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Isabella von Ägypten - Universität Heidelberg

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Ruprecht-Karls-<strong>Universität</strong> <strong>Heidelberg</strong><br />

Magisterarbeit<br />

an der Neuphilologischen Fakultät<br />

im Fach Deutsche Philologie<br />

Teilbereich: Neuere deutsche Literatur<br />

Die phantastischen Elemente in<br />

Achim <strong>von</strong> Arnim: „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“<br />

und<br />

Adelbert <strong>von</strong> Chamisso: „Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte“<br />

Vorgelegt <strong>von</strong>: Annelen Brunner<br />

Thema gestellt <strong>von</strong>: Professor Dr. Gerhard Buhr<br />

Datum der Einreichung: 2. August 2006


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung .......................................................................................................... 4<br />

2 Phantastik und Wirklichkeit.............................................................................. 5<br />

2.1 Definitionsansätze und Probleme der Untersuchung .................................. 5<br />

2.2 Terminologische Festlegungen für diese Arbeit ......................................... 9<br />

3 „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ................................................................................... 12<br />

3.1 Karl und <strong>Isabella</strong> - eine historisch-poetische Normrealität....................... 13<br />

3.1.1 Die geschichtliche Folie ..................................................................... 13<br />

3.1.2 <strong>Isabella</strong> und das Volk der Zigeuner.................................................... 19<br />

3.1.3 Das Verhältnis der Ebenen................................................................. 25<br />

3.2 Scheinbare Phantastik und phantastische Grenzfälle................................ 30<br />

3.2.1 Das Unheimliche ................................................................................ 30<br />

3.2.2 Das Phantastische in den Büchern...................................................... 32<br />

3.3 Die phantastischen Figuren....................................................................... 34<br />

3.3.1 Der Bärnhäuter ................................................................................... 34<br />

3.3.2 Golem und Alraun.............................................................................. 39<br />

3.3.2.1 Schöpfung des Golems................................................................. 40<br />

3.3.2.2 Integration des Golems - <strong>Isabella</strong>s Doppelgänger ....................... 42<br />

3.3.2.3 Schöpfung des Alrauns ................................................................ 44<br />

3.3.2.4 Integration des Alrauns - Mensch oder Wurzel? ........................ 48<br />

3.3.2.5 Phantastische Verkörperung und innere Triebkräfte ................... 55<br />

4 „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ .................................................. 57<br />

4.1 Die Normrealität ....................................................................................... 58<br />

4.2 Die phantastischen Elemente .................................................................... 63<br />

4.2.1 Der Graue ........................................................................................... 64<br />

4.2.1.1 Die Einführung des Grauen.......................................................... 64<br />

4.2.1.2 Charakteristik und Fähigkeiten des Grauen ................................. 66<br />

4.2.2 Die Zaubergegenstände ...................................................................... 72<br />

4.2.2.1 Fortunati Glückssäckel................................................................. 74<br />

4.2.2.2 Das Vogelnest und die Tarnkappe ............................................... 77<br />

4.2.2.3 Die Siebenmeilenstiefel ............................................................... 79<br />

4.2.3 Der Schatten ....................................................................................... 82<br />

4.2.3.1 Der Schattenverlust - Beginn der phantastischen Umwertung ....<br />

83


4.2.3.2 Phantastische Beschaffenheit....................................................... 83<br />

4.2.3.3 Phantastische Bedeutung.............................................................. 85<br />

5 Vergleich ......................................................................................................... 89<br />

5.1 Wirklichkeitsstruktur und Erzählweise..................................................... 89<br />

5.2 Natur und Präsenz der phantastischen Elemente ...................................... 91<br />

5.3 Verhältnis der phantastischen Elemente zur Komik................................. 94<br />

5.4 Verhältnis der phantastischen Elemente zur Transzendenz...................... 98<br />

Exkurs: Träume...................................................................................... 100<br />

5.5 Gesamtwirkung ....................................................................................... 101<br />

6 Schlussbemerkung......................................................................................... 107<br />

7 Literaturverzeichnis....................................................................................... 108<br />

7.1 Primärtexte, Quellen und Lebenszeugnisse ............................................ 108<br />

7.2 Forschungsliteratur ................................................................................. 109<br />

7.2.1 Allgemein ......................................................................................... 109<br />

7.2.2 Zu Achim <strong>von</strong> Arnim und „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ......................... 109<br />

7.2.3 Zu Adelbert <strong>von</strong> Chamisso und „Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte“ ...............................................................................................<br />

111


1 Einleitung<br />

Eine lebendig gewordene Alraunwurzel kommt zur Audienz beim jungen Erzherzog, dem spä-<br />

teren Karl V., Herrscher über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Ein Naturforscher<br />

eilt in Siebenmeilenstiefeln <strong>von</strong> Kontinent zu Kontinent und katalogisiert Pflanzenproben für<br />

ein umfassendes Werk, das er der Berliner <strong>Universität</strong> vermachen möchte. – Historie und All-<br />

tagswelt auf der einen, Ausgeburten der Phantasie auf der anderen Seite: Gerade das Zusam-<br />

menspiel <strong>von</strong> Gegensätzen macht den Reiz dieser Szenen aus, die sich in Achim <strong>von</strong> Arnims<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ und Adelbert <strong>von</strong> Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschich-<br />

te“ finden.<br />

Thema dieser Arbeit sind die phantastischen Elemente in diesen Werken: Alraun und Zauber-<br />

stiefel, Golem und niemals leer werdender Talersack, Wesen und Dinge, deren Existenz der<br />

Realität zuwiderläuft.<br />

Entstanden sind die beiden Werke vor einem ähnlichen Erfahrungshintergrund. Sie wurden mit<br />

nur zwei Jahren Abstand verfasst, „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ im Jahr 1811 und „Peter Schlemihl“<br />

im Jahr 1813. Die Autoren waren gleichaltrig, beide adliger Abstammung und eng mit Preußen<br />

verbunden. Achim <strong>von</strong> Arnim entstammte dem märkischen Landadel; der gebürtige Franzose<br />

Adelbert <strong>von</strong> Chamisso floh mit seiner Familie während der französischen Revolution und kam<br />

über Umwege nach Berlin. Sie erlebten die napoleonischen Kriege, den Zusammenbruch<br />

Preußens und die Freiheitskriege, eine unruhige Zeit der sozialen und politischen Umwälzun-<br />

gen.<br />

Zugleich war dies die Zeit der Romantik, in der das Interesse an Phantasie wieder stark gewor-<br />

den war. Arnim, Mitherausgeber <strong>von</strong> „Des Knaben Wunderhorn“, war einer der bekanntesten<br />

Vertreter dieser Epoche und auch Chamisso war vor allem in seiner Jugend <strong>von</strong> romantischem<br />

Gedankengut beeinflusst.<br />

Diese Einflüsse, denen beide Autoren ausgesetzt waren, schlagen sich in ihren Werken nieder.<br />

Doch trotz einer ähnlichen Grundstruktur lassen sich grundlegende Unterschiede in der Behand-<br />

lung der phantastischen Elemente feststellen.<br />

Übereinstimmungen und Abweichungen sollen im Folgenden in einer textnahen Analyse unter-<br />

sucht werden. Dieser wird eine kurze Erläuterung des Begriffs ‚Phantastik‘ und der Probleme<br />

bei deren Untersuchung vorangestellt, an die sich eine Festlegung der Terminologie in dieser<br />

Arbeit anschließt. Bei der Untersuchung der beiden Werke wird zunächst festgestellt, <strong>von</strong> wel-<br />

cher Grundlage sich die phantastischen Elemente jeweils abheben. Darauf folgt eine Analyse<br />

der einzelnen Elemente, ihrer Bedeutung und Integration in die Erzählungen. In einem abschlie-<br />

ßenden Vergleichsteil werden verschiedene Aspekte ihrer Verwendung einander gegen-<br />

übergestellt.<br />

- 4 -


2 Phantastik und Wirklichkeit<br />

2.1 Definitionsansätze und Probleme der Untersuchung<br />

Die Phantastik steht noch nicht lange im Blickpunkt der Forschung und die Definition des Be-<br />

griffs sowie die damit verknüpfte Definition eines Genres der ‚phantastischen Literatur‘ sind bis<br />

heute umstritten.<br />

Zwar spielten Begriffe wie ‚Phantasie‘, ‚Phantastik‘ und ‚Wunderbares‘ gerade in der Romantik<br />

eine Rolle, doch das Interesse an terminologischer Präzisierung war in der deutschen Literatur-<br />

wissenschaft lange Zeit gering. Die Anfänge der Beschäftigung mit phantastischer Literatur lie-<br />

gen in Frankreich, wo sich schon im neunzehnten Jahrhundert erste Definitionsvorschläge fin-<br />

den. Franzosen waren es auch, die die Debatte in den sechziger Jahren des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts anstießen: Roger Caillois verfasste 1965 und 1966 zwei Bücher über die Abgren-<br />

zung des Phantastikbegriffs, „Au coeur du phantastique“ und „Images, images“, deren Hauptge-<br />

danken 1968 <strong>von</strong> Lars Gustafsson in seinem Aufsatz „Über das Phantastische in der Literatur“<br />

zusammengefasst wurden. 1 Tzvetan Todorovs strukturalistische Untersuchung „Introduction à<br />

la litterature phantastique“ <strong>von</strong> 1970, die im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde, 2 heizte<br />

die Debatte an, da sie einen grundlegend anderen Phantastikbegriff vertrat. Für zusätzliche Ver-<br />

wirrung sorgte die Rezeption osteuropäischer Arbeiten, insbesondere <strong>von</strong> Stanislaw Lem, die<br />

den Begriff wiederum anders verwenden. Im deutschsprachigen Raum kam es in der Folgezeit<br />

zu zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu dem Thema, Bibliographien und<br />

Anthologien phantastischer Texte erschienen, doch ein Konsens darüber, was unter dem ‚Phan-<br />

tastischen‘ zu verstehen sei, wurde bis heute nicht erreicht. Auch ob es sich dabei überhaupt um<br />

ein Genre oder eine Gattung handelt, ist umstritten. Hans Holländer etwa sieht im Phantasti-<br />

schen „eine ästhetische Kategorie [...] wie das Schöne, das Erhabene, das Häßliche.“ 3 Auch<br />

Blume, dessen Phantastikbegriff noch näher behandelt wird, sieht die phantastische Fiktion als<br />

einen Grundtyp literarischer Fiktion, „der gewissermaßen quer zu Gattungsbegriffen liegt.“ 4<br />

Die Begrifflichkeiten sind also in hohem Maße unklar und es würde den Rahmen dieser Arbeit<br />

sprengen, zu versuchen, hier eine abschließende Definition des Phantastischen zu entwickeln.<br />

Im Folgenden sollen nur Tendenzen der Phantastikdefinition, sowie Schwierigkeiten bei der Be-<br />

schäftigung mit dem Phantastischen dargestellt werden. Ziel ist es, das Bewusstsein für das<br />

Thema zu schärfen und operable Begriffe zu gewinnen, die bei der anschließenden Textanalyse<br />

verwendet werden können.<br />

Uwe Dursts systematische Darstellung unterscheidet zwei grundlegende Definitionsansätze für<br />

1. Siehe Gustafsson: Über das Phantastische in der Literatur.<br />

2. Siehe Todorov: Einführung in die fantastische Literatur.<br />

3. Holländer: Das Bild in der Theorie des Phantastischen, S. 77.<br />

4. Blume: Fiktion und Weltwissen, S. 140.<br />

- 5 -


phantastische Literatur: die maximalistische und die minimalistische Genredefinition. 5<br />

Die maximalistische Genredefinition geht da<strong>von</strong> aus, dass jeder Text phantastisch zu nennen ist,<br />

der ‚übernatürliche‘ Elemente enthält, d.h. Elemente, die den Naturgesetzen der realen Welt wi-<br />

dersprechen. In der ahistorischen Betrachtungsweise werden als Maßstab die Erkenntnisse der<br />

heutigen Naturwissenschaft angelegt, so dass auch Märchen und antike Mythen unter den Be-<br />

griff der phantastischen Literatur fallen. Eine solche Auffassung wurde bereits um 1830 <strong>von</strong><br />

Charles Nodier vertreten. Da<strong>von</strong> zu unterscheiden ist die historische maximalistische Defini-<br />

tion. Hier wird als Definitionskriterium gefordert, dass „das Übernatürliche in die (mehr oder<br />

minder) zeitgenössische Wirklichkeit einbricht.“ 6 Damit wird zum einen das Realitätsbild der<br />

jeweiligen Entstehungszeit als Folie unterlegt, zum anderen betont, dass es sich um ein ‚Einbre-<br />

chen‘ des Übernatürlichen handelt, also eine Spannung zwischen diesem und der dargestellten<br />

Realität vorhanden ist, die etwa im Märchen fehlt. Caillois‘ Definition gehört in diese<br />

Kategorie.<br />

Maximalistische Genredefinitionen greifen fast immer auf zusätzliche fiktionsexterne Kriterien<br />

zurück. Ein solches Kriterium ist zum einen die Angst, die beim Leser phantastischer Literatur<br />

ausgelöst würde, da das Phantastische „einen Skandal [darstelle], einen Riß, einen seltsamen<br />

Bruch, der in der wirklichen Welt fast unerträglich ist.“ 7 Zum anderen wird manchmal auch die<br />

Haltung des Autors herangezogen. Alle Werke, deren Verfasser an die Wahrheit des dargestell-<br />

ten Übernatürlichen glaubt, sollen aus dem Genre der phantastischen Literatur ausgeschlossen<br />

werden. Beide Zusatzkriterien sind problematisch, da sie <strong>von</strong> Faktoren abhängen, die nicht Teil<br />

des Textes und extrem schwer überprüfbar sind.<br />

Die minimalistische Genredefinition geht auf Todorov zurück. Nach ihr liegt nur dann Phantas-<br />

tik vor, wenn Ungewissheit herrscht, ob die dargestellten Ereignisse mit den Regeln eines ‚rea-<br />

listischen‘ Bezugssystems erklärt werden können oder ob ein anderes angenommen werden<br />

muss. Sind die rätselhaften Ereignisse mit rationalen Mitteln hinreichend erklärbar, gehört der<br />

Text zur Gattung des ‚explizierten Übernatürlichen‘ oder ‚Unheimlichen‘, sind sie eindeutig nur<br />

durch die Annahme <strong>von</strong> Übernatürlichem erklärbar, zur Gattung des ‚akzeptierten Übernatürli-<br />

chen‘ oder ‚Wunderbaren‘. Für das Phantastische ist das Moment der Unentscheidbarkeit kon-<br />

stituierend: „[S]obald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man<br />

das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des<br />

Wunderbaren.“ 8 Dursts eigene Definition des Phantastischen beruht trotz einiger Abweichungen<br />

<strong>von</strong> Todorov ebenfalls auf diesem Grundgedanken.<br />

Hier ist bereits festzuhalten, dass die in dieser Arbeit behandelten Werke nur nach der maxima-<br />

listischen Definition der phantastischen Literatur zuzuordnen sind bzw. phantastische Elemente<br />

5. Zu den folgenden Definitionsansätzen siehe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 27-42.<br />

6. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 29.<br />

7. Gustafsson: Über das Phantastische in der Literatur, S. 17.<br />

8. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 26.<br />

- 6 -


enthalten, denn in beiden Fällen sind die übernatürlichen Ereignisse eindeutig nicht mit den Na-<br />

turgesetzen erklärbar, es herrscht also keine Unschlüssigkeit.<br />

Unabhängig da<strong>von</strong>, welche Definition man verwendet, muss man sich jedoch mit dem Rea-<br />

litätsbegriff auseinandersetzen, vor dessen Hintergrund Phantastik bestimmt wird. 9 Dieses Pro-<br />

blem ist in älteren Untersuchungen oft vernachlässigt worden, die sich auf eher willkürliche<br />

Auflistungen phantastischer Motive (z. B. ‚Vampir‘, ‚Teufel‘ usw.) beschränkt haben und zur<br />

Bestimmung des Phantastischen einen direkten Abgleich des literarischen Textes mit der fik-<br />

tionsexternen Wirklichkeit vornahmen.<br />

Dieses Vorgehen ist nicht unproblematisch. Der Versuch, die Erfahrungswirklichkeit bzw. das<br />

Wahrscheinlichkeitsempfinden des Leser der Definition des Phantastischen zugrunde zu legen,<br />

scheitert schon daran, dass es unter den realen Lesern gravierende Unterschiede darin gibt, was<br />

für wahr gehalten wird. Durst führt Studien an, die zeigen, dass noch in den siebziger Jahren<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts eine nicht unbeträchtliche Anzahl <strong>von</strong> Menschen ‚übernatürliche’<br />

Phänomene wie Geistererscheinungen oder Hellseherei für möglich hielten. Die Auffassung des<br />

individuellen Lesers ist subjektiv und völlig unkontrollierbar und kann daher nicht als Maßstab<br />

dienen. Die Annahme einer absoluten Wirklichkeit hingegen, unabhängig <strong>von</strong> der menschlichen<br />

Wahrnehmung, ist philosophisch höchst umstritten und kann daher ebenfalls nicht herangezo-<br />

gen werden.<br />

Zudem weist Durst darauf hin, dass die Literatur ein eigenes System konstituiert, das anderen<br />

Regeln unterworfen ist als die Erfahrungswirklichkeit. Übliche literarische Techniken, wie etwa<br />

Zeitraffung und -dehnung, Vorausdeutungen, die ‚Allwissenheit‘ eines Erzählers und die beson-<br />

dere Kausalität <strong>von</strong> Fiktion, die Ereignisse immer in ein Beziehungsgeflecht einbindet, wi-<br />

dersprächen der Realitätserfahrung und seien damit in Relation zur fiktionsexternen Welt an<br />

sich schon ‚wunderbar‘ bzw. ‚übernatürlich‘. Insofern gebe es keinen echten Realismus in der<br />

Literatur und was so benannt werde, ergebe sich nur aus den gerade herrschenden literarischen<br />

Konventionen.<br />

Durst zieht die Konsequenz, dass es notwendig sei, „den außerliterarischen Begriff der Wirk-<br />

lichkeit durch den innerliterarisch-eigengesetzlichen Begriff des Realitätssystems“ 10 zu ersetzen.<br />

Die Besonderheit der phantastischen Literatur sei es, dass dieses Realitätssystem, das er auch<br />

‚reguläres System‘ oder ‚Normrealität‘ nennt, mit einem anderen Realitätssystem konfrontiert<br />

werde, der ‚Abweichungsrealität‘ oder dem ‚wunderbaren System‘. Da Durst <strong>von</strong> Todorovs mi-<br />

nimalistischer Phantastikdefinition ausgeht, ergibt sich für ihn das Phantastische nur dann, wenn<br />

innerhalb des Textes unklar bleibt, welches der beiden Systeme Gültigkeit hat. Es gilt dabei zu<br />

beachten: „Während Todorov behauptet, die phantastische Literatur setze die Wirklichkeit, die<br />

9. Zu den folgenden Überlegungen siehe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, v.a. S. 60-89.<br />

10. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 80 (Hervorhebungen <strong>von</strong> Durst).<br />

- 7 -


‚Welt, die durchaus die unsre ist‘, in Zweifel (genauer gesagt: deren Naturgesetze), setzt sie tat-<br />

sächlich eine innerliterarische Normrealität in Zweifel, die zumeist realistischer Konventions-<br />

prägung ist [...].“ 11 Diese realistische Konventionsprägung muss die Normrealität aber nicht<br />

zwangsläufig besitzen – es ist ausreichend, dass sie innerhalb des Textes als Norm und Bezugs-<br />

system gilt. Das Übernatürliche – die Abweichung <strong>von</strong> der fiktionsexternen Welt – ist folglich<br />

nach Dursts Theorie nicht genredefinierend für das Phantastische.<br />

Trotzdem kann auch Durst nicht ohne einen Realitätsbegriff auskommen, denn an etwas muss<br />

auch die Qualität der innerliterarischen Normrealität gemessen werden. Aufgrund seiner Ableh-<br />

nung fiktionsexterner Kriterien kann dessen Definition nur ex negativo geschehen: „Als realis-<br />

tisch sei fürderhin ein Text bezeichnet, der die immanente Wunderbarkeit seiner Verfahren ver-<br />

birgt.“ 12 Das Wunderbare selbst sei nämlich „stets eine parodistische Bloßlegung künstlerischer<br />

Verfahren.“ 13 Übernatürliche Elemente versteht Durst als explizit gemachte Entsprechungen li-<br />

terarischer Techniken, deren „immanente Wunderbarkeit durch Traditionsbildung unkenntlich<br />

geworden ist.“ 14 Gedankenlesen z.B. mache das Verfahren der auktorialen Erzählhaltung expli-<br />

zit und das Vorhersagen der Zukunft die Technik der Vorausdeutung. 15<br />

Nach dieser Betrachtung des Realitätsbegriffs aus Dursts strukturalistischer, fiktionsinterner<br />

Perspektive sollen zusätzlich Peter Blumes Überlegungen zur Phantastik dargestellt werden, die<br />

<strong>von</strong> kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehen.<br />

Laut der kognitiven Linguistik referieren sprachliche Konzepte nicht direkt auf Objekte in der<br />

Welt, sondern auf das, was im menschlichen Geist an Vorstellungen vorhanden ist. Für Sprache<br />

und Kommunikation ist es unabdingbar, dass zwischen den Gesprächspartnern eine deutliche<br />

Überschneidung vorliegt, was diese Vorstellungen (oder Konzepte) angeht, da der Sprecher bei<br />

jeder Äußerung Wissen beim Hörer voraussetzt. Insofern kann man auch <strong>von</strong> einer Menge <strong>von</strong><br />

Vorstellungen und Konzepten ausgehen, die <strong>von</strong> den Individuen einer Sprachgemeinschaft<br />

(oder bei größerer Spezialisierung einer Untergruppe der Sprachgemeinschaft) geteilt werden,<br />

dem so genannten belief system. 16 Vor dem Hintergrund des belief systems, das zur Entstehungs-<br />

zeit eines literarischen Textes herrscht, kann entschieden werden, wo Konzepte aktiviert wer-<br />

den, die ein Abbild der vertrauten Realität hervorrufen und wo sich Widersprüche ergeben.<br />

Ausgehend <strong>von</strong> dieser Überlegung definiert Blume den realistisch-fiktionalen Diskurs sowie<br />

zwei Arten des phantastischen Diskurses, den phantastisch-fiktionalen Diskurs im engeren Sin-<br />

ne und den kontrafaktisch-phantastischen Diskurs. 17 Es ist zu beachten, dass hier nicht Gattun-<br />

11. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 87.<br />

12. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 96f.<br />

13. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 97.<br />

14. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 241.<br />

15. Siehe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 70 und S. 75.<br />

16. Siehe Blume: Fiktion und Weltwissen, S. 58-62.<br />

17. Siehe Blume: Fiktion und Weltwissen, S. 138-144.<br />

- 8 -


gen oder Genres bestimmt werden, sondern Grundtypen literarischer Fiktion.<br />

Dem fiktionalen Diskurs liegt mindestens ein Konzept zugrunde, das nicht Teil des belief sys-<br />

tems der Diskursteilnehmer ist, jedoch nicht zu Widersprüchen mit diesem führt – beispielswei-<br />

se das Auftreten <strong>von</strong> Personen, die in der außerliterarischen Welt nicht existieren, aber densel-<br />

ben Naturgesetzen unterworfen sind wie alle Menschen. Die phantastischen Diskurse hingegen<br />

sind darüber definiert, dass sie Konzepte enthalten, die gegen das belief system verstoßen. Im<br />

Falle des kontrafaktisch-fiktionalen Diskurses handelt es sich dabei um Verstöße gegen bekann-<br />

te Fakten, ohne dass dabei eine grundsätzlich abweichende Weltordnung unterstellt würde – ein<br />

Beispiel wäre ein Roman, der in einer Welt spielt, in der Hitler den zweiten Weltkrieg gewon-<br />

nen hat. Der phantastisch-fiktionale Diskurs im engeren Sinne enthält Konzepte, die gegen<br />

Grundregeln des belief systems verstoßen (etwa Naturgesetze), und kommt damit der maxima-<br />

listischen Definition <strong>von</strong> Phantastik nahe.<br />

2.2 Terminologische Festlegungen für diese Arbeit<br />

Folgendes ergibt sich aus den dargestellten Ansätzen für die Untersuchungen in dieser Arbeit:<br />

Zunächst erscheint, wie <strong>von</strong> Durst angeregt, eine Unterscheidung <strong>von</strong> außerliterarischer und in-<br />

nerliterarischer Wirklichkeit notwendig. Dies lässt sich auch gut mit der kognitionswissen-<br />

schaftlichen Betrachtungsweise in Einklang bringen. Aus deren Perspektive ist das belief system<br />

des Lesers entscheidend. Wenn ein Leser einen fiktionalen Text liest, so baut er für diesen auto-<br />

matisch ein belief system auf, das für die Welt des Textes gilt. 18 Verstöße gegen dieses System,<br />

das wie bei Durst die ‚Normrealität‘ des Textes genannt werden soll, haben eine ähnliche Wir-<br />

kung wie Verstöße gegen das belief system, das der realen Welt angepasst ist. Damit lässt sich<br />

auch das Problem, das sich aus verschiedenen Wirklichkeitsvorstellungen der Leser ergibt,<br />

weitgehend vermeiden: Wenn in der Normrealität des Textes z.B. Geister als nicht existent an-<br />

genommen werden, was sich durch die Erzählweise und die Reaktionen der Figuren feststellen<br />

lässt, so bedeutet das Auftreten eines Geistes in diesem Text ein ‚übernatürliches’ Ereignis, egal<br />

ob der reale Leser an Geister glaubt oder nicht.<br />

Für die folgende Analyse wird der Begriff der ‚Normrealität‘ übernommen als Bezeichnung für<br />

das, was innerhalb des Textes als Alltagsrealität gilt.<br />

Entgegen Dursts Ausführungen halte ich es nicht für möglich, die reale Welt bei der Untersu-<br />

chung eines Textes völlig auszuklammern. Sie ist die Folie dafür, wie der Text wahrgenommen<br />

wird und Lücken in der fiktionalen Welt müssen ständig durch Annahmen aus der realen gefüllt<br />

werden. Für den Leser ist es die Regel, dass alle Gesetze des außerliterarischen belief systems<br />

18. Die folgende Äußerung Dursts geht in dieselbe Richtung: „Die Eigengesetzlichkeit des Realitätssystems<br />

ist u.a. zu Beginn der Lektüre im Widerstand des Textes zu spüren, wenn man sich – oft<br />

mühsam – in der erstellten Welt zurechtfinden und deren Möglichkeiten erkunden muß." (Durst:<br />

Theorie der phantastischen Literatur, S. 82)<br />

- 9 -


gelten, solange sie im Text nicht explizit außer Kraft gesetzt werden. 19 Eine vollständige Welt-<br />

beschreibung ohne solche Defaultannahmen ist unmöglich. Die Annahme einer völligen Ei-<br />

gengesetzlichkeit des fiktionalen Textes, wie Durst sie versucht, widerspricht der menschlichen<br />

Wahrnehmungsweise und die Interpretation übernatürlicher Elemente als explizit gemachte lite-<br />

rarische Techniken scheint mir am Kern ihrer Wirkung vorbei zu gehen. Die Überraschung (und<br />

möglicherweise auch Verstörung) angesichts solcher Verstöße ergibt sich nicht aufgrund der<br />

Offenlegung literarischer Kunstgriffe, sondern aufgrund der Diskrepanz zur Erfahrungswirk-<br />

lichkeit.<br />

Bezüge zur nichtfiktionalen Wirklichkeit werden also bei der Analyse eine Rolle spielen. Aller-<br />

dings soll weder eine objektive Wirklichkeit postuliert, noch mit der Auffassung des individuel-<br />

len Lesers argumentiert werden. Grundlage soll vielmehr das außerliterarische belief system<br />

sein, also die Menge der Konzepte, die das Weltbild der Autoren und der Zeitgenossen in ihrem<br />

Kulturkreis, der intendierten Leserschaft, ausmachen. Dieses bezeichne ich mit dem Begriff<br />

‚Erfahrungswirklichkeit‘. Auch dieses Vorgehen ist nicht unproblematisch, denn es gibt sicher-<br />

lich Grauzonen, was zur Erfahrungswirklichkeit gezählt werden kann. Ein Bezug zum außerlite-<br />

rarischen Realitätsempfinden erscheint aber unverzichtbar, um die Wirkung phantastischer El-<br />

emente zu erklären. Einen Verstoß gegen die Erfahrungswirklichkeit bezeichne ich als<br />

‚übernatürlich‘, was nicht automatisch gleichzusetzen ist mit ‚phantastisch‘.<br />

Beim Gebrauch des Begriffs ‚Phantastik‘ werde ich mich nicht an der minimalistischen Defini-<br />

tion orientieren. Das Kriterium der Unentscheidbarkeit zwischen wunderbarer oder rationaler<br />

Erklärung eines Phänomens zur Bestimmung des Phantastischen ist, wie häufig kritisiert wurde,<br />

in Gefahr, <strong>von</strong> der Leserwahrnehmung abzuhängen und es ergibt sich auch das oft angeführte<br />

Problem, dass ein Text durch einen einzigen angefügten Satz, der die Auflösung bringt, das<br />

Genre wechseln kann. 20 Abgesehen da<strong>von</strong> hat die Verwendung der minimalistischen Termino-<br />

logie in Hinblick auf die hier behandelten Texte nicht den Vorteil größerer Präzision, da in die-<br />

sen keine Unentscheidbarkeit vorliegt, sie also <strong>von</strong> vornherein dem Wunderbaren zugeordnet<br />

werden müssten und man also nur immer den Begriff ‚Phantastisches‘ durch ‚Wunderbares‘ er-<br />

setzen würde. Auf Todorovs phantastische Unschlüssigkeit und den vom ihm eingeführten Be-<br />

griff des ‚Unheimlichen‘ wird allerdings an einigen Stellen der Arbeit Bezug genommen, wenn<br />

sie hilfreich zur Beschreibung der Wirkung des Phantastischen sind.<br />

Ich gebrauche den Begriff ‚Phantastik‘ weitgehend im Sinne der historischen maximalistischen<br />

Definition, wobei allerdings die innerliterarische Normrealität der Hintergrund ist, vor dem er<br />

definiert wird. Dabei ist es entscheidend, dass eine Spannung zwischen dieser und den phantas-<br />

tischen Elementen spürbar ist, selbst wenn die phantastischen Elemente als real akzeptiert wer-<br />

