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119 c) Ein strukturelles Regelungsdefizit kann gegenwärtig nicht festgestellt werden. Die Gründe für den erheblichen,<br />

keineswegs auf Einzelfälle beschränkten Vollzugsmangel sind vielschichtig <strong>und</strong> finden sich nach gegenwärtiger<br />

Erkenntnis nicht in einer Schutzlücke der gesetzlichen Regelung. Die gesetzliche Regelung traf auf Rahmenbedingungen,<br />

die von immer komplexer werdenden Lebenssachverhalten, einer stetigen Ausweitung des materiellen Strafrechts<br />

sowie immer differenzierteren Anforderungen an den Ablauf des Strafverfahrens geprägt sind, <strong>und</strong> hatte die<br />

schwierige Aufgabe, eine zuvor über drei Jahrzehnte in der Praxis entstandene <strong>und</strong> dort längst verfestigte Entwicklung<br />

in geordnete Bahnen zu lenken. Im Vergleich zu der lang andauernden <strong>und</strong> - wie auch die Entwicklung der<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zeigt - immer weiter um sich greifenden Praxis jedenfalls gesetzlich nicht<br />

geregelter Absprachen ist der Zeitraum der bisherigen Geltungsdauer der gesetzlichen Schutzmechanismen noch sehr<br />

kurz, was dafür spricht, dass die Durchsetzung der strikt umgrenzten <strong>und</strong> stark formalisierten Verständigungsform<br />

entsprechend dem gesetzlichen Regelungskonzept noch nicht abgeschlossen ist <strong>und</strong> insbesondere die hohe Bedeutung<br />

der Schutzmechanismen von der Praxis noch nicht vollständig verinnerlicht wurde. Hierfür spricht auch, dass in<br />

der Literatur Stellungnahmen anzutreffen sind, die dahin verstanden werden können, dass die gesetzliche Regelung<br />

nicht abschließend sei <strong>und</strong> die Schutzmechanismen insbesondere des § 273 Abs. 1a <strong>und</strong> des § 302 Abs. 1 Satz 2<br />

StPO nicht für „informelle“ Vorgehensweisen außerhalb der Vorgaben des § 257c StPO gälten (vgl. etwa Peglau,<br />

jurisPR-StrafR 4/2012 Anm. 1; Niemöller, StV 2012, S. 387 ; ders., in: Niemöller/Schlothauer/Weider,<br />

Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, § 273 Rn. 16, § 302 Rn. 5; Bittmann, wistra 2009, S. 414 ;<br />

Kirsch, StraFo 2010, S. 96 ). Hinzu kommt die nicht selten anzutreffende Bewertung gerade der Schutzmechanismen<br />

als „praxisuntauglich“, welche die Sicherung der verfassungsrechtlichen Vorgaben als zentrale Aufgabenstellung<br />

des Strafverfahrensrechts übergeht. Dies verkennt, dass im Rechtsstaat des Gr<strong>und</strong>gesetzes das Recht<br />

die Praxis bestimmt <strong>und</strong> nicht die Praxis das Recht.<br />

120 d) Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen<br />

Stellungnahmen zwingen zu der Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzepts sind, die<br />

zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben könnten. Als Hauptgr<strong>und</strong> für die Nichtbeachtung der gesetzlichen<br />

Regelungen wird in der empirischen Untersuchung vielmehr eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften<br />

genannt. Dabei werden als praxisuntauglich oftmals die Begrenzung des zulässigen Inhalts von Verständigungen, die<br />

Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten - hier vor allem das Negativattest des § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO - sowie<br />

das Verbot eines Rechtsmittelverzichts angeführt, also gerade diejenigen Vorschriften, die die Beachtung der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben gewährleisten sollen. So gaben viele Verteidiger in der Befragung an, die gesetzliche<br />

Regelung widerspreche dem „Wesen des Deals“; dieser sei informell. Auch dies spricht für ein bisher nur unzureichend<br />

ausgeprägtes Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verständigungsgesetzes<br />

nicht geben darf. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung stützen daher nicht die Annahme<br />

eines im gesetzlichen Regelungskonzept verankerten strukturellen Defizits, sondern sprechen für interessengeleitete<br />

Missverständnisse <strong>und</strong> Bestrebungen, die gesetzliche Regelung wegen ihrer - als unpraktisch empf<strong>und</strong>enen -<br />

Schutzmechanismen zu umgehen.<br />

121 4. Auch wenn derzeit aus dem defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes nicht auf eine Verfassungswidrigkeit<br />

der gesetzlichen Regelung geschlossen werden kann, muss der Gesetzgeber die weitere Entwicklung sorgfältig im<br />

Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen<br />

hinwegsetzen <strong>und</strong> sollten die materiellen <strong>und</strong> prozeduralen Vorkehrungen des Verständigungsgesetzes nicht<br />

ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen <strong>und</strong> dadurch die an eine Verständigung im Strafverfahren<br />

zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung<br />

durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken (vgl. zu Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers<br />

BVerfGE 25, 1 ; 49, 89 ; 95, 267 ; 110, 141 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 24. November 2009 - 1 BvR 213/08 -, GRUR 2010, S. 332 ; Beschluss der 2. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 27. Januar 2011 - 1 BvR 3222/09 -, NJW 2011, S. 1578 ). Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger<br />

Zustand ein.<br />

122 5. Das Normgefüge des Verständigungsgesetzes gestattet nach der hier zugr<strong>und</strong>e gelegten Auslegung des einfachen<br />

Rechts keine Verfahrensweise im Strafprozess, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben widerspräche. Die durch<br />

das Verständigungsgesetz eingeführten Vorschriften sind deshalb weder für unvereinbar mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz zu<br />

erklären noch besteht Anlass, sie im Wege einer verfassungskonformen Auslegung einzugrenzen. Damit ist der Anwendungsbereich<br />

von § 79 BVerfGG nicht eröffnet.<br />

III.<br />

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