Vortrag von Herrn Prof.Dr. Thomas Bliesener - SFBB
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11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Reifebeurteilung<br />
jugendlicher und heranwachsender<br />
Straftäter nach 3 und 105 JGG<br />
<strong>Thomas</strong><strong>Bliesener</strong><br />
10. Oktober 2013<br />
Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut<br />
Berlin-Brandenburg -<strong>SFBB</strong><br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Übersicht<br />
- Einführung<br />
- Die Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife jugendlicher<br />
Täter nach § 3 JGG<br />
-Grundlagen<br />
-Rechtspraxis<br />
-Vorgehen bei der Beurteilung<br />
- Die Beurteilung der strafrechtlichen Zuweisung heranwachsender<br />
Täter nach § 105 JGG<br />
-Grundlagen<br />
-Rechtspraxis<br />
-Vorgehen bei der Beurteilung<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Das JGG ist historisch gesehen aus dem Erwachsenenstrafrecht<br />
hervorgegangen, nicht aus einer entwicklungspsychologischen<br />
Analyse der spezifischen Bedürfnisse und Kompetenzen junger<br />
Rechtsbrecher<br />
Es herrscht jedoch ein weitgehender Konsens über die<br />
grundsätzliche Privilegierung jugendlicher Täter (mildere<br />
Sanktionen, stärkere Betonung der Spezialprävention, Vorrang des<br />
Erziehungsdankens)<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Altersgrenzen des § 19 StGB:<br />
- unter 14 Jahre: Kind, nicht strafrechtlich verantwortlich<br />
- unter 18 Jahre: Jugendlicher, bedingt strafrechtlich<br />
verantwortlich<br />
- unter 21 Jahre: Heranwachsender, generell strafrechtlich<br />
verantwortlich<br />
erscheinen zwar alltagspsychologisch stimmig, werden aber nicht<br />
durch entwicklungspsychologische Befunde zu entsprechenden<br />
(sprunghaften) qualitativen oder quantitativen Veränderungen<br />
gestützt.<br />
Gleichwohl finden sich Hinweise, dass die gewählten<br />
Altersspannen sinnvoll erscheinen<br />
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Andererseits unterliegt die Altersphase der Jugend einer<br />
besonderen Dynamik der Entwicklung mit großen<br />
interindividuellen Unterschieden in den Beschleunigungen,<br />
Sprüngen, Pausen, asynchronen Verläufen in unterschiedlichen<br />
Funktionsbereichen, aber auch Rückschritten.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Hirnanatomische und hirnphysiologische Veränderungen<br />
Noch in den 1980er Jahren:<br />
Anderson (1988): Nach dem Alter <strong>von</strong> ca. 2 Jahren treten keine<br />
reifungsbedingten Veränderungen im mentalen Apparat auf.<br />
Klahr(1981): Die Struktur des menschlichen<br />
Informationsverarbeitungs-Systems macht ab dem Alter <strong>von</strong> 5<br />
Jahren keine systematischen Veränderungen mehr durch.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Das kindliche Gehirn erreicht im Alter <strong>von</strong> sechs Jahren etwa 90 %<br />
und mit Einsetzen der Pubertät etwa das endgültige Volumen des<br />
Erwachsenenalters.<br />
Untersuchungen der letzten Jahre zur ontogenetischen<br />
Hirnentwicklung insbesondere durch bildgebende Verfahren (z.B.<br />
funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) haben jedoch<br />
gezeigt, dass sich neuroanatomische Veränderungen noch bis in<br />
das frühe Erwachsenenalter finden lassen.<br />
D.h., die Hirnreifung ist erst in der Mitte des dritten<br />
Lebensjahrzehnts abgeschlossen.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Brodmann-Areale<br />
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Der ontogenetische Entwicklungsverlauf folgt dabei der<br />
phylogenetischen Entwicklung des Hirns vom Hirnstamm und<br />
Kleinhirn über den parietalen zum frontalen Kortex<br />
(Stirnlappen) und zu den Temporallappen (Schläfenlappen)<br />
Der Stirnlappen ist u.a. für wichtige Steuerungsfunktionen, so<br />
genannte exekutive Funktionen, zuständig. Dazu gehören die<br />
Antizipation, Handlungsplanung, Koordination, Inhibition,<br />
Zielüberwachung u.a.<br />
=> Die Ausreifung der für die Steuerungsfunktionen<br />
zuständigen Hirnareale erfolgt zuletzt<br />
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Das Belohnungssystem<br />
Bestandteil des dopaminergen(auf Dopamin reagierendes) verhaltensbahnenden<br />
Systems.<br />
Zum Belohnungssystem werden der mediale präfrontaleKortex, der Nucleus<br />
accumbens, der laterale Hypothalamus und das ventrale Tegmentumgezählt.<br />
Das dopaminergeSystem wird u.a. durch neuartige und unvorhersehbare<br />
Reize (z.B. beim Glücksspiel) aktiviert.<br />
Der Dopaminspiegelhat einen charakteristischen Entwicklungsverlauf. Er<br />
steigt in den Teenagerjahren im präfrontalenKortex auf einen Spitzenwert,<br />
sinkt dann wieder und stabilisiert sich schließlich auf Erwachsenenniveau.<br />
Parallel dazu entwickelt sich der Reizhunger (sensationseeking) und die<br />
Bereitschaft zu Risikoverhalten<br />
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Hypothalamus<br />
Ventrales Tegmentum<br />
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In der Summe ergibt sich daraus<br />
eine jugendalterstypische Spitze in der Verhaltensaktivierung<br />
bei gleichzeitig hohen Defiziten<br />
in der Verhaltenssteuerung und -kontrolle<br />
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Die Beurteilung der strafrechtlichen<br />
Entwicklungsreife jugendlicher Täter nach § 3 JGG<br />