19. Siehe Blume: Fiktion und Weltwissen, S. 83-85.<br />

20. Siehe z.B. Blume: Fiktion und Weltwissen, S. 139f.<br />

- 10 -


den. Diese Spannung lässt sich anhand der Erzählweise, der Art, wie das phantastische Element<br />

eingeführt wird, und der Reaktionen der Figuren feststellen.<br />

Ziel dieser Arbeit ist es, die Einbettung phantastischer Elemente in ein innerliterarisches System<br />

der Normrealität zu untersuchen, nicht Genre oder Gattung der Gesamtwerke zu bestimmen. 21<br />

Deshalb werde ich auch die Existenz eines Genres der Phantastik und ihre Zugehörigkeit dazu<br />

nicht weiter problematisieren. Wenn ich die Werke im Folgenden ‚Erzählungen‘ nenne, so ge-<br />

schieht dies aus dem Bestreben, eine neutrale Bezeichnung zu finden, nicht als Gattungsfest-<br />

legung.<br />

21. Dies wäre ein eigenes, durchaus komplexes literaturtheoretisches Thema. Für „Peter Schlemihls<br />

wundersame Geschichte“ etwa wurden u.a. folgende Bezeichnungen gebraucht: (Kunst-)Märchen<br />

(z,B. durch Richard Benz und Hermann August Korff; siehe Wiese: Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte, S.97), phantastische Novelle (durch Th. Mann; siehe Mann: Chamisso, S. 320), Novellen-Märchen<br />

(durch A.P. Kroner; siehe Wiese: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 98),<br />

Märchennovelle (durch B. v. Wiese; siehe Wiese: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S.<br />

116), Wirklichkeitsmärchen (z.B. durch R. Schneider; siehe Schneider: Wirklichkeitsmärchen und<br />

Romantik, S. 203).<br />

- 11 -


3 „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ 22<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ war vermutlich im Juli/August 1811 fertig gestellt und erschien 1812<br />

zusammen mit drei anderen Erzählungen Achim <strong>von</strong> Arnims in einer Sammlung ohne übergrei-<br />

fenden Titel, die in der Forschung als die „Novellensammlung <strong>von</strong> 1812“ bezeichnet wird. Die<br />

Einzelerzählungen sind locker durch eine Rahmenhandlung verknüpft, in der der Erzähler mit<br />

Freunden eine Fahrt auf dem Rhein unternimmt und dabei verschiedene Geschichten zum Bes-<br />

ten gibt. Der Rahmen hat autobiographische Bezüge: Im Herbst 1811 verbrachte Arnim<br />

gemeinsam mit Bettine, der Schwester seines Freundes Clemens Brentano, die er im Frühling<br />

des Jahres geheiratet hatte, einige Zeit am Rhein und es finden sich verschiedene Anspielungen<br />

auf Ereignisse und Personen aus seinem Bekanntenkreis. Der Sammlung vorangestellt sind die<br />

„Zueignung an meine Freunde Jakob Grimm und Wilhelm Grimm“ in Versen sowie die „Anre-<br />

de an meine Zuhörer im Herbste 1811“. Diese geht in die Einführung zur ersten Erzählung über.<br />

Die Verschmelzung <strong>von</strong> nichtfiktionalen und fiktionalen Elementen zeigt sich schon am voll-<br />

ständigen Titel der Erzählung: „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendlie-<br />

be“. Durch die Nennung Karls V. (1500-1558), dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches<br />

Deutscher Nation, wird der Eindruck einer historischen Erzählung erweckt. Die Titelheldin<br />

<strong>Isabella</strong> jedoch ist eine sagenhafte Zigeunerprinzessin.<br />

Aufgrund <strong>von</strong> historischen Anspielungen lässt sich der Beginn der Handlung auf das Jahr 1515<br />

festlegen, als der 15jährige Erzherzog Karl kurz vor seiner Krönung zum König <strong>von</strong> Spanien<br />

und dem Beginn seiner Herrscherlaufbahn steht. Die etwa gleichaltrige <strong>Isabella</strong>, nach der un-<br />

rechtmäßigen Hinrichtung ihres Vaters, des Zigeunerherzogs Michael, die letzte Nachfahrin des<br />

ägyptischen Königshauses, lebt zurückgezogen in einem angeblichen Spukhaus. Als Karl in<br />

diesem Haus übernachtet, tritt sie als vermeintliches Gespenst an sein Bett. Er flieht, doch der<br />

Keim für ihre Liebe ist gelegt. Um das nötige Geld für ein Leben in der Stadt zu beschaffen und<br />

Karl so wieder sehen zu können, erschafft <strong>Isabella</strong> den Alraun Cornelius Nepos, ein Wurzel-<br />

männlein, das verborgene Schätze finden kann. Zusammen mit ihm, der alten Zigeunerin Braka<br />

und einem <strong>von</strong> den Toten erstandenen ‚Bärnhäuter‘ fährt sie nach Gent und es gelingt der selt-<br />

samen Gruppe, sich als angebliche Adlige in die Gesellschaft einzufügen. Ein Treffen zwischen<br />

Karl und <strong>Isabella</strong> wird schließlich während einer Kirmes in Buik arrangiert und sie verbringen<br />

eine Nacht zusammen, in der ein Sohn gezeugt wird. Ihre Begegnung ist jedoch überschattet<br />

<strong>von</strong> Täuschung, Intrigen und Missverständnissen. Um den Alraun abzulenken, der <strong>Isabella</strong> als<br />

seine Braut ansieht, lässt Karl <strong>von</strong> einem Jahrmarktsjuden einen Golem schaffen, der <strong>Isabella</strong>s<br />

exaktes Ebenbild ist. Diese ‚Golem Bella‘ verdrängt jedoch die echte <strong>Isabella</strong>, sodass Karl<br />

selbst ihr verfällt. Zwar erkennt er schließlich den Irrtum und vernichtet den Golem, ist aber aus<br />

22. Werkzitate aus „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ erfolgen direkt im Fließtext mit dem Kürzel „IÄ“ für: Arnim,<br />

Achim <strong>von</strong>: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802-1817, hrsg. v. Renate<br />

Moering, Frankfurt a. M. 1990, S. 622-743.<br />

- 12 -


politischen Erwägungen nicht bereit, <strong>Isabella</strong> zur Frau zu nehmen. Stattdessen möchte er sie als<br />

Mätresse und verheiratet sie der Form halber mit dem Alraun, den er zu seinem Finanzminister<br />

ernennt. Dieser demütigenden Lage entzieht sich <strong>Isabella</strong>, indem sie flieht und ihr Volk einer al-<br />

ten Prophezeiung gemäß nach <strong>Ägypten</strong> zurückführt. Karls spätere Herrschaft steht im Zeichen<br />

seines Versagens in der Beziehung zu <strong>Isabella</strong> und der fehlgeleiteten Verbindung mit dem Al-<br />

raun. <strong>Isabella</strong> und Karl sehen einander nie wieder, sterben jedoch am selben Tag und eine<br />

Vereinigung nach dem Tode wird impliziert.<br />

In Kapitel 2 über das Wesen des Phantastischen wurde festgestellt, dass das Zusammentreffen<br />

verschiedener Realitätssysteme eine notwendige Voraussetzung zur Erzeugung phantastischer<br />

Effekte ist. Aus der knappen Inhaltsangabe wird bereits klar, dass bei „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“<br />

ein Kontrast zwischen historischer Folie und fiktionalen Elementen eindeutig gegeben ist. Peter<br />

Horst Neumann weist jedoch darauf hin, dass die Struktur der Erzählung noch komplexer ist.<br />

Der Titel seines Aufsatzes „Legende, Sage und Geschichte in Achim <strong>von</strong> Arnims ‚<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Ägypten</strong>‘“ verrät bereits, dass zwei verschiedene Typen <strong>von</strong> Elementen angenommen werden,<br />

die sich <strong>von</strong> der Historie abheben. Mit ‚Legende‘ bezieht er sich auf die um <strong>Isabella</strong> zentrierte<br />

Geschichte der Zigeuner, mit ‚Sage‘ auf die aus der Volksüberlieferung übernommenen Figuren<br />

des Alraun, des Golems und des Bärnhäuters. Während „Legendenhaftes und Historisches sich<br />

auf weiter Strecke untrennbar durchdringen“, tritt mit den Sagenmotiven ein „drittes Element<br />

[...] hinzu: ein irreales, magisches, das sich in real erscheinenden Gestalten der Welt der Erzäh-<br />

lung einfügt, zugleich aber der Handlung jene ‚verborgenen Türen‘, die Wilhelm Grimm tadel-<br />

te, nach vielen Seiten hin öffnet und so die Wahrscheinlichkeit des Erzählten immer wieder auf<br />

die Probe stellt.“ 23 Neumann weist also <strong>Isabella</strong> und ihrer Geschichte einen anderen Status zu<br />

als den Sagengestalten.<br />

Die These der folgenden Untersuchung lautet, ausgehend <strong>von</strong> Neumanns Einschätzung, dass<br />

sich die <strong>von</strong> Arnim erfundene Geschichte der Zigeuner mit der geschichtlichen Folie eng ver-<br />

bindet, sodass <strong>Isabella</strong> Karl auf gleicher Ebene entgegentreten kann. Die beiden Ebenen bilden<br />

gemeinsam eine Normrealität, <strong>von</strong> der sich die Sagengestalten Alraun, Golem und Bärnhäuter<br />

als eigentlich phantastische Elemente in der Erzählung abheben.<br />

3.1 Karl und <strong>Isabella</strong> - eine historisch-poetische Normrealität<br />

Zunächst soll untersucht werden, wie sich die Welt Karls und die Welt der Zigeuner jeweils zur<br />

Erfahrungswirklichkeit verhalten und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.<br />

3.1.1 Die geschichtliche Folie<br />

Jacob Grimm, der die Vermischung <strong>von</strong> Phantasie und geschichtlicher Wahrheit ablehnte, weil<br />

23. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 299.<br />

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er sie als Verfälschung gesicherter Fakten empfand, schrieb seinem Freund Arnim als Kom-<br />

mentar zu dessen Erzählung: „Du wirst sagen, daß es Dir in der Geschichte der Isabelle doch<br />

auf eine bestimmte Zeit und auch Gegend angekommen sei, doch glaube ich, daß man sich auch<br />

bei einem König *** und einem Land ***, so viel hier an Bestimmtheit nöthig ist, selbst heraus<br />

und hineingefunden hätte!“ 24 Arnim empfindet jedoch gerade die konkrete historische Veranke-<br />

rung als vollkommen natürlich: „Genug, es ist zu allen Zeiten geschehen und in sich ganz un-<br />

schuldig, daß die Leute merkwürdigen Zeiten und Menschen, <strong>von</strong> denen nichts als die ge-<br />

schichtliche Armuth übrig, ihre liebsten Gefühle, Situationen und Reden angehänget haben<br />

[...].“ 25 Mehr noch, diese Interpretation und Ausschmückung der Weltgeschichte ist nach seiner<br />

Auffassung sogar die eigentliche Aufgabe der Dichtung. Er unterscheidet die ‚Wahrheit‘ der<br />

Geschichte <strong>von</strong> der geschichtlichen Faktizität – die Wahrheit gehe durch Läuterung aus der<br />

Faktizität hervor und das Medium solcher Läuterung sei die Dichtung. 26 In der Einleitung zu<br />

seinem Roman „Die Kronenwächter“ erklärt er: „Das Bemühen, diese Zeit in aller Wahrheit der<br />

Geschichte aus Quellen kennen zu lernen, entwickelte diese Dichtung, die sich keineswegs für<br />

eine geschichtliche Wahrheit gibt, sondern für eine geahndete Füllung der Lücken in der Ge-<br />

schichte, für ein Bild im Rahmen der Geschichte.“ 27 Dies lässt sich ebenso <strong>von</strong> „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Ägypten</strong>“ sagen. Damit ein solches ‚Bild‘ eingefügt werden kann, muss natürlich der ‚Rahmen‘<br />

vorhanden sein und es soll gezeigt werden, mit welchen Mitteln Arnim diesen konstruiert.<br />

Arnims Quellen zum Leben Karls V. waren vornehmlich zwei geschichtliche Darstellungen:<br />

Antoine Varillas‘ „Practique de l‘Education des Princes“ (1684) und William Robertsons „His-<br />

tory of the Reign of the Emperor Charles V.“ (1769). 28 Arnim selbst betont, wie wichtig ihm die<br />

Benutzung historischer Quellen war: „Ich habe nirgends die mir zugänglichen geschichtlichen<br />

Quellen unbenutzt gelassen, und so thut es mir recht leid, daß ich des [Hubertus Thomas] Leo-<br />

dius Leben des Pfalzgrafen Friedrich, eines Jugendgenossen Karls, erst jetzt gelesen habe, es<br />

steht darin wenigstens etwas mehr <strong>von</strong> seiner Jugendzeit, als in den übrigen Geschichtsschrei-<br />

bern, und ich hätte das gerne benutzt, um mich der möglichen Wahrheit immer näher<br />

anzuschließen.“ 29<br />

Dennoch ist seine Behandlung der historischen Fakten oft recht frei. So war der Geburtstag<br />

Karls V. am 24. Februar, 30 nicht im Herbst, wie in der Erzählung suggeriert wird. Es scheint, als<br />

24. Brief <strong>von</strong> Jacob Grimm an Achim <strong>von</strong> Arnim vom 6. 5. 1812; zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim<br />

und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 193f.<br />

25. Brief <strong>von</strong> Achim <strong>von</strong> Arnim an Jacob Grimm vom 13. 6. 1812; zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim<br />

und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 203.<br />

26. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 296f.; für die Originaläußerung Arnims siehe<br />

Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 2), S. 14.<br />

27. Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 2), S. 15.<br />

28. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1255.<br />

29. Brief <strong>von</strong> Achim <strong>von</strong> Arnim an Jacob Grimm vom 13. 6. 1812, zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim<br />

und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 203.<br />

30. Siehe Kohler: Karl V., S. 49.<br />

- 14 -


habe Arnim die historische Korrektheit hier der Symbolwirkung der Jahreszeiten untergeordnet:<br />

Die Schaffung des Alrauns geschieht im Spätherbst, kurz vor Wintereinbruch, 31 einer Jahreszeit,<br />

die mit Verfall assoziiert wird. Dadurch, dass sie mit Karls Geburtstag zusammenfällt (siehe IÄ,<br />

S. 640), wird die unselige Verbundenheit zwischen Karl und dem Alraun angedeutet, die sich<br />

später zeigen wird. Man kann vermuten, dass das Geburtsdatum verschoben wurde, um diesen<br />

Bezug zu schaffen.<br />

Ferdinand <strong>von</strong> Aragonien, Karls Großvater, starb bereits am 23. Januar 1516, 32 ist in der Erzäh-<br />

lung jedoch im Frühjahr noch am Leben (siehe IÄ, S. 713). Dies ist wohl eine Folge da<strong>von</strong>,<br />

dass das zweite Zusammentreffen Karls und <strong>Isabella</strong>s im Frühling, der Zeit der Liebe und<br />

Erneuerung, stattfindet und Karls Eintritt in die Regierungspflichten erst danach erfolgen soll.<br />

Graf Egmont, in der Erzählung Teil des Hofstaats des jungen Erzherzogs Karl (siehe IÄ, S. 704<br />

und 710), lebte <strong>von</strong> 1522 bis 1568 und war also im Jahre 1515/16 noch gar nicht geboren. 33 Hier<br />

ist es nahe liegend, dass Arnim die durch Goethes Drama „Egmont“ bekannt gewordene Figur<br />

bewusst einbezogen hat, um bei den Lesern Assoziationen zu wecken und die Atmosphäre der<br />

Zeit heraufzubeschwören. Auch durch das Motiv der freien Liebe zu einem nicht standesgemä-<br />

ßen Mädchen ergibt sich eine Parallele zwischen Goethes Egmont und Arnims Karl. 34 Arnim<br />

passt also geschichtliche Fakten den Erfordernissen der Erzählung an. 35<br />

Dass der Bezug auf nichtfiktionale Tatsachen jedoch <strong>von</strong> Bedeutung ist, zeigt sich daran, dass<br />

historisches Wissen für die Erzählung wichtig ist und an einigen Stellen beim Leser vorausge-<br />

setzt wird.<br />

Durch den Untertitel „Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe“ (IÄ, S. 622) wird der Leser<br />

auf die geschichtliche Verankerung vorbereitet und der Rahmen vorgegeben. In der Erzählung<br />

selbst dagegen fehlen zunächst direkte Hinweise auf Zeit und geschichtlichen Hintergrund der<br />

Handlung. Die Einführung Karls V. in die Erzählung geschieht wie nebenbei durch die Zigeu-<br />

nerin Braka: „[D]enk nur, Prinz Karl ist gestern vor diesem Gartenhause mit seinem Lehrer<br />

Cenrio vorbeigeritten [...].“ (IÄ, S. 629) Der Erkennungswert für den Leser besteht nur in den<br />

Namen, die Konstellation ‚Prinz‘ und ‚Lehrer‘ ist das einzige, was explizit ausgesagt wird, um<br />

die Figuren einzuordnen.<br />

Als Karl jedoch tatsächlich als Figur auftritt, wird er eindeutig mit der historischen Persönlich-<br />

31. In der Nacht der Erschaffung fallen die „ersten Schneeflocken“ (IÄ, S. 638) und der Aufbruch nach<br />

Gent kurz danach geschieht im „kalten Oktober“ (IÄ, S. 658).<br />

32. Siehe Kohler: Karl V., S. 56.<br />

33. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1306.<br />

34. Siehe Schürer: Quellen und Fluss der Geschichte, S. 197 und Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3)<br />

[Kommentar], S. 1306.<br />

35. Auch die Schilderung <strong>von</strong> Karls Totenmesse entspricht nicht den historischen Tatsachen. In diesem<br />

Fall liegt der Grund für die Abweichung jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit in Arnims Quelle<br />

(Robertson), in der sich eine ähnliche Darstellung findet (siehe Burwick: Dichtung und Malerei bei<br />

Achim <strong>von</strong> Arnim, S. 10).<br />

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keit in Beziehung gesetzt: „[E]s war Karl, der künftige Beherrscher einer Welt, in der die Sonne<br />

nie untergeht, in der ersten Frische des vollendeten Wuchses, der in das verlassene Zimmer<br />

kam.“ (IÄ, S. 631) Während bei der ersten Erwähnung der Blickwinkel <strong>von</strong> Braka eingenom-<br />

men wird, also die Welt aus Sicht einer der handelnden Figuren dargestellt wird, geschieht diese<br />

Verknüpfung über einen Erzählerkommentar. Nur auf diese Weise kann vorausdeutend das<br />

Konzept aktiviert werden, das wohl am engsten mit Karl V. verknüpft ist: sein Status als mäch-<br />

tiger Herrscher, wobei die Verwendung des bekannten geflügelten Wortes vom ‚Reich, in dem<br />

die Sonne nie untergeht‘ den Wiedererkennungswert für den Leser noch verstärkt. Die Herr-<br />

scherrolle ist zentral für die Figur Karl und wird nur wenige Sätze weiter nochmals hervorgeho-<br />

ben: „[D]ieser aber trat so großmütig einher, so sanft in geübter Kraft, sie [i.e. <strong>Isabella</strong>] wusste,<br />

daß er es war, der künftige Herrscher, noch ehe ihn seine Begleiter als Prinz gegrüßt.“ (IÄ, S.<br />

631) Diese Anspielungen zielen deutlich darauf ab, die Identifikation der fiktiven Figur mit der<br />

geschichtlichen Persönlichkeit zu festigen.<br />

Denselben Zweck erfüllt auch der Erzählerkommentar zu Karls Leichtgläubigkeit: „Es ist be-<br />

kannt, daß sein späteres politisches Talent in seinen früheren Jahren, die sich ganz zur körperli-<br />

chen Ausbildung hinneigten, wenig durchschien [...].“ (IÄ, S. 682) Der Erzähler rechtfertigt das<br />

Verhalten der fiktiven Gestalt mit Aussagen über die historische Persönlichkeit Karl. 36 Er<br />

schafft damit eine Beglaubigung der Plausibilität des Erzählten durch den Bezug auf außerlite-<br />

rarisches Wissen.<br />

Dass historisches Wissen Voraussetzung für das Verständnis der Erzählung ist, lässt sich an ei-<br />

nem weiteren Beispiel veranschaulichen, der Behandlung der Figur Adrian. Deren erste Erwäh-<br />

nung erfolgt unmittelbar, nachdem Karl <strong>Isabella</strong> im Spukhaus begegnet ist: „[A]uch konnte er<br />

[i.e. Karl] jetzt noch, ohne daß Adrian, der bei seinen Büchern saß, etwas da<strong>von</strong> gemerkt hätte,<br />

nach Hause kommen.“ (IÄ, S. 634) Das Wissen, dass es sich bei „Adrian“ um Adriaen Floris-<br />

zoon van Trusen (1459-1523), den späteren Papst Hadrian VI., handelt, der seit 1507 die Erzie-<br />

hung des jungen Erzherzogs übernommen hatte, 37 wird offenbar vorausgesetzt. Erst am Ende<br />

dieses Abschnitts nämlich präzisiert der Erzähler das Verhältnis zwischen Adrian und Karl, in-<br />

dem er erwähnt, dass „Kaiser Maximilian die Sorge für das Lateinlernen seines Enkels“ (IÄ, S.<br />

634) Adrian übertragen habe. Adrians Stellung, die eines „Oberhofmeisters“, und ein vollstän-<br />

digerer Name, „Adrian <strong>von</strong> Utrecht“, tauchen erst deutlich später auf (siehe IÄ, S. 668). Auf<br />

Adrians geistlichen Stand gibt es, selbst als <strong>Isabella</strong> ihn nachts aufsucht und er sie in seinem<br />

Bett übernachten lässt (siehe IÄ, S. 702-704), nur einen indirekten Hinweis 38 , obgleich das Wis-<br />

sen um diesen Umstand unverzichtbar ist für die Wirkung der Szene. Erst anlässlich <strong>von</strong> Karls<br />

36. Diese Aussagen sind historisch korrekt: Zeitgenossen Karls V. bezeugen seine Vorliebe für das<br />

Waffenspiel und die Reitkunst in der Jugend (siehe Kohler: Karl V., S. 52).<br />

37. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1303.<br />

38. „Die Religion war in ihm beim Lesen der alten römischen Dichter zu einer Art kluger Naturkunde<br />

geworden.“ (IÄ, S. 704)<br />

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Scherz, mit dem er Adrian auf der Ratsversammlung bloßstellen will, werden schließlich expli-<br />

zit die „geistlichen Gelübde der Keuschheit“ (IÄ, S. 721) erwähnt. Hier, wie auch bei den an-<br />

deren historischen Persönlichkeiten, wird vorausgesetzt, dass der Leser sich in der Historie aus-<br />

kennt und die Anspielungen sofort versteht. Dies war zu Arnims Zeit auch recht wahrschein-<br />

lich, da gerade Karl V. eine Persönlichkeit ist, die im beginnenden 19. Jahrhundert als Reprä-<br />

sentant deutschen Kaisertums einige Aufmerksamkeit erfahren hat.<br />

Neben diesen allgemeinen Feststellungen über die Art, wie die historischen Bezüge behandelt<br />

werden, ist es natürlich <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung, wozu sie eingesetzt werden.<br />

Zum einen liefern sie einen Hintergrund für die Erzählung. So wird etwa die Geschichte der Zi-<br />

geuner mit einem Hinweis auf die „zunehmende[n] Türkenmacht“ (IÄ, S. 624), die die Heim-<br />

kehr nach <strong>Ägypten</strong> erschwert, historisch verankert. Die Hinweise auf das Leben in den Nieder-<br />

landen „in dieser Zeit“ (IÄ, S. 675), die bei der Ankunft in Gent (siehe IÄ, S. 665) und vor<br />

allem bei der Beschreibung der Kirmes in Buik (siehe IÄ, S. 672-676) gegeben werden, tragen<br />

ebenfalls dazu bei, einen historischen Rahmen für die Handlung zu evozieren.<br />

Historische und politische Fakten aus dem Leben Karls V. werden auch verwendet, um den<br />

Ablauf der um <strong>Isabella</strong> zentrierten Haupthandlung zu motivieren und zu steuern.<br />

Die historische Konstellation spielt eine Rolle dabei, dass es zum Kontakt Karls mit dem Al-<br />

raun kommt, durch den er <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s Anwesenheit in der Stadt erfährt: „Der Erzherzog hatte<br />

die Nachricht bekommen, daß er wegen eines im Briefe an seinen Großvater Ferdinand ausge-<br />

lassenen Titels <strong>von</strong> demselben enterbt worden sei, als er eben ärgerlich nach Hause kam, weil er<br />

ein tragendes Reh, das er für einen Rehbock angesehen, geschossen hatte.“ (IÄ, S. 666) Über<br />

das Zusammentreffen dieser Ereignisse macht der Alraun einen Scherz, der ihm die Aufmerk-<br />

samkeit Karls einbringt.<br />

Vor allem aber beeinflussen politische Gegebenheiten fast durchgehend Karls Verhalten gegen-<br />

über <strong>Isabella</strong>. So wird sein Interesse an ihr zunächst gesteigert, weil er sie für eine französische<br />

Prinzessin hält, „deren Heirat mit ihm <strong>von</strong> dem französischen Hofe gegen den Willen seines<br />

Großvaters betrieben wurde.“ (IÄ, S. 681f.)<br />

Als <strong>Isabella</strong> ihn unerkannt zu seinem Treffen mit dem Golem führen muss, hat Karl gerade die<br />

Nachricht erhalten, dass sein Großvater Ferdinand dem Tode nahe sei und er selbst bald den<br />

Thron besteigen könnte: „Der magnetische Kreis der nahen Herrschaft bewegte Karls herr-<br />

schendes Gemüt so unruhig, wie ein Nordlicht die Magnetnadel; dabei war er so in sich versun-<br />

ken, daß er keinen Blick auf Bella warf [...].“ (IÄ, S. 713) Die Nähe der Macht ist es also, die<br />

ihn daran hindert, <strong>Isabella</strong> zu erkennen und seinen Irrtum in Bezug auf den Golem zu<br />

korrigieren.<br />

Auch kurz nachdem er den Golem vernichtet hat und scheinbar wieder mit <strong>Isabella</strong> vereint ist,<br />

sind es „die Freuden naher Herrschaft“, die Karl „mitten in Liebkosungen [...] beunruhigten und<br />

erkalteten [...].“ (IÄ, S. 720) Er hat kurz darauf „über die Schicksale der Welt zum ersten Mal<br />

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einen Rat zu hören und eine Tat auszuführen.“ (IÄ, S. 720) Die ‚Historizität‘ dieser Ratsver-<br />

sammlung wird durch den Auftritt verschiedener Persönlichkeiten, „Adrian, Chievres, Wilhelm<br />

<strong>von</strong> Croy, dessen Neffen, und Sauvage“ (IÄ, S. 720), und die Erwähnung politischer Entschei-<br />

dungen – Adrian wird nach Spanien entsandt – betont.<br />

Der endgültige Verrat ihrer Liebe, den Karl begeht, als er <strong>Isabella</strong> „an der linken Hand“ 39 (IÄ,<br />

S. 730) mit dem Alraun verheiraten lässt, geschieht ebenfalls aus politischen Gründen: Er sorgt<br />

sich, ob die Heirat mit einer „Herzogin <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong> [...] nicht seinen Thron unsicher mache.“<br />

(IÄ, S. 722) Politisches Kalkül ist auch entscheidend für den Plan, den Alraun an sich zu binden<br />

und ihn zum Finanzminister zu machen, denn, wie sein Minister Chievres Karl vor Augen führt,<br />

„unabhängig <strong>von</strong> den Launen der Stände schafft er [i.e. der Alraun] Eurer Hoheit, künftig die<br />

Mittel jede Tätigkeit für sich zu benutzen.“ (IÄ, S. 727) Ein Bezug auf außerliterarisches Ge-<br />

schichtswissen schließt sich unmittelbar an: „Dem Erzherzoge wurde in diesem Augenblick die<br />

künftige Klugheit, die ihn in allen Verhältnissen leitete, vorahndend [...].“ (IÄ, S. 727)<br />

Wie gezeigt wurde, verwendet Arnim politische Umstände als Prüfstein für die Beziehung zwi-<br />

schen Karl und <strong>Isabella</strong> und zeigt damit Karls Unfähigkeit, sich in seiner historisch-politischen<br />

Situation <strong>Isabella</strong>s würdig zu erweisen. Von hier aus ist es ein kleiner Schritt zu der eigentli-<br />

chen Intention der Erzählung: mit poetischen Mitteln eine Erklärung der Verfehlungen des rea-<br />

len Karl V. zu konstruieren. Dies tut Arnim explizit am Ende der Erzählung (siehe IÄ, S.<br />

735-739). Auf wenigen Seiten fasst er die Regierungstätigkeit Karls bis zu seinem Tode zusam-<br />

men und nennt Schlagwörter, die der Leser mit Inhalt zu füllen hat. Kenntnis der Geschichte ist<br />

auch hier vorausgesetzt. Teile, die zur fiktionalen Handlung zählen, vor allem das Schicksal des<br />

Alrauns, durchziehen die Darstellung <strong>von</strong> Karls Leben und die Erklärung historischer Fakten<br />

über die Fiktion geschieht an vielen Stellen explizit: „Das Warten auf diese Nachrichten [über<br />

<strong>Isabella</strong>s Verbleib], war die Ursache seines unbegreiflichen Zögerns, ehe er aus den Niederlan-<br />

den nach Spanien ging [...].“ (IÄ, S. 736) Und weiter: „Irren wir nicht, so läßt sich manche sei-<br />

ner Launen, an denen seine wichtigsten Unternehmungen scheiterten, aus diesem ersten Miss-<br />

griffe seiner Klugheit erklären: diese Gleichgültigkeit, womit er das Regierungswesen zuerst<br />

behandelte, wie er Chievres und die Seinen in der verächtlichsten Bestechlichkeit Spanien ver-<br />

derben ließ; die Sinnlichkeit, in der er sich oft zu vergessen suchte, und worin er die Stärke sei-<br />

nes Leibes früher erschöpfte; alles Unbefriedigte und Unbefriedigende in seinem Leben.“ (IÄ,<br />

39. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ <strong>von</strong> 1794, das bis 1869 in Kraft blieb und<br />

den Adel zum ersten Staatsstand erklärte, enthielt auch ein Verbot der Heirat <strong>von</strong> adligen Männern<br />

mit Frauen aus dem niederen Bürger- oder Bauernstand. Die ‚Ehe zur linken Hand‘, auf die in der<br />

Erzählung angespielt wird, bot die Möglichkeit, solche Verbindungen doch zu legitimieren, wobei<br />

die Frau und die Kinder an den geringeren Stand gebunden blieben. Vor diesem Hintergrund sieht<br />

