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Vom ukrainischen DP zum heimatlosen Deutschen

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2. Methodisches Kapitel<br />

Das Migrantendasein ist in der deutschen Gesellschaft kein neues Phänomen, jedoch hat sich der<br />

Diskurs <strong>zum</strong> Miteinander von vermeintlich Fremden und der deutschen Mehrheitsgesellschaft über<br />

die letzten Jahre mehr und mehr in die Öffentlichkeit verlagert und wird somit von allen Seiten der<br />

Gesellschaft bewusster wahrgenommen. Das klassische Migrantendasein der in dieser Arbeit im<br />

Fokus stehenden ehemaligen <strong>DP</strong>s und <strong>heimatlosen</strong> Ausländer ukrainischer Herkunft liegt bis zu 60<br />

Jahre zurück. Um über die Biografien dieser Menschen mehr zu erfahren, habe ich mit der Methode<br />

oral history gearbeitet. Im Mittelpunkt steht dabei die Erinnerung, im vorliegenden Fall die mentale<br />

Wiederbelebung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse. Jeder einzelne Moment dieses Wiedererlebens<br />

setzt einen Prozess der Aufarbeitung in Gang. Das macht Erinnerung zu einer dynamischen<br />

und unbeständigen Besonderheit, die sich nicht nur im Laufe der Zeit verändert und vom Gesundheitszustand<br />

des Befragten abhängt, sondern auch durch dessen spätere Erlebnisse und gewonnenes<br />

Wissen geformt wird. Die Summe der reaktivierten Erinnerungen ergibt retrospektiv die persönliche<br />

Erzählung des Befragten. Oral history ist hier ein methodischer Ansatz, um sich mit der gegebenen<br />

Fragestellung auseinanderzusetzen. Darüber hinaus lassen sich die Erfahrungen der Betroffenen aus<br />

unterschiedlichen Perspektiven von Integrations- und Assimilationstheorien betrachten. So bietet<br />

dieses Kapitel eine Auswahl an sozialwissenschaftlichen Abhandlungen, die die Wahrnehmung des<br />

Fremden und den veränderten Blick auf ihn darstellen. Um das Dasein der Befragten politisch und<br />

historisch nachvollziehen zu können, ist diesem Kapitel außerdem ein Exkurs <strong>zum</strong> institutionellen<br />

Rahmen des zunächst als <strong>DP</strong> kategorisierten und dann als heimatlose Ausländer bezeichneten Personenkreises<br />

in der betroffenen Zeit beigefügt.<br />

2.1. Oral history als Zugangshilfe <strong>zum</strong> Thema<br />

Unter oral history versteht man das Ergründen von vergangenen Zeiten und Erlebnissen durch narrative<br />

Interviews. Es kann sich dabei um Einzel- oder Gruppeninterviews handeln, bei denen es um einen<br />

bestimmten Aspekt von Geschichte geht. Der aus der amerikanischen Geschichtswissenschaft<br />

stammende Begriff oral history wird auch im deutschen Sprachraum verwendet. Eine passende deutsche<br />

Übersetzung ist am ehesten mit den Begriffen mündlich erfragte Geschichte oder erinnerte Geschichte<br />

gegeben. Dem steht ergänzend der von kanadischen Sozialwissenschaftlern 3 verwendete Begriff der<br />

aural history, der gehörten Geschichte, gegenüber. Beide Aspekte, sowohl das Erzählen als auch das<br />

Hören machen in einem reflexiven Prozess das narrative Interview erst wissenschaftlich verwertbar.<br />

Der Befragte wird dabei zu einem Erzähler, der vom Interviewer in einer künstlich herbeigeführten<br />

Situation in die Vergangenheit versetzt wird und so seine Erinnerung an einen konkreten erlebten<br />

Moment produziert. Das dabei geschilderte Erlebnis kann Jahrzehnte zurückliegen und wird folglich<br />

vom Erzähler in der Retrospektive mit dem Moment des Erzählens synthetisiert und somit auch<br />

bewertet. 4 Den daraus resultierenden Zweifeln an den Aussagen des Erzählers als historische Quelle<br />

kann mit der Erzähltheorie »Komposition einer Fabel« Paul Ricoeurs 5 begegnet werden. In seinem<br />

theoretischen Ansatz ist der französische Philosoph um die Synthese von Erzählen und Erklären<br />

bemüht und geht davon aus, dass sich Zeitgeschichte und Erzählung nicht ausschließen, sondern<br />

gegenseitig beeinflussen. Daraus folgt, dass einstiges Handeln und Denken erst am Endpunkt, der<br />

zugleich den Abschluss einer Geschichte bildet, eine Erkenntnis und Bedeutung gewinnen können,<br />

was just in einem Handlungsmoment an sich unmöglich zu sein scheint. Laut dieser Aussage kann<br />

der Erzähler seine Erfahrungen und Erlebnisse verbalisieren und für einen Dritten bereitstellen. Das<br />

macht oral history erst möglich.<br />

3 Vgl. Vorländer, Herwart (1990), S. 7ff., in: Vorländer, Herwart (Hrsg.) (1990), S. 7–28.<br />

4 Vgl. Perks, Robert/ Thomson, Alistair (1998), S. ix, in: Perks, Robert/ Thomson, Alistair (Hrsg.), S. ix–xiii.<br />

5 Vgl. Rohbeck, Johannes (2004), S. 103–107.

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