treffen konnte Karina Lubarsky Kontakt zu anderen Ukrainern halten<br />

und die Familie hatte so die Möglichkeit, das Kind kostengünstig in den Sommerferien verreisen zu<br />

lassen. Erst im Erwachsenenalter gab sie ihr Engagement mangels Zeit und wegen anderer Interessen<br />

auf. Bis heute pflegt sie jedoch Kontakte zu ehemaligen Mitgliedern der <strong>ukrainischen</strong> Jugendbewegung.<br />

Dank ausländischer Wohltätigkeitsorganisationen konnte Karina Lubarsky dreimal während ihrer<br />

Kindheit <strong>zum</strong> Erholungsaufenthalt nach Holland fahren.<br />

Mit zunehmendem Alter musste sich Karina Lubarsky im Auftrag der Eltern immer häufiger um<br />

Behördenangelegenheiten kümmern. Da sie die deutsche Sprache auf muttersprachlichem Niveau<br />

beherrscht, vermittelt sie bis heute zwischen den Ämtern und ihrem verwitweten Vater. Sie trat den<br />

Beamten selbstbewusst entgegen, wenn diese ihre Mutter aufgrund des schwer auszusprechenden<br />

Namens Lubarsky nur mit »Frau Elvira« ansprechen wollten. Sie half beim Zusammentragen und<br />

Ausfüllen aller Dokumente und fungierte so als Sprachmittler zwischen dem Lageralltag der Eltern<br />

und der Realität der deutschen Behörden. Diese Mittlerposition führte ihr das eigene Ausländerdasein<br />

aus politischer und sozialer Sicht stets vor Augen.<br />

4.5.3. Olena Bondarenko (geboren 1947)<br />

Bis <strong>zum</strong> sechsten Lebensjahr sprach Olena Bondarenko nur Ukrainisch und mit einigen polnischen<br />

Freunden auch Polnisch. Die ihr bis dahin fremde deutsche Sprache lernte sie ab Schulbeginn 1954.<br />

Ihre Eltern konnten ihr bei den Schulaufgaben kaum helfen, da sie lediglich vier Klassen in der Ukraine<br />

abgeschlossen hatten und der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Olena Bondarenko besuchte<br />

bis zur vierten Schulklasse die Lindenbergschule in Rautheim, beendete die Mittelschule am Welfenplatz<br />

und absolvierte später sogar ein Studium. Neben dem Unterricht in der Volksschule besuchte<br />

sie die ukrainische Schule im Lager und nahm am griechisch-orthodoxen Religionsunterricht teil.<br />

Olena Bondarenko blieb das einzige Kind ihrer Eltern. Auf dem Kasernengelände gab es jedoch<br />

andere Kinder, sodass es an Spielkameraden nie mangelte. 120 Als Kind nahm sie am Ballettunterricht<br />

in der Kaserne am Altewiekring und später am Staatstheater in Braunschweig teil. Die Mutter war<br />

Hausfrau und kümmerte sich um die Tochter. Manchmal durfte Olena Bondarenko die Mutter einer<br />

Freundin, die im deutschen Kindergarten auf dem Kasernengelände eine Reinigungstätigkeit aus-<br />

119 Im Kern ging es bei dieser Art von Jugendarbeit um das Zusammenführen ukrainischer Jugendlicher, um Kulturvermittlung<br />

und um politische Einflussnahme. Die ukrainische Jugendbewegung besteht seit den 1950er Jahren<br />

und wurde von Anfang an stark vonseiten der Exilukrainer in München unterstützt. Finanziert wurden die Aktivitäten<br />

durch Spenden. Vgl. Interview mit Karina Bauer (3).<br />

120 In den 1950er Jahren lebten durchschnittlich 600 bis 650 heimatlose Ausländer zuzüglich etwa 100 Volksdeutscher,<br />

Deutscher und Ex-<strong>DP</strong>s in der Roselieskaserne. Ca. 250 von ihnen waren Kinder bis <strong>zum</strong> vollendeten 14. Lebensjahr,<br />

siehe Anhang: Abbildung 7 auf S. 59 und Tabelle 1 auf S. 60.

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