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Internationale Strafmündigkeitsgrenzen<br />
7 Jahre: Bangladesch, Indien, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Südafrika, Sudan,<br />
Tansania, Thailand<br />
8 Jahre: Indonesien, Kenia<br />
9 Jahre: Äthiopien, Iran (Mädchen), Irak, Philippinen<br />
10 Jahre: Australien, England, Nepal, Schweiz, Ukraine, Wales<br />
11 Jahre: Türkei<br />
12 Jahre: Irland, Israel, Kanada, Süd-Korea, Marokko, Niederlande, Uganda<br />
13 Jahre: Algerien, Frankreich, Polen, Usbekistan<br />
14 Jahre: China, Dänemark, Estland, Italien, Japan, Österreich, Rumänien,<br />
Russland, Slowenien, Vietnam<br />
15 Jahre: Ägypten, Finnland, Island, Iran (Jungen), Norwegen, Schweden,<br />
Philippinen<br />
16 Jahre: Argentinien, Portugal, Schottland, Spanien<br />
In den USA liegt die Strafmündigkeit in den meisten Bundesstaaten bei 7 Jahren<br />
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§3Jugendgerichtsgesetz (JGG), Verantwortlichkeit<br />
Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er<br />
zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen<br />
Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen<br />
und nach dieser Einsicht zu handeln.<br />
Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife<br />
strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter<br />
dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Rechtsvorschrift des 3 JGG schränkt die Gründe für eine fehlende<br />
strafrechtliche Verantwortlichkeit auf entwicklungsabhängig<br />
kompensierbare Faktoren ein.<br />
Ausgeschlossen werden damit:<br />
- (dissoziale) Fehlentwicklungen<br />
- psychopathologisch begründete Defizite<br />
- Verbotsirrtum ( 17 StGB)<br />
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Übung in Kleingruppen<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Begriffe sittliche und geistige Entwicklung, Unrechtseinsicht und<br />
Handlungsfähigkeit sind unbestimmte Rechtsbegriffe, für die es auch<br />
keine Entsprechungen in der entwicklungspsychologischen oder<br />
psychiatrischen Literatur gibt.<br />
Weiterhin fehlen allgemein anerkannte Kriterien für die Beschreibung<br />
und die Bewertung der sittlichen und geistigen Entwicklung.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Ostendorf (2007)<br />
„Sittliche Reife bedeutet, dass die Entwicklungsreife im<br />
Wertebewusstsein abgesichert sein muss, d.h., die Unterscheidung<br />
<strong>von</strong> Recht und Unrecht muss auch in der Gefühlswelt verankert sein.<br />
Umgekehrt heißt geistige Entwicklungsreife, dass diese Unterscheidung<br />
rational getroffen werden kann.“<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Zwischen der sittlichen und der geistigen Entwicklung besteht kein<br />
stringenter Zusammenhang (Esser et al., 1991).<br />
Insbesondere die körperliche und die geistige Entwicklung verlaufen<br />
nicht parallel, können sogar diametral verlaufen (z.B. bei<br />
Überforderung der sozialen Kompetenz bei körperlicher Frühreife)<br />
Die Reduktion der geistigen Reife auf die intellektuelle Entwicklung ist<br />
unangemessen. Ebenso relevant sind Defizite in anderen kognitiven<br />
Funktionsbereichen, wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen,<br />
Teilleistungsstörungen, Sprachprobleme, Beeinträchtigungen der<br />
sozialen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung.<br />
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Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit müssen – tatbezogen – unter<br />
Berücksichtigung des sittlichen und geistigen Entwicklungsstands<br />
zum Zeitpunkt der Tat beurteilt werden (Streng, 1997).<br />
Für die Unrechtseinsicht reicht die allgemeine Kenntnis <strong>von</strong> Verboten<br />
nicht aus. Sie erfordert andererseits aber auch nicht die Kenntnis der<br />
Strafbarkeit einer Handlung.<br />
Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit können z.B. beeinflusst sein<br />
durch:<br />
- Gruppendruck<br />
- kriminelle familiäre Aktivitäten<br />
- Enkulturationsprobleme<br />
- komplexe Verbotsstrukturen<br />
- Unterlassungstaten<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Beispiele für Taten, bei denen eine Unrechtseinsicht bei einem 14-<br />
Jährigen evtl. noch nicht vorhanden ist<br />
Ostendorf (2007) nennt hier:<br />
Das Frisieren eines Mofas wird wohl als Verstoß gegen die<br />
Führerscheinpflicht, wohl aber kaum als Verstoß gegen das<br />
Pflichtversicherungsgesetz ( 6) und die Abgabenordnung ( 370)<br />
verstanden<br />
Lempp (2004):<br />
Die Vorteilsnahme im Amt, die Ausnutzung der Dienststellung zur<br />
Vorbereitung einer Straftat<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Persönlichkeitsermittlung<br />
Nach Ostendorf (2007) hat der Staatsanwalt die rechtliche Verpflichtung zur<br />
Persönlichkeitsermittlung.<br />
Faktisch wird diese Aufgabe jedoch in der Regel <strong>von</strong> der JGH übernommen.<br />
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§43 JGG<br />
Umfang der Ermittlungen<br />
(1)Nach Einleitung des Verfahrens sollen so bald wie möglich die Lebens- und<br />
Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten des<br />
Beschuldigten und alle übrigen Umstände ermittelt werden, die zur<br />
Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen<br />
können....<br />
(2)Soweit erforderlich, ist eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur<br />
Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren<br />
wesentlicher Eigenschaften, herbeizuführen. Nach Möglichkeit soll ein zur<br />
Untersuchung <strong>von</strong> Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der<br />
Durchführung der Anordnung beauftragt werden.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Justizpraxis zur Prüfung/Anwendung des<br />
Aktenanalysen<br />
3 JGG<br />
Keller, Kuhn und Lempp (1975)<br />
Auswertung <strong>von</strong> 156 Akten <strong>von</strong> zwei Amtsgerichten aus dem Jahr 1969<br />
‣ Verantwortlichkeit nur in einem Fall verneint<br />
‣ Urteilsbegründung „formelhaft“; in 2/3 der Fälle fand sich im Urteil nur<br />
die Formulierung „im Besitz der erforderlichen Strafreife“, ohne eine<br />
nähere Ausführung<br />
‣ Als einziges Kriterium wurde meist „altersentsprechend“ genannt<br />
‣ psychosoziale Situation, Entwicklung und soziales Herkunftsmilieu<br />
nicht berücksichtigt<br />
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Justizpraxis zur Prüfung/Anwendung des<br />
Aktenanalysen<br />
3 JGG<br />
Lemm (2000)<br />
Aktenanalyse mit 100 Strafverfahrensakten aus dem Jahre 1992<br />
<strong>von</strong> Straftätern zwischen 14 und 17 Jahren<br />
‣ Verantwortlichkeit nur in einem Fall verneint<br />
‣ In den Urteilen wurde die Verantwortungsreife durchgängig<br />
formelhaft bejaht, mit der schon <strong>von</strong> Keller et al. (1975)<br />
erwähnten Aussage „Aufgrund des (altersgemäßen) Eindrucks<br />
in der Hauptverhandlung“<br />
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Justizpraxis zur Prüfung/Anwendung des<br />
Aktenanalysen<br />
3 JGG<br />
Schulz (2001)<br />
Bundesweite Auswertung aller in den Jahren 1987-1996 ergangenen<br />
Urteile, in denen die Jugendhöchststrafe <strong>von</strong> 10 Jahren verhängt<br />
wurde<br />
‣ Verantwortlichkeit nur in einem Fall verneint<br />
‣ Von 21 Urteilen fand nur bei zwei Urteilen eine umfassende<br />
Subsumtion unter 3 JGG statt<br />
‣ in sechs Fällen wurde ein Sachverständiger hinzugezogen<br />
‣ in den weiteren 15 Urteilen fand gar keine oder keine genügende<br />
Bezugnahme auf 3 JGG statt<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Schlussfolgerungen<br />
Erhebliche Diskrepanz zwischen Rechtstheorie und tatsächlicher<br />
Rechtspraxis<br />
Kritik richtet sich nicht primär gegen die Ergebnisse der<br />
Verantwortlichkeitsbeurteilung, sondern dagegen, dass diese<br />
häufig nur sehr oberflächlich und formelhalft abgehandelt wird; die<br />
angewandten Beurteilungskriterien sind – wenn überhaupt – nur<br />
rudimentär erkennbar<br />
Aktenanalysen zeigen nur die Resultate einer Beurteilung. Sie<br />
geben keinen Einblick in den Beurteilungsprozess<br />
Gegenstand unserer Untersuchung ist eine Analyse der<br />
Beurteilungsprozesses und der dabei wirksamen Variablen (wie<br />
z.B. Einstellungen, Berufserfahrung, Art der Tat, JGH-Berichte)<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Ziele des Kieler Forschungsprojektes<br />
Analyse der Ist-Situation und Entwicklung eines deskriptiven<br />
Urteilsmodells<br />
Literaturanalyse und Entwicklung eines „idealen“ Modells zur<br />
Beurteilung der Verantwortlichkeit<br />
Entwicklung und empirische Überprüfung eines in der<br />
Gerichtspraxis handhabbaren Beurteilungsmodells<br />
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Untersuchungsmethoden<br />
Pilotstudie: halbstrukturierte Experteninterviews mit Richtern,<br />
Staatsanwälten, Jugendgerichtshilfe;<br />
Auswertung <strong>von</strong> JGH-Berichten<br />
Fragebogenerhebung in insgesamt 15 Bundesländern (Richter,<br />
Schöffen, Staatsanwälte, Strafverteidiger, Jugendgerichtshilfe)<br />
Tiefeninterviews mit Richtern, Staatsanwälten,<br />
Jugendgerichtshilfe und Gutachtern<br />
Auswertung der einschlägigen rechtswissenschaftlichen,<br />
entwicklungspsychologischen und psychodiagnostischen Literatur<br />
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Fragebogenerhebung<br />
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Teilnehmer an der Fragebogenerhebung (insgesamt 716) nach Bundesländern<br />
57<br />
26 47<br />
118<br />
30<br />
9<br />
142 4<br />
5 5<br />
4<br />
19 32<br />
10 106<br />
113<br />
2<br />
16
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Teilnehmer an der Fragebogenerhebung nach Berufsgruppe und Geschlecht<br />
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Häufigkeit der Verneinung der Verantwortlichkeit im gesamten bisherigen Berufsleben (ohne<br />
Schöffen)<br />
Bundesland Mittelwert SD Median<br />
Schleswig-Holstein 3,7 5,8 2,0<br />
Hamburg 1,9 3,0 0,5<br />
Mecklenburg-Vorpommern 1,8 3,3 0,0<br />
Niedersachsen 5,4 22,8 1,0<br />
Berlin 2,2 3,5 0,0<br />
Nordrhein-Westfalen 5,4 15,7 1,0<br />
Baden-Württemberg 2,6 5,8 0,0<br />
Thüringen 4,3 10,9 1,0<br />
Bayern 3,8 10,2 1,0<br />
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Anteil der Jugendlichen in der Altersspanne <strong>von</strong> 11 bis 19 Jahren, die für<br />
regelmäßig strafrechtlich verantwortlich gehalten werden<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
Männlich<br />
Weiblich<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
11-jährige 12-jährige 13-jährige 14-jährige 15-jährige 16-jährige 17-jährige 18-jährige 19-jährige<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Von den Befragten eingeschätzte Angemessenheit der Altersgrenze für die<br />