Kugler in der Heirat des Alrauns mit <strong>Isabella</strong> „eine Satire auf die preußische Sozialverfassung, in<br />

der dem Geblütsadel noch eine politisch-moralische Führungsposition zugewiesen wird, während<br />

schon längst die wirtschaftlichen Verhältnisse die Gesellschaftsordnung dominieren.“ (Kugler:<br />

Kunst-Zigeuner, S. 135)<br />

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S. 736)<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einbindung der Erzählung in konkrete historische<br />

Bezüge für Arnim <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung ist. Dabei geht es darum, Karl V. und seine<br />

Zeit für den Leser (wieder-)erkennbar zu machen. Exakte Details stehen dabei nicht im Vorder-<br />

grund, sondern werden <strong>von</strong> Arnim den Erfordernissen der Erzählung untergeordnet. Ziel ist es,<br />

historische Entwicklungen, die dem Leser bekannt sind, über die fiktiven Geschehnisse zu<br />

erklären.<br />

3.1.2 <strong>Isabella</strong> und das Volk der Zigeuner<br />

Bei der Darstellung <strong>von</strong> Karl und seiner Umgebung ist also, trotz einiger Abweichungen, der<br />

Bezug auf die außerliterarische Erfahrungswirklichkeit wichtig und beabsichtigt. In diesem Ka-<br />

pitel soll nun untersucht werden, welchen Status <strong>Isabella</strong> und das Volk der Zigeuner haben, die<br />

Neumann als ‚legendenhaft‘ bezeichnet. 40<br />

Arnims Interesse an den Zigeunern bestand bereits zur Zeit der Entstehung <strong>von</strong> „Des Knaben<br />

Wunderhorn“ (1805). Er gilt als Bearbeiter des Gedichts „Das Feuerbesprechen“, das die Hin-<br />

richtung <strong>von</strong> sieben Zigeunern zum Thema hat, und in seinem Aufsatz „Von Volksliedern“, der<br />

die erste „Wunderhorn“-Ausgabe beschließt, widmet er ihnen eine Passage, die sehr auf-<br />

schlussreich für seine Sichtweise des Zigeunervolkes ist. 41 Schon dort stilisiert er den „wunder-<br />

baren Wandel des Zigeuner-Reichs“ 42 als Gegenbild zur herrschenden Gesellschaftsordnung, an<br />

der er vor allem die kapitalistische Grundhaltung, die Geldgier der Herrschenden und die Funk-<br />

tionalisierung der Stände kritisiert. Die Zigeuner haben in dieser verdorbenen Gesellschaft eine<br />

Opferrolle inne und Arnim schreibt ihnen ideale Eigenschaften zu: naturhafte Ursprünglichkeit,<br />

Tapferkeit, überragendes Wissen (in der Medizin), Selbstlosigkeit und Liebe. Aufschlussreich<br />

ist Arnims Vergleich der Zigeuner mit den „kleinen Zwergen, wo<strong>von</strong> die Sage redet“ 43 , die<br />

Wohltäter der Menschen sind, jedoch wegen geringer Vergehen, die aus der Not heraus entstan-<br />

den sind, grausam verfolgt werden. Diese Gleichsetzung deutet bereits an, wie Arnim das real<br />

existierende Volk der Zigeuner ins Irrationale, Sagenhafte rückt. 44 Dasselbe Vorgehen kann<br />

man auch bei der Darstellung der Zigeuner in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ beobachten, insbesondere<br />

in Hinblick auf <strong>Isabella</strong> selbst. Im Folgenden soll Arnims Umgang mit seinen Quellen und his-<br />

torischen Fakten beleuchtet und der Wirklichkeitsstatus der Zigeunerhandlung untersucht<br />

werden.<br />

40. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 299.<br />

41. Siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 117.<br />

42. Arnim: Von Volksliedern, S. 420.<br />

43. Arnim: Von Volksliedern, S. 420.<br />

44. Siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 132 (Fußnote).<br />

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Arnims Vorstellungen <strong>von</strong> den Zigeunern sind <strong>von</strong> verschiedenen Quellen beeinflusst, bei de-<br />

nen es sich zum Teil um Chroniken und geschichtliche Darstellungen handelt, die ebenso histo-<br />

rische Gültigkeit beanspruchen wie seine Quellen zum Leben Karls V., die zum Teil aber auch<br />

der Dichtung zuzuordnen sind wie Cervantes‘ „Exemplarische Novelle“ über ein Zigeunermäd-<br />

chen oder das <strong>von</strong> Brentano bearbeitete Volkslied „La Zingara“. Arnims Hauptquelle ist Hein-<br />

rich Moritz Gottlieb Grellmanns Werk „Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Le-<br />

bensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge“<br />

(1783; 2. Auflage 1787). 45 Dabei handelt es sich um das damalige Standardwerk mit wissen-<br />

schaftlichem Anspruch zu diesem Thema, das eine Zusammenstellung zahlreicher frühneuzeitli-<br />

cher Quellen enthält. Arnim übernimmt einige Details. So erwähnt Grellmann bei seinem Be-<br />

richt über die Oberhäupter der Zigeuner einen „Herzog Michael“ 46 , dessen Namen Arnim für<br />

<strong>Isabella</strong>s Vater übernahm. Auch der Name <strong>Isabella</strong> taucht bei Grellmann im Zusammenhang<br />

mit den Zigeunern auf: Er erwähnt zwei „Zigeunererlasse“ der Königin <strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> Ungarn<br />

<strong>von</strong> 1557. 47<br />

Auf der anderen Seite weicht Arnims Darstellung jedoch in einigen Punkten bewusst <strong>von</strong> seiner<br />

Quelle ab, um ein positives Bild der Zigeuner zu schaffen, die bei Grellmann, wie es in den<br />

frühneuzeitlichen und zeitgenössischen Darstellungen verbreitet war, vorwiegend negativ<br />

dargestellt werden. 48<br />

Das Verhältnis Karls V. zu den Zigeunern ist in Arnims Erzählung deutlich anders, als es histo-<br />

risch verbürgt ist. Bei Grellmann wird Kaiser Karl V. als einer der Herrscher genannt, die<br />

erneute Verfolgungen der Zigeuner anordneten. Bei Arnim hingegen erkennt er sie als Erben<br />

des ägyptischen Reiches an und erlaubt <strong>Isabella</strong>, ihr Volk heimzuführen (siehe IÄ, S. 722f.).<br />

Die vor allem in der frühen Neuzeit weit verbreitete These <strong>von</strong> der Herkunft der Zigeuner aus<br />

<strong>Ägypten</strong> wird bei Grellmann diskutiert und aus Mangel an wissenschaftlichen Beweisen expli-<br />

zit abgelehnt. 49 Arnim greift dennoch die alte Vorstellung auf. Diese erlaubt eine Aufwertung<br />

der Zigeuner, da <strong>Ägypten</strong> als alte Hochkultur nicht nur mit wesentlichen wissenschaftlichen<br />

und künstlerischen Errungenschaften assoziiert wird, sondern auch die Konnotation des Mysti-<br />

schen und Erhabenen hat. Zu Arnims Zeit herrschte sogar eine regelrechte ‚<strong>Ägypten</strong>mode‘, die<br />

sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Zudem verbanden sich mit <strong>Ägypten</strong> Vorstel-<br />

lungen <strong>von</strong> einer idealen konservativ-feudalen Gesellschaftsform, die Arnims politischen An-<br />

sichten entgegenkamen. 50 Die positive Bewertung der ägyptischen Herkunft wird bereits deut-<br />

lich bei deren erster Erwähnung, wenn <strong>Isabella</strong> vom „hohen Throne in <strong>Ägypten</strong>“ (IÄ, S. 622)<br />

45. Zu den Quellen siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1254f. und Kugler: Kunst-<br />

Zigeuner, S. 126.<br />

46. Grellmann: Historischer Versuch über die Zigeuner, S. 132.<br />

47. Siehe Grellmann: Historischer Versuch über die Zigeuner, S. 345.<br />

48. Siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 126f.<br />

49. Siehe Grellmann: Historischer Versuch über die Zigeuner, S. 213.<br />

50. Siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 153f. (Fußnote).<br />

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spricht, auf dem sie ihren Vater im Traum gesehen habe. Es folgen zahlreiche Bezüge zur ägyp-<br />

tischen Kultur, etwa die Beschreibung der Totenriten (siehe IÄ, S. 740f.) sowie der Verweis auf<br />

das alte und geheime Wissen der Zigeuner, niedergelegt in „alte[n] Schriften [...] auf wunderli-<br />

chem Papier in fremder Sprache“ (IÄ, S. 628), die <strong>Isabella</strong> im Nachlass ihres Vaters findet. In<br />

ihrer Vision sieht <strong>Isabella</strong> ihren Vater „mit herrlicher Krone auf der ägyptischen Pyramide, die<br />

er ihr oft gezeichnet hatte, sitzen“ und zwar in der Haltung der Pharaonen in ägyptischen Dar-<br />

stellungen: „[S]eine Beine waren aber an einander gewachsen und seine Hände an den Leib ge-<br />

legt [...].“ (IÄ, S. 700)<br />

Dass Arnims Interesse nicht in der historisch korrekten Darstellung der Zigeuner liegt, wird<br />

noch deutlicher, wenn man seinen Umgang mit einer anderen Quelle betrachtet, die er mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit kannte: einen Aufsatz über den so genannten ‚Fall Rosenberg‘, der 1802 in<br />

der Reihe „Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Preußischen Staaten“ erschien. 51 Es<br />

handelt sich hierbei um die Beschreibung einer seit 1800 laufenden Justizuntersuchung gegen<br />

eine Gruppe Zigeuner, die auch allgemeine Betrachtungen zu den in Preußen lebenden Zigeu-<br />

nern enthielt. Obgleich diese Quelle in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat,<br />

spricht einiges dafür, dass sie Einfluss auf die Erzählung „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ hatte. 52<br />

Die Quelle beschreibt einen Kriminalfall, bei dem eine Gruppe Zigeuner des Gänsediebstahls<br />

verdächtigt wurde. Da man ihnen ihre Schuld nicht sofort nachweisen konnte, zogen die ge-<br />

richtlichen Untersuchungen sich hin und eskalierten. Geständnisse wurden erpresst, es kam zu<br />

einer Flut <strong>von</strong> immer schwerwiegenderen Verdächtigungen und in deren Folge zu Unruhen und<br />

weiteren Verhaftungen, bei denen ein Kind starb. Der Fall dokumentiert die zeitgenössischen<br />

Ängste und Vorurteile gegenüber den Zigeunern, sowie den entwürdigenden Umgang der Be-<br />

hörden mit ihren.<br />

Arnim setzt sich mit diesen Vorurteilen, die zu seiner Zeit höchst virulent waren, kaum ausein-<br />

ander. Die Verfolgung der Zigeuner wird fast durchgehend religiös überhöht als Buße und Mar-<br />

tyrium dargestellt und Arnim löst das Problem, indem er ‚seine‘ Zigeuner zu Beginn der Neu-<br />

zeit ‚nach Hause‘ schickt. Zudem werden Stellen in den Protokollen des Falls Rosenberg<br />

ignoriert, die darauf hindeuten, dass die realen ‚Zigeuner‘ zu Arnims Lebzeiten weitgehend in<br />

die Gesellschaft integriert waren und bürgerlichen Berufen wie Kesselflicker, Soldat oder Kurz-<br />

warenhändler nachgingen, und nur solche Aspekte verwendet, die Arnims Stilisierung der Zi-<br />

geuner zu einer Gegengesellschaft dienlich waren.<br />

51. Zum Fall Rosenberg als Quelle Arnims siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S.156-160.<br />

52. Zum einen war Arnim zweifellos über die „Zigeunerverschwörung in Preußen“ informiert, da ein<br />

Verwandter <strong>von</strong> ihm, Staatsminister <strong>von</strong> Arnim, an dem Verfahren beteiligt war. Zum anderen fallen<br />

die Übernahmen <strong>von</strong> ‚Zigeunernamen‘ aus den Verhörprotokollen des Rosenberg-Falles auf,<br />

und zwar „Happa“, „Emler“ und „Braka“. „Happy“ und „Emler“ heißen in der Erzählung die Zigeuner,<br />

die zusammen mit Herzog Michael gehängt werden (siehe IÄ, S. 625). „Braka“ ist der Name<br />

<strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s Begleiterin und Ersatzmutter (siehe IÄ, S. 622). Zudem werden auch die Kunststücke,<br />

die bei Arnim als die „Nationalbelustigung“ der Zigeuner gelten und mit denen sie ihren Lebensunterhalt<br />

verdienen, in den Protokollen beschrieben und als die „starken Mannskünste“ bezeichnet,<br />

ein Begriff, den Arnim übernimmt (siehe IÄ, S. 624). Siehe hierzu Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 156f.<br />

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Arnims Ziel ist es also nicht, die Verhältnisse der realen Zigeuner darzustellen, sondern er<br />

schafft ein Kunstvolk, wobei er sich auf bereits vorhandene, sagen- und legendenhafte Vorstel-<br />

lungen stützt und diese seiner Aussageabsicht anpasst. Die wichtigsten Aspekte, die er den Zi-<br />

geunern zuschreibt, sind Christlichkeit, Feudalität und Anti-Kapitalismus.<br />

Die christlichen Bezüge sind wohl die auffälligste Besonderheit bei Arnims Zeichnung der Zi-<br />

geuner. Ausgangspunkt für die Darstellung der Zigeuner als vorbildlich christliches Volk ist<br />

ihre ‚Ursprungssage‘, die am Anfang der Novelle erzählt wird und maßgeblich für den Hand-<br />

lungsverlauf ist. Nach dieser sind die Zigeuner die Hälfte des ägyptischen Volkes, die sich<br />

selbst zu einer Wallfahrt verpflichtet hat, um dafür zu büßen, dass die Ägypter die Heilige Fa-<br />

milie abgewiesen haben, als diese in ihrem Land Zuflucht suchte (siehe IÄ, S. 624f.). 53 Die Zi-<br />

geuner haben ihr „,Gelübde, so weit zu ziehen, als sie noch Christen fänden“ (IÄ, S. 624) er-<br />

füllt, ihre Rückkehr nach <strong>Ägypten</strong> ist jedoch durch die politischen Verhältnisse und die<br />

Feindseligkeit ihrer Umwelt erschwert. 54<br />

Arnim kombiniert die Motive des Sündenfalls, der Buße und der Erlösung, wodurch seine Ge-<br />

schichte der Zigeuner eine heilsgeschichtliche Dimension erhält. Sie werden als vorbildliche<br />

Christen dargestellt, deren Bußbereitschaft an Märtyrertum grenzt, was sich deutlich an der<br />

Darstellung <strong>von</strong> der Hinrichtung des unschuldigen Zigeunerherzogs zeigt, die Anklänge an den<br />

Leidensweg Christi hat. 55 Hinzu kommt, dass „Michaels Tod als gleichzeitige Rückkehr zu Gott<br />

und nach <strong>Ägypten</strong> beschrieben [wird], wodurch die <strong>von</strong> den Zigeunern erhoffte Rückkehr in ihr<br />

Heimatland ebenfalls metaphysisch überhöht wird.“ 56<br />

Die Stellung <strong>Isabella</strong>s in dieser religiösen Utopie ist zentral. Eine Prophezeiung der Zigeuner<br />

verheißt ihr: „Du mußt <strong>von</strong> diesem künftigen Erben der halben Welt [i.e. Karl], ein Kind be-<br />

kommen, das durch die Liebe seines mächtigen Vaters den verstreuten Überbleib Deines Vol-<br />

kes in Europa sammelt und in die heiligen Wohnplätze unseres Ägypterlandes zurückführt.“<br />

(IÄ, S. 670) Parallelen zur Mutter Gottes sind unverkennbar. Noch verstärkt werden diese An-<br />

klänge durch ein „wunderbares Sternenzeichen“ (IÄ, S. 694), das sich zeigt, als das Erlöserkind<br />

gezeugt wird, und das auf den Stern <strong>von</strong> Bethlehem verweist. <strong>Isabella</strong> selbst wird als fromm<br />

charakterisiert. Sie kennt „viele schöne Gebete“ (IÄ, S. 661), ihre Liebe zu Karl ist in die Nähe<br />

53. Diese Geschichte zur Erklärung der Heimatlosigkeit der Zigeuner findet sich bereits in den 1522<br />

abgeschlossenen „Annales Boiorum“ des Aventinus, wo sie allerdings als Lüge der negativ dargestellten<br />

Zigeuner bezeichnet wird und zur Betonung ihrer Unchristlichkeit dient (siehe Kugler: Kunst-Zigeuner,<br />

S. 27-29).<br />

54. Auch für das Motiv einer möglichen Rückkehr der Zigeuner in ihr Heimatland gibt es historische<br />

Vorlagen. In den Darstellungen <strong>von</strong> Johannes Stumpf (1548) und Jacob Thomasius (1652) etwa<br />

wird eine erste Gruppe <strong>von</strong> ‚guten‘ Zigeunern, die nach einer christlichen Wallfahrt nach Hause<br />

zurückgekehrt sind, unterschieden <strong>von</strong> den ‚unmoralischen‘, die noch zu Lebzeiten der Autoren<br />

herumwandern (siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 30 und S. 35-40).<br />

55. Das Motiv des krähenden Hahnes, dessen Schrei zur Verhaftung Michaels und seiner Gefährten<br />

führt, erinnert an die Verleugnung Christi durch Petrus, sein Tod am „Dreifuß“ (IÄ, S. 623) an den<br />

Kreuzestod, <strong>Isabella</strong>s Totenmahl an das letzte Abendmahl (siehe IÄ, S. 625-627 und Kugler: Kunst-<br />

Zigeuner, S. 121).<br />

56. Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 121.<br />

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der religiösen Liebe gerückt („[D]ie Erscheinung des Prinzen war ihr aber so heilig rein, wie der<br />

Körper des Allerheiligsten in der Messe, vorübergegangen [...].“ IÄ, S. 636) und ihre Reaktion,<br />

als sie ihn wieder sieht, verrät mystizistische Frömmigkeit: „[W]ie möchte ich still ungestört in<br />

einsamen Nächten durch die Fluren schauen und beten.“ (IÄ, S. 669f.) Die Stilisierung <strong>Isabella</strong>s<br />

zu einer Heiligen und der Zigeuner zur „geläuterte[n] Sakralgemeinschaft“ 57 findet ihren Höhe-<br />

punkt gegen Ende der Erzählung, als <strong>Isabella</strong> sich ihrer Sendung durch zwei Visionen bewusst<br />

wird (IÄ, S. 700: Vision vom Vater und IÄ, S. 718: Marien-Vision in der Kirche) und in Ägyp-<br />

ten schließlich den Sitz der Königin einnimmt. 58<br />

Zugleich werden die Zigeuner als ein Volk mit intakter, vorbildhafter Feudalordnung darge-<br />

stellt. Ihre Gesellschaftsstruktur ist hierarchisch und beruht auf Erbfolge, was sich daran zeigt,<br />

dass <strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> Geburt an die Stellung einer Fürstin innehat und nach dem Tod ihres Vaters<br />

und der Rückkehr nach <strong>Ägypten</strong> zur „Königin“ aufsteigt (siehe IÄ, S. 740). Durch ihre Abstam-<br />

mung steht <strong>Isabella</strong> über den anderen Zigeunern, <strong>von</strong> denen sie „<strong>von</strong> je wie eine Prinzeß ver-<br />

ehrt“ (IÄ, S. 630) und „als ein Wesen höherer Art behandelt worden“ (IÄ, S. 631) ist. <strong>Isabella</strong><br />

selbst ist sich ihrer herrschaftlichen Stellung und der Bedeutung ihrer Abstammung voll be-<br />

wusst. Karl erklärt sie: „Mein Vater war Fürst Michael <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>, [...] ich bin der letzte<br />

Zweig des alten Geschlechtes, das sich bei allen Umwälzungen, oft siegreich, oft fliehend, doch<br />

in steter Unabhängigkeit erhalten hat, so sagte der Vater.“ (IÄ, S. 692) Stolz auf ihre Stellung<br />

und Ehre sind wichtige Konzepte sowohl für <strong>Isabella</strong> als auch für ihren Vater, der besonders<br />

darunter leidet, dass er „ehrlos [...] umgebracht werde [...].“ (IÄ, S. 625, Hervorhebung der<br />

Verfasserin) 59<br />

<strong>Isabella</strong> wird als Herrscherin gezeigt, der das Wohl ihres Volkes zwar am Herzen liegt und die<br />

durch ihre Handlungen indirekt Einfluss auf dessen Geschick ausübt, die jedoch über ihm steht<br />

und deutlich Distanz zu ihm hält. Am Anfang der Erzählung lebt sie abgeschieden <strong>von</strong> den an-<br />

deren Zigeunern und begeht das Totenmahl für ihren Vater allein, denn sie „scheute das rauhe<br />

Volk, was sie da antreffen würde, so sehr sie es liebte.“ (IÄ, S. 624) Auch im weiteren Verlauf<br />

der Handlung hat sie keinen Kontakt zu ihrem Volk, bis sie am Ende der Erzählung aus dem<br />

Fenster steigt und mit ihm da<strong>von</strong>zieht (siehe IÄ, S. 734).<br />

Damit wird eine Herrschaftsstruktur gezeigt, die der Ordnung des Heiligen Römischen Reiches<br />

Deutscher Nation unter Karl V. nicht unähnlich ist. In Verbindung mit den christlichen Motiven<br />

57. Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 122.<br />

58. Was die Religiosität der Zigeuner angeht, befindet sich Arnim in seiner Darstellung in direkter Opposition<br />

zu Grellmann, der folgendes Urteil abgibt: „Daher kommen auch fast alle Schriftsteller, ältere<br />

sowohl, als neuere, darin überein, daß sie den Zigeunern Religion geradezu ganz absprechen,<br />

und sie zu noch weniger, als Heyden machen. Diesem Urtheile kann man unmöglich widersprechen,<br />

da sich gar nichts Religionsmäßiges, sondern gar eine Abneigung gegen alles, was einen Anstrich<br />

da<strong>von</strong> hat, unter ihnen findet.“ (Grellmann: Historischer Versuch über die Zigeuner, S. 144f.)<br />

59. An dieser Stelle lässt sich die Umwertung der Zigeunerdarstellung bei Grellmann, der sich über das<br />

‚unwürdige‘ Verhalten eines Zigeuners am Galgen lustig macht, bis ins Detail hinein feststellen (siehe<br />

Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 127 (Fußnote)).<br />

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ergibt sich „eine Art Sakralkönigtum“ 60 als ideale Verwirklichung eines feudal-monarchisti-<br />

schen Systems, wie es Arnim vorschwebte. Das Volk ist <strong>Isabella</strong> treu ergeben und sie wendet<br />

sich im Gegenzug am Ende ganz der Aufgabe als Herrscherin zu und verzichtet auf persönli-<br />

ches Glück.<br />

Ein Aspekt, der sich aus dem Ideal der Feudalgesellschaft und des Christentums ableitet und der<br />

besonders hervorgehoben wird, sind die antikapitalistischen Züge der Zigeunergesellschaft. Ar-<br />

nim stützt sich hier auf die verbreitete Auffassung <strong>von</strong> den Zigeunern als Vertretern einer anti-<br />

bürgerlichen Lebensart. Diese Antibürgerlichkeit wird jedoch positiv gewertet und fungiert als<br />

Gegenbild zur materialistischen und kapitalistischen Gesellschaft, die Arnim kritisiert. Deutlich<br />

wird diese Idealisierung in der Charakterisierung <strong>Isabella</strong>s im Gegensatz zu Karl: „Was galt ihr<br />

seine Klugheit, wie er den Reichtum sich verbinden und benutzen wollte; sie kannte nur die<br />

Herrlichkeit der Armut, die alles besitzt, weil sie alles verschmähen kann: sie kannte nur ihr<br />

Volk, das jede Bezahlung <strong>von</strong> ihren Herrschern verschmähte und jede Tat für sie als höchsten<br />

Gewinn achtete.“ (IÄ, S. 734) Nicht nur <strong>Isabella</strong> selbst, sondern das ganze Volk der Zigeuner<br />

ist über den Materialismus erhaben.<br />

Arnim legt also bei der Darstellung der Zigeuner deutlich weniger Wert auf historische Korrekt-<br />

heit als bei der Beschreibung <strong>von</strong> Karls Welt. Obgleich er historische Zeugnisse verwendet,<br />

übernimmt er nur die Aspekte, die zur Stilisierung der Zigeuner zum Idealvolk und zur Ge-<br />

gengesellschaft geeignet sind. 61 Insbesondere die Ursprungssage hat durch die direkte Ver-<br />

knüpfung mit der biblischen Geschichte Merkmale einer Legende. Sie steht fast unmittelbar am<br />

Anfang der Erzählung und liefert die grundlegende Charakterisierung des Volkes. So ist <strong>von</strong><br />

vornherein ein legendenhafter, nicht realistischer Status für das Volk der Zigeuner geschaffen.<br />

Gleichzeitig werden die Zigeuner mit der Poesie in Bezug gesetzt, was sich schon im Vorwort<br />

der Novellensammlung, der „Anrede an meine Zuhörer“, zeigt: Der Erzähler berichtet dort, wie<br />

er, <strong>von</strong> Pegasus auf einen Berggipfel getragen, die „märchenhaften Geschichten“, die er erzäh-<br />

len wird, „droben im Gebirge einem Zigeuner abhörte.“ 62<br />

60. Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 123.<br />

61. Die Zigeuner, wie Arnim sie darstellt, haben einiges mit einer anderen Randgruppe gemeinsam,<br />

den Juden: Status als altes, heimatloses Volk, Wandern aus religiöser Schuld (Ahasver-Mythos)<br />

und Messiasgedanke. Das Volk der Juden jedoch wird in der Erzählung konsequent als negativer<br />

Gegenpol zum Idealvolk der Zigeuner aufgebaut. Den Juden wird Mitschuld an der Versündigung<br />

und späteren Verfolgung der Zigeuner zugeschoben (siehe IÄ, S. 624) und die antisemitischen<br />

Züge lassen sich auch im weiteren Verlauf der Erzählung nicht übersehen. Am offensichtlichsten<br />

sind sie bei der Schöpfung des Golems, dessen negative Eigenschaften „Hochmut, Wollust und<br />

Geiz“ (IÄ, S. 689) auf seinen jüdischen Schöpfer zurückgeführt werden. Durch ihre Religionszugehörigkeit<br />

sind die Juden vom Christentum, das in der Erzählung als entscheidende moralische Instanz<br />

gilt, am weitesten entfernt. Geldgier und Materialismus werden als typisch jüdische Eigenschaften<br />

bezeichnet, womit Arnim die bekannten Klischees bedient. Beide Minderheiten, die Zigeuner<br />

wie die Juden, werden also nicht als ‚normale‘ Menschen behandelt, sondern zu Prinzipien<br />

stilisiert (siehe hierzu auch Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 136-141).<br />

62. Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 619.<br />

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Dieser poetische Bezug zeigt sich besonders bei der Hauptfigur <strong>Isabella</strong>, die zusätzlich zu ihrem<br />

Status als Herrscherin über ein Idealvolk noch weitere Merkmale besitzt, die sie zur Aus-<br />

nahmefigur machen.<br />

Sie verfügt über eine besondere Art der Wahrnehmung, was schon ihre erste Äußerung in der<br />

Erzählung zeigt: „Ach sieh den Engel, sagte Bella, wie er mich anlacht! – Kind, sprach die Alte<br />

[i.e. Braka], und ihr schauderte, was siehst Du? – Den Mond, antwortete Bella [...].“ (IÄ, S.<br />

622) <strong>Isabella</strong> sieht die Natur voller Zeichen und setzt sie mit dem Transzendenten in Verbin-<br />

dung. Der Traum, der ihr den Vater, der gerade hingerichtet worden ist, auf dem Thron <strong>von</strong><br />

<strong>Ägypten</strong> gezeigt hat, zeugt <strong>von</strong> beinahe hellseherischen Fähigkeiten und liefert gleichzeitig eine<br />

neue Interpretation der Ereignisse – in der wahren Ordnung der Dinge ist Herzog Michaels Tod<br />

ein Martyrium und damit eine Erhöhung. <strong>Isabella</strong>s Begabung mit diesem „zweiten Gesicht der<br />

Phantasie“ 63 lässt sich in Beziehung setzen zu der romantischen Vorstellung <strong>von</strong> den ‚zwei Ge-<br />

schichten‘. Nach dieser Vorstellung vollzieht sich die höhere Weltgeschichte hinter den Zufäl-<br />

ligkeiten der ‚Profangeschichten‘ und das ‚Goldene Zeitalter‘ ist jederzeit gegenwärtig, wenn<br />

man die Welt in der richtigen Weise betrachtet. 64 Ihre besondere Begabung, diese tiefere Wahr-<br />

heit zu sehen, macht <strong>Isabella</strong> zu einer Verkörperung romantischer Ideale und unterscheidet sie<br />

<strong>von</strong> allen anderen Figuren in der Erzählung.<br />

Aufgrund dieser Ausnahmestellung spielt auch der Aspekt der Fremdheit bei der Figur der<br />

<strong>Isabella</strong> eine große Rolle. Die Zugehörigkeit zu einem sozial geächteten Volk macht sie bereits<br />

zu einer Außenseiterin, die – im wahrsten Sinne des Wortes – am Rande der Gesellschaft leben<br />

muss. Als Vollwaise ohne Familie und aufgrund ihrer Rolle im hierarchischen Gesellschaftssys-<br />

tem der Zigeuner bleibt sie auch innerhalb ihres eigenen Volkes isoliert. Im Verlauf der Erzäh-<br />

lung muss sie zahlreiche Erfahrungen <strong>von</strong> Entfremdung und Ausgestoßensein machen: die Ent-<br />

täuschung ihrer Mutterliebe durch den Alraun, die Verdrängung durch den Golem und vor al-<br />

lem die Missachtung, die Karl ihr entgegenbringt. 65 Durch die zahlreichen Missverständnisse,<br />

die die Beziehung <strong>von</strong> Karl und <strong>Isabella</strong> überschatten, und ihre Unfähigkeit, sich ihm mitzutei-<br />

len, konstruiert Arnim „im Verhältnis zu Karl eine fundamentale Distanz, eine Fremdheit und<br />

