Uwe Johnson - KLG
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unseres Jahrhunderts und unserer Gesellschaft hervortreten: 1933 in das faschistische Deutschland<br />
hineingeboren, ab 1945 in der sowjetischen Besatzungszone, anschließend in der DDR<br />
großgeworden, 1953 in die Bundesrepublik geflüchtet, 1961 mit der damals vierjährigen Tochter<br />
Marie in die Vereinigten Staaten übergesiedelt, dort lebend als Angestellte einer Bank, deren<br />
inzwischen zehnjährige Tochter eine katholische Privatschule besucht. Beträchtliche Mühe<br />
verwendet <strong>Johnson</strong> darauf, die vielen Episoden jeweils welt-haltig zu machen. Er weiß: die<br />
Gesellschaft lebt als Ganzheit. Und er handelt danach. Die von ihm vermittelten Einzelmomente<br />
müssen immer etwas von der Gesamtstruktur enthalten – gerade weil dem Autor bekannt ist, daß<br />
die Totalität zerfallen ist. Deswegen sucht er für Gesine „nach den Einwirkungen von vier<br />
gesellschaftlichen Systemen auf ihr Leben“. Dazu bemüht er „die Katze Erinnerung“. Er läßt ihr<br />
keine Ruhe. Der Ertrag solch außerordentlicher Anstrengung ist evident. Weit über den<br />
konventionellen Zuschnitt von Zeit-, Gesellschafts- und Erziehungsromanen hinaus haben wir es<br />
mit einem Werk zu tun, welches die gattungsmäßig festgelegten Intentionen verknüpft zu einem<br />
ungemein dichten Erzählmuster.<br />
Aber da ist noch etwas. Nennen wir es kurzerhand das poetische Verfahren. Auf diesem Wege<br />
verwandelt <strong>Johnson</strong> das Berichtete in haltbare Aussage, in ästhetisch vermittelte Erfahrung.<br />
Durchweg setzt er vom Detail her an. Wir lesen da: „Ich stelle mir vor: Sie kommt am Abend, bei<br />
schon abgedecktem Himmel, aus der Ubahnstation 96. Straße auf den Broadway und sieht im<br />
Brückenausschnitt unter dem Riverside Drive eine grüne Lichtung, hinter dem fransigen Parklaub<br />
den ebenen Fluß, dessen verdecktes Ufer ihn auslaufen läßt in einen Binnensee in einem<br />
Augustwald in trockener verbrannter Stille“. Ein solcher Satz offenbart viel über Gesines Art, die<br />
Welt zu sehen. Und wer kann die gestisch so prägnante Skizze des Zeitungsverkäufers nicht<br />
zugleich als Denkbild auffassen? Dort heißt es: „Der alte Mann mit der speckigen Schirmmütze, der<br />
die Morgenschicht arbeitet, nimmt sich das Recht auf seine Laune. Seine rechte Hand ist<br />
verstümmelt; er besteht aber darauf, daß die Kunden ihm das Geld zwischen die krummen Finger<br />
stecken, und jeden Morgen übt er, Münzen mit dickem Daumen aus der krüppligen Handgrube zu<br />
drücken. An diesem Morgen grüßt er nicht zurück“. Sogar die Wiedergabe von Tagesereignissen<br />
aus der Presse folgt dem gleichen Erzählprinzip. Trocken reiht der Text aneinander. „Über<br />
Festland-China sind gestern zwei Düsenjäger der US-Marine abgeschossen worden. Das<br />
Kriegsministerium erklärt 32 Mann für amtlich tot in Vietnam. Das Marinekorps hat 109 tote<br />
Vietnamesen aus dem Norden gezählt. Die Bande im Süden verspricht ganz ehrliche Wahlen“. Ein<br />
weiterer Kommentar ist nicht erforderlich. Der Leser weiß, woran er ist. Darum konnte Hans Mayer<br />
mit Recht anmerken: „Wenn es bei Bewertung von bedeutender Literatur auf Sprachkraft ankommt<br />
und auf Sorgfalt der Konstruktion, auf Kenntnis von Dingen und Menschen, literarische Bildung,<br />
Humor und Empfindungskraft, dann sind die ‚Jahrestage‘ von <strong>Uwe</strong> <strong>Johnson</strong> ein bedeutendes<br />
Buch“.<br />
<strong>Johnson</strong>s Bilder der Wirklichkeit sind immer zugleich Gegenbilder zu dieser Wirklichkeit,<br />
Entwürfe einer besseren und menschlicheren Form des Zusammenlebens. Völlig unbegreiflich<br />
wirkt deshalb die von Bernd Neumann aufgestellte Formel vom „Sieg der Mimesis über die<br />
Utopie“. Der Roman ist geradezu als utopische Herausforderung angelegt.<br />
Besonders nachhaltig erweist sich das im Schlußband, weil <strong>Johnson</strong> hier die Linien der<br />
gesellschaftlichen Strukturen in den sogenannten sozialistischen Ländern noch schärfer auszieht.<br />
Erinnerte Zeit und (damalige) Gegenwart kommen sich da zunehmend näher. Als historische<br />
Fixpunkte dienen die Jahre 1953 und 1968. Eingedenken und Verarbeitung des Aktuellen<br />
erschließen dem kritischen Beobachter historische Parallelen zwischen Stalinismus und dem 17.<br />
Juni 1953 einerseits und andererseits der gewaltsamen Beendigung des ‚Prager Frühlings‘. Mit<br />
seinem Textmaterial leistet der Autor – durch Evokation und Reflexion – die Entlarvung<br />
pervertierter Macht in Gestalt der Diktatur der Partei über das Proletariat. Absichtlich geht er dabei<br />
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