strafrechtliche Verantwortlichkeit gem. §19 StGB<br />
Altersgrenze zu<br />
niedrig<br />
Altersgrenze<br />
genau richtig<br />
Altersgrenze zu<br />
hoch<br />
Richter 4,2 87,5 8,3<br />
Staatsanwalt 4,4 76,5 19,1<br />
Schöffe 11,9 41,5 46,7<br />
Strafverteidiger 2,0 87,0 11,0<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Von den Befragten eingeschätzte Angemessenheit der Altersgrenze für die<br />
strafrechtliche Verantwortlichkeit gem. §19 StGB nach Bundesländern<br />
Altersgrenze<br />
zu niedrig<br />
Altersgrenze<br />
genau richtig<br />
Altersgrenze zu<br />
hoch<br />
Schleswig-Holstein 7,7 82,1 10,3<br />
Hamburg 25,0 75,0 0,0<br />
Mecklenburg-Vorpommern 13,2 65,8 21,1<br />
Niedersachsen 8,5 53,5 38,0<br />
Berlin 6,3 68,8 25,0<br />
Nordrhein-Westfalen 6,3 75,0 18,8<br />
Baden-Württemberg 9,7 67,7 22,6<br />
Thüringen 10,0 75,0 15,0<br />
Bayern 7,6 74,2 18,2<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Zustimmungsrate zu den Thesen der Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ<br />
Richter Staats. Schöffen JGH Strafvert.<br />
Eine Reform des §3 JGG ist erforderlich 19,5% 25,5% 39,3% 35,1% 45,2%<br />
Der §3 JGG ist in seinem Wortlaut neu zu gestalten 27,5% 24,5% 37,1% 45,5% 51,6%<br />
Das altersbedingte Fehlen der Einsichts-und<br />
Steuerungsfähigkeit ist exemplarisch zu konkretisieren 32,5% 30% 63,9% 70,5% 51,6%<br />
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher sollte in<br />
jedem Einzelfall schon vor dem Abschluss der Ermittlungen 65,9% 51% 56,2% 34,1% 71%<br />
geprüft werden<br />
Das Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist bei<br />
Jugendlichen eher der Ausnahmefall<br />
87,8% 96,2% 41,6% 87,2% 54,8%<br />
Im unteren Altersbereich der Strafbarkeit ist häufig noch<br />
nicht ein die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründender 2,4% 11,5% 46,1% 14,3% 51,6%<br />
Entwicklungsstand erreicht<br />
Staatsanwaltschaft und Gericht ist eine Begründungspflicht<br />
für die Annahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 22% 11,5% 44,9% 37,2% 71%<br />
aufzuerlegen<br />
Der Zwang zu zusätzlicher Begründung führt im<br />
„Massengeschäft“ zu Floskeln, die niemandem nützen 82,9% 86,5% 38,2% 67,9% 61,3%<br />
Bei nicht gegebener strafrechtlicher Verantwortung sind die<br />
jugendhilferechtlichen und zivilrechtlichen<br />
Reaktionsmöglichkeiten ausreichend<br />
Jugendliche Bagatellkriminalität sollte nicht verfolgt werden,<br />
wenn sie keine oder nur geringfügige Schäden oder<br />
Gefährdungen verursacht hat und die Schuld des Täters<br />
gering ist<br />
Sollte der §3 JGG Ihrer Meinung nach ersatzlos gestrichen<br />
werden?<br />
63,4% 55,8% 25,8% 59% 58,1%<br />
41,5% 36,5% 27% 42,9% 51,6%<br />
0% 3,8% 0% 1,3% 0%<br />
Beiden Aussagen1,2und 10gaben die meistenSchöffenan, die Aussagen nichteinschätzenzukönnen<br />
19
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Zustimmung zu den Thesen der Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ<br />
Richter Staats. Schöffen JGH Strafvert.<br />
Eine Reform des §3 JGG ist erforderlich 19,5% 25,5% 39,3% 35,1% 45,2%<br />
Der §3 JGG ist in seinem Wortlaut neu zu gestalten 27,5% 24,5% 37,1% 45,5% 51,6%<br />
Das altersbedingte Fehlen der Einsichts-und<br />
Steuerungsfähigkeit ist exemplarisch zu konkretisieren 32,5% 30% 63,9% 70,5% 51,6%<br />
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher sollte in<br />
jedem Einzelfall schon vor dem Abschluss der Ermittlungen 65,9% 51% 56,2% 34,1% 71%<br />
geprüft werden<br />
Das Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist bei<br />
Jugendlichen eher der Ausnahmefall<br />
87,8% 96,2% 41,6% 87,2% 54,8%<br />
Im unteren Altersbereich der Strafbarkeit ist häufig noch<br />
nicht ein die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründender 2,4% 11,5% 46,1% 14,3% 51,6%<br />
Entwicklungsstand erreicht<br />
Staatsanwaltschaft und Gericht ist eine Begründungspflicht<br />
für die Annahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 22% 11,5% 44,9% 37,2% 71%<br />
aufzuerlegen<br />
Der Zwang zu zusätzlicher Begründung führt im<br />
„Massengeschäft“ zu Floskeln, die niemandem nützen 82,9% 86,5% 38,2% 67,9% 61,3%<br />
Bei nicht gegebener strafrechtlicher Verantwortung sind die<br />
jugendhilferechtlichen und zivilrechtlichen<br />
Reaktionsmöglichkeiten ausreichend<br />
Jugendliche Bagatellkriminalität sollte nicht verfolgt werden,<br />
wenn sie keine oder nur geringfügige Schäden oder<br />
Gefährdungen verursacht hat und die Schuld des Täters<br />
gering ist<br />
Sollte der §3 JGG Ihrer Meinung nach ersatzlos gestrichen<br />
werden?<br />
63,4% 55,8% 25,8% 59% 58,1%<br />
41,5% 36,5% 27% 42,9% 51,6%<br />
0% 3,8% 0% 1,3% 0%<br />
Beiden Aussagen1,2und 10gaben die meistenSchöffenan, die Aussagen nichteinschätzenzukönnen<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Zustimmung zu den Thesen der Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ<br />
Richter Staats. Schöffen JGH Strafvert.<br />
Eine Reform des §3 JGG ist erforderlich 19,5% 25,5% 39,3% 35,1% 45,2%<br />
Der §3 JGG ist in seinem Wortlaut neu zu gestalten 27,5% 24,5% 37,1% 45,5% 51,6%<br />
Das altersbedingte Fehlen der Einsichts-und<br />
Steuerungsfähigkeit ist exemplarisch zu konkretisieren 32,5% 30% 63,9% 70,5% 51,6%<br />
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher sollte in<br />