Verschiedenheit.“ 66 <strong>Isabella</strong> ist aufgrund der legendenhaften Züge und ihres poetischen Wesens<br />

der historischen Welt entrückt, und als es Karl nicht gelingt, diese Kluft zu überwinden, steigert<br />

sich diese Entrückung am Ende zu Transzendenz und Apotheose.<br />

3.1.3 Das Verhältnis der Ebenen<br />

Man kann also tatsächlich <strong>von</strong> zwei verschiedenen Ebenen sprechen, die Karl und <strong>Isabella</strong><br />

zugeordnet sind. Die Karl-Ebene ist darauf angelegt, eine Illusion der außerliterarischen, histo-<br />

63. Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 126.<br />

64. Siehe Schwering: Romantische Geschichtsauffassung, S. 544.<br />

65. Siehe hierzu auch Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 116-118.<br />

66. Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 116.<br />

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ischen Erfahrungswirklichkeit zu schaffen; bei der <strong>Isabella</strong>-Ebene stehen symbolhafte Züge im<br />

Vordergrund, sie repräsentiert eine poetische Weltordnung. Der scheiternde Versuch, diese bei-<br />

den Ebenen zusammenzuführen, ist das eigentliche Thema der Erzählung. Die Spannungen zwi-<br />

schen ihnen sind jedoch so stark, dass sie sich am Ende der Erzählung ganz trennen. Dieser<br />

Konflikt erzeugt jedoch keine phantastischen Effekte, denn es wird keine Opposition in Bezug<br />

auf den Wirklichkeitsstatus der beiden Ebenen aufgebaut. Stattdessen bilden sie eine gemein-<br />

same Normrealität, die die Folie für die tatsächlich phantastischen Elemente der Erzählung ist.<br />

Die ‚Alltagswelt‘ in Arnims Erzählung umfasst Karl und <strong>Isabella</strong> gleichermaßen. Zu diesem<br />

Eindruck trägt entscheidend bei, dass die Erzählung auf der <strong>Isabella</strong>-Ebene beginnt. Mit ihr<br />

wird der Leser als erstes konfrontiert und auch im weiteren Verlauf wird die historische Welt<br />

fast immer <strong>von</strong> ihrem Blickwinkel aus betrachtet. Der Blick geht also nicht <strong>von</strong> einer histori-<br />

schen Welt auf eine poetisierte, was einen verwirrenden und phantastischen Effekt auslösen<br />

könnte, sondern umgekehrt, <strong>von</strong> einer als selbstverständlich präsentierten, poetisierten Welt auf<br />

die sie umschließende historische. Neumann kommentiert: „[Die Geschichte] tritt in einen poe-<br />

tisch präparierten Raum, in dem Legendenhaftes und Historisches sich auf weiter Strecke un-<br />

trennbar durchdringen werden. [...] Für die Erzählwelt bedeutet sie [i.e. diese Durchdringung],<br />

daß Legende und Historie ihre Andersartigkeit gegeneinander aufheben.“ 67<br />

Dass die beiden Ebenen als gleichberechtigt und Teil derselben Wirklichkeit empfunden wer-<br />

den können, liegt auch daran, dass die zentrale Figur <strong>Isabella</strong> trotz ihrer Andersartigkeit keine<br />

groben Verstöße gegen die Gesetze der Erfahrungswirklichkeit begeht. Ihre besondere Bega-<br />

bung der poetischen Wahrnehmung bezieht sich auf die Interpretation <strong>von</strong> Wirklichkeit, nicht<br />

auf deren Veränderung und so bleibt sie innerhalb der Regeln für eine ‚realistische‘ Norm-<br />

realität.<br />

Die Figuren auf beiden Ebenen sind gleichermaßen menschlich und denselben Naturgesetzen<br />

unterworfen. Die heilsgeschichtlichen Parallelen in der Geschichte der Zigeuner sind erkennbar<br />

als literarische Kunstgriffe. Völker kommentiert: „Zwar erstrahlt <strong>Isabella</strong> am Ende im mysti-<br />

schen Schein einer Heiligen [...], doch erwächst dieses ‚Romantische‘ aus einem sehr fein und<br />

realistisch gesponnenen Erzählgeflecht.“ 68<br />

Zur Verknüpfung der Ebenen trägt auch bei, dass es Figuren gibt, die eine Brücke zwischen ih-<br />

nen schlagen: Braka und Frau Nietken. Die Zigeunerin Braka ist <strong>Isabella</strong>s Ersatzmutter und ein-<br />

deutig ihrer Welt zugeordnet. In vielerlei Hinsicht ist sie jedoch eine Kontrastfigur zu <strong>Isabella</strong>:<br />

lebenslustig, pragmatisch, geldgierig und <strong>von</strong> fragwürdiger Moral entspricht sie eher dem nega-<br />

tiven Klischeebild <strong>von</strong> den Zigeunern als dem Bild vom poetischen Idealvolk. 69 Sie gehört also<br />

67. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 299.<br />

68. Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 116.<br />

69. Siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S. 145-147.<br />

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einerseits zu <strong>Isabella</strong>s Welt, andererseits verkörpert sie gegensätzliche Tendenzen. Ihre „Diebs-<br />

schwester“ (IÄ, S. 660) Frau Nietken ist „eine alte Diebshehlerin in Buik“ (IÄ, S. 650) und ge-<br />

hört damit zur ‚historischen‘ Welt der Niederlande des 16. Jahrhunderts. Sie teilt jedoch Brakas<br />

Charakterzüge in so hohem Maße, dass die beiden alten Frauen tatsächlich wie Schwestern wir-<br />

ken. Die Tatsache, dass es Figuren gleicher Art auf beiden Ebenen gibt, lässt die Unterschiede<br />

verschwimmen.<br />

Zudem leisten die beiden alten Frauen auch als handelnde Figuren Wesentliches zur Zusam-<br />

menführung der Ebenen. Braka initiiert die erste Begegnung <strong>von</strong> Karl und <strong>Isabella</strong> im Spuk-<br />

haus, organisiert die Reise nach Gent und das Leben dort und drängt <strong>Isabella</strong> mehrmals dazu,<br />

sich Karl zu nähern. Frau Nietken leistet tatkräftige Unterstützung, indem sie zuerst für die Aus-<br />

stattung sorgt, die <strong>Isabella</strong> und ihre Begleiter brauchen, um sich als angebliche Adlige in das<br />

Stadtleben einzufügen, und später ihr Haus als Treffpunkt für Karl und <strong>Isabella</strong> zur Verfügung<br />

stellt.<br />

Auch <strong>Isabella</strong> selbst hat Merkmale eines ‚Brücken-Charakters‘. Sie ist nämlich keine reine Zi-<br />

geunerin, sondern ihre Mutter stammt „aus einem alten Hause der Grafen <strong>von</strong> Hogstraaten [...].“<br />

(IÄ, S. 628) <strong>Isabella</strong> ging also aus einer geglückten Verbindung des idealisierten Zigeunervol-<br />

kes mit dem ‚realen‘ niederländischen Adel hervor und ist im Grunde selbst schon eine Ver-<br />

wirklichung der Verschmelzung, die Arnim wünscht. In der Erzählung tritt dieser Aspekt stark<br />

hinter ihrer Rolle als Repräsentantin der Zigeuner zurück, beweist aber, dass Zigeuner- und his-<br />

torische Welt als eine Einheit gedacht sind.<br />

Die Liebe zwischen Karl und <strong>Isabella</strong> ist die wichtigste Motivation dafür, dass die beiden Ebe-<br />

nen in Beziehung gesetzt werden. Sie treibt die Handlung fast über den gesamten Verlauf der<br />

Erzählung und wird gleich zweifach motiviert. Zum einen herrscht zwischen den beiden eine<br />

spontane gefühlsmäßige Anziehung, zum andren wird ihrer Verbindung auch eine überpersönli-<br />

che Bedeutung zugewiesen durch die Prophezeiung über das gemeinsame Kind, das die Zigeu-<br />

ner nach <strong>Ägypten</strong> zurückführen soll. Diese Prophezeiung dient der Verschränkung der beiden<br />

Ebenen: Die Liebe wird nachträglich auf der höheren, heilsgeschichtlich konnotierten Ebene le-<br />

gitimiert und indem Karl eine Rolle bei der Erlösung der Zigeuner zugesprochen wird, wird er<br />

in die legendenhafte Logik der <strong>Isabella</strong>-Ebene einbezogen. Allerdings hat die Prophezeiung ei-<br />

nen anderen, unsichereren Status als die Ursprungslegende der Zigeuner. Sie wird wesentlich<br />

später erwähnt als diese, nämlich erst, als <strong>Isabella</strong> bereits nach Gent gegangen ist und ihre durch<br />

den Einfluss des Alrauns verdrängte Liebe zu Karl wieder geweckt worden ist (siehe IÄ, S.<br />

670). Während die Ursprungslegende der Zigeuner in Form einer Erzählerrede vermittelt wird,<br />

ist es Braka, die ihr <strong>von</strong> der Prophezeiung erzählt und sie dabei bezeichnet als „mein versteckter<br />

Plan mit Dir, den auch die Oberhäupter unsres Volks billigen [...].“ (IÄ, S. 670) An dieser Stelle<br />

und auch im weiteren Verlauf der Erzählung dient die Prophezeiung Braka dazu, <strong>Isabella</strong> zur<br />

Annäherung an Karl zu ermuntern. Als sie die ersten Begegnung der beiden im Spukhaus her-<br />

- 27 -


eiführt hat, sind allerdings weit profanere und egoistischere Motive Brakas genannt worden:<br />

„Das alte Weib hatte sicher eine böse Absicht bei diesem Vorschlage: das Kuppeln war lange<br />

ihr Hauptgeschäft und diesmal konnte sie auf einmal das Glück aus dem niedern Stande empor-<br />

reißen.“ (IÄ, S. 632) Dies wirft ein fragwürdiges Licht auf die Prophezeiung und sie gewinnt<br />

erst an Glaubwürdigkeit, als sie in <strong>Isabella</strong>s Vision <strong>von</strong> ihrem Vater bestätigt wird (siehe, IÄ, S.<br />

700). Die heilsgeschichtliche Überhöhung durch die Prophezeiung rückt erst dann ins Zentrum<br />

der Erzählung, als die Hoffnung auf eine Verbindung Karls und <strong>Isabella</strong>s in der historischen<br />

Welt schwindet.<br />

Es stellt sich zudem heraus, dass die Prophezeiung nicht buchstabengetreu erfüllt werden muss.<br />

Letztendlich ist es <strong>Isabella</strong> selbst, nicht ihr Sohn, die die Zigeuner nach <strong>Ägypten</strong> führt und dort<br />

noch jahrelang als deren Königin herrscht. Der Grund für diese Verschiebung ist möglicherwei-<br />

se folgender: Die Existenz des Sohnes ist wichtig, da dieser im wahrsten Sinne des Wortes eine<br />

Verschmelzung <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> und Karl darstellt und damit das Ideal verkörpert, das Arnim an-<br />

strebte, jedoch nicht verwirklicht sah: die Zusammenführung <strong>von</strong> poetischer und historischer<br />

Welt. Zudem ist das Motiv vom Erlösersohn stark heilsgeschichtlich konnotiert und fügt sich<br />

deshalb nahtlos in das Schema <strong>von</strong> Sünde, Buße und Erlösung, auf dem die Geschichte der Zi-<br />

geuner basiert. In der Erzählung ist aber <strong>Isabella</strong> die tragende Figur, was wohl der Grund ist,<br />

weshalb Arnim sie selbst zur Erfüllung der Prophezeiung wählte. Die geringe Präsenz des Soh-<br />

nes – genannt Lrak, der ‚ins Bessere verkehrte‘ Karl, – ist als Schwäche der Erzählung kritisiert<br />

worden. 70 Sie ist jedoch insofern verständlich, als die Erzählung im Grunde pessimistisch ist<br />

und das Scheitern der Verbindung der Ebenen zeigt. Insofern bleibt der Sohn ein Wunschbild,<br />

das nicht wirklich mit Leben erfüllt wird.<br />

In dem Moment, da die Beziehung zwischen Karl und <strong>Isabella</strong> scheitert, werden die beiden<br />

Ebenen wieder getrennt. Während auf der historischen Ebene der Verlauf <strong>von</strong> Karls Regie-<br />

rungszeit im Zeitraffer dargestellt wird, tritt auf der poetisch-legendenhaften Ebene die Prophe-<br />

zeiung in den Vordergrund und <strong>Isabella</strong> wird mit ihrem Volk auch räumlich entrückt in das<br />

Reich in <strong>Ägypten</strong>. Hier zeigt sich wieder deutlich die unterschiedliche Natur der beiden Ebe-<br />

nen: „Indem <strong>Isabella</strong>s Tugenden sich zur Heiligkeit verdichten, vollendet sich das erzählte Zi-<br />

geunerschicksal als Legende. Zugleich erscheint im Rückblick des Erzählers auf das außerhalb<br />

der Erzählung stehende Leben Kaiser Karls die historische Tendenz der Erzählung umso deutli-<br />

cher.“ 71 Auffallend ist, dass der Erzähler sich bei der Beschreibung <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s Totengericht<br />

plötzlich auf den „berühmten Reisenden Taurinius“ (IÄ, S. 740) beruft, den er über weite<br />

Strecken wörtlich zitiert. Arnims Zeitgenossen war bekannt, dass dieser Taurinius vermutlich<br />

ein Leipziger Buchdruckergeselle gewesen ist und dass bezüglich der Echtheit seiner 1799 er-<br />

70. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 313.<br />

71. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 310 (Hervorhebungen <strong>von</strong> Neumann).<br />

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schienenen Reiseberichte starke Zweifel bestanden. 72 Schon bei der Mitteilung <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s<br />

letzten Worten stützt sich dieser fragwürdige Gewährsmann selbst auf Informationen aus zwei-<br />

ter Hand („[...] denn also habe ich es mehrmals erzählen hören [...]“ IÄ, S. 741), doch auf die<br />

Spitze getrieben wird die Verschachtelung der Zitate und damit die Vermitteltheit der Darstel-<br />

lung im entscheidenden Abschnitt, der Todesvision <strong>Isabella</strong>s: Der Erzähler zitiert Taurinius, der<br />

seine Informationen <strong>von</strong> einem Priester hat, der eine alte Schriftrolle vorliest, auf der festgehal-<br />

ten wurde, wie „ein frommer Zeuge ihres [i.e. <strong>Isabella</strong>s] Todes die Seligkeit ihres sterbenden<br />

Angesichtes auszudrücken und zu erklären“ (IÄ, S. 742) versucht. Die Übersetzung dieses also<br />

auf reiner Spekulation beruhenden Textes hat er zudem noch <strong>von</strong> „Magister Uhsen wieder über-<br />

sehen und sehr verbessern“ (IÄ, S. 741) lassen, einem Schulpoeten, über den sich Arnims<br />

Freund Brentano in zwei Satiren lustig gemacht hat. 73 Einerseits erfüllt diese vielfach ver-<br />

schachtelte Quellenfiktion den Zweck, „die Legende als vermeintlich historisch auf das Wahr-<br />

heitsniveau der belegten Historie zu heben“, und „bewirkt [...] die ihr als Zweck auferlegte<br />

Scheinhistorizität der <strong>Isabella</strong>-Gestalt [...].“ 74 Sie dient also der Parallelisierung der beiden Ebe-<br />

nen am Ende der Erzählung. Andererseits führt die Anhäufung <strong>von</strong> verschachtelten Zitaten und<br />

die Fragwürdigkeit der Gewährsleute dazu, dass die Nachrichten aus dem ägyptischen Reich<br />

umso mehr in den Bereich des Hörensagens und des Wunschdenkens gerückt werden, zumal<br />

der idealisierte Blick, den <strong>Isabella</strong> im Tode auf ihr Reich tut, nicht zu den politischen Pro-<br />

blemen passen will, die der Erzähler vor Beginn des Taurinius-Zitats erwähnt (siehe IÄ, S.<br />

740). Arnim gebraucht also den Anschein der Historizität hier ironischerweise dazu, die Glaub-<br />

würdigkeit des Erzählten herabzusetzen. Dies kann als weiterer Hinweis darauf verstanden wer-<br />

den, dass es nicht die historische Korrektheit, sondern die ‚wahre‘ Geschichte ist, auf die es ihm<br />

ankommt.<br />

Beim Verhältnis der Karl- und der <strong>Isabella</strong>-Ebene ist ihre Verschmelzung in Bezug auf den<br />

Wirklichkeitsstatus zu unterscheiden <strong>von</strong> ihrer tatsächlichen Verschmelzung, die eine <strong>von</strong> Poe-<br />

sie durchdrungene Weltordnung etablieren würde. Letztere Verschmelzung, d.h. die Verbin-<br />

dung <strong>von</strong> Karl und <strong>Isabella</strong>, findet nicht statt – ihr Scheitern ist gerade das Thema der<br />

Erzählung.<br />

Die Verschmelzung in Bezug auf den Wirklichkeitsstatus dagegen ist gegeben – selbst im Aus-<br />

einanderdriften am Ende der Erzählung bemüht sich der Erzähler darum, den Eindruck <strong>von</strong><br />

Gleichwertigkeit der beiden Königreiche zu erzeugen. Zudem wird sich zeigen, dass sowohl die<br />

phantastischen Elemente als auch die scheinbar phantastischen Elemente, die im Folgenden un-<br />

tersucht werden, immer die poetische <strong>Isabella</strong>-Ebene und die historische Karl-Ebene gleicher-<br />

maßen betreffen. Man kann also sagen, dass diese gemeinsam eine Normrealität bilden.<br />

72. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 311.<br />

73. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1309f.<br />

74. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 311.<br />

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3.2 Scheinbare Phantastik und phantastische Grenzfälle<br />

Wenn Neumann <strong>von</strong> dem dritten Element in der Erzählung spricht, dem „irrealen, magi-<br />

schen“ 75 , bezieht er sich vor allem auf die Sagengestalten Alraun, Golem und Bärnhäuter, die<br />

die wichtigsten phantastischen Elemente in der Erzählung darstellen. Neben diesen eindeutig<br />

übernatürlichen Elementen gibt es in der Erzählung aber auch Stellen, die mit dem Konzept des<br />

Phantastischen spielen, ohne es ganz zu erfüllen, und damit zur Komplexität des Wirklichkeits-<br />

gefüges beitragen.<br />

3.2.1 Das Unheimliche<br />

Das ‚Unheimliche‘ oder ‚explizierte Übernatürliche‘ ist der Begriff, den Todorov für eine<br />

Nachbarkategorie des Phantastischen verwendet, diejenigen Elemente eines Textes, die zwar<br />

zunächst übernatürlich erscheinen, sich dann aber als rational erklärbar erweisen. 76 Auch wenn<br />

in dieser Arbeit nicht Todorovs minimalistische Phantastikdefinition zugrunde gelegt wird, han-<br />

delt es sich dennoch um eine Kategorie, die auch dem Phantastischen nach maximalistischer<br />

Definition eng verwandt ist. Im Folgenden soll darum der Begriff im Todorov‘schen Sinne ver-<br />

wendet werden.<br />

Obwohl die Akzeptanz der phantastischen Elemente in der Normrealität relativ hoch ist, leiden<br />

die Protagonisten auch unter undefinierbaren Ängsten vor dem Übernatürlichen und erstaunli-<br />

cherweise sind es Momente, in denen kein wirklich übernatürliches Ereignis vorliegt, in denen<br />

diese am deutlichsten zutage treten.<br />

Das hervorstechendste Beispiel ist Karls erste Begegnung mit <strong>Isabella</strong>, eine Szene, die typische<br />

Merkmale einer (rational auflösbaren) Schauergeschichte aufweist. Das Haus, in dem <strong>Isabella</strong><br />

lebt, „war schon seit zehn Jahren der Gespenster wegen unbewohnt geblieben“ (IÄ, S. 626), je-<br />

doch handelt es sich bei diesen ‚Gespenstern‘ um eine Täuschung, die die Zigeuner bewusst<br />

aufgebaut haben, um zuerst den ursprünglichen Besitzer und danach alle neuen Interessenten zu<br />

vertreiben. Es wird sogar erklärt, wie sie dabei vorgegangen sind, als Braka <strong>Isabella</strong> erinnert,<br />

„wie dein Vater einen, der sich durchaus hier nieder lassen wollte, mit Ruten gehauen, die vie-<br />

len Eulen, die er in einer Kammer eingesperrt hatte und sie einem andern um den Kopf fliegen<br />

ließ [...].“ (IÄ, S. 629) Die Zigeuner nutzen bewusst die Ängste der anderen Menschen aus und<br />

erzeugen mit einfachen Mitteln eine Atmosphäre, die an Übernatürliches glauben lässt. Karls<br />

Entschluss, in dem Gespensterhaus zu übernachten, ein typisches Motiv der Schauerliteratur,<br />

zeigt den Versuch, diese irrationale Angst durch Vernunft zu besiegen: „[D]ie Ammenmärchen<br />

<strong>von</strong> Geistern schreckten ihn aber nicht mehr.“ (IÄ, S. 631) – zu Recht, wie der Leser an dieser<br />

Stelle bereits weiß.<br />

<strong>Isabella</strong> spielt ihre Rolle in der Inszenierung des Übernatürlichen fast automatisch und auf un-<br />

75. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 299.<br />

76. Siehe Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 40.<br />

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ewusste Weise. Schon als sie zum Totenmahl für ihren Vater aus dem Haus tritt, erscheint sie<br />

Beobachtern geisterhaft, ohne sich selbst dessen bewusst zu sein: „So trat das bleiche schöne<br />

Kind wie ein Gespenst zur Haustüre hinaus und der Wächter in den nahen Gärten flüchtete sich<br />

bei ihrem Anblick in eine entfernte Kapelle, um betend den heiligen Schutz des Glaubens zu<br />

fühlen. Bella wußte nicht, daß sie erschreckte [...].“ (IÄ, S. 626) Als sie den Prinzen vertreiben<br />

soll, befolgt sie zwar Brakas Anweisungen, verhält sich jedoch im Grunde ihrem Gefühl gemäß,<br />

die Rolle des Gespenstes nur andeutend. Ihre geisterhafte Wirkung ergibt sich wiederum fast<br />

automatisch durch die Umstände und ihre Erscheinung.<br />

Die Reaktion des Prinzen, der schreiend flieht, als er <strong>von</strong> ihrem Kuss geweckt wird, erklärt<br />

Gottfried Knapp mit dem Zusammenprall <strong>von</strong> Traum und Wirklichkeit: „[D]iese Zusammen-<br />

kunft [<strong>von</strong> Karls Traumvision und dem Gesicht <strong>Isabella</strong>s], aus der Außenperspektive keines-<br />

wegs phantastisch, ist, ohne die distanzierende Kraft der Bewußtheit erlebt, offenbar so unge-<br />

heuerlich, daß der bekannte ‚Skandal‘ des Unvereinbaren schockhaft erlebt wird. [...] Traum<br />

und Wachsein schlagen sich so ins Gesicht, daß die vertraute Wahrscheinlichkeitswelt für einen<br />

Augenblick des Schrecks phantastisch gestört wird.“ 77 Dieses Aufeinanderprallen zweier Rea-<br />

litäten ist, wie eingangs erläutert wurde, genau das Prinzip, auf dem die phantastische Schauer-<br />

literatur beruht.<br />

Anstelle (oder auch zusätzlich zu) dieser psychologischen Erklärung könnte man Karls Reakti-<br />

on auch so interpretieren, dass er an <strong>Isabella</strong>s Erscheinung jene ‚Fremdheit‘ spürt, die sie auf-<br />

grund ihres abweichenden, poetischen Wesens umgibt, und mit spontaner Abwehr auf das Un-<br />

verständliche – und letztlich Übermenschliche – darin reagiert. Dieser Aspekt schwingt<br />

sicherlich mit und <strong>Isabella</strong> hat hier einen Hauch <strong>von</strong> Übernatürlichkeit. Allerdings wird sehr<br />

deutlich hervorgehoben, dass Karls Furcht auf einer Fehlwahrnehmung beruht. Ebenso wie die<br />

anderen, die sich durch die Tricks der Zigeuner aus dem Haus haben vertreiben lassen, wird er<br />

Opfer einer Angst, die sich bei ruhigerer Betrachtung der Situation als irrational erwiesen hätte.<br />

Ausgerechnet im Zusammenhang mit der Erschaffung des Alrauns, einem wirklich übernatürli-<br />

chen Akt, wird ebenfalls Spannung durch den Mechanismus des Todorov‘schen ‚Unheimli-<br />

chen‘ erzeugt: Auf dem Weg zum Galgenberg hat <strong>Isabella</strong> das Gefühl, jemand folge ihren Fuß-<br />

stapfen und bekommt einen Schlag vor den Kopf – scheinbar aus dem Nichts. Diese gespensti-<br />

schen Ereignisse werden jedoch rational aufgelöst: sie „fühlte, daß sie gegen einen herabgelas-<br />

senen Schlagbaum angerannt war; was aber in ihre Schritte so eilfertig getreten, war ein Dorn-<br />

strauch, der sich an ihr Kleid gehängt hatte.“ (IÄ, S. 639) Angesichts des betäubenden<br />

Blitzschlags beim Herausziehen der Alraunwurzel und deren Belebung, die kurz drauf erfolgen<br />

und eindeutig auf ein übernatürliches Geschehen hinweisen, ist es erstaunlich, dass hier diese<br />

Rationalisierung übernatürlich erscheinender Ereignisse dargestellt wird. <strong>Isabella</strong>s Verhalten<br />

77. Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 116f.<br />

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zeigt das gleiche Schwanken zwischen Rationalität und dem Überwältigtwerden durch die<br />

Empfindung wie Karls: „Sie mußte sich über ihre Furcht verwundern und nahm sich vor, jetzt<br />

aufmerksamer und besonnener zu sein, und vergaß es doch bald wieder [...].“ (IÄ, S. 639f.) Er-<br />

zählerisch ist dies ein Indiz dafür, dass Karl und <strong>Isabella</strong> derselben Normrealität angehören und<br />

dass <strong>Isabella</strong> trotz ihrer Besonderheit denselben Ängsten und Fehlwahrnehmungen unterworfen<br />

ist wie ein ‚normaler‘ Mensch.<br />

Der Kommentar des Erzählers anlässlich Karls Flucht vor <strong>Isabella</strong> gilt in beiden Fällen:<br />

„[S]olch ein Grauen wohnt in der Tiefe des hochmütigsten Menschen vor der unnennbaren<br />

Welt, die sich nicht unsern Versuchen fügt, sondern uns zu ihren Versuchen und Belustigungen<br />

braucht.“ (IÄ, S. 633) Es wird die Existenz einer über die alltägliche Weltwahrnehmung hin-<br />

ausgehenden Wirklichkeit nahe gelegt, die <strong>von</strong> anderer Qualität ist als die tiefere Wahrheit hin-<br />

ter den Dingen, die <strong>Isabella</strong> erkennen kann. Obwohl übernatürliche Elemente in der Erzählung<br />

akzeptiert und integriert werden, besteht eine Kluft zu dieser ‚unnennbaren Welt‘, die vom<br />

Menschen nicht beherrschbar und darum bedrohlich ist. Eine nahtlose Einheit zwischen überna-<br />

türlichem und realistischem System, wie es etwa im Märchen der Fall ist, besteht nicht. Das<br />

Übernatürliche ist für den Menschen nicht kontrollierbar und sein Realitätsstatus ist auch nicht<br />

ohne weiteres zu erkennen: Es kann ebenso eine Täuschung wie real sein.<br />

3.2.2 Das Phantastische in den Büchern<br />

Bücher spielen ebenfalls eine ambige Rolle in ihrem Bezug zum Phantastischen.<br />

Sie treten zum einen in Form der Zauberbücher aus dem Nachlass des Zigeunerherzogs in Er-<br />

scheinung. Da <strong>Isabella</strong> mit den alten ägyptischen Büchern, die auf die mystische Tradition ver-<br />

weisen, noch nichts anfangen kann, rücken die in niederländischer Sprache verfassten typischen<br />

‚Zauberbücher‘ in den Vordergrund, in denen sich alchemistisches Wissen („den Stein der Wei-<br />

sen zu finden“) und volkstümliche Zaubereien („Krankheiten zu beschwören, das Vieh zu ver-<br />

zaubern“) vermischen (IÄ, S. 635).<br />

Die Zauberei, die diese Bücher lehren, ist ambivalent charakterisiert. Sie verlangt einmal das<br />

sorgfältige Befolgen <strong>von</strong> Anweisungen, Einsatz und Anstrengung: „[D]ie Zauberei braucht die<br />

härteste Schule, wer sie aushalten kann, möchte auch wohl in den gewöhnlichsten Geschäften<br />

ohne alles Geheimnis zu zaubern scheinen.“ (IÄ, S. 636) Das Zitat setzt die Zauberei mit dem<br />

Ausführen ‚gewöhnlicher‘ Aufgaben in Beziehung und nimmt ihr damit etwas <strong>von</strong> ihrer Über-<br />

natürlichkeit. Ihr Einsatz zur Erschaffung des Alrauns erfolgt kontrolliert und zweckorientiert.<br />

Andererseits wird die Zauberei aber auch in Beziehung gesetzt mit Phantasie und Träumerei.<br />

Die „merkwürdige[n] Zauberhistorien“ (IÄ, S. 628), die die Bücher neben konkreten Anweisun-<br />

gen auch enthalten, üben eine starke Faszination auf <strong>Isabella</strong> aus. Während des Gesprächs über<br />

Karls bevorstehende Ankunft ist sie stark abgelenkt durch das Buch, in dem sie liest und wird<br />

<strong>von</strong> Braka ermahnt: „[W]enn ich mit Dir ernsthafte Sachen rede, denkst du an nichts, als an das<br />

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Buch.“ (IÄ, S. 630) Die Beschäftigung mit den Büchern führt also zu einer träumerischen, rea-<br />

litätsfernen Haltung, die im Gegensatz zu Brakas bodenständigem Pragmatismus steht. Sie gibt<br />

sogar den Anreiz, selbst an der phantastischen Welt teilhaben zu wollen: „Ich bin heute bei mei-<br />

nes Vaters Büchern gewesen und habe da so schöne Geschichten gefunden, daß ich gerne ein<br />

Gespenst werden möchte.“ (IÄ, S. 629)<br />

Zudem werden die Bücher mit Kindlichkeit assoziiert. Das „Zauberbuch“ wird gleichgestellt<br />

mit <strong>Isabella</strong>s Puppen und mit diesen gemeinsam vor dem Aufbruch in die Stadt vernichtet, der<br />

<strong>Isabella</strong>s symbolischen Abschied <strong>von</strong> der Kindheit darstellt. „So muß ich auch das alles verlas-<br />

sen, womit ich gespielt habe“ (IÄ, S. 659), klagt <strong>Isabella</strong>, als sie da<strong>von</strong> erfährt, womit auch ihre<br />

