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Politik<br />
Rußland<br />
- Schein und Sein<br />
20 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion<br />
Marco Meng<br />
Rußland hat so manche Wandlungen<br />
durchgemacht, seit vor 20 Jahren die<br />
Sowjetunion aufgelöst wurde. Drei Präsidenten<br />
hat das noch immer größte<br />
Land der Erde seitdem erlebt: Boris<br />
Jelzin, Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew<br />
- Persönlichkeiten, die unterschiedlichere<br />
Charaktere kaum sein<br />
könnten. Was wurde aus dem einstigen<br />
schreckeinflößenden, supermächtigen<br />
Sowjetimperium? Kann man Rußland<br />
einen modernen Staat nennen? Eine Demokratie<br />
gar oder einen Rechtsstaat?<br />
Das vergangene Jahr war hier bemerkenswert:<br />
zum einen brach<br />
Rußland mit seiner imperialen<br />
Vergangenheit und seinem unbedingten<br />
Status als Weltmacht; zum anderen<br />
wurden Meinungs- und Pressefreiheit<br />
weiter beschnitten und der einstige<br />
Oligarch Chodorkowskij bekam Ende<br />
Dezember zu seiner Strafe noch eins<br />
drauf. Es steht zwar außer Frage, daß<br />
Michail<br />
Chodorkowskij<br />
wie alle anderen von Rußlands Superreichen<br />
auch Chodorkowskij seinen<br />
immensen Reichtum sich mit fragwürdigen<br />
Mitteln erwarb. Allerdings sollten<br />
diejenigen, die in Ministerpräsident<br />
Putin den „Rächer des bestohlenen<br />
Volkes“ sehen wollen, auch erkennen,<br />
daß andere, die mit denselben Mitteln<br />
wie Chodorkowskij reich wurden, vom<br />
Kreml nicht angefaßt werden – weil sie<br />
auf Putins Seite stehen oder sich ganz<br />
aus politischen Dingen heraushalten.<br />
Potemkinsche Dörfer<br />
Tatsächlich bedeutet die zweite Verurteilung<br />
Chodorkowskijs einen Rückschlag<br />
für ein nach Direktinvestitionen<br />
hungerndes Land, das sich modernisieren<br />
will und muß. Warum es sich<br />
modernisieren muß, zeigten 2010 die<br />
verheerenden Wald- und Torfbrände,<br />
die einen Schaden von geschätzten 11,5<br />
Milliarden Euro verursachten: ganze<br />
4 Löschflugzeuge hat das riesige Rußland.<br />
Zum Vergleich: die USA haben<br />
150! Vieles, was Rußland in den letzten<br />
20 Jahren als „Modernisierung“<br />
erreichte, ist nichts anderes als eine<br />
Potemkinsche Kulisse. Vor diesen Kulissen<br />
zu spielen versteht Ex-Präsident<br />
und amtierender Regierungschef Putin<br />
allerdings gut; doch die russische Regierung<br />
sollte am besten wissen, wie<br />
gefährlich ein solches Spiel ist. Denn<br />
wenn eine Regierung anfängt, ihre eigenen<br />
Lügen zu glauben, so wie sie das<br />
unter Breschnew tat, ist das Ende nicht<br />
fern. Ein bekannter Witz von damals<br />
lautete übrigens: „Wir tun so, als ob wir<br />
arbeiten würden, und die tun so, als ob<br />
sie uns bezahlen würden.“<br />
Bis 1998 sank das russische Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) auf 55 % des Wertes<br />
von 1989, der Anteil Rußlands am Welthandel,<br />
gemessen am Weltbruttosozialprodukt,<br />
lag 1998 bei nur 1,5 %. Waren<br />
die 1990er Jahre gekennzeichnet durch<br />
einen alkoholkranken Präsidenten nebst<br />
vielen Kriminellen, die sich die Reichtümer<br />
des Landes zum Teil mit Waffengewalt<br />
untereinander aufteilten, so kam<br />
ein makroökonomischer Boom, der ausschließlich<br />
durch den ungewöhnlichen<br />
Anstieg der Weltrohstoffpreise genährt<br />
wurde, bei Putins Machtantritt im Jahr<br />
2000 der neuen russischen Regierung<br />
zu Hilfe. Bis zum Ausbruch der globalen<br />
Finanzkrise verdoppelte sich das<br />
Bruttoinlandsprodukt Rußlands dann<br />
unter Putin, und die Marktkapitalisierung<br />
verzehnfachte sich. Die heftigen<br />
Auseinandersetzungen zwischen dem<br />
Präsidenten und dem kommunistischen<br />
konservativen Parlament sind seit Putin<br />
vergessen, die kommunistische Partei<br />
als einst stärkste Opposition fast mundtot<br />
und entmachtet. Der glaubwürdige<br />
und überaus beliebte General Alexander<br />
Lebed, der Putin hätte zum Konkurrenten<br />
werden können und seinen Tschetschenienkrieg<br />
kritisierte, kam 2002 bei<br />
einem Hubschrauberabsturz ums Leben.<br />
1998 war Lebed zum Gouverneur der Region<br />
Krasnojarsk gewählt worden: kein<br />
Wunder, daß Putin später die Gouverneurswahlen<br />
abschaffte und seitdem die<br />
Gouverneure vom Präsidenten persönlich<br />
ernannt werden. Die heutigen Oppositionellen<br />
sind bei den meisten Russen<br />
nicht sonderlich beliebt, außerdem<br />
fürchtet man auch einen Rückfall in die<br />
chaotischen Zustände der 1990er Jahre.<br />
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MATRIX 3000 Band <strong>65</strong> / September/Oktober 2011