jedem Einzelfall schon vor dem Abschluss der Ermittlungen 65,9% 51% 56,2% 34,1% 71%<br />
geprüft werden<br />
Das Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist bei<br />
Jugendlichen eher der Ausnahmefall<br />
87,8% 96,2% 41,6% 87,2% 54,8%<br />
Im unteren Altersbereich der Strafbarkeit ist häufig noch<br />
nicht ein die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründender 2,4% 11,5% 46,1% 14,3% 51,6%<br />
Entwicklungsstand erreicht<br />
Staatsanwaltschaft und Gericht ist eine Begründungspflicht<br />
für die Annahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 22% 11,5% 44,9% 37,2% 71%<br />
aufzuerlegen<br />
Der Zwang zu zusätzlicher Begründung führt im<br />
„Massengeschäft“ zu Floskeln, die niemandem nützen 82,9% 86,5% 38,2% 67,9% 61,3%<br />
Bei nicht gegebener strafrechtlicher Verantwortung sind die<br />
jugendhilferechtlichen und zivilrechtlichen<br />
Reaktionsmöglichkeiten ausreichend<br />
Jugendliche Bagatellkriminalität sollte nicht verfolgt werden,<br />
wenn sie keine oder nur geringfügige Schäden oder<br />
Gefährdungen verursacht hat und die Schuld des Täters<br />
gering ist<br />
Sollte der §3 JGG Ihrer Meinung nach ersatzlos gestrichen<br />
werden?<br />
63,4% 55,8% 25,8% 59% 58,1%<br />
41,5% 36,5% 27% 42,9% 51,6%<br />
0% 3,8% 0% 1,3% 0%<br />
Beiden Aussagen1,2und 10gaben die meistenSchöffenan, die Aussagen nichteinschätzenzukönnen<br />
20
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Zustimmung zu den Thesen der Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ<br />
Richter Staats. Schöffen JGH Strafvert.<br />
Eine Reform des §3 JGG ist erforderlich 19,5% 25,5% 39,3% 35,1% 45,2%<br />
Der §3 JGG ist in seinem Wortlaut neu zu gestalten 27,5% 24,5% 37,1% 45,5% 51,6%<br />
Das altersbedingte Fehlen der Einsichts-und<br />
Steuerungsfähigkeit ist exemplarisch zu konkretisieren 32,5% 30% 63,9% 70,5% 51,6%<br />
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher sollte in<br />
jedem Einzelfall schon vor dem Abschluss der Ermittlungen 65,9% 51% 56,2% 34,1% 71%<br />
geprüft werden<br />
Das Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist bei<br />
Jugendlichen eher der Ausnahmefall<br />
87,8% 96,2% 41,6% 87,2% 54,8%<br />
Im unteren Altersbereich der Strafbarkeit ist häufig noch<br />
nicht ein die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründender 2,4% 11,5% 46,1% 14,3% 51,6%<br />
Entwicklungsstand erreicht<br />
Staatsanwaltschaft und Gericht ist eine Begründungspflicht<br />
für die Annahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 22% 11,5% 44,9% 37,2% 71%<br />
aufzuerlegen<br />
Der Zwang zu zusätzlicher Begründung führt im<br />
„Massengeschäft“ zu Floskeln, die niemandem nützen 82,9% 86,5% 38,2% 67,9% 61,3%<br />
Bei nicht gegebener strafrechtlicher Verantwortung sind die<br />
jugendhilferechtlichen und zivilrechtlichen<br />
Reaktionsmöglichkeiten ausreichend<br />
Jugendliche Bagatellkriminalität sollte nicht verfolgt werden,<br />
wenn sie keine oder nur geringfügige Schäden oder<br />
Gefährdungen verursacht hat und die Schuld des Täters<br />
gering ist<br />
Sollte der §3 JGG Ihrer Meinung nach ersatzlos gestrichen<br />
werden?<br />
63,4% 55,8% 25,8% 59% 58,1%<br />
41,5% 36,5% 27% 42,9% 51,6%<br />
0% 3,8% 0% 1,3% 0%<br />
Beiden Aussagen1,2und 10gaben die meistenSchöffenan, die Aussagen nichteinschätzenzukönnen<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Interviews<br />
21
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Teilnehmer an den Interviews (insgesamt 59) nach Bundesländern<br />
14<br />
1<br />
4<br />
4<br />
12 2<br />
5<br />
1<br />
3<br />
10<br />
11<br />
3<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Teilnehmer an den Interviews nach Berufsgruppe (insges. 59)<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
Ri StA Schö JGH StV pycholog. SV psychiatr. SV<br />
22
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Einige Eindrücke aus den Interviews<br />
Es findet keine aktive Informationssuche statt, sondern es zeigt<br />
sich eine passive Grundhaltung.<br />
Zweifel an der Verantwortlichkeit kommen nur auf, wenn Informationen über<br />
extreme Abnormitäten (meistgenanntes Beispiel: „Geistige Behinderung“)<br />
vorliegen.<br />
Die Beurteilung geschieht sehr verstreut, wobei eine Tendenz zu bestehen<br />
scheint, sich gegenseitig aufeinander zu verlassen und entsprechend<br />
möglicherweise die Entscheidungsverantwortung weiterzuschieben<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Einige Eindrücke aus den Interviews<br />
Die Verantwortlichkeit wird als Ganzes betrachtet und dabei im Wesentlichen<br />
im Sinne einer verstandesmäßigen Einsicht definiert. Auf Nachfrage wurde<br />
zwar auch eine inhaltliche Ausfüllung der einzelnen Begriffe des § 3 JGG<br />
gegeben, dabei wurde aber wiederholt angemerkt, dass diese Trennung in<br />
der Praxis so nicht stattfindet.<br />
Auf die Frage nach der inhaltlichen Ausfüllung des Begriffes der<br />
Verantwortlichkeit als Ganzes wurde als Hauptpunkt meist die<br />
verstandesmäßige Einsicht genannt.<br />
Teilweise entstand der Eindruck, dass lediglich das Verhalten des<br />
Jugendlichen in der Verhandlung, nicht aber dessen<br />
Tatzeitpersönlichkeit untersucht wird.<br />
23
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Definitionen der Verantwortlichkeit und typische Merkmale jugendlicher Straftäter<br />