Ausübung <strong>von</strong> Zauberei zur Erschaffung des Alrauns zum ‚Spiel‘ erklärt wird. Diese Wertung<br />

überrascht, da die Zauberbücher zuvor als Quellen <strong>von</strong> ehrwürdigem, geheimen Wissen der Zi-<br />

geuner dargestellt worden sind (siehe IÄ, S. 635). Allerdings ist die Vorstellung <strong>von</strong> der Kind-<br />

lichkeit als einem Zustand der höheren Empfänglichkeit für das Wunderbare und Poetische ty-<br />

pisch für das Denken der Romantik, sodass diese Darstellung nicht unbedingt eine Abwertung<br />

der Zauberei bedeutet. Dennoch bekommt sie durch diese Verknüpfung den Status <strong>von</strong> etwas,<br />

das beim Eintritt in das Erwachsenenalter zurückgelassen werden muss.<br />

In ihrer Verbindung zur Kindheit, zum Traum und als Hilfsmittel zur Erschaffung des Alrauns<br />

verweisen die Bücher auf die Bedeutung des geschriebenen Wortes, das es ermöglicht, über die<br />

Realität hinauszugehen, was in enger Verbindung zu <strong>Isabella</strong>s poetischer Wahrnehmungsfähig-<br />

keit steht.<br />

Auch für Karl fungieren Bücher als Träger und Vermittler <strong>von</strong> Phantastik. Durch sie kommt der<br />

junge Erzherzog zu der Vermutung, „daß er [i.e. der Alraun] ein <strong>von</strong> der alten Fee verzauberter<br />

Prinz sei, wie damals die Geschichten in spanischen Romanen häufig umliefen.“ (IÄ, S. 682)<br />

Arnim treibt hier ein ironisches Spiel: Karl ist <strong>von</strong> falschen phantastischen Vorstellungen, die<br />

ihm <strong>von</strong> den Büchern eingegeben worden sind, so befangen, dass er die wirkliche Phantastik<br />

des Alrauns übersieht. Die Vorstellungen, die die ‚spanischen Bücher‘ vermitteln, werden in<br />

Beziehung gesetzt zu Karls Annahme, <strong>Isabella</strong> sei eine verkleidete „französische Prinzeß“ (IÄ,<br />

S. 681), die der Erzähler zuvor kommentiert hat: „[Karl] hielt so manches für möglich, was ein<br />

anderer bezweifelt hätte [...].“ (IÄ, S. 682) Zudem denkt Karl zu diesem Zeitpunk auch noch<br />

immer an die vermeintliche Gespenstererscheinung, ist also gefangen in einem Netz <strong>von</strong> phan-<br />

tasievollen Fehlannahmen.<br />

Die Phantastik, die die Literatur vermittelt, ist damit ambivalent: Sie kann wahre Magie sein<br />

wie die Anweisungen zur Erschaffung des Alrauns und den Blick auf eine tiefere Wirklichkeit<br />

eröffnen. Sie kann aber auch naiver Aberglaube sein, ähnlich wie der Gespensterglaube.<br />

Die Literatur hatte für Arnim als Vermittler der Poesie einen ganz besonderen Stellenwert und<br />

spielt auch bei der Schöpfung der phantastischen Gestalten eine bedeutende Rolle. Dass sie je-<br />

doch nicht durchgehend als Quelle höherer Wahrheit dargestellt ist, trägt zur Komplexität der<br />

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Erzählung bei. Wie bei den unheimlichen Szenen gilt: Nicht alles Poetische und Phantasievolle<br />

ist wahr und es gibt keine Regel dafür, welches übernatürliche Element ‚Realität‘ ist und wel-<br />

ches nicht.<br />

3.3 Die phantastischen Figuren<br />

Die Sagengestalten Alraun, Bärnhäuter und Golem sind die offensichtlichsten phantastischen<br />

Elemente der Erzählung. Daneben gibt es noch einige phantastische Objekte, doch diese sind<br />

vergleichsweise unbedeutend und stehen eng mit Erschaffung und Entwicklung der Figuren in<br />

Beziehung, sodass sie nur in diesem Zusammenhang behandelt werden.<br />

Völkers Aussage „Alles an Phantastischem, Märchenhaftem, Übernatürlichem, was in der Er-<br />

zählung zum Vorschein kommt, verweist auf <strong>Isabella</strong> als die Verkörperung der Phantasie.“ 78<br />

wird der komplexen Struktur der Erzählung nicht gerecht, denn Arnims phantastische Wesen<br />

können ebenso auf der Karl-Ebene wie auf der <strong>Isabella</strong>-Ebene ihren Ursprung haben. Ihr über-<br />

natürliches Wesen unterscheidet sich zudem spürbar <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s Phantasiebegabung und ist<br />

<strong>von</strong> einer anderen, gradezu gegenläufigen Natur. Darum sind sie nicht <strong>Isabella</strong> zuzuordnen, son-<br />

dern verkörpern Kräfte, die zusätzlich zu ihrem poetischem Wesen auf die historische Welt<br />

Einfluss ausüben.<br />

Dass die phantastischen Gestalten alle aus der Volksüberlieferung übernommen sind, gehört zu<br />

Arnims poetischem Programm, denn in den Sagen sieht er jene tiefere Wahrheit verborgen, die<br />

er bei seiner Interpretation der Historie darstellen möchte. In der Erzählung „Angelika, die Ge-<br />

nueserin“, die ebenfalls Teil der „Novellensammlung <strong>von</strong> 1812“ ist, erklärt er: „[Die Sagen]<br />

sind, wenngleich ganz unwahr, doch das Wahrste, was ein Volk zur Darstellung seiner liebsten<br />

Gedanken hervorbringt.“ 79<br />

Alraun und Bärnhäuter gehören zur <strong>Isabella</strong>-Ebene, der Golem jedoch wird auf Karls Geheiß<br />

geschaffen. Die Verknüpfung der beiden Ebenen der Normrealität wird dadurch noch verstärkt,<br />

dass Golem und Alraun einige Gemeinsamkeiten aufweisen.<br />

Als erstes soll jedoch der Bärnhäuter behandelt werden, der sich <strong>von</strong> den beiden anderen Figu-<br />

ren in seiner Natur und Funktion unterscheidet und außerdem als eine Art Kommentarfigur ex-<br />

emplarisch die Technik Arnims bei der Integration <strong>von</strong> Sagenelementen sichtbar macht.<br />

3.3.1 Der Bärnhäuter<br />

Der Bärnhäuter ist diejenige unter den phantastischen Figuren, die die geringste Funktion für<br />

den Handlungsverlauf hat. Er ist als Diener <strong>Isabella</strong>s, Brakas und des Alrauns zwar häufig ge-<br />

genwärtig, seine Handlungen beeinflussen jedoch die Geschehnisse nicht entscheidend. Neu-<br />

mann spricht <strong>von</strong> einem „Anschein fabulöser Zufälligkeit, den sie [i.e. die Gestalt des Bärnhäu-<br />

78. Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 127.<br />

79. Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 877.<br />

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ters] nie ganz verliert.“ 80 Gerade wegen seiner relativ geringen Einbindung in die Geschehnisse<br />

kann der Bärnhäuter jedoch als Kommentarfigur fungieren.<br />

Die Einführung des Bärnhäuters geschieht über eine Geschichte, die Braka <strong>Isabella</strong> und dem<br />

Alraun erzählt. Die Motivation dazu ist Brakas Ermahnung an den Alraun: „[A]uch müßt Ihr<br />

Haar und Bart sorgsam beschneiden lassen, die Leute meinen sonst, Ihr wärt der Bärnhäuter.“<br />

(IÄ, S. 651) Der Bärnhäuter wird also als Prototyp eines verkommenen Menschen eingeführt, in<br />

der Rolle, die er im Volksmund hat. 81 Der Beginn der Erzählung Brakas ist drucktechnisch<br />

abgesetzt und mit „Geschichte des ersten Bärnhäuters“ überschrieben, einem Titel, der fast<br />

wörtlich Grimmelshausens „Der erste Beernhäuter“ (1670) entspricht. Diese Fassung der Sage<br />

ist es auch, an der sich Arnim bis hin zur Übernahme <strong>von</strong> Formulierungen orientiert. 82 Es ist die<br />

Geschichte eines Soldaten, der sich in die Dienste eines ‚Geistes‘ begibt, und <strong>von</strong> ihm nach sie-<br />

ben Jahren zum Lohn Geld und eine Braut erhält. Während der Dienstzeit darf er sich nicht wa-<br />

schen, die Haare schneiden oder beten, und erlangt dadurch das verwilderte Aussehen, für das<br />

er bekannt ist.<br />

Wie „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ selbst ist auch diese Binnenerzählung historisch verortet und zwar<br />

in der Zeit „als Sigismund, der Ungersche König, <strong>von</strong> den Türken geschlagen worden [...].“<br />

(IÄ, S. 651) Diese Zeitangabe ist direkt aus der Vorlage übernommen, 83 Arnim verstärkt die his-<br />

torischen Verweise noch, indem er ein „Concilio“ (IÄ, S. 653) erwähnt 84 und mehrere reale<br />

Städtenamen 85 verwendet. Die wesentlichste inhaltliche Abweichung <strong>von</strong> Grimmelshausen ist,<br />

dass der Bärnhäuter mit Hilfe des Geistes nicht die Gunst eines „edlen Herren vom Lande“ 86 er-<br />

langt, sondern des Papstes, unter dessen „natürliche[n] Töchter[n]“ (IÄ, S.653) er sich eine<br />

Braut aussuchen darf. 87 Die Allegorisierung der drei Töchter als „Vergangenheit“, „Gegenwart“<br />

80. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 307.<br />

81. Rölleke: Bärnhäuter, Sp 1225f.<br />

82. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S.307 (Fußnote) und Arnim: Werke in 6 Bänden<br />

(Bd. 3) [Kommentar], S. 1256f. Die Bärnhäutersage ist außerdem schon 1808 <strong>von</strong> Brentano für die<br />

„Zeitung für Einsiedler“ (Nr. 22-25) bearbeitet worden (siehe Zeitung für Einsiedler, Sp. 170-182,<br />

185-190, 193-198).<br />

83. Siehe Grimmelshausen: Kleinere Schriften, S. 3.<br />

84. Hier ist wohl das Konstanzer Konzil gemeint, das 1414-1418 abgehalten wurde. Da die andere historische<br />

Anspielung, die Niederlage Sigismunds gegen die Türken, 1396 stattfand, müssten damit<br />

allerdings zwischen dem Pakt mit dem Geist und der Begegnung mit dem Papst mindestens achtzehn<br />

Jahre statt sechseinhalb liegen (siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S.<br />

1304). Dies zeigt wiederum, dass es Arnim nur auf den Anschein historischer Einbettung, nicht auf<br />

Genauigkeit ankommt.<br />

85. Diese sind allerdings offensichtlich nach humoristischem Effekt ausgewählt: In „Graubündten“ ist<br />

es „am schmutzigsten auf dem ganzen Erdboden“ (IÄ, S. 652f.) und in „Baden“ geht der Bärnhäuter<br />

„ins Bad“ (IÄ, S. 655).<br />

86. Grimmelshausen: Kleinere Schriften, S. 6.<br />

87. Diese Veränderung kann man verschieden interpretieren. Es könnte sich dabei um einen Seitenhieb<br />

auf den Lebenswandel des Papstes handeln, was thematisch zur Reformation passt, die im<br />

Hintergrund der Haupterzählung präsent ist und auf die am Ende mit den Hinweisen auf Karls „politisches<br />

Glaubenswesen“ und seine Herbeiführung der „Trennung Deutschlands“ (IÄ, S. 738)<br />

angespielt wird. Schürer hingegen sieht die Einbeziehung des Papstes als eine symbolische „Verbindung<br />

zur metaphysischen Welt“ (Schürer: Quellen und Fluss der Geschichte, S. 198), die in Be-<br />

- 35 -


und „Zukunft“ (IÄ, S. 653) ist ebenfalls eine Zutat Arnims.<br />

Die Geschichte des Bärnhäuters wird im Stil des mündlichen Erzählens vorgetragen, es werden<br />

Metakommentare („[...] – ich hatte es zu erzählen vergessen – [...]“ IÄ, S. 654) sowie Hinweise<br />

auf die Reaktionen der Zuhörer eingeschoben (IÄ, S. 652) und die Erzählung endet mit der Un-<br />

terbrechung durch den Alraun (IÄ, S. 656). Während des durch die Geschichte angeregten Ge-<br />

sprächs erscheint der Bärnhäuter plötzlich in der Stube, scheint also im wahrsten Sinne des<br />

Wortes aus seiner Geschichte herauszutreten. Auffallend ist, dass beim Auftritt des Bärnhäuters<br />

durch den Erzähler keinerlei Beschreibung seiner äußeren Erscheinung gegeben wird. Seine<br />

Präsenz ist auf die „rauhe Stimme“ (IÄ, S. 656) und seine Dialogbeiträge reduziert. Dennoch ist<br />

er für die anderen Figuren offenbar sichtbar, denn deren Blickrichtung ist entscheidend dafür,<br />

dass sie auf ihn reagieren: „[Braka] sah auch hin, wohin er [i.e. der Alraun] gesehen und warf<br />

sich schreiend über den Geldkasten [...].“ (IÄ, S. 656) Zudem spielt der Bärnhäuter selbst dar-<br />

auf an, dass gerade sein Anblick Schrecken hervorruft: „Lebende Menschen [...] sind doch rech-<br />

te Toren, da hören sie mit großer Freude meine schreckliche Geschichte an, und mich selbst<br />

mögen sie nicht sehen.“ (IÄ, S. 656) Durch diese Erzähltechnik ist der Leser gezwungen, die<br />

plastische Beschreibung des Bärnhäuters aus der Binnenerzählung in die Haupterzählung zu<br />

übertragen. Aktiviert wird die Vorstellung <strong>von</strong> dem verwilderten Aussehen, das sein Marken-<br />

zeichen ist. Dass dieser assoziative Sprung richtig ist, wird bestätigt, als der Alraun den Bärn-<br />

häuter mit „unsaubrer Gast“ (IÄ, S. 656) anspricht. Die Bärnhäuterfigur befindet sich also in ih-<br />

rer ersten Szene in einem Übergangsstadium. Sie ist noch halb Erinnerung aus der eingebetteten<br />

Geschichte oder, in der Bildlichkeit der Erzählung, ein „Geist“, der verspricht, später mit sei-<br />

nem „wirklichen Körper“ (IÄ, S. 657) wiederzukommen. Beim nächsten Auftritt des Bärnhäu-<br />

ters gibt es dann Hinweise auf sein Aussehen (siehe IÄ, S. 660), ein Indiz dafür, dass er nun als<br />

vollwertige Figur in die Haupterzählung übergetreten ist.<br />

Das Erscheinen des Bärnhäuters löst bei allen drei anderen Figuren, auch beim Alraun, spontan<br />

Furcht aus. Dies ist ein Signal dafür, dass sein Auftauchen als störendes Element empfunden<br />

wird. Die Irritation wird jedoch überwunden, als der Alraun einen Dialog mit dem Bärnhäuter<br />

beginnt, der diesen in die Haupterzählung einbindet. Man erfährt, dass der Bärnhäuter aus dem<br />

Grab auferstanden ist, um seinen Schatz zurückzufordern, den der Alraun kurz zuvor im Spuk-<br />

haus gefunden hat. Auf diese Weise wird die neue Figur in die Kausalität des Handlungszusam-<br />

menhangs eingegliedert und den Erfordernissen der Haupterzählung angepasst.<br />

Arnims Bärnhäuter ist nur bedingt eine logische Fortführung des Helden der Binnenerzählung:<br />

Weder seine Verbindung zu dem Geist noch die Ehe mit der Zukunft, der Tochter des Papstes,<br />

werden thematisiert. Stattdessen wird vor allem seine Affinität zum Geld in der Haupterzählung<br />

übernommen, die Teil der Binnenerzählung war, aber nicht das zentralste Motiv. Für die Haupt-<br />

erzählung jedoch ist der Bezug zum Geld entscheidend und verhilft dem Bärnhäuter zu seinem<br />

zug zur allegorischen Bedeutung der Töchter steht.<br />

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Platz im Gefüge der Erzählung. Für seine Wiederkehr <strong>von</strong> den Toten gibt er folgende, nicht in<br />

der Originalsage verankerte Begründung: „[I]ch habe mich bei Lebzeiten so sehr in mein Geld<br />

verliebt, daß ich den Rest hier vermauerte und dabei nach meinem Tode Wache stehen muß<br />

[...].“ (IÄ, S. 656) Was die Figur veranschaulichen soll, sind also der „Geiz“ (IÄ, S. 657) und<br />

die Verfallenheit an das Geld. Arnim übernimmt Züge aus der Originalsage – das auf unlaute-<br />

rem Wege erworbene Geld und die Dienerrolle, die der Bärnhäuter schon für den Geist erfüllen<br />

musste und in die er nun wieder eintritt – und schafft auf deren Grundlage eine Figur, die ihren<br />

Platz in seiner Erzählung einnimmt.<br />

Was den Realitätsstatus der Bärnhäuterfigur angeht, so gibt es zwei mögliche Sichtweisen.<br />

Zum einen kann man der Sicht der Figuren innerhalb der Erzählung folgen und ihn als Untoten<br />

sehen. Die <strong>von</strong> Braka erzählte Lebensgeschichte des Bärnhäuters wäre dann eine ‚historische‘<br />

Darstellung. Dafür spräche, dass die Welt der Bärnhäutersage und die der Haupterzählung gut<br />

zusammenpassen. In beiden gibt es historische Verankerungspunkte, vor deren Kulisse sich<br />

übernatürliche Ereignisse abspielen. Diese Ähnlichkeit zeigt auch, wie eng die Konstruktion<br />

<strong>von</strong> „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ der einer Volkssage nachempfunden ist. Arnim sah sich selbst ganz<br />

in der Tradition der alten Sagen, die er in seinem Werk wieder beleben möchte. In der „Zueig-<br />

nung an meine Freunde Jakob Grimm und Wilhelm Grimm“ heißt es: „In Eurem Geist hat sich<br />

die Sagenwelt / Als ein geschloss‘nes Ganze schon gesellt, / Mein Buch dagegen glaubt, daß<br />

viele Sagen / In unsern Zeiten erst recht wieder tagen, / Und viele sich der Zukunft erst enthül-<br />

len, / Nun prüfet, ob es Euch das kann erfüllen.“ 88 Da für die Figuren die Welt des Bärnhäuters<br />

und die Welt der Haupterzählung dieselbe sind, ist seine Existenz für sie ‚nur‘ insofern überna-<br />

türlich, als er <strong>von</strong> den Toten auferstanden ist.<br />

Folgt man nicht so naiv dem Blickwinkel der fiktionalen Figuren, sondern betrachtete die Kon-<br />

struktion der Erzählung, so fällt auf, dass Arnims Umgang mit Sagen- und Legendenstoffen hier<br />

quasi exemplarisch vorgeführt wird. Zunächst wird die Originalsage kaum verändert zitiert,<br />

dann die Anverwandlung der Figur für die Haupterzählung vorgeführt. Die Bärnhäutergeschich-<br />

te, das Zitat einer Sage, konstituiert ein anderes Realitätssystem innerhalb der Normrealität.<br />

Dass der Bärnhäuter daraus hinübertritt, zeigt sinnfällig das Verschmelzen zweier Realitäten.<br />

Die ängstlichen Reaktionen der anderen Figuren erinnern an Karls Reaktion bei seiner ersten<br />

Begegnung mit <strong>Isabella</strong>. 89 War die Angst dort hervorgerufen worden durch den Zusammenprall<br />

<strong>von</strong> Traum und Wirklichkeit und beruhte auf einer Fehlwahrnehmung, so ist diesmal tatsächlich<br />

etwas Fremdes in die Normrealität übergetreten. Auch wenn der Schrecken überwunden wird,<br />

besteht der Gegensatz zwischen einer Figur aus einem fremden Realitätssystem zu denen im<br />

bereits etablierten Realitätssystem, ebenso wie auf der Handlungsebene zwischen dem Bereich<br />

88. Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 616 (Hervorhebungen <strong>von</strong> Arnim).<br />

89. Siehe auch Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 123.<br />

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der Toten, zu denen der Bärnhäuter gehört, zum Bereich der Lebenden.<br />

Die Fortentwicklung des Bärnhäuters ist aufschlussreich: Arnim lässt ihn eine ‚Doppelnatur‘<br />

entwickeln. Indem er sich in der neuen Realität, der Welt der Lebenden, bewegt und Nahrung<br />

zu sich nimmt – also sich einen Teil <strong>von</strong> ihr anverwandelt – entwickelt sich ein „Streit zwischen<br />

dem lebenden und verstorbenen Körper in ihm [...]: sein verstorbener Leib rechnete sich zu<br />

Herrn Cornelius, sein neulebender war ganz der Frau Braka und der schönen Bella ergeben<br />

[...].“ (IÄ, S. 672) Seine lebendige Umgebung bzw. das neue Realitätssystem, in dem er sich be-<br />

wegt, färbt also auf ihn ab und integriert ihn – allerdings nur unvollständig. Diese Teilintegra-<br />

tion, die hier besonders bildlich vorgeführt wird, lässt sich genauso bei den beiden anderen Fi-<br />

guren, Alraun und Golem, feststellen. Die Zuordnung des Alrauns zum Tod und die Brakas und<br />

Bellas zum Leben zeigt den grundlegenden Unterschied, den Arnim zwischen den Zigeunerfi-<br />

guren und der phantastischen Figur macht. Allerdings steht bei der Unterscheidung nicht der<br />

Realitätsstatus, sondern die Bewertung im Vordergrund – weder <strong>Isabella</strong> noch der Alraun sind<br />

ganz ‚realistisch‘, <strong>Isabella</strong> verkörpert jedoch ein positives, lebensspendendes Prinzip, der Al-<br />

raun dagegen ein negatives, lebensfeindliches. Der Bärnhäuter gehört, als toter Mensch, eigent-<br />

lich derselben Domäne an wie der Alraun, doch gewinnt er die oben beschriebene Ambivalenz,<br />

die soweit geht, dass die Wesensteile sogar mit verschiedenen Stimmen sprechen (siehe IÄ, S.<br />

728). Seine Loyalitäten negieren sich gegenseitig, so dass vor Gericht „sein Zeugnis [...] in Null<br />

aufging“ (IÄ, S. 728). Damit wird der Bärnhäuter auch zur Mittlerfigur zwischen der Normrea-<br />

lität, zu der auch <strong>Isabella</strong> gehört, und der Ebene der phantastischen Figuren. Es ist typisch für<br />

die Erzählung, dass dabei nicht der Widerstreit verschiedener Realitäten, sondern der verschie-<br />

dener Prinzipien in den Vordergrund gestellt wird.<br />

Eine weitere Funktion der Bärnhäuterfigur ist die der Spiegelung. Wie es nicht ungewöhnlich<br />

ist für eine Dienerfigur, kann auch der Bärnhäuter als das Zerrbild eines Herrn gesehen werden,<br />

und zwar Karls, mit dem er als einzige phantastische Figur keinen direkten Kontakt hat. Die<br />

Doppelnatur des Bärnhäuters spiegelt Karls Unentschlossenheit, der sich mehrmals <strong>Isabella</strong> an-<br />

nähert, um sich dann doch wieder zu entfernen. Karl flieht vor <strong>Isabella</strong> als Gespenst, will sie<br />

dann aber wieder sehen, erliegt der Täuschung durch den Golem und überwindet sie, verfällt<br />

aber letztendlich dem Alraun: ein Schwanken zwischen Leben und Poesie einerseits und Tod<br />

und Geld andererseits. Die Ruhelosigkeit des Bärnhäuters, zu der er am Ende der Erzählung<br />

vom Alraun verdammt wird (siehe IÄ, S. 728), und die an das Schicksal des ‚Ewigen Juden‘ er-<br />

innert, ist eine Parallele zu Karls Unrast, die diesen in seinem späteren Leben plagt. Sogar im<br />

lauten, polternden Auftreten sind sich Karl und der Bärnhäuter ähnlich. 90<br />

Die Bärhäutersage selbst kann ebenfalls als Kommentar zur Gesamterzählung gelesen werden.<br />

90. Siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 308.<br />

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Ernst Schürer sieht in der Allegorie <strong>von</strong> den drei Töchtern des Papstes Arnims Geschichtsauf-<br />

fassung und sogar konkrete politische Ansichten reflektiert: „Die Auflösung des Orakels, auf<br />

Arnims politische Gegenwart bezogen, sieht so aus: Er setzt auf die Zukunft, während der Teu-<br />

fel die Gegenwart, Unterdrückung durch Napoleon, und die Vergangenheit, ein ultrakonservati-<br />

ves, reaktionäres politisches System, holt. Die ferne Vergangenheit und Zukunft, beide unbe-<br />

stimmt und verwischt, fallen zusammen im Bild einer goldenen Zeit, die es im Paradies gege-<br />

ben hat und die die Menschheit zwar anstrebt, aber nie erreichen kann.“ 91<br />

Neumann setzt die Allegorie mit den phantastischen Figuren in Beziehung, betont dabei aller-<br />

dings, dass es sich nicht um direkte Entsprechung, sondern um eine assoziative Verknüpfung<br />

handelt. Den Bärnhäuter ordnet er der Vergangenheit, den Golem der Gegenwart und den Al-<br />

raun der Zukunft zu. Auf diese Weise werden „die Wege zwischen den beiden Bereichen, <strong>von</strong><br />

der Geschichte, die erzählt wird, in die Erzählung, in der sie erzählt wird, [...] begehbar.“ 92<br />

Der Bärnhäuter fungiert also nicht primär als handlungstreibende, sondern als Kommentarfigur,<br />

die Mechanismen und Aussagen der Haupterzählung spiegelt.<br />

Er unterscheidet sich <strong>von</strong> den anderen phantastischen Figuren noch in einem weiteren Aspekt:<br />

Durch den Fluch, der ihn dazu verdammt, bis zum Jüngsten Tage herumziehen zu müssen (sie-<br />

he IÄ, S. 728), ist sein Weiterexistieren bis in die Gegenwart des Lesers impliziert. So ist der<br />

Bärnhäuter die einzige phantastische Figur, die über das Ende der Erzählung hinaus körperlich<br />

in der historischen Realität verbleibt. Golem und Alraun sind zumindest in ihrer körperlichen<br />

Form zerstört, der Bärnhäuter jedoch zieht weiter umher und der Leser muss vor ihm gewarnt<br />

werden. Er ist wird damit ein Symbol für die Anwesenheit des Phantastischen in der Alltags-<br />

welt bis in die Gegenwart.<br />

3.3.2 Golem und Alraun<br />

Golem und Alraun, die beiden für die Handlung zentralen phantastischen Figuren, weisen eini-<br />

ge gemeinsame Merkmale auf. Beide werden <strong>von</strong> Menschen geschaffen. Menschen sind also<br />

selbst fähig, phantastische Wesen zu einem bestimmten – in der Erzählung stets eigennützigen –<br />

Zweck in die Welt zu bringen. Die Erschaffung ist ein ungewöhnlicher, <strong>von</strong> den Figuren der Er-<br />

zählung jedoch nicht als übernatürlich empfundener Akt. Beide Figuren sind Geschöpfe der<br />

Erde – der Golem besteht aus Lehm, der Alraun ist eine Wurzel – und werden assoziiert mit<br />

dem Schweren, Irdischen und Profanen. Beide zeigen bald nach der Erschaffung Selbstständig-<br />

keit und agieren zum Schaden ihrer Schöpfer, die die Kontrolle über sie verlieren. Beide versu-<br />

chen, sich als Menschen in die Realität einzufügen.<br />

Die beiden Aspekte Schöpfung und Integration in die Normrealität sollen bei Golem und Al-<br />

91. Schürer: Quellen und Fluss der Geschichte, S. 198.<br />

92. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 309 (Hervorhebung <strong>von</strong> Neumann).<br />

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aun schwerpunktmäßig untersucht werden.<br />

3.3.2.1 Schöpfung des Golems<br />

Arnims wichtigste Quelle für das Golemmotiv war wahrscheinlich ein Bericht Jacob Grimms in<br />

der „Zeitung für Einsiedler“ (Nr. 7) 93 , den Arnim selbst mit dem satirischen Titel „Entstehung<br />

der Verlagspoesie“ versehen hat. 94 Der Golem ist die letzte der phantastischen Gestalten, die in<br />

die Erzählung eintritt und unterscheidet sich dadurch <strong>von</strong> Alraun und Bärnhäuter, dass er auf<br />

der Karl-Ebene geschaffen wird. Dies ist bedeutsam, da es zeigt, dass in der scheinbar histori-<br />

schen Umgebung Karls übernatürliches Geschehen ebenso möglich ist wie im Umfeld <strong>Isabella</strong>s.<br />

Cenrio, Karls Vertrauter und Hofmeister, ist es, der die Erschaffung des Golems vorschlägt. Er<br />

kennt „einen gelehrten Juden aus Polen [...], der ihm schon früher durch die Kunst, Golems zu<br />

machen, manche Ergötzlichkeit verschafft hatte.“ (IÄ, S. 686) Während die Schöpfung des Al-<br />

rauns als erstes übernatürliches Ereignis in der Erzählung dramatisch geschildert wird, wird die<br />

Golemerschaffung mit einer gewissen Leichtfertigkeit präsentiert, als sei sie durchaus üblich<br />

und zum Zweck des bloßen Vergnügens durchführbar. Dies zeigt die fortschreitende Integration<br />

phantastischer Elemente in die Erzählung.<br />

Um das Ebenbild <strong>Isabella</strong>s zu erschaffen, bedarf es eines phantastischen Hilfsmittels: des<br />

„Kunstspiegel[s]“ (IÄ, S. 687), der in einem Guckkasten versteckt ist. Dieses Objekt wird in der<br />

Erzählung nur beiläufig erwähnt, obwohl seine Macht nicht unbedeutend ist. Zum einen kann<br />

es, wie ein Fotoapparat, das Bild dessen festhalten, der hineinsieht. Darüber hinaus bannt der<br />

Spiegel jedoch auch Erinnerungen. Hier greift Arnim auf den alten Glauben an die Magie <strong>von</strong><br />

Bildnissen zurück. Das äußere Erscheinungsbild und die Erinnerungen, also das, was nicht zum<br />

inneren Wesen gehört, sondern <strong>von</strong> der Außenwelt in den Geist des Menschen kommt, dienen<br />

als Grundlage zur Erschaffung des Golems.<br />

Als Spiegel, der sich noch dazu in einem Guckkasten befindet, hat dieses phantastische Objekt<br />

zudem einen Bezug zum indirekten Sehen, das in der Erzählung ausgesprochen negativ bewer-<br />

tet wird. Als der Alraun eine Brille aufsetzt, kommentiert der Erzähler: „[D]er Sinn, der sonst<br />

seine Freude nur in Luft und Licht sucht, [muss] jetzt die harte Gewalt der Erde zu seiner Hülfe<br />

brauchen [...], die ihn notwendig mit sich herabzieht und vernichtet. Die Brille ist das schreck-<br />

lichste Gefängnis, aus welchem die Welt verändert erscheint und nur die Gewohnheit kann den<br />

Schreck vor dieser Welt, wie sie dadurch erscheint, aufheben.“ (IÄ, S. 647) Vor diesem Hinter-<br />

grund kann man vermuten, dass der Spiegel, der ebenfalls kein direktes Bild der Welt liefert<br />

und aus harter Materie besteht, genauso eine Verzerrung bewirkt. Er kann darum nicht die wah-<br />

93. Siehe Zeitung für Einsiedler, Sp. 56.<br />

94. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1256.<br />

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e Essenz <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s Wesen bannen. Der Golem, dessen Existenz so seinen Anfang nimmt,<br />

ist in seiner phantastischen Natur ebenso falsch und erschreckend, wird aber in der Normrealität<br />

übersehen, weil ‚Gewohnheit‘ bei fast allen Figuren den Blick für die Wahrheit bereits getrübt<br />

hat. 95<br />

Eine explizite Verknüpfung zur Schöpfungsgeschichte wird hergestellt, als Cenrio den Juden<br />

fragt, wie die Belebung des Golems möglich sei. Dessen Antwort ist ein Kommentar zu Gott<br />

und der menschlichen Natur: „Herr, warum hat Gott die Menschen erschaffen, als alles übrige<br />

fertig war? Offenbar, weil das in ihrer Natur lag, als diese <strong>von</strong> Gott sich losgedacht hatte.“ (IÄ,<br />

S. 688) Den Menschen zeichnet seine Schöpferkraft aus und wäre nicht der Sündenfall gewe-<br />

sen, so meint der Jude, wäre diese ebenso groß wie die Gottes. Nach der Vertreibung aus dem<br />

Garten Eden aber werden die Produkte menschlicher Schöpfung „um so viel schlechter, als die-<br />

ses Landes Leimen sich zum Leimen des Paradieses verhält!“ (IÄ, S. 688) Der Golem ist also<br />

das Produkt einer gefallenen Schöpfung. 96 In Nachahmung des Schöpfungsaktes haucht der<br />

Jude die Golemfigur an, um sie zum Leben zu erwecken und spricht das „geheimnisvolle und<br />

wunderkräftige Schemhamphoras“ (IÄ, S. 686), die jüdische Form des Namen Gottes. Zusätz-<br />

lich bedarf es jedoch noch einer anderen Handlung, die auf die kabbalistische Tradition des Ju-<br />

dentums verweist, in der die Schrift mystische Bedeutung hat: Der Golem wird belebt durch das<br />

hebräische Wort „Aemaeth“ (‚Wahrheit‘), das auf seine Stirn geschrieben wird, und vernichtet,<br />

indem dessen erste Silbe ausgelöscht wird, sodass sich die Bedeutung in „Maeth“ (‚Tod‘) ändert<br />

(siehe IÄ, S. 686). Kremer sieht in dieser „Weltschöpfung durch Sprachschöpfung“ die „roman-<br />

tiktypische Kombination <strong>von</strong> Oralität und Literalität“ 97 , die sich zur Belebung der Kunstfigur<br />

verbinden.<br />

Andermatt führt aus, dass der Golem zudem, neben der naturhaft-vegetativen Seite, für die der<br />

Lehm steht, eine „Leid-Schuld-Seite“ 98 besitzt. Letztere stammt <strong>von</strong> seinem jüdischen Schöpfer,<br />

der dem Geschöpf mitgibt, was in seinen „Gedanken gelegen, nämlich Hochmut, Wollust und<br />

Geiz“ (IÄ, S. 688f.). Dabei „figuriert [der Jude] als Repräsentant eines Volkes, das einen Un-<br />

schuldigen, Christus, hingerichtet hat, und vertritt deshalb analog zur Alraunzeugung das Ele-<br />

ment des Unrechtsstaates und des Leids.“ 99 An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass Ar-<br />

95. Das Motiv des Kunstspiegels weist außerdem Ähnlichkeiten mit dem des ‚schaffenden Spiegels‘<br />

auf, das Brentano in seiner „Chronica des fahrenden Schülers“ als Bild für den Vorgang des künstlerischen<br />

Schaffens verwendet (siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1305).<br />

96. In Bezug auf den Golem als ‚zweitrangige‘ Schöpfung im Gegensatz zu <strong>Isabella</strong> als Kind der wahren<br />

Schöpfung lassen sich Parallelen zum Lilith-Mythos feststellen, den Arnim in seinen „Majoratsherren“<br />

verarbeitet hat. <strong>Isabella</strong> entspräche dann Lilith, die in seiner Darstellung die erste, keusche<br />

Gefährtin Adams ist, <strong>von</strong> Eva verdrängt wird und daraufhin das Amt des Todesengels übernimmt<br />

(siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 306f.). Zum Lilith-Motiv passt auch die Beschimpfung,<br />

die die Golem-Bella der echten <strong>Isabella</strong> entgegen schleudert: „Du Vorgeschaffene<br />

Gottes“ (IÄ, S. 719).<br />

97. Kremer: Romantik, S. 170.<br />

98. Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 341.<br />

99. Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 341.<br />

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nim die Juden als negatives Prinzip stilisiert.<br />

Der Golem ist also als Zerrbild der göttlichen Schöpfung konzipiert, die durch die Unzuläng-<br />

lichkeit des Schöpfers und der Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, pervertiert wird. Die inne-<br />

re Leere, die sich beim Golem noch weit deutlicher manifestiert als beim Alraun, ist Ausdruck<br />

seiner Künstlichkeit: Die Golem-Bella wollte „nichts Eignes, als was in des jüdischen Schöp-<br />

fers Gedanken gelegen [...]; daß diese [Laster] hier ohne die geistige Richtung in ihr sich zeig-<br />

ten, unterschied sie auch vom Juden, überhaupt aber <strong>von</strong> allen Menschen [...].“ (IÄ, S. 688f.)<br />

Golem-Bella ist im Grunde eine leere Hülle, ein seelenloser Automat wie die Maschi-<br />

nenmenschen, ein typisches Motiv der Romantik. 100<br />

Die Erklärung, was ein Golem ist, verbildlicht auch die Gefahr der phantastischen Wesen: Er ist<br />

dem Menschen zu Diensten geschaffen, wächst aber ständig, bis er nicht mehr kontrolliert wer-<br />

den kann (siehe IÄ, S. 686). Genauso werden Alraun und Golem erschaffen, um hilfreich zu<br />

sein, die phantastischen Wesen aber ergreifen Besitz <strong>von</strong> ihren Schöpfern.<br />

3.3.2.2 Integration des Golems - <strong>Isabella</strong>s Doppelgänger<br />

Die Rolle des Golems in der Erzählung ist klar: Er ist ein Doppelgänger 101 , eine Kopie <strong>Isabella</strong>s,<br />

die wegen der „rasende[n] Eifersucht“ (IÄ, S. 686) Karls auf den Alraun explizit zum Zweck<br />

der Täuschung geschaffen wird. Das Gegensatzpaar <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> und Golem-Bella verkörpert<br />

dieselbe Gegensätzlichkeit wie die doppelte Natur des Bärnhäuters. Diese Gegenüberstellung<br />

betont nochmals <strong>Isabella</strong>s Status als lebendiger Mensch im Gegensatz zur künstlichen, widerna-<br />

türlichen Existenz des Golems.<br />

Die Motivation und Umstände der Eingliederung des Golems in die Normrealität sind weniger<br />

komplex als beim Alraun: Entsprechend seiner Rolle empfinden die anderen Figuren ihn nicht<br />

als phantastisch, denn sie unterliegen ja dem Irrtum, es handele sich um <strong>Isabella</strong>. In dem<br />

Moment, wo der Golem durchschaut wird, ist sein Existenzrecht verwirkt, da er nur zum<br />

Zwecke der Täuschung existiert.<br />

Der Täuschung durch den Golem erliegen die Figuren aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeit,<br />

hinter den äußeren Schein zu blicken. Sowohl der Alraun als auch Braka akzeptieren den Go-<br />

lem zunächst ohne Zögern (siehe IÄ, S. 689). Als sie mit zwei <strong>Isabella</strong>s konfrontiert werden,<br />

100. Die wohl bekannteste Gestaltung dieses Motivs ist die mechanische Frau Olimpia in E.T.A. Hoffmanns<br />

„Der Sandmann“.<br />

101. Neumann weist für diesen Aspekt der Golem-Figur auf Anlehnungen an Veriphantos „Betrogenen<br />

Frontalbo“ hin, ein Romanfragment vom Ende des 17. Jahrhunderts, das Arnim als „Frontalbo und<br />

die beyden Orbellen“ in der „Zeitung für Einsiedler“ (Nr. 11) veröffentlichte (siehe Zeitung für Einsiedler,<br />

Sp. 85-88). In diesem Werk wird der heimkehrende Frontalbo statt mit einer mit zwei Frauen<br />

konfrontiert, die beide vorgeben, seine Geliebte Orbella zu sein. Er ist, wie Karl, unfähig, die<br />

richtige Entscheidung zu treffen und erschlägt die echte Orbella (Neumann: Legende, Sage und<br />

Geschichte, S. 719 und Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 1258).<br />

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kam „Braka [...] zuerst darauf, unsere Bella möchte doch wohl die echte sein, aber Cornelius<br />

widersprach heftig, weil ihm die geschmückte Golem besser gefiel, als Bella in den alten Lum-<br />

pen der Dorfsängerin.“ (IÄ, S. 701) Wie aufgrund seiner materialistischen Natur nicht anders zu<br />

erwarten, urteilt der Alraun nach der äußeren Pracht und Braka ist sich ihrer Sache offenbar<br />

nicht sicher genug, um zu widersprechen. Der Bärnhäuter ist der einzige, der sich nicht täu-<br />

schen lässt: Er versichert, „er habe es gleich bemerkt, dass sie [i.e. <strong>Isabella</strong>] <strong>von</strong> einer falschen<br />

nachgebildeten Figur verdrängt sei, aber aus Furcht, seinen Dienst zu verlieren, habe er nichts<br />

zu sagen gewagt.“ (IÄ, S. 711) Diese Hellsichtigkeit hat nichts mit seiner ebenfalls phantasti-<br />

schen Natur zu tun, denn der Alraun verfällt der Täuschung ja vollkommen. Sie lässt sich wohl<br />

am ehesten damit erklären, dass er die größte Distanz zum Geschehen hat, führt jedoch wie das<br />

Aufblitzen <strong>von</strong> Erkenntnis bei Braka, nicht dazu, dass er der echten Bella zu ihrem Recht ver-<br />

hilft. Es ist nicht erstaunlich, dass <strong>Isabella</strong> „einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen Braka,<br />

Cornelius und alle“ (IÄ, S. 711) empfindet, nachdem sie ihre Oberflächlichkeit auf diese Weise<br />

bewiesen haben.<br />

Am schwersten wiegt, dass auch Karl sich täuschen lässt, der ja <strong>von</strong> vornherein <strong>von</strong> der Exis-<br />

tenz des Golems weiß. Die Ursache dafür liegt darin, dass seine Liebe zu <strong>Isabella</strong>, die er „durch<br />

sein Kunststück in seine Gewalt brachte“, nicht rein ist: „[E]s war nicht Liebe allein, es war der<br />

Wunsch in ihm, sich zu rächen, weil er sich betrogen glaubte, daß er sie so wild und rasch sei-<br />

ner Lust opferte.“ (IÄ, S. 705) Karl erliegt dem Golem, weil seine Liebe zu gering ist und er da-<br />

rum <strong>Isabella</strong>s inneres Wesen nicht erfassen kann, sondern sich vom äußeren Schein blenden<br />

lässt. Hinzu kommt die Überschätzung seiner Wahrnehmungsfähigkeit, die ihn im Irrtum ver-<br />

harren lässt, denn er achtet „die täuschende Kunst der Sinne für unfähig [...], sein scharfes Auge<br />

zu täuschen.“ (IÄ, S. 705) Nach der ersten Liebesnacht mit dem Golem zeigt sich dann dessen<br />

phantastische Macht: Karl spürt „trotz der unbefriedigten Nacht, trotz der Vermutung, eine Zau-<br />

bergestalt treibe ihren Spott mit seiner Liebe, eine unwiderstehliche Begierde zu diesem Go-<br />

lem.“ (IÄ, S. 711) Auch diese erotische Bindung, die der Golem ausüben kann, hat jedoch ihre<br />

Wurzeln in Karls innerer Disposition.<br />

Golem-Bella und <strong>Isabella</strong> verkörpern gegensätzliche Extremausprägungen der Liebe: Der Go-<br />

lem steht für reine Sinnlichkeit ohne innere Beteiligung, <strong>Isabella</strong> für zutiefst empfundene, reine<br />

Liebe, die der Körperlichkeit fast schon entrückt ist. Diese Kluft empfindet Karl: „[A]uch konn-<br />

te er nicht leugnen, daß diese Empfindung [i.e. dem Golem gegenüber] etwas Bestimmtes, et-<br />

was Mögliches forderte, während jene [i.e. <strong>Isabella</strong> gegenüber] sich vielleicht ins Unendliche<br />

traumartig ausblühte; ja in diesem Zwiespalt seines Gemüts schien ihm das Wesenlose, das Un-<br />

gewisse in jenen hohen Freuden leer und verächtlich gegen diesen erkannten Sieg seiner Sinne.“<br />

(IÄ, S. 711) Hier wird deutlich, dass das <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> verkörperte Ideal durch seine Absolutheit<br />

und Offenheit auch eine Gefährdung mit sich bringt, der Karl nicht gewachsen ist. Die Lust-<br />

empfindung, die der Golem zu geben fähig ist, erscheint dagegen ‚gewöhnlicher‘ und vertrauter.<br />

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Obwohl dieser die eigentlich phantastische Figur ist, bewirkt er also weniger Irritation als<br />

<strong>Isabella</strong>. Überhaupt findet der Golem sich sehr gut in der menschlichen Gesellschaft zurecht<br />

und erobert sich rasch und zielstrebig einen Platz, indem er den Alraun an sich bindet, unter-<br />

drückt und geschickt betrügt, aus der Beziehung mit Karl materiellen Nutzen zieht und <strong>Isabella</strong><br />

selbstbewusst vertreibt. Seine Gefühllosigkeit und Oberflächlichkeit erweisen sich als Vorteil,<br />

eine Kritik am Zustand der Welt, in der das widernatürliche Geschöpf einer gefallenen Schöp-<br />

fung es leichter hat als <strong>Isabella</strong>, die die wahre, poetische Weltordnung verkörpert.<br />

3.3.2.3 Schöpfung des Alrauns<br />

Der Alraun ist <strong>von</strong> den drei phantastischen Figuren die facettenreichste. Er tritt als erste in die<br />

Handlung ein, ist in vielen Szenen präsent und spielt am längsten eine Rolle in der Erzählung.<br />

Jacob Grimm meinte sogar: „[Ü]berhaupt ist es [i.e. das Wurzelmännchen] in seinem Wesen<br />

und Eingreifen das Gelungenste in der Erzählung und die Hauptfigur.“ 102<br />

Schon seine Erschaffung wird wesentlich ausführlicher dargestellt als die der beiden anderen<br />

phantastischen Figuren. Anders als Golem und Bärnhäuter tritt er nicht fertig in die Welt, son-<br />

dern durchläuft mehrere Entwicklungsphasen. Die erste ist das Ausgraben der Alraunwurzel,<br />

die zweite deren Ausstattung mit Sinnesorganen, die dritte das Heranwachsen des Alrauns, wo-<br />

bei er Sprechfähigkeit erlangt und seine ‚Persönlichkeit‘ sich entwickelt. Knapp kommentiert,<br />

dass Arnims Phantasie „die allmähliche Menschwerdung des Alrauns realistisch <strong>von</strong> einer<br />

phantastischen Stufe zur andern weiterverfolgt und den überlieferten Kobold des Zauberbuchs<br />

anatomisch und psychologisch zur lebensfähigen, in der historischen Umgebung standhaften<br />

Charakterfigur ausformt.“ 103<br />

Arnim verwendete als Vorlage für die Anleitung, wie ein Alraun zu gewinnen sei, vornehmlich<br />

Grimmelshausens „Simplicissimi Galgen-Mannlin oder Ausführlicher Bericht, woher man die<br />

genannten Alräungen oder Geld-Männlein bekommt“ (1673). 104 Die leichte Abweichung, dass<br />

das Wesen aus Tränen statt Sperma des Gehenkten entsteht, war er, wie Jacob Grimm meint,<br />

„der Dezenz schuldig“ 105 .<br />

Damit die Erschaffung des Alrauns gelingen kann, ist sowohl das Wesen als auch das Handeln<br />

102. Brief <strong>von</strong> Jacob Grimm an Achim <strong>von</strong> Arnim vom 6. 5. 1812; zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim<br />

und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 192.<br />

103. Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 119.<br />

104. Siehe Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3) [Kommentar], S. 1257. Neumann weist außerdem darauf<br />

hin, dass Arnims Alraun Züge eines Flaschenteufels trägt. Eine Vermischung der volkstümlichen Figuren<br />

Alraun und Flaschengeist findet sich schon im achtzehnten Kapitel <strong>von</strong> Grimmelshausens<br />

„Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche“. Literarisch neu gestaltet<br />

worden ist sie nur zwei Jahre vor Erscheinen <strong>von</strong> Arnims „Novellensammlung <strong>von</strong> 1812“ in Friedrich<br />

de la Motte Fouqués „Der Flaschenteufel“ (siehe Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S.<br />

299f., Fußnote).<br />

105. Brief <strong>von</strong> Jacob Grimm an Achim <strong>von</strong> Arnim vom 6. 5. 1812; zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim<br />

und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 192.<br />

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seines Schöpfers entscheidend. In der ersten Phase der Alraungewinnung fällt auf, dass gegen-<br />

sätzliche Elemente zusammengebracht werden. Neben <strong>Isabella</strong>, dem „Mädchen [...], das mit<br />

ganzer Seele liebt, ohne Begierde zur Lust ihres Geschlechtes“ (IÄ, S. 636), ist auch die Mithil-<br />

fe des Hundes Simson nötig, in dem angeblich „der böse Feind“ (IÄ, S. 637), also der Teufel,<br />

steckt, und der beim Herausziehen der Wurzel sterben muss. 106 Der Hund, „aus dessen Augen<br />

mehr blickte, als sein Mund ausbellen konnte“ (IÄ, S. 637) hat selbst Züge eines phantastischen<br />

Wesens, wenn er auch nicht direkt die Gesetze der Erfahrungswirklichkeit bricht, und mit ihm<br />

gibt es schon vor der Alraunerschaffung ein bedrohliches Element in <strong>Isabella</strong>s Leben. Sein<br />

dämonisch-unheimliches Verhalten zeugt <strong>von</strong> dem Triumph, den der ‚böse Feind‘ empfindet,<br />

sobald es Anzeichen dafür gibt, dass <strong>Isabella</strong> ihre Unschuld verlieren wird, und seine Verhal-<br />

tensweisen sind denen des Alrauns im halbentwickelten Zustand nicht unähnlich: Er „belauerte“<br />

<strong>Isabella</strong> und es scheint, als ob er sie „auslachte“ (IÄ, S. 637), wenn sie ihre Liebe zu Karl zeigt.<br />

Als sie seinen Tod beschließt, „schien er nicht traurig, aber er sah sie spöttisch an [...].“ (IÄ, S.<br />

637) Schon in dem Moment also, als <strong>Isabella</strong> den Entschluss zur Alraunerschaffung fasst, be-<br />

ginnt die Energie des ‚bösen Feindes‘ sie zu umgeben, der auch im Alraun stecken wird.<br />

Der Tod ist das verbindende Motiv bei der Alraunerschaffung. Der Galgenberg als Schauplatz<br />

erinnert an das Opfer <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>s unschuldig hingerichtetem Vater. Andermatt beschreibt die<br />

Entstehung der Alraunwurzel aus der „Verkümmerung menschlichen Lebens“: „Der unschuldig<br />

Gehenkte verkörpert dialektisch die Schuld des Staates; seine Tränen lassen das Leid, daß ihm<br />

im ungerechten Gericht zugefügt wurde, weiterleben, indem sie zur Erde fallen und dort in Ver-<br />

bindung mit der Vegetation anstelle des verhinderten menschlichen Glücks ihre dunkle Macht<br />

entfalten.“ 107 Zudem verlangt das Ziehen der Wurzel das zusätzliche Opfer eines Lebens, wes-<br />

halb <strong>Isabella</strong> den Hund für sich sterben lässt. Auch wenn der Hund negativ gezeichnet ist, be-<br />

deutet dieses Inkaufnehmen der Vernichtung eines anderen Wesens eine schwerwiegende Über-<br />

tretung und ist das schuldhafte Gegenstück zum Märtyrertum Herzog Michaels.<br />

Die Ausgestaltung des Weges zum Galgenberg ist düster und mit unheimlichen Vorzeichen ge-<br />

staltet, die instinktive Fluchtreaktion der Tiere weist auf die Naturwidrigkeit des Vorgangs hin.<br />

Der „erschreckliche[r] Donnerschlag“ (IÄ, S. 640), der sich beim Herausziehen der Alraunwur-<br />

zel ereignet, den Hund tötet und <strong>Isabella</strong> betäubt, ist nach Knapp die einzige Stelle, wo man <strong>von</strong><br />

einem „dämonischen Vorgang“ sprechen könne, da <strong>Isabella</strong> „für einen Augenblick einer <strong>von</strong><br />

außen kommenden Macht unterworfen scheint [...].“ 108 Es ist gleichzeitig das erste eindeutig<br />

übernatürliche Ereignis in der Erzählung. Dieses bricht allerdings nicht unvermutet in die<br />

Normrealität ein, sondern wird provoziert durch zielgerichtetes und zweckbestimmtes Handeln<br />

eines Menschen. Nach dem Donnerschlag, der ihr bezeichnenderweise das Bewusstsein raubt,<br />

verliert <strong>Isabella</strong> diese Zielgerichtetheit. Sie vergisst den eigentlichen Zweck der Alraunerschaf-<br />

106. Zu dieser Gegensätzlichkeit siehe auch Fischer: Literatur und Politik, S. 97.<br />

107. Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 340.<br />

108. Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 118.<br />

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fung und spürt nur noch eine unerklärliche Liebe zu der Wurzel. In dem Moment, wo es in die<br />

Welt tritt, besteht das Phantastische nur noch zum Selbstzweck, ein deutliches Zeichen für seine<br />

verführerische Macht.<br />

Nach Abschluss dieser ‚Geburtsphase‘ ist die Wurzel jedoch noch unfertig. <strong>Isabella</strong> sieht „ein<br />

menschenähnliches Wesen, gleichsam einen beweglichen Umriß, aus welchem die edlen Sinne<br />

noch nicht hervorgetreten sind, ähnlich einer Schmetterlingslarve [...].“ (IÄ, S. 641) Sie muss<br />

wiederum tätig werden, um die Wurzel dazu zu bringen, „ihre Kräfte, ihre Bildung zu entfalten“<br />

(IÄ, S. 641) und den Alraun vollends ins Leben zu bringen. Verschiedene Beeren und Samen<br />

werden verwendet, um dem Wesen Haare, Augen und einen Mund zu geben. <strong>Isabella</strong> fügt diese<br />

Teile nach Anweisung des Zauberbuchs hinzu, handelt jedoch auch aus eigenem Gefühl heraus,<br />

weil sie deren Fehlen mit Mitleid erfüllt: „Es tat ihr leid, daß er nicht einen Mund zum Küssen,<br />

nicht eine Nase habe, die ein göttlicher Atem herrschend und sanft geformt, daß keine Augen<br />

sein Innerstes kundmachten und daß keine Haare den zarten Sitz seiner Gedanken umsicherten<br />

[...].“ (IÄ, S. 641) Die Teile, die der Wurzel fehlen, werden als Attribute des Menschlichen be-<br />

schrieben und <strong>Isabella</strong> ist bemüht, den Alraun menschenähnlich zu machen. Dabei wird sie aber<br />

auch kreativ, weicht vom menschlichen Vorbild ab und setzt, weil ihr die Augen des Alrauns so<br />

gut gefallen, noch ein weiteres Paar im Nacken ein. Dies wird das „ahndende Augenpaar“ (IÄ,<br />

S. 647), das die Gedanken der Menschen lesen kann. Gerade <strong>Isabella</strong>s eigenmächtige Ergän-<br />

zung verleiht dem Wesen also zusätzliche phantastische Macht. Der Kommentar des Erzählers<br />

vergleicht ihr Handeln sowohl mit dem göttlichen, als auch mit einem künstlerischen Schöp-<br />

fungsakt: „So fröhlich und ernstlich zugleich begann sie dies Werk, ein Wesen zu schaffen, das,<br />

wie der Mensch seinen Schöpfer, bis an sein Ende sie betrüben sollte; selbstzufrieden wie ein<br />

junger Künstler, dem alles über Erwartung glückt, besah sie ihr kleines, unförmliches Ungeheu-<br />

er [...].“ (IÄ, S. 642)<br />

Nachdem die Ausstattung abgeschlossen ist, beginnt die dritte Phase in der Entwicklung des Al-<br />

rauns, in der er ‚heranwächst‘. Die aktive Schöpfung ist nun vollendet, <strong>Isabella</strong> hat einen Pro-<br />

zess angestoßen, der sich naturhaft fortsetzt, jedoch nur unter Voraussetzung ihrer ständigen<br />

Liebe und Zuwendung: „[E]s war überhaupt ein Bewegen innerlich in dem kleinen Wesen, wie<br />

frühlings im Acker beim ersten heißen Sonnenscheine nach dem Regen; es wächst noch nichts,<br />

aber die Erde trennt sich und lockert sich, und wie die Sonnenblicke alles fördernd umgehen, so<br />

regte sie [i.e. <strong>Isabella</strong>] küssend alle Kräfte der geheimnisvollen Natur auf.“ (IÄ, S. 643f.) Ihre<br />

Leben spendende Kraft steht in unmittelbarer Beziehung zur Kraft ihrer Liebe und diese wird<br />

vom Erzähler eindeutig positiv gewertet: „[E]s ist das Heiligste, diese Anhänglichkeit an alles,<br />

was wir schaffen, und ruft uns, wenn wir vor den Häßlichkeiten der Welt und unsern eigenen<br />

erschrecken, die Worte der Bibel in die Seele: Also hat Gott die <strong>von</strong> ihm geschaffene Welt<br />

geliebet, daß er ihr seinen eingeborenen Sohn gesendet hat.“ (IÄ, S. 644) Wie im obigen Zitat<br />

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wird auch hier ein Vergleich zur göttlichen Schöpfung gezogen, wobei der Schöpfungsakt an<br />

sich als gut bewertet wird und die negativen Aspekte, wie beim Golem, späteren Verfehlungen<br />

(der Menschen) zugeschrieben werden. Diese positive Wertung der Alraunschöpfung ist überra-<br />

schend angesichts der Schuld- und Todessymbolik, die das Herausziehen der Wurzel begleitet<br />

hat, sowie der Tatsache, dass <strong>Isabella</strong>s Liebe eigentlich unnatürlich ist, hervorgerufen durch die<br />

Beherrschungskräfte des Alrauns. Zum einen sind die Gefahrenzeichen bei der Schaffung dieser<br />

phantastischen Figur deutlich, zum anderen werden der Schöpfungsakt und <strong>Isabella</strong>s Liebe po-<br />

sitiv dargestellt. Das schöpferische Potential des Menschen ist göttlich und gut, jedoch in Ge-<br />

fahr, fehlgeleitet zu werden oder unbeabsichtigt zu monströsen Ergebnissen zu führen. 109<br />

Andermatt beschreibt die Wachstumsphase des Alrauns ebenfalls als Verbindung gegensätzli-<br />

cher Prinzipien: „Nach dem Leid des unschuldigen Toten braucht die Wurzel zu ihrer Existenz<br />

noch den Lebensmut einer unschuldig Liebenden. Das Leid des Toten oder die Schuld des Staa-<br />

tes lebt vampirartig wieder auf, genährt und weiterhin sich nährend <strong>von</strong> der Liebeskraft des Le-<br />

bens. In diesem parageschlechtlichen Akt zwischen Mensch und Vegetation, zwischen Tod und<br />

Leben, zwischen Glück und Leid zeugt sich Arnims Welt der niederen Geister.“ 110<br />

Die weitere Entwicklung des Alrauns ist der eines Kindes nachempfunden, verkürzt auf eine<br />

Woche. Er wird zunehmend menschenähnlicher und entwickelt sich zu einer eigenständigen Fi-<br />

gur. Allerdings ist er eine verzerrte Verkörperung eines Menschen, eine Vermischung nicht zu-<br />

sammenpassender Elemente – „[S]ein gelbfaltiges Gesicht schien entgegengesetzte Menschen-<br />

alter zu vereinigen [...].“ (IÄ, S. 644) – und <strong>von</strong> Anfang an zeigt sich seine boshafte Natur. Sein<br />

erster bewusster Blick auf Bella ist schon „spöttisch“ (IÄ, S. 645), er ist ungehorsam, gierig und<br />

macht sich über <strong>Isabella</strong>s Erziehungsversuche lustig (IÄ, S. 646f.). Sein Einfluss verführt<br />

<strong>Isabella</strong> zudem zur Sünde, sie erzählt um seinetwillen ihre „erste Lüge“ (IÄ, S. 643) und begeht<br />

einen „kleinen Mord“ (IÄ, S. 646) an einem Kätzchen.<br />

Die Sprechfähigkeit des Alrauns, ein entscheidender Schritt hin zur Menschwerdung, scheint<br />

nicht in der <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> vollzogenen Schöpfung angelegt, sondern er erlangt sie über ein zu-<br />

sätzliches phantastisches Objekt, die „Sprechwurzel“ (IÄ, S. 646) aus dem Nachlass des Zigeu-<br />

nerherzogs. Diese Wurzel bringen „die grünen Papageien vom höchsten Gipfel des Chimboras-<br />

109. Dass Arnim der Schöpfungskraft an sich einen ausgesprochen hohen Wert beimisst, zeigt sich<br />

auch an der Fußnote fast am Ende der Erzählung, in der sich der Erzähler direkt an den Leser wendet<br />