Inhaltliche Ausfüllung (Definition) des<br />
Verantwortlichkeitsbegriffs § 3 JGG:<br />
Vermutete typische Merkmale jugendlicher<br />
Straftäter<br />
Durch Andere (Familie) gelernt, was Recht und was<br />
Unrecht ist; Verantwortung in Familie; wissen, wie<br />
man respektvoll miteinander umgeht;<br />
Bindungsfähigkeit; Beziehungsfähigkeit<br />
Desolate Familien, Trennungen, kein familiärer Halt,<br />
Gewalt, Alkohol, Arbeitslosigkeit in der Familie,<br />
Verwahrlosung, wenig Zuwendung, keine<br />
Bezugs-person, dissoziale Entwicklung<br />
Altersentsprechende intellektuelle Entwicklung<br />
Schulprobleme, Haupt-oder Förderschule, Abbrüche<br />
Kognitive Differenziertheit; Fähigkeit, sich<br />
differenziert mit sich und seiner Umwelt<br />
auseinandersetzen zu können; Normen kennen,<br />
reflektieren darüber nachdenken können<br />
Sich selbst in seiner Entwicklung und Andere<br />
einschätzen können; eigene Position in<br />
Gesellschaft/Familie/Clique richtig einschätzen<br />
können<br />
Impulsives Verhalten, unbedacht, allgemeine<br />
Unreflektiertheit des Verhaltens<br />
Bizarre Lebensvorstellungen, eigene Situation nicht<br />
realistisch eingeschätzt („hoffnungslos überschätzt“)<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
24
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Schlussfolgerungen<br />
Ein wesentlicher Grund für die fast stereotyp positive Beurteilung<br />
der Verantwortlichkeit scheint in einem gravierenden<br />
Informationsdefizit zu liegen. Die den Jugendgerichten mit der<br />
Anklageerhebung vorgelegten Akten sind primär auf<br />
Informationen zur Tatbestandmäßigkeit sowie zu Beweismitteln<br />
fokussiert, die die Schuld des Angeschuldigten belegen sollen.<br />
Psychosoziale Informationen über den angeschuldigten<br />
Jugendlichen sind dagegen – wenn überhaupt –nur sehr<br />
fragmentarisch und unsystematisch in den Akten enthalten.<br />
Staatsanwaltschaft und Gericht verlassen sich fast ausschließlich<br />
auf die Berichte der Jugendgerichtshilfe. Diese enthalten aber –<br />
wie unsere Auswertungen mehrerer JGH-Berichte gezeigt haben<br />
–selbst oft unzulängliche Informationen zum Reifestand des<br />
Jugendlichen.<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Schlussfolgerungen<br />
Möglicherweise suchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der<br />
Jugendgerichtshilfe nicht aktiv nach Informationen, die sie für eine<br />
Reifebeurteilung benötigen – evtl. deshalb, weil es Ihnen an<br />
entwicklungspsychologischen und diagnostischen Kenntnissen<br />
mangelt.<br />
⇒ Eine Verbesserung der Situation, d. h. eine sorgfältigere<br />
Prüfung der Verantwortlichkeit im Einzelfall, muss bereits lange<br />
vor der gerichtlichen Hauptverhandlung ansetzen muss.<br />
⇒ Den Staatsanwaltschaften und Jugendgerichten müssen<br />
bereits vor der Prüfung einer Anklageerhebung bzw. im<br />
Zwischenverfahren Informationen vorliegen, die sie zu einer<br />
ersten Einschätzung darüber in die Lage versetzen, ob die<br />
Verantwortlichkeit möglicherweise nicht gegeben ist.<br />
25
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Welche Informationen sind für eine erste Einschätzung der<br />
Verantwortlichkeit („gibt es möglicherweise Zweifel an der<br />
Verantwortlichkeit ?“) relevant und wer kann diese<br />
Informationen erheben ?<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Potenziell relevante Informationen für eine Beurteilung der<br />
Verantwortlichkeit<br />
‣ Frühkindliche motorische, sprachliche und kognitive Entwicklung<br />
‣ Familienverhältnisse<br />
‣ Schul- und Ausbildungskarriere<br />
‣ Verhaltensauffälligkeiten<br />
‣ Lernbehinderung oder Minderbegabung<br />
‣ Bisherige Diagnosen/Behandlungen durch Psychologen/Psychiater<br />
‣ Kulturelle Herkunft<br />
‣ Außerschulische und außerfamiliäre Aktivitäten<br />
‣ Sozialisations-/Erziehungsdefizite<br />
‣ Einbindung in dissoziale Gruppierungen<br />
26
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Es ist Aufgabe der Jugendgerichtshilfe,<br />
die notwendigen Information<br />
zur Beurteilung der Verantwortungsreife<br />
zur Verfügung zu stellen<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Das Vorgehen bei der Reifebeurteilung nach § 3 JGG<br />
27
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Prozessmodell der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife I<br />
in Anlehnung an Busch 2006, Dahle 2010<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Schritt 1: Analyse der sozialen und familiären Ausgangssituation,<br />
entwicklungskriminologischer Besonderheiten, Ausgangspunkte und<br />
Verläufe dissozialer Einstellungs-und Verhaltensmuster, devianter sozialer<br />
Einflüsse, kriminogener Risikostrukturen und Schutzfaktoren<br />
Schritt 2: Analyse der Defizite und Kompetenzen zum Tatzeitpunkt,<br />
Einflüsse durch Verführungen, sozialer Verhaltenserwartungen,<br />
Provokationen, innerer Bedürfnisse<br />
Schritt 3: Analyse des Anforderungsgehalts des Tatkontextes und<br />
Rekonstruktion des Tatgeschehens einschließlich Planungsphase,<br />
Tatanlauf, Tatausführung, Nachtatverhalten. Auch Analyse der Hinweise auf<br />
ein virulentes Unrechtsbewusstsein (Maßnahmen zum Schutz vor<br />
Entdeckung, zur Spurenbeseitigung, zur Verdachtsablenkung etc.)<br />
28
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Prozessmodell der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife II<br />