(siehe IÄ, S. 729). Dort wird der Versuch des Alrauns kommentiert, aus den Überresten des<br />

zerstörten Golems wieder ein Bild <strong>Isabella</strong>s zu erschaffen. Es handelt sich um eine Polemik gegen<br />

die klassisch Gebildeten, die sich in Lob und Imitation der Antike ergehen, unfähig, das „sinnige<br />

Treiben unserer eigentümlichen Natur“ zu erfassen und selbst kreativ zu werden. Die Bemühungen<br />

des Alrauns werden diesen „kunstschwatzenden Menschen“ als vorbildhaft präsentiert, „denn was<br />

sie [i.e. die halbgebildete Masse] ist, das wurde sie durch ihn, und wie er bis dahin gelangt, so wird<br />

er weiter dringen.“ Um der Schöpfungskraft willen erfährt also sogar eine negative Figur wie der Alraun,<br />

bei einem Werk, angesichts dessen es Karl und <strong>Isabella</strong> „graute“ und das streng genommen<br />

nur eine Wiederholung der Schöpfung des Juden ist, eine positive Wertung (was natürlich die Vergleichspartner<br />

zusätzlich abwertet).<br />

110. Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 340f.<br />

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so in die Ebenen [...], wo sie die Baumschlangen <strong>von</strong> ihnen gegen Äpfel eintauschen, die am<br />

verbotnen Baume gewachsen, wer sie aber den Schlangen abjagt, das kann allein der Teufel<br />

[...].“ (IÄ, S. 646) Die Verknüpfung mit dem Sündenfall ist deutlich und so fügt sich auch die-<br />

ses Detail in den Kontext der Schöpfungsgeschichte und betont, dass der Alraun wie der Golem<br />

ein ‚gefallenes‘ Geschöpf ist.<br />

Folgende negative Eigenschaften sind dem Alraun <strong>von</strong> Anfang an zugeordnet: Am dominantes-<br />

ten ist seine Affinität zum Geld – die Beschaffung <strong>von</strong> Geld ist sein Daseinszweck und es stellt<br />

den höchsten Wert für ihn dar. Hinzu kommen extreme Egozentrik und Eitelkeit, aggressives<br />

Machtstreben (er will Feldmarschall werden; siehe IÄ, S. 649) und Rastlosigkeit (siehe IÄ, S.<br />

666). Auch triebhafte Erotik ist ihm zugeordnet, jedoch vor allem in seiner frühen Entwick-<br />

lungsphase, als er <strong>Isabella</strong> durch Küsse an sich bindet (siehe IÄ, S. 647). Zum tatsächlichen<br />

sexuellen Vollzug scheint er allerdings nicht fähig und eher auf einer kindlichen Entwicklungs-<br />

stufe stehen geblieben: Nachdem er die Golem-Bella geheiratet hat, ist er zufrieden, ihren Fin-<br />

ger zu küssen (siehe IÄ, S. 705).<br />

Diese Tendenzen sind es, die Arnim in der Figur des Alrauns kritisiert, und <strong>von</strong> denen einige –<br />

insbesondere Geldaffinität, Egoismus, Machtstreben und Rastlosigkeit – ins Extrem getriebene<br />

Abbilder <strong>von</strong> Karls Fehlern sind.<br />

3.3.2.4 Integration des Alrauns - Mensch oder Wurzel?<br />

Es ist der Alraun, dessen Integration in die Normrealität am ausführlichsten thematisiert wird.<br />

Seine halb-menschliche Natur, die nach Andermatt für Arnims ‚niedere Geister‘ typisch ist,<br />

spielt dabei eine besondere Rolle. Wie oben erwähnt, ist schon seine Entwicklung der eines<br />

menschlichen Kindes nachempfunden. Hieran schließt sich, als er mit <strong>Isabella</strong> in die Stadt zieht,<br />

eine ‚Bildungsphase‘ an, die die Erziehung eines Edelmannes parodiert. Der Alraun strebt zu-<br />

nehmend aktiv nach Integration in die menschliche Gesellschaft und Anerkennung als Mensch.<br />

Inwieweit er in diese Rolle eintritt und wie er <strong>von</strong> den Menschen wahrgenommen wird, wird im<br />

Folgenden untersucht.<br />

Schon bei seiner Begegnung mit Braka, dem ersten menschlichen Kontakt nach <strong>Isabella</strong>, seiner<br />

Schöpferin, posiert der Alraun in der Rolle eines Menschen, um seine wahre Natur zu verschlei-<br />

ern. Er lässt sich verkleiden und <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> als ihre „Base, ein sehr reiches Mädchen“ (IÄ, S.<br />

648) vorstellen. Als ihm jedoch der Schleier herunterfällt, „erkannte [Braka] ihn sogleich für<br />

das, was er war und demütigte sich vor ihm.“ (IÄ, S. 648) Dieses spontane Erkennen ist keines-<br />

wegs selbstverständlich – tatsächlich ist Braka der einzige Mensch, dem es gelingt.<br />

Dies liegt allerdings nicht daran, dass sie über eine höhere Sensibilität für das Übernatürliche<br />

verfügt, denn später ist sie sogar in der direkten Gegenüberstellung <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> und Golem-<br />

Bella nicht in der Lage, den Golem eindeutig zu identifizieren (siehe IÄ, S. 701). Vielmehr<br />

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scheint entscheidend zu sein, dass Braka eine Zigeunerin und „Hexe“ (IÄ, S. 691) ist, und weiß,<br />

was ein Alraun ist und wozu er gebraucht wird. Dies scheint kein allgemein verbreitetes Wissen<br />

zu sein, denn die Fähigkeit des Alrauns, verborgene Schätze zu finden, muss Karl und seinem<br />

Minister Chievres später erst erklärt werden (siehe IÄ, S. 747). Braka bewertet das phantasti-<br />

sche Wesen <strong>von</strong> Anfang an nach dem Nützlichkeitsaspekt: Seine geldbringende Natur macht es<br />

zu etwas Wertvollem und ist der Grund für ihre Unterwürfigkeit. Diese pragmatische, nutzori-<br />

entierte Sichtweise ermöglicht es Braka, den Alraun zu ‚zähmen‘. Kurz vor ihrer Begegnung<br />

mit ihm liegt die Szene, in der der Alraun wohl am deutlichsten die dämonische Seite seiner<br />

Natur offenbart. Durch die übernatürliche Macht, die ihm das ‚ahndende Augenpaar‘ verleiht,<br />

hat er durchschaut, dass <strong>Isabella</strong>s Liebe zu ihm nachlässt, woraufhin er sie bedroht und gleich<br />

darauf mit seinem Kuss überfällt, dessen brutal-erotische Macht sie wieder an ihn bindet (siehe<br />

IÄ, S. 647). Kaum jedoch beginnt Braka, die ganz unempfänglich scheint für die irrationale Lie-<br />

be, die <strong>Isabella</strong> dem Alraun gegenüber verspürt, ihren Einfluss auf ihn auszuüben, nimmt er<br />

menschlichere und damit auch gewöhnlichere Züge an.<br />

Als erstes wird die Besonderheit seiner Existenz relativiert: Während zuvor die Schaffung des<br />

Alrauns als etwas ausgesprochen Seltenes dargestellt worden ist, da <strong>Isabella</strong> „die Einzige seit<br />

Jahrtausenden [ist], bei der sich alle diese Erfordernisse vereinigten“ (IÄ, S. 636), die dafür not-<br />

wendig sind, erzählt Braka, dass ihr Schwager ebenfalls einen Alraun besessen habe (siehe IÄ,<br />

S. 648). Dieser andere Alraun sei zudem ein lächerliches Wesen gewesen, das den Kindern zum<br />

Spielen gegeben und <strong>von</strong> einem Schwein aufgefressen worden sei. Dies reduziert die Besonder-<br />

heit des phantastischen Geschöpfes, das nun, entsprechend Brakas Blickwinkel, in der Rolle ei-<br />

nes nützlichen Dieners erscheint, anstatt in der eines „kleinen, furchtbaren Teufels“ (IÄ, S.<br />

647).<br />

Vom Alraun des Vetters übernimmt das Geschöpf auch seinen Namen, ‚Cornelius Nepos‘, den<br />

Namen eines römischen Geschichtsschreibers. Die Tatsache, dass der Alraun einen menschli-<br />

chen Namen trägt, der <strong>von</strong> nun an auch in der Erzählerrede gelegentlich zu seiner Bezeichnung<br />

gebraucht wird, entfernt ihn noch weiter <strong>von</strong> der Welt der übernatürlichen Wesen. 111<br />

Da der Alraun bei Arnim nicht <strong>von</strong> vornherein gezwungen ist, seinem Besitzer Schätze zu fin-<br />

den, muss er erst zum Dienst überredet werden. Braka schafft dies, indem sie seinen Ehrgeiz<br />

weckt und „ihm allerlei hohe Ämter vorschlug, die er verwalten könnte.“ (IÄ, S. 649) Durch<br />

das Wissen, das sie ihm vermittelt, wird die geldgierige und ehrgeizige Natur des Alrauns in<br />

Bahnen gelenkt, er beginnt, im Rahmen menschlicher Möglichkeiten nach Erfolg zu streben<br />

und wird damit lenkbar.<br />

Ab diesem Zeitpunkt beginnt er ernsthaft zu versuchen, sich in die menschliche Gemeinschaft<br />

111. Der Erzähler nennt ihn auch explizit ‚der Allraun‘, die häufigste Bezeichnung ist jedoch das neutrale<br />

‚der Kleine‘, das gar keine Aussage über sein Wesen macht.<br />

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einzufügen, wozu er eine besondere Begabung hat: „Es war, als habe er schon einmal gelebt, so<br />

schnell wurde er durch eine kurze Erinnerung mit allen menschlichen Verhältnissen bekannt.“<br />

(IÄ, S. 649) Im Gegensatz zum Golem, der sich hinter der Identität <strong>Isabella</strong>s verbirgt, muss der<br />

Alraun jedoch als ‚er selbst‘ auftreten. Seine körperlichen Merkmale widersprechen der Men-<br />

schenrolle und sind der sichtbare Ausdruck für seine Doppelnatur. Er ist nur „etwa drei einen<br />

halben Fuß hoch“ (IÄ, S. 648) und hat eine „eingekerbte Wurzelhaut“, <strong>von</strong> der er vorgibt, sie<br />

sei „vernarbt“ (IÄ, S. 667). Zu seinem Versuch, sich in die Gesellschaft einzufügen, gehört<br />

auch das Anlegen menschlicher Kleidung. Seine erste Verkleidung, die er beim Treffen mit<br />

Braka trägt, ist noch nur nach Pracht, ohne Beachtung der gesellschaftlichen Bekleidungskon-<br />

ventionen ausgewählt: Er trägt „ein silbergesticktes altes Faltenkleid <strong>von</strong> Bellas Mutter“ (IÄ, S.<br />

648). Bei Frau Nietken wird er dann wie der Rest der Gruppe verkleidet, um als Adliger aufzu-<br />

treten – was allerdings bei ihm am wenigsten überzeugend gelingt (siehe IÄ, S. 664). Das Klei-<br />

dertragen bleibt für ihn immer eine Verkleidung, er wirkt wie „ein menschlich angezogener<br />

Affe“ (IÄ, S. 660).<br />

Neben der tatsächlichen Verkleidung vollzieht der Alraun auch eine ‚geistige‘ Verkleidung, in-<br />

dem er gemäß der gesellschaftlichen Regeln ausgebildet wird. In Gent durchläuft er eine ‚Bil-<br />

dungsphase‘, ebenso wie sein Heranwachsen ein Zerrbild der menschlichen Entwicklung und<br />

Erziehung, um in die Rolle eines Adligen eintreten zu können und lernt die obligatorischen<br />

Künste Fechten, Reiten und Rhetorik. Dabei liegen seine Defizite vor allem im körperlichen<br />

Bereich. „Der Herr Cornelius befand sich am schlechtesten bei seinem neuen Stande, die enge<br />

Kleidung wollte ihm gar nicht behagen und das Fechtenlernen machte ihn zum Umsinken<br />

müde.“ (IÄ, S. 666) Auch das Reiten macht ihm Mühe, während er sich in der Rhetorik beson-<br />

ders hervortut. Die Sprache sind für ihn ebenfalls eine Verkleidung und wie der Golem ahmt er<br />

sie nach ohne dahinter liegende Substanz: „Er konnte den meisten Leuten geschickt in ihrer<br />

Sprache nachreden, hatte aber keine eigene Sprache [...].“ (IÄ, S. 666) Gerade seine negativen<br />

Charakterzüge helfen ihm – genau wie dem Golem – bei der Integration in die Gesellschaft. Er<br />

besitzt Rücksichtslosigkeit, Schlagfertigkeit und Manipulationskraft, sowie die Macht, Geheim-<br />

nisse zu ergründen und nutzbar zu machen: „[S]ein boshafter Wille, der manches Versteckte mit<br />

ahndendem Auge auffassen konnte, [machte ihm] eine Menge Bekannte, die ihn in Schutz<br />

nahmen und alle Leute auf den Fuß mit ihm setzten, daß dem Kleinen nichts übel zunehmen sei<br />

[...].“ (IÄ, S. 666) Er gleicht also seine verräterischen Defizite zum Teil aus, doch seine Akzep-<br />

tanz ist nie so vollständig wie die des Doppelgänger-Golems. Auch wenn er sich nicht bewusst<br />

zu sein scheint, dass sein Aussehen ihn lächerlich erscheinen lässt („Ach, seufzte Braka heim-<br />

lich, der ist auch einer <strong>von</strong> den Bucklichten, die nicht begreifen können, womit sie ihre Hemden<br />

zerreiben [...].“ IÄ, S. 650f.), empfindet er doch, dass etwas in seiner Natur ihn in seinem Stre-<br />

ben nach Erfolg in der menschlichen Gesellschaft hemmt: „[O]ft kommt es mir vor, als wenn<br />

böse Zauberer der wahren Verwandlung meines Lebens entgegenstreben.“ (IÄ, S. 682)<br />

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Weiterhin soll untersucht werden, wie die Menschen auf den Alraun reagieren und inwieweit<br />

sie ihn als phantastisches Wesen wahrnehmen. Kurz nach der ersten Begegnung mit Braka wird<br />

sein inneres Wesen zum ersten Mal thematisiert. Der Alraun kommentiert, dass der Bärnhäuter<br />

als Geist besonderen Gesetzen unterworfen sei: Er müsse sein Wort halten. Darauf entspinnt<br />

sich folgender Dialog: „Bist du denn ein Geist oder ein Mensch lieber Cornelius? fragte Bella. –<br />

Ich, stammerte der Allraun, das ist eine dumme Frage, ich bin ich und ihr seid nicht ich, und ich<br />

werde Feldmarschall und ihr bleibt was ihr waret [...].“ 112 (IÄ, S. 658) Hier werden zwei Dinge<br />

deutlich: Einmal dass, zumindest für <strong>Isabella</strong>, der Status des Alrauns unklar ist und sie seine<br />

Menschlichkeit in Erwägung zieht. Zum zweiten, dass der Alraun selbst <strong>von</strong> der Frage aus dem<br />

Konzept gebracht wird. Möglicherweise will er seine wahre Natur verheimlichen, wahrscheinli-<br />

cher aber ist, dass er sie selbst nicht kennt. Dafür spricht die allgemeine Charakterisierung des<br />

Alrauns, der sich hier noch auf einer gerade erst ‚erwachsenen‘ Bewusstseinsstufe befindet und<br />

insgesamt nicht über überlegenes Wissen verfügt. Zuflucht findet er in einer Tautologie, mit der<br />

er sich gleichzeitig <strong>von</strong> Braka und Bella abgrenzt. Jedweden Fragen über sein wirkliches, inne-<br />

res Wesen weicht er aus und definiert sich stattdessen über den Erfolg, den er anstrebt, und sei-<br />

ne Überlegenheit über andere. Dies entspricht seinem oberflächlichen, auf Außenwirkung be-<br />

dachten Charakter.<br />

Für die Art, wie der Alraun <strong>von</strong> den Menschen wahrgenommen wird, ist die Reaktion <strong>von</strong> Frau<br />

Nietken, dem dritten Menschen, der den Alraun sieht, aufschlussreich. Sie spürt zwar sofort sei-<br />

ne Andersartigkeit, kann diese aber nicht richtig deuten: „Wer ist denn die Kröte da?“ (IÄ, S.<br />

662f.) lautet ihre erste Reaktion auf den Anblick des Alrauns. Der Tiervergleich verweist auf<br />

die pervertierte Naturordnung, die er verkörpert. 113<br />

Frau Nietkens zweiter Kommentar, nachdem der Alraun sich als „Feldmarschall Cornelius“<br />

vorstellt, ist: „Der wird wohl Feldmarschall bei den Unterirdischen sein [...].“ (IÄ, S. 663) Ihre<br />

Sensibilität für das Phantastische ist also hoch genug, dass sie ihn mit Sagengestalten in Bezie-<br />

hung setzt. 114 Letztendlich kommt Frau Nietken zu dem Schluss, beim Alraun handle es sich um<br />

einen Zwerg. Damit scheint ‚Zwerg‘ als Synonym für ‚Unterirdischer‘, also im Sinn <strong>von</strong> Sa-<br />

gengeschöpf, gemeint zu sein, da der Begriff – allerdings vom Alraun selbst – mit ‚Mensch‘<br />

kontrastiert wird. Die Begründung für die Bezeichnung jedoch suggeriert eher ‚verwachsener<br />

Mensch‘, denn sie wird in der Erzählerrede fast ausschließlich durch äußere Merkmale moti-<br />

viert: „Umsonst hatte sie [i.e. Frau Nietken] ihm sein grobes Haar gestutzt, er war und blieb<br />

112. Vordtriede sieht in dieser Antwort eine Anspielung auf die Philosophie Fichtes (siehe Vordtriede:<br />

Nachwort, S. 141f.).<br />

113. Siehe Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 124. Ein weiterer Tiervergleich für Alraun und Bärnhäuter<br />

findet sich schon kurz zuvor in der Erzählerrede (siehe IÄ, S. 660). Später wird dem Alraun<br />

auch „Ähnlichkeit mit einem verkleideten Dachshund“ (IÄ, S. 710) attestiert.<br />

114. Frau Nietkens Einschätzung des Bärnhäuters trifft ebenso unwissentlich fast die Wahrheit und bezieht<br />

sich auf dieselben Merkmale: tierhafte und übernatürliche Züge. Sie nennt den Bärnhäuter<br />

„Zeiselbär“ (zahmer Bär) und beschuldigt ihn, seine Livree aus dem Grab gestohlen zu haben (siehe<br />

IÄ, S, 663).<br />

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nach der ganzen, zusammengedrückten Gesichtsform, den hohen Schultern und der beengten<br />

Sprache ein Zwerg.“ (IÄ, S. 644) Als sie gefragt wird, was ein Zwerg sei, bezieht sich auch<br />

Frau Nietken nur auf das ungewöhnliche Äußere: „Ich weiß es wahrhaftig nicht, sagte Frau<br />

Nietken, aber Du kamst mir vor wie ein Zwerg, ich glaub, Du könntest dich für Geld sehen las-<br />

sen!“ (IÄ, S. 644) Frau Nietkens Unsicherheit und Verwunderung sind Zeichen dafür, dass sie<br />

gefühlsmäßig erfasst, dass der Alraun kein natürliches Geschöpf ist. Als Konsequenz klassifi-<br />

ziert sie ihn jedoch nicht als bedrohlichen Einbruch in die Realität, sondern als Missgeburt, ab-<br />

weichend <strong>von</strong> der Norm, aber unterlegen und lächerlich. Ihre Reaktion ist damit typisch für die<br />

Bewertung, die der Alraun in der menschlichen Gesellschaft erfährt. Über ihn wird wie über ein<br />

„Wundertier“ (IÄ, S. 666) gelacht und er wird vielfach das Opfer <strong>von</strong> Späßen. So wird er in den<br />

Kampf mit einem Schalksnarren verwickelt (siehe IÄ, S. 672), Karl redet ihm in der Rolle des<br />

Doktors ein, er sei an der Pest erkrankt (siehe IÄ, S. 679), und Edelknaben binden ihn betrun-<br />

ken unter dem Ofen fest (siehe IÄ, S. 718). Als er auf Karls Aufforderung hin Meinungen ein-<br />

holt, ob man ihn für einen Menschen halte, äußern die Befragten Zweifel, doch die Reaktion auf<br />

die mögliche Nicht-Menschlichkeit ist wie bei Frau Nietken nicht Beunruhigung, sondern Spott<br />

(siehe IÄ, S. 710).<br />

Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, dass das Gefühl die wahre Natur des Alrauns erkennt,<br />

jedoch der Geist keine Konsequenzen daraus zieht, liefert Karl, als er den Alraun, der ihm un-<br />

wissentlich das Beisammensein mit <strong>Isabella</strong> verdorben hat, beschimpft. „Kaum hatte er [i.e. der<br />

Alraun] sein Anliegen vorgebracht, so überhäufte ihn der Erzherzog mit Schimpfreden, nannte<br />

ihn einen lächerlichen kleinen Wurzelburzius, einen Dukatenmacher, ein Allraunchen, daß der<br />

Kleine in die größte Verwunderung geriet, wie er diese Entstehung erfahren habe, und sich eilig<br />

da<strong>von</strong>machte, indem er verlegen ausrief: Gnädiger Herr, woher wissen sie das?“ (IÄ, S. 685)<br />

Karl hat die wahre Natur des Wesens erraten und bekommt <strong>von</strong> diesem sogar die Bestätigung<br />

dafür. Dieser Zwischenfall bleibt jedoch ohne Folgen und man hat den Eindruck, dass Karl sich<br />

seiner Erkenntnis nicht intellektuell bewusst wird. Die Bezeichnung ‚Alraun‘ scheint hier als<br />

Schimpfwort für einen zwergenhaften Menschen verwendet zu werden.<br />

An manchen Stellen der Erzählung entsteht der Eindruck, als wäre der Status des Alrauns als<br />

ein – wenn auch verwachsener und defizitärer – Mensch akzeptiert. Braka, die um seine wahre<br />

Natur weiß, sagt vor Gericht über ihn, er sei „doch immer nur ein schwacher verbogener<br />

Mensch“ (IÄ, S. 726) und sogar <strong>Isabella</strong> „fragte, ob sie das an dem Kleinen verdient, als sie ihn<br />

aus einer unförmlichen Wurzel zu einem kleinen Menschen emporgetrieben?“ (IÄ, S. 726, Her-<br />

vorhebung der Verfasserin)<br />

Das Gegenstück zur menschlichen Existenz des Alrauns ist seine Wurzelnatur. Als ‚natürlicher‘<br />

Ursprung der phantastischen Figur bindet sie den Alraun an die Wirklichkeit – er ist im Kern<br />

eine gewöhnliche Pflanze, Teil der Erfahrungswirklichkeit – und verweist gleichzeitig auf seine<br />

vegetative, niedere Natur. Sehr deutlich kommt dies in Brakas Reaktion zum Ausdruck, als<br />

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<strong>Isabella</strong> Skrupel äußert, den Alraun zu betrügen: „Wie dumm, rief Braka, wenn es ein Mensch<br />

wäre, ei nun, aber eine alte Wurzel, was kann man da für Unrecht tun, eine andre wird mir<br />

nichts dir nichts klein geschnitten und gekocht; Ehre genug für diese, daß wir mit ihr, wie mit<br />

einer Puppe zuweilen umgehen.“ (IÄ, S. 671) Nach Brakas völlig pragmatischer Sichtweise ist<br />

der Alraun im Grunde noch immer eine Wurzel und nichts als ein Mittel zum Zweck. Ob diese<br />

Haltung jedoch die richtige ist, scheint angesichts des Aufrufs zu Lüge und Täuschung auch<br />

fraglich.<br />

Eine gradezu gegensätzliche Interpretation der Wurzelnatur liefert der Alraun selbst, als er seine<br />

Zeit als Wurzel als ideale, naturhafte und schuldlose Präexistenz beschwört: „Ohne Falsch be-<br />

strahlten mich Sonne und Mond; ruhig sinnend stand ich da am Tage und faltete Abends meine<br />

Blätter zum Gebete; ich sah nichts Böses, denn ich hatte keine Augen; ich hörte nichts Böses,<br />

denn ich hatte keine Ohren, aber die Anlage zu allem, die ich in mir fühlte, machte mich so si-<br />

cher und reich.“ (IÄ, S. 690) Diese Klage weist auffallende Parallelen zu der Beschreibung des<br />

Mimosenstrauchs auf, der in der „Zueignung“ der Novellensammlung als Bild für das poetische<br />

Werk selbst fungiert: „Ihn [i.e. den Mimosenstrauch] freut das Licht, er wächst durch Sonnen-<br />

milde, / Und sinkt die Sonne Abends ins Gefilde, / Da faltet er die Blätter zum Gebet [...].“ 115<br />

Den Mimosenstrauch kann man auch als „sinnbildlichen Verweis auf <strong>Isabella</strong>s Person“ 116 sehen,<br />

die in ihrer frommen Unschuld dem dargestellten Ideal nahe kommt. Aus dem Munde des Al-<br />

rauns und „nach Vorschrift seines rhetorischen Lehrers bearbeitet“ (IÄ, S. 689) wirkt diese Be-<br />

schreibung jedoch nicht ernstzunehmend, zumal der Alraun an anderer Stelle „aus Wider-<br />

spruchsgeist“ eine ganz andere Bewertung seiner Wurzelexistenz liefert: „Zum Kuckuck mags<br />

da ruhig gewesen sein, [...] die Maulwürfe, die Reitwürmer, die Ameisen haben mich da noch<br />

viel ärger geschoren als ihr alle zusammen.“ (IÄ, S. 729f.) Arnim beweist hier Selbstironie, in-<br />

dem er ein Ideal parodistisch bricht, das für die Erzählung zentral ist.<br />

Als der Erzherzog verspricht, dem Alraun „eine Anstellung zu schaffen, in so fern er <strong>von</strong> vielen<br />

Herren seines Standes ein Zeugnis brächte, daß er ein Mensch sei“ (IÄ, S. 710), werden die Pa-<br />

rallelen zwischen dem Versuch des Alrauns, als Mensch anerkannt zu werden, und dem Streben<br />

eines gesellschaftlichen Außenseiters und Aufsteigers nach Anerkennung offensichtlich. Dies<br />

wird noch weiter ausgebaut: „Der kleine Wurzelmann tobte jetzt wie ein Rasender, warf seinen<br />

Handschuh hin und schwur, daß er mit jedem fechten wolle, der ihm seine Frau streitig machen,<br />

oder ihn für einen Allraun erklären wollte. Chievres erklärte jetzt, daß erst dieser letzte Punkt<br />

berichtigt sein müsse, ob er ein Mensch, um ihm ritterlichen Zweikampf einzuräumen, ferner ob<br />

er ebenbürtig und christlicher Religion sei.“ (IÄ, S. 727). 117 Die Tatsache, menschlich zu sein,<br />

115. Arnim: Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 614.<br />

116. Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik, S. 121f.<br />

117. Das Streben des Alrauns nach Anerkennung als Mensch ist wohl auch ein Kommentar zum Gleichberechtigungsstreben<br />

der Juden, dem das preußische Emanzipationsgesetz, das im selben Jahr<br />

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wird in eine Reihe gestellt mit sozialem Stand und Religion. Auch als die wahre Natur des Al-<br />

rauns bekannt ist, wird sie gesellschaftlich bewertet: „Er möchte jetzt an den Unterschied, wel-<br />

chen die Geburt, die ihn aus einer Wurzel, Bella aus einem Fürstenstamme hervorgehen lassen,<br />

mit ernstem Gemüte denken“ (IÄ, S. 730), mahnt Karl – der Wortwitz ‚Wurzel‘ versus ‚Stamm‘<br />

unterstreicht die Parallelisierung noch.<br />

Der Alraun wird also nicht als übernatürliches Wesen, sondern als Mensch zweiter Klasse be-<br />

handelt. Seine phantastischen Kräfte scheinen nicht gefährlich, sondern ausnutzbar <strong>von</strong> denen,<br />

die ihn durch List zu kontrollieren verstehen: zuerst Braka, dann der Politiker Chievres und<br />

Karl. Der Drang, sich der menschlichen Gesellschaft anzupassen, nimmt dem Alraun also<br />

scheinbar seine Bedrohlichkeit.<br />

Entsprechend verliert er auch seine ‚ahndenden Augen‘, die ihm überlegene, unheimliche<br />

Macht verliehen haben, teils aufgrund seiner eigenen naiven Eitelkeit, die dazu führt, dass er<br />

dem Golem verfällt, teils aus purem Zufall: Golem-Bella hat sie ihm „unwissend, weil sie da<br />

keine Augen vermutete, eingedrückt.“ (IÄ, S. 702) Der Erzähler wertet die Übernatürlichkeit<br />

der Fähigkeiten des Alrauns noch zusätzlich ab, indem er dabei <strong>von</strong> einem Verlust <strong>von</strong> „außer-<br />

ordentlichen Eigenschaften“ (IÄ, S. 702) spricht und sie mit besonderem Redetalent vergleicht.<br />

Die Macht des Alrauns muss also gar nicht gebrochen werden – er wird im Gegensatz zum Go-<br />

lem auch nirgends in der Erzählung aktiv bekämpft – sondern verfliegt scheinbar <strong>von</strong> selbst.<br />

Knapp kommentiert bezüglich des Wesens <strong>von</strong> Alraun und Golem: „Der Alraun und der Golem<br />

sind, ihrer menschlichen Afterexistenz gemäß, nur im Rahmen des Menschenmöglichen gefähr-<br />

lich. Sie sind bösartig begabt, aber keinesfalls dämonisch mächtig. Sie erkennen sich auch nicht<br />

gegenseitig, sondern behandeln sich untereinander, als wären sie normale Menschen. Wäre ih-<br />

nen irgendein mephistophelisches Vermögen oder Wissen eigen, so hätten sie wohl nicht den<br />

einzigen Ehrgeiz, es nach Menschenermessen möglichst weit zu bringen. Ihr Bewußtseinsstand<br />

hält aber gerade dies für das einzig Erstrebenswerte.“ 118 Wenn Neumann urteilt, Arnim vollzie-<br />

he durch seine Erzählweise „die völlige Verkehrung des Dämonischen ins Alltägliche“ 119 so ist<br />

dies tatsächlich der Eindruck, den der Leser im Verlauf der Erzählung gewinnen kann. In Wirk-<br />

lichkeit jedoch sind Lächerlichkeit und Machtverlust des Alrauns nur das, was sich an der Ober-<br />

fläche zeigt, und umso gefährlicher, als sie die Menschen dazu verführen, ihn mit falscher<br />

„Klugheit“ beherrschen zu wollen – ein Wort, das Arnim immer wieder verwendet, um die<br />

wie die Novellensammlung erschien, entsprechen sollte. Die zitierte Szene weist Parallelen zu der<br />

so genannten „Itzig-Affäre“ auf, einer Auseinandersetzung, die Arnim in Jahre 1811 mit einem Juden<br />

namens Moritz Itzig hatte. Dieser wollte Arnim wegen antisemitischer Äußerungen zum Duell<br />

fordern, wurde <strong>von</strong> diesem jedoch nicht als satisfaktionsfähig betrachtet. Arnim ließ sich durch<br />

mehrere Personen diese Einschätzung bestätigen und übersandte Itzig deren Kommentare, um<br />

ihm seine ‚gesellschaftliche Minderwertigkeit‘ vor Augen zu führen (siehe Neumann: Legende,<br />

Sage und Geschichte, S. 301f.).<br />

118. Knapp: Groteske, Phantastik, Humor, S. 111.<br />

119. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 301.<br />

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menschliche Überheblichkeit und Selbstüberschätzung zu bezeichnen. 120 Andermatt liefert fol-<br />

gende Charakterisierung der phantastischen Gestalten, die insbesondere auf den Alraun zutrifft:<br />

„Arnims Geisterwelt besteht aus der Verbindung <strong>von</strong> menschlicher mit nichtmenschlicher Na-<br />

tur, wobei diese Zusammensetzung in ihren Qualitäten variieren kann. In jedem Fall ist das Re-<br />

sultat dieser Synthese eine mindere Schöpfung, welche frevlerisch <strong>von</strong> den beiden Originalnatu-<br />

ren, die ihr zugrunde liegen, abfällt. [...] Aus dieser seltsamen Beschaffenheit der Geisternatur<br />

erwächst der Menschheit eine doppelte Gefahr. Einerseits verfügen die Geister über Erdkräfte,<br />

denen die Menschen nicht gewachsen sind, und andererseits wirken sie in ihrer Halbmensch-<br />

lichkeit auf täuschende Weise harmlos und komisch.“ 121<br />

Der Fluch, den der Alraun ausstößt, als er die Gefahr drohen sieht, dass <strong>Isabella</strong> ihn für Karl<br />

verlässt, ist durchaus ernst zu nehmen: „Warum hast du mich zum Menschenleben aus dem si-<br />

chern Schoße meiner Vorwelt durch höllische Künste herausgerissen? [...] [W]enn du mich fern<br />

<strong>von</strong> Dir glaubst, werde ich bei Dir sein. Du kannst mich nicht zerstören, wie du mich leichtsin-<br />

nig spielend geschaffen hast; ich bleibe bei Dir, werde die Wünsche deiner Habsucht nach Geld<br />

befriedigen, werde Dir Schätze bringen, soviel du verlangst, aber es wird Dein Verderben sein.<br />

Du wirst mich <strong>von</strong> dir werfen, mich vernichten wollen, aber doch bleibe ich bei Dir, Dir bin ich<br />

gebannt, bis eine andere mit noch größerem Verrat, als Du gegen mich verübt, mich an sich<br />

kauft. Wehe allen kommenden Geschlechtern! Du brachtest mich zur Teufelei in die Welt, <strong>von</strong><br />

der ich mich bis zum jüngsten Tage nicht frei machen kann!“ (IÄ, S. 689f.) Tatsächlich erfüllt<br />

sich dieser Fluch, mehr noch als an <strong>Isabella</strong>, die durch ihrer innere Reinheit weitgehend <strong>von</strong><br />

dem bösen Einfluss geschützt bleibt, allerdings an Karl, der den Alraun durch seinen Liebesver-<br />

rat an sich zieht.<br />

3.3.2.5 Phantastische Verkörperung und innere Triebkräfte<br />

Die phantastischen Figuren Golem und Alraun verlieren am Ende der Erzählung beide ihren<br />

Körper, aber dennoch bleibt etwas <strong>von</strong> ihrer Substanz. Dies ist signifikant für die Stellung der<br />

phantastischen Geschöpfe in der Erzählung und in dem Weltbild, das sie vermittelt.<br />

Karl, der die wahre <strong>Isabella</strong> schließlich doch erkennt, zerstört den Golem (siehe IÄ, S. 718f.)<br />

rasch und mühelos. Der übrig gebliebene Lehm jedoch bewahrt noch immer etwas <strong>von</strong> dessen<br />

unheimlicher Anziehungskraft. Vor allem der Alraun entbrennt in Liebe zu den Golemresten<br />

und beginnt, ein neues Bildnis <strong>Isabella</strong>s daraus zu formen (siehe IÄ, S. 729). Als ihm dies<br />

schließlich gelingt und Karl das Bildnis sieht, übt es auch auf ihn eine so starke Anziehungs-<br />

kraft aus, dass er es dem Alraun mit Gewalt abnimmt, um es wie ein Heiligenbild zu verehren.<br />

Hier vermischt sich offenbar die Wirkung des Lehms mit Karls Sehnsucht nach der echten<br />

120. Siehe Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 343.<br />

121. Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 342f.<br />

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<strong>Isabella</strong>. Diese Verbindung, die Karl sofort zur egoistischen Tat des Raubes verleitet, kann zu<br />

nichts Gutem führen: Der Alraun zerstört sich aus Wut selbst und wird „dämonisiert“ (IÄ, S.<br />

737). Von nun an verfolgt er Karl als nicht mehr klar manifestierter Geist, der verschiedene Tie-<br />

re als Sprachrohr verwendet. Karls gesamte Umwelt ist <strong>von</strong> diesem Geist des Alrauns durch-<br />

drungen, der nun viel deutlicher als in seiner körperlichen Form als Anstifter und Einflüsterer<br />

fungiert. Die Buße, zu der Karl sich letzlich entschließt, ist der einzige Weg, ihn zu bannen.<br />

Dieser Schritt in die Körperlosigkeit ist wichtig für die Bedeutung der beiden zentralen phantas-<br />

tischen Gestalten.<br />

Wichtiger als übernatürliche Kräfte, die sie nur in geringem Maße besitzen, sind ihre subtilen<br />

Einflüsse, vor allem die gefühlsmäßige Bindung, und die Tatsache ihrer bloßen Existenz, die<br />

bereits eine Störung der Ordnung darstellt. Vor allem aber ist entscheidend, dass ihre Macht und<br />

ihr Dasein ganz <strong>von</strong> den Menschen abhängt, die sie erschaffen und die sich ihnen ergeben. Das<br />

Phantastische oder „Zauberisch-Gespenstische“, wie Werner es nennt, „erscheint oft eher böse<br />

als gut, ist aber im Grunde ebenso wie der zu Bellas Gefolge gehörende Bärnhäuter ambivalent.<br />

Über seine Wirkung entscheidet der Mensch gemäß seinem vor allem in der Liebe offenbar<br />

werdenden inneren Wert. Bella bleibt ihrer Liebe treu und geht seelisch unbeschädigt aus ihrem<br />

Umgang mit den gespenstischen Mächten hervor. Karl wird zu deren Gefangenem, weil Macht<br />

und Besitz für ihn größere Werte sind als die Liebe." 122<br />

Tatsächlich ist der Einfluss der phantastischen Figuren eher gering im Vergleich zu den Auswir-<br />

kungen <strong>von</strong> Karls freien Entscheidungen: Der Alraun stört zwar das Beisammensein <strong>von</strong> Karl<br />

und <strong>Isabella</strong> in Gent – aber nachdem er überlistet ist, zeigt Karl <strong>Isabella</strong> gegenüber in ihrer Lie-<br />

besnacht Misstrauen und Rücksichtslosigkeit. Der Golem nimmt zwar <strong>Isabella</strong>s Rolle ein – aber<br />

nachdem er vernichtet ist, würdigt Karl <strong>Isabella</strong> zu seiner Mätresse herab. Die phantastischen<br />

Wesen können in ihrer verkörperten Form im Grunde recht problemlos überwunden werden,<br />

aber ihre Überwindung alleine hilft nichts. Es sind nicht primär sie, sondern die falsche Einstel-<br />

lung der Menschen – insbesondere Karls – die es unmöglich macht, dass <strong>Isabella</strong> und mit ihr<br />

eine poetische Weltordnung sich durchsetzt. Die ‚Dämonisierung‘ des Alrauns am Ende der Er-<br />

zählung ist eine Veranschaulichung da<strong>von</strong>. Die im phantastischen Wesen verkörperte negative<br />

Triebkraft wird wieder ins Innere des Menschen gelegt. Frei werden <strong>von</strong> ihr kann die Welt dar-<br />

um tatsächlich bis zum Jüngsten Tage nicht.<br />

122. Werner: Zur Wirkungsfunktion des Phantastischen, S. 25.<br />

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4 „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ 123<br />

„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ entstand im August/September 1813 und wurde<br />

1814 veröffentlicht, nur zwei Jahre nach der Novellensammlung, die „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“<br />

enthält. Der Autor, Adelbert <strong>von</strong> Chamisso, war der Sohn französischer Adliger, die 1790 auf-<br />

grund der Französischen Revolution über Umwege nach Preußen flohen. Chamisso verbrachte<br />

den größten Teil seiner Jugend und auch des späteren Lebens in Berlin, wo er seit 1803 Mit-<br />

glied eines Romantikerkreises war, des „Polarsternbundes“, zu dem unter anderem Julius<br />

Eduard Hitzig und später auch Friedrich de la Motte Fouqué gehörten. Zum Kreis der Berliner<br />

Romantiker, der sich 1809 in Berlin etablierte und zu dem Achim <strong>von</strong> Arnim gehörte, hatte er<br />

nur wenig Kontakt, was auch mit der nationalen Wendung zusammenhing, die diese Ausprä-<br />

gung der Romantik angesichts der napoleonischen Fremdherrschaft angenommen hatte. Von<br />

den Sitzungen der <strong>von</strong> Arnim mitbegründeten „Christlich-Teutschen Tischgesellschaft“ etwa<br />

waren Juden und Franzosen grundsätzlich ausgeschlossen. 124 Chamisso fühlte sich zwischen<br />

seiner Identität als Franzose und als Deutscher hin- und hergerissen, ein Konflikt, der durch die<br />

politische Lage verschärft wurde. Er war zeitweilig preußischer Offizier, dankte jedoch 1808 ab<br />

und konnte sich 1813 nicht dazu entschließen, an den Befreiungskriegen teilzunehmen und ge-<br />

gen Franzosen zu kämpfen, obgleich er Sympathie für die Deutschen empfand. In diesem Zu-<br />

stand innerer Zerrissenheit zog er sich <strong>von</strong> Mai bis Oktober 1813 aus Berlin auf das Gut <strong>von</strong><br />

Bekannten in Kunersdorf im Oderbruch zurück, wo er vornehmlich Studien der Botanik betrieb,<br />

einer Wissenschaft, der er sich seit 1812 zugewandt hatte. Während dieses Aufenthaltes ent-<br />

stand die Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“.<br />

Diese Entstehungsumstände sind insofern wichtig, als die Erzählung vor allem in frühen Unter-<br />

suchungen als stark autobiographisch interpretiert wurde.<br />

„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ wird eingeleitet durch eine Herausgeberfiktion, die<br />

den Protagonisten Schlemihl als alten Freund Chamissos einführt, der diesem ein Manuskript<br />

mit seiner Lebensbeichte überlassen habe. Dieser fingiert autobiographische Bericht beginnt da-<br />

mit, dass der junge Peter Schlemihl fast mittellos in einer großen Hafenstadt ankommt und mit<br />

einem Empfehlungsschreiben den reichen Herrn John aufsucht, <strong>von</strong> dem er sich Hilfe bei sei-<br />

nem gesellschaftlichen Fortkommen erhofft. Auf der Gartengesellschaft des Herrn John, der<br />

Schlemihl beiwohnen darf, fällt ihm ein graugekleideter Mann auf, der, um die Wünsche der<br />

Gäste zu erfüllen, immer größere und unwahrscheinlichere Dinge aus seiner Rocktasche zieht,<br />

ohne damit Staunen zu erregen. Dieser Mann, der ‚Graue‘, bietet Schlemihl Fortunati Glücks-<br />

säckel, einen niemals leer werdenden Dukatenbeutel, im Austausch gegen seinen Schatten.<br />

123. Werkzitate aus „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ erfolgen direkt im Fließtext mit dem<br />

Kürzel „PS“ für: Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Prosa, hrsg. v.<br />

Werner Feudel und Christel Laufer, Leipzig 1980, S. 17-79.<br />

124. Siehe Feudel: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso, S. 52.<br />

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Schlemihl geht auf den Handel ein, muss jedoch rasch feststellen, dass er als Schattenloser ge-<br />

sellschaftlich geächtet ist. Er führt fortan trotz seines immensen Reichtums ein getriebenes Le-<br />

ben, da er den furchtbaren Makel ständig verbergen muss. Einzig seinem treuen Diener Bendel<br />

vertraut er sich an. Als Schlemihls Geheimnis in der Stadt entdeckt wird, muss er diese fluchtar-<br />

tig verlassen und zieht in einen kleinen Badeort, wo er irrtümlich für einen Adligen gehalten<br />

wird. Diese Rolle nimmt er an und spielt sie als ‚Graf Peter‘ über längere Zeit. Er verliebt sich<br />

in die Försterstochter Mina, doch durch den Verrat seines anderen Dieners, Rascal, wird seine<br />

Schattenlosigkeit bekannt und Minas gut bürgerliche Eltern halten eine Heirat daraufhin für un-<br />

statthaft. Mina soll stattdessen mit Rascal verheiratet werden, der einen großen Teil <strong>von</strong> Schle-<br />

mihls Vermögen veruntreut hat und nun gegen ihn intrigiert. In dieser verzweifelten Situation<br />

kehrt der Graue – nach einem Jahr und einem Tag – zurück und bietet an, den Schatten zurück-<br />

zugeben im Austausch gegen Schlemihls Seele. Diesem wird letztendlich die Entscheidung ab-<br />

genommen, da er im Moment der Krise das Bewusstsein verliert und erst wieder zu sich<br />

kommt, als Mina bereits mit Rascal verheiratet und für ihn verloren ist. Wiederum zieht Schle-<br />

mihl fort, diesmal alleine und verfolgt vom Grauen und findet schließlich die Kraft, das Glücks-<br />

säckel wegzuwerfen. Damit wird er den Grauen los, erlangt seinen Schatten aber nicht wieder<br />

und bleibt damit für immer aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Durch Zufall erwirbt er jedoch<br />

an einem Kirmesstand Siebenmeilenstiefel, die ihm erlauben, die Welt in phantastischer Ge-<br />

schwindigkeit zu durchstreifen, und so beginnt er das Leben eines Naturforschers. Als er Jahre<br />

später bei seinen Streifzügen erkrankt, wird er im ‚Schlemihlium‘ gesund gepflegt, einem Heim<br />

für Bedürftige, das sein guter Diener Bendel und die verwitwete Mina gemeinsam mit den Res-<br />

ten <strong>von</strong> Schlemihls Vermögen gegründet haben. Er gibt sich ihnen jedoch nicht zu erkennen,<br />

sondern kehrt zu seinem einsamen Forscherleben zurück.<br />

4.1 Die Normrealität<br />

Im Vergleich zu „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ist die Struktur der Erzählung einfacher, da der Norm-<br />

realität die zusätzliche Komplexität fehlt, die sich aus dem Verhältnis der Karl- und der Isabel-<br />

la-Ebene ergibt. Die Normrealität <strong>von</strong> „Peter Schlemihl“ soll eine dem Leser vertraute Erfah-<br />

rungswirklichkeit evozieren. Um dies zu erreichen, werden zwei verschiedene Techniken<br />

eingesetzt. Zum einen wird über die Herausgeberfiktion eine Verknüpfung zur außerliterari-<br />

schen Wirklichkeit und der Gegenwart des realen Chamisso geschaffen. Zum anderen vermittelt<br />

die Tendenz zur Generik bei der Schilderung <strong>von</strong> Schauplätzen, Figuren und sogar Handlungs-<br />

motiven den Eindruck <strong>von</strong> Allgemeingültigkeit und bringt den Leser dazu, seine Alltagswirk-<br />

lichkeit als Referenz zu gebrauchen.<br />

Der Eindruck, es handle sich bei der Erzählung um den Lebensbericht des Protagonisten, wird<br />

durch die bereits erwähnte Herausgeberfiktion erweckt, auf die innerhalb der Erzählung durch<br />

Hinwendungen Schlemihls an ‚Chamisso‘ immer wieder Bezug genommen wird.<br />

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In ihrer ersten Auflage sind der Erzählung zwei Briefe vorangestellt, datiert auf die Jahre 1813<br />

und 1814, den Zeitraum zwischen Vollendung und Veröffentlichung des Manuskripts, die die<br />

Herkunft des Textes erklären. Im ersten Brief wendet sich Chamisso an seinen Freund Julius<br />

Eduard Hitzig und führt Peter Schlemihl als gemeinsamen Bekannten ein. Er nimmt dabei Be-<br />

zug auf konkrete Details aus der Erlebniswelt der realen Personen Chamisso und Hitzig. So<br />

habe Peter Schlemihl „in unserer grünen Zeit“ an einem der „poetischen Tees“ (PS, S. 17) teil-<br />

genommen. Dies ist eine Anspielung auf die Jahre 1803-1805, in denen die Mitglieder des<br />

Nordsternbundes an den so genannten ‚grünen Musenalmanachen‘ (so bezeichnet wegen der<br />

Farbe ihres Umschlags) arbeiteten. 125 Der Bezug auf die Erinnerung des Adressaten wird sogar<br />

explizit gemacht („Du vergissest niemanden“ PS, S. 17) und die fiktionale Figur scheinbar fest<br />

in die außerliterarische Realität integriert. Das Manuskript Schlemihls, das dieser in Chamissos<br />

Haus abgegeben habe, sei nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern es handle sich um eine<br />

Lebensbeichte, die nicht nach ihrem dichterischen Wert zu beurteilen sei. Der zweite Brief, <strong>von</strong><br />

Friedrich de la Motte Fouqué, einem weiteren Freund des realen Chamisso, erklärt, wie es trotz-<br />

dem zu einer Druckfassung kommen konnte: Fouqué, der das Manuskript ebenfalls kennt, über-<br />

nimmt die Rolle des Herausgebers, der Schlemihls Lebensgeschichte veröffentlicht, ohne<br />

Chamisso und Hitzig vorher zu Rate zu ziehen.<br />

Chamisso gibt im ersten Brief eine detaillierte Beschreibung des gealterten Schlemihl, der das<br />

Manuskript für ihn abgibt: „ein wunderlicher Mann, der einen langen grauen Bart trug, eine<br />

ganz abgenützte schwarze Kurtka anhatte, eine botanische Kapsel darüber umgehangen, und bei<br />

dem feuchten regnichten Wetter Pantoffeln über seine Stiefel“ (PS, S. 18). Diese Beschreibung<br />

stimmt mit den Hinweisen überein, die in der Erzählung selbst zu Schlemihls Aussehen gege-<br />

ben werden: Seine Haare ergrauen vorzeitig durch die Verzweiflung über den Verlust Minas<br />

(siehe PS, S. 61), Stiefel und Pantoffeln sind die Siebenmeilenstiefel (siehe PS, S. 70) mit den<br />

darüber gezogenen „Hemmschuhen“ (siehe PS, S. 74), die Botanisiertrommel ist beim Kauf der<br />

wissenschaftlichen Ausrüstungsgegenstände impliziert (siehe PS, S. 74) und später wird sie aus-<br />

drücklich erwähnt (siehe PS, S. 77). Die Kurtka ist das Kleidungsstück, das Schlemihl trägt, als<br />

er sich vom Grauen befreit und seine Habseligkeiten zurücklässt. Hier wird innerhalb der Er-<br />

zählung sogar eine explizite Verknüpfung zum Rahmen geschaffen, denn Schlemihl weist dar-<br />

auf hin, dass er diese „schon in Berlin getragen“ (PS, S. 69) habe, also zu der Zeit, die Chamis-<br />

so Hitzig in der Herausgeberfiktion in Erinnerung ruft.<br />

Die Stiefel, die Pantoffeln und der graue Bart sind Merkmale, die nur der fiktionalen Figur<br />

zugeordnet sind, die Kurtka und die Botanisierkapsel jedoch sind gleichzeitig typisch für die Er-<br />

scheinung des realen Chamisso, wie mehrere Briefzeugnisse belegen. 126 Unterstrichen wird die-<br />

125. Siehe Chamisso: Sämtliche Werke in 2 Bänden (Bd. 2) [Kommentar], S. 695 und Walach: Erläuterungen<br />

und Dokumente, S. 7.<br />

126. „Eine alte schwarze Kurtka oder eine nicht minder alte, etwas verschossene und fleckige Sommerkleidung,<br />

bestehend aus runder Jacke und langen Beinkleidern aus demselben olivgrünen Zeuge,<br />

[...] eine schwarze Mütze <strong>von</strong> Sammt oder Tuch auf dem lockigen Haupte, eine mächtige grüne<br />

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se Parallele durch das Titelbild der Erstausgabe, einen Stich <strong>von</strong> Franz Joseph Leopold. Dieser<br />

wird im ersten Brief als Zeichnung erwähnt, die der „kunstreiche Leopold“ (PS, S. 18) <strong>von</strong><br />

Schlemihl angefertigt haben soll. Dabei handelt es sich um ein stilisiertes Abbild Chamissos mit<br />

langem Bart. Diese zumindest für die Bekannten Chamissos sehr klar erkennbaren Anspielun-<br />

gen deuten darauf hin, dass Peter Schlemihl als Maske und Alter Ego ihres Schöpfers konstru-<br />

iert ist, eine Ansicht, die schon zu Chamissos Lebzeiten weit verbreitet war und oft zur Interpre-<br />

tation der Erzählung herangezogen wurde.<br />

In seinem Gedicht „An meinen alten Freund Peter Schlemihl“, das anlässlich der dritten Aufla-<br />

ge 1835, 21 Jahre nach der Erstveröffentlichung, den fingierten Briefen beigefügt wurde, ver-<br />

wahrt sich Chamisso gegen diese Gleichsetzung und greift stattdessen die Konstruktion der<br />

Herausgeberfiktion wieder auf. Schlemihl wird als reale, <strong>von</strong> Chamisso unterschiedene Person<br />

angesprochen, wobei allerdings auch Einverständnis und Ähnlichkeiten zwischen ihm und<br />

Chamisso eingeräumt werden.<br />

Das Maß, in dem sich ein Autor in seiner Figur selbst darstellt, hat nichts damit zu tun, wie<br />

‚realistisch‘ diese Figur erscheint. Darum ist die Frage nach autobiographischen Parallelen auch<br />

wenig relevant für die Untersuchungen in dieser Arbeit.<br />

Entscheidend für die Suggestion einer der Erfahrungsrealität nachgebildeten Normrealität ist je-<br />

doch die Art, wie die fiktive Figur mit Bezügen zur außerliterarischen Wirklichkeit umgeben<br />

wird. Dem Leser wird, bevor die eigentliche Erzählung beginnt, der Eindruck vermittelt, es<br />

handle sich bei Peter Schlemihl um eine reale Persönlichkeit, deren Existenz nicht nur vom Au-<br />

tor, sondern auch <strong>von</strong> zwei weiteren realen Personen, Hitzig und Fouqué, beglaubigt wird. Ähn-<br />

liche Herausgeberfiktionen zur Beglaubigung fiktionaler Texte waren gerade in der Romantik<br />

kein seltenes literarisches Mittel und natürlich nicht in der Absicht gesetzt, den Leser tatsäch-<br />

lich über den Realitätsstatus der Erzählung zu täuschen. 127 Von Anfang an sind Signale gesetzt,<br />

die auf die Fiktionalität der Schlemihl-Figur hindeuten, wie etwa die Formulierung, Peter<br />

Schlemihl sei Chamisso und seinen Freunden „einmal [...] durch die Sonette“ (PS, S. 18) gelau-<br />

fen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass gerade für eine Erzählung, in der offensichtliche Ab-<br />

weichungen <strong>von</strong> der Erfahrungswirklichkeit auftreten, eine solch enge Bindung an die außerlite-<br />

rarische Wirklichkeit geschaffen wird. Dies deutet bereits darauf hin, dass bewusst eine<br />

Spannung zwischen der Normrealität und den übernatürlichen Elementen der Erzählung aufge-<br />

Kapsel an ledernem Riemen umgehängt, eine kurze Pfeife im Munde, ein schmuckloser Tabacksbeutel,<br />

irgendwo angehängt, [...] das war der Aufzug, in welchem er auszog.“ (Schlechtendahl, S.<br />

95; für weitere Zeugnisse zu äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Chamisso und Schlemihl siehe<br />

auch Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 8f.)<br />

127. Siehe Schneider: Wirklichkeitsmärchen und Romantik, S. 208. Spätere Ergänzungen und Einführungen<br />

legen zudem deutlich weniger Wert darauf, die Fiktion <strong>von</strong> Schlemihl als realer Person aufrecht<br />

zu erhalten. Ein dritter Brief in der zweiten Ausgabe der Erzählung, 1827, diesmal <strong>von</strong> Hitzig<br />

an Fouqué, bezeichnet Chamisso als „Historiograph[en] des berühmten Peter Schlemihl“ (PS, S.<br />

20), wodurch ihm zumindest ein Teil der Autorschaft zugestanden wird. In seiner „Vorrede des Herausgebers“,<br />

die Hitzig 1839 zur Neuauflage des „Peter Schlemihl“ nach Chamissos Tod verfasst<br />

hat, wird die Herausgeberfiktion ganz aufgegeben und stattdessen <strong>von</strong> den realen Entstehungsbedingungen<br />

des Werkes berichtet (siehe Hitzig: Vorrede des Herausgebers).<br />

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aut wird, eben jene Spannung, die für die phantastische Wirkung ausschlaggebend ist.<br />

In Peter Schlehmils Lebensbericht selbst kann der Autor nach dieser Einführung auf die Erwar-<br />

tungshaltung des Lesers zurückgreifen, dass Chamissos Gegenwart der Bezugspunkt ist. Im<br />

Vergleich zu „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ sind jedoch Verweise auf eine historische außerliterari-<br />

sche Wirklichkeit innerhalb der Erzählung sparsamer gesetzt. Explizite Wirklichkeitsbezüge<br />

werden vermieden, sowohl was die Schauplätze als auch was die historische Einbettung der Er-<br />

zählung angeht.<br />

Zwar werden bei Schlemihls Ankunft in der Hafenstadt das „Nordertor“ und die „Norderstraße“<br />

(PS, S. 23) erwähnt, was in früheren Interpretationen zu einer Identifizierung mit Hamburg ge-<br />

führt hat. Tatsächlich gab es jedoch in Hamburg nie die Bezeichnung ‚Nordertor‘ und die<br />

Norderstraße wurde erst 1858-62 angelegt. 128 Ein weiterer Straßenname, die „Breitestraße“ (PS,<br />

S. 30), ist eine recht vages Indiz, da es Straßen dieses Namens in vielen Städten gibt. 129 Zwar<br />

scheint es durchaus plausibel, dass Chamisso bei der Gestaltung der Hafenstadt die Stadt Ham-<br />

burg zum Vorbild genommen hat, die er selbst in den Jahren 1807 und 1810 besucht und schät-<br />

zen gelernt hatte, die konkreten Bezüge sind jedoch nicht deutlich gesetzt und recht dürftig. So<br />

wird etwa nie auf typische Wahrzeichen Hamburgs Bezug genommen. Dennoch kann man bei<br />

diesem ersten Schauplatz zumindest <strong>von</strong> einer Tendenz zur Konkretisierung sprechen.<br />

Diese nimmt bei den Schauplätzen im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich ab. Schlemihls<br />

Flucht führt „über die Grenze und das Gebirg“ zu einem „wenig besuchten Badeort“ (PS, S.<br />

38). Weder der Name des Gebirges noch der des Badeorts werden genannt und der Text gibt<br />

auch keinerlei konkretere Hinweise, was hier gemeint ist. Die Naturschauplätze „Heide“ (PS, S.<br />

54) und „Gebirg“ (PS, S. 66), an denen sich Teile der Erzählung abspielen, sind ebenfalls ganz<br />

unbestimmt.<br />

Ähnlich verfährt Chamisso bei der Gestaltung seiner Figuren. Anders als bei Arnim sind keine<br />

historischen Persönlichkeiten direkt in die Handlung eingebunden. Am nächsten kommt<br />

Chamisso dem noch, als Schlemihl für den „gute[n] König <strong>von</strong> Preußen“ (PS, S. 41) gehalten<br />

wird, wobei auch hier vermieden wird, den Namen des Königs zu nennen. Auch wenn dieser –<br />

gemeint ist wohl Friedrich Wilhelm III. 130 – für Chamissos Zeitgenossen zweifellos leicht zu er-<br />

gänzen war, ist es eine bewusste Entscheidung, hier statt des Eigennamens das Amt zu setzen:<br />

So wird nicht auf eine bestimmte Person, sondern auf eine soziale Rolle verwiesen.<br />

Die handelnden Figuren sind keine herausragenden historischen Persönlichkeiten, sondern All-<br />

tagsmenschen, deren Darstellung zur Typisierung tendiert. Viele bleiben <strong>von</strong> vornherein na-<br />

menlos – ein „altes Weib“ (PS, S. 27), der „Maler“ (PS, S. 35), der „Bauer“ (PS, S. 69) usw. –<br />

128. Siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 14f.<br />

129. Siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 19.<br />

130. Siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 24.<br />

- 61 -


doch auch wichtigere Figuren, die Namen tragen, sind hauptsächlich über eine Rolle definiert:<br />

Herr John ist der reiche Kaufmann, Fanny das stolze, reiche Mädchen, Mina das naive, reine<br />

Bürgermädchen, Bendel und Rascal sind der gute und der schlechte Diener. Kaum je erfährt der<br />

Leser etwas über ihre körperlichen Merkmale, selbst bei Mina werden trotz Schlemihls ausführ-<br />

licher Schwärmerei nur die „blaue[n] Augen“ und die „hohe zarte Bildung“ (PS, S. 39) konkre-<br />

tisiert. Die Figuren haben auch keine besonderen Gewohnheiten oder Kennzeichen, die über<br />

ihre Rolle hinausgehen und sie unverwechselbar machen. Beabsichtigt ist hier offenbar die Ak-<br />

tivierung <strong>von</strong> bekannten Vorstellungen beim Leser – ihm werden Figuren gezeigt, die sich in<br />

der Alltagsrealität wiederfinden lassen und damit realistisch erscheinen. Durch die generische<br />

Darstellung wird eine Wirklichkeitsillusion