in Anlehnung an Busch 2006, Dahle 2010<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Spezifische Probleme:<br />
- retrospektive Betrachtung des Entwicklungsstandes zum Tatzeitpunkt<br />
- Nachreifung aufgrund der Strafverfolgung<br />
- Entwicklungsverzögerung als Symptom einer psychischen Störung<br />
29
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Beurteilung der strafrechtlichen Zuweisung<br />
heranwachsender Täter nach § 105 JGG<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
§105<br />
Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende<br />
(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den<br />
allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter<br />
die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr.<br />
1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn<br />
1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei<br />
Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur<br />
Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch<br />
einem Jugendlichen gleichstand, oder<br />
2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der<br />
Tat um eine Jugendverfehlung handelt.<br />
30
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Bei der Gesamtwürdigung der Persönlichkeit spielt - anders als<br />
beim §3 - die Einsicht, das Unrecht der Tat einzusehen, und nach<br />
dieser Einsicht zu handeln keine Rolle, da der Täter grundsätzlich<br />
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.<br />
Die sittliche und geistige Reife ist unabhängig vom Tatgeschehen<br />
zu beurteilen<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Jugendverfehlung (unbestimmter Rechtsbegriff), Bespiele aus der<br />
Rechtsprechung:<br />
- die Beweggründe der Tat entsprechen den Antriebskräften einer<br />
jugendtümlichenEntwicklung<br />
- die Tat geht zurück auf: Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife,<br />
Imponiergehabe oder Geltungsbedürfnis, <strong>Dr</strong>ang zu Selbstbestätigung, falsch<br />
verstandene Kameradschaft, Freundschaft oder Liebe, fehlende<br />
Beherrschung <strong>von</strong> Zorn, Mutprobe oder allgemeine Unausgeglichenheit<br />
- das Tatgeschehen ist aus der Dynamik einer Gruppe heraus entstanden<br />
31
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Einbeziehung<br />
Heranwachsender<br />
in das<br />
Jugendstrafrecht<br />
(% der Verurteilten,<br />
2010)<br />
insgesamt<br />
Raub, schwerer<br />
Raub<br />
Diebstahl,<br />
Unterschlagung<br />
Straftaten im<br />
Straßenverkehr<br />
Baden-W. 51,4 96,9 69,7 19,5<br />
Bayern 73,4 98,8 84,4 45,3<br />
Berlin 54,7 95,4 55,0 39,8<br />
Brandenburg 55,5 96,3 56,3 40,3<br />
Bremen 69,4 100 74,1 87,0<br />
Hamburg 86,1 100 92,3 74,5<br />
Hessen 82,7 100 89,0 80,9<br />
Mecklenburg-V. 50,5 95,5 61,1 36,9<br />
Niedersachsen 76,9 100 83,5 69,0<br />
Nordrhein-W. 70,1 99,1 80,3 60,2<br />
Rheinland-P. 56,9 96,4 75,3 28,6<br />
Saarland 84,6 100 90,5 69,4<br />
Sachsen 49,9 97,0 60,4 19,0<br />
Sachsen-A. 58,4 100 65,4 36,5<br />
Schleswig-H. 89,0 100 92,8 84,0<br />
Thüringen 55,1 93,8 68,4 42,5<br />
BRD 66,3 98,4 76,4 46,6<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Die Einbeziehung<br />
Heranwachsender<br />
in das<br />
Jugendstrafrecht<br />
(% der Verurteilten,<br />
2010)<br />
insgesamt<br />
Raub, schwerer<br />
Raub<br />
Diebstahl,<br />
Unterschlagung<br />
Straftaten im<br />
Straßenverkehr<br />
Baden-W. 51,4 96,9 69,7 19,5<br />
Bayern 73,4 98,8 84,4 45,3<br />
Berlin 54,7 95,4 55,0 39,8<br />
Brandenburg 55,5 96,3 56,3 40,3<br />
Bremen 69,4 100 74,1 87,0<br />
Hamburg 86,1 100 92,3 74,5<br />
Hessen 82,7 100 89,0 80,9<br />
Mecklenburg-V. 50,5 95,5 61,1 36,9<br />
Niedersachsen 76,9 100 83,5 69,0<br />
Nordrhein-W. 70,1 99,1 80,3 60,2<br />
Rheinland-P. 56,9 96,4 75,3 28,6<br />
Saarland 84,6 100 90,5 69,4<br />
Sachsen 49,9 97,0 60,4 19,0<br />
Sachsen-A. 58,4 100 65,4 36,5<br />
Schleswig-H. 89,0 100 92,8 84,0<br />
Thüringen 55,1 93,8 68,4 42,5<br />
BRD 66,3 98,4 76,4 46,6<br />
32
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Marburger Richtlinien <strong>von</strong> 1955<br />
„Danach wir ein Heranwachsender einem Jugendlichen oft in seiner sittlichen<br />
und geistigen Reife gleichzustellen sein, wenn seine Persönlichkeit<br />
insbesondere folgende Züge vermissen läßt:<br />
- eine gewisse Lebensplanung<br />
- Fähigkeit zu selbständigem Urteilen und Entscheiden<br />
- Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken<br />
- Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen<br />
- ernsthafte Einstellung zur Arbeit<br />
- gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen usw.<br />
...<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Marburger Richtlinien <strong>von</strong> 1955<br />
...<br />
- Charakterische jugendtümlicheZüge können u.a. sein:<br />
- Ungenügende Ausformung der Persönlichkeit<br />
- Hilflosigkeit<br />
- naiv-vertrauensseliges Verhalten<br />
- Leben dem Augenblick<br />
- starke Anlehnungsbedürftigkeit<br />
- spielerische Einstellung zur Arbeit<br />
- Neigung zum Tagträumen<br />
- Hang zu abenteuerlichem Handeln<br />
- Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen<br />
- mangelnder Anschlußan Altersgenossen usw.“<br />
33
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Esser et al, 1991<br />
operationalisierten die Merkmal der Marburger Richtlinien und prüften sie in<br />
einer prospektiven Längsschnittstudie<br />
- Realistische Lebensplanung<br />
- Eigenständigkeit gegenüber den Eltern<br />
- Eigenständigkeit gegenüber Peers und Partner<br />
- Ernsthafte Einstellung gegenüber Arbeit und Schule<br />
- Äußerer Eindruck<br />
- Realistische Alltagsbewältigung<br />
- Gleichaltrige oder ältere Freunde<br />
- Bindungsfähigkeit<br />
- Integration <strong>von</strong> Eros und Sexus<br />
- Konsistente, berechenbare Stimmungslage<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Esser et al, 1991<br />
Für jedes Merkmale definierten sie vier Reifestufen: kindlich, jugendlich,<br />
heranwachsend, erwachsen<br />
Die psychometrische Prüfung an 181 18-Jährigen erbrachte eine gute bis<br />
zufriedenstellende Reliabilität, die Befunde zur Validität waren weniger<br />
überzeugend.<br />
Esser (1999) konnte aber zeigen, dass sich Entwicklungsverzögerungen mit<br />
der Skala zuverlässig nachweisen lassen.<br />
Gleichwohl findet die Skala wenig Verwendung in der Gutachtenpraxis.<br />
34
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Busch (2006)<br />
Er ermittelte mit der Delphi-Technik bei Experten einen Satz <strong>von</strong> Items zur<br />
Beurteilung <strong>von</strong> Reifefragen, die sich<br />
- 7 Dimensionen zum Entwicklungsstand<br />
- 1 Dimension zu relevanten Umweltbedingungen und<br />
- 2 Dimensionen zur Jugendtümlichkeitder Tat zuordnen ließen.<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Busch (2006)<br />
Entwicklungsstand:<br />
- Autonomie (eigener Hausstand [+], Delinquenz aus der Gruppe heraus [-])<br />
- Qualifikation und Ziele (Häufiger Interessenwechsel [-], Politische Interessen [+])<br />
- Problem-und Konfliktmanagement (Bemühen um aggressionsfreie Konfliktlösung<br />
[+], Nutzung sozialer Normen zur Konfliktlösung [+])<br />
- Werte und Normen (Orientierung an Gruppennormen [-], Neigung normative<br />
Grenzen auszutesten [-])<br />
- Beziehung und Partnerschaft (Verantwortungsübernahme in Partnerschaft [+],<br />
Auflehnen gegen relevante Bezugspersonen [-])<br />
- Emotionalität und Impulsivität (Bereitschaft zu spontanen Gruppenaktionen [-],<br />
starke Experimentierfreude [-])<br />
- Kommunikation und Reflexivität (Unangemessene Sprache [-], Abwägen <strong>von</strong><br />
Handlungsfolgen [+])<br />
35
11.10.2013<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Relevante Umweltbedingungen:<br />
-keine eigene Wohnung, Fehlende Wertevermittlung durch Umfeld<br />
Jugendtümlichkeitder Tat:<br />
Tatumstände:<br />
Tat - als Wettstreit<br />
- unter Gleichaltrigen<br />
- unter Außendruck<br />
- erscheint Außenstehenden sinnlos<br />
- aus mangelndem Situationsüberblick<br />
Beweggründe der Tat:<br />
- Mutprobe<br />
- Vorbildern nacheifern<br />
- Anerkennung erlangen<br />
- Anschluss an <strong>Dr</strong>itte erlangen<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Versuche der Operationalisierungder Kriterien<br />
Busch (2006)<br />
Die Skalen erwiesen sich als reliabel, trennscharf und valide.<br />
Der Autor hat zudem Entscheidungsregeln entwickelt, anhand derer sich valide<br />
Zuordnungen vornehmen lassen.<br />
Weitere Validierungen aus dem forensischen Bereich liegen noch nicht vor.<br />
Die Verwendung in der Gutachtenpraxisist bisher allerdings gering.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Alternativ: BGH v. 6.12.1988<br />
Heranwachsende können Jugendlichen gleichgestellt werden, wenn<br />
„Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind“<br />
Allerdings:<br />
- sind auch bei Erwachsenen noch Entwicklungsprozesse feststellbar<br />
- lässt sich aktuell die Dynamik einer Entwicklung kaum feststellen, bevor<br />
diese abgeschlossen ist.<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Das Vorgehen bei der Reifebeurteilung nach § 105 JGG<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Prozessmodell der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife I<br />
in Anlehnung an Busch 2006, Dahle 2010<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Schritt 1: Analyse der sozialen und familiären Ausgangssituation,<br />
entwicklungskriminologischer Besonderheiten, Ausgangspunkte und<br />
Verläufe dissozialer Einstellungs-und Verhaltensmuster, devianter sozialer<br />
Einflüsse, kriminogener Risikostrukturen und Schutzfaktoren<br />
Schritt 2: Analyse der Defizite und Kompetenzen zum Tatzeitpunkt,<br />
Einflüsse durch Verführungen, sozialer Verhaltenserwartungen,<br />
Provokationen, innerer Bedürfnisse<br />
Schritt 3: Identifikation der Tatbeweggründe (z.B. Mutprobe,<br />
Imponiergehabe, falsch verstandene Kameradschaft), der situativen<br />
Einflüsse (z.B. Dynamik der Gruppe) und sonstigen Tathintergründe (z.B.<br />
mangelnder Situationsüberblick)<br />
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Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Prozessmodell der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife II<br />
in Anlehnung an Busch 2006, Dahle 2010<br />
Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Rechtspsychologie<br />
Liegen jugendtypische Tatelemente oder ein jugendtypischer<br />
Entwicklungsstand vor, erfordert die Annahme einer unzureichenden<br />
Kompensation der Defizite in der weiteren Entwicklung eine hohe Sicherheit.<br />
Sie dürfte deshalb eher die Ausnahme als die Regel sein.<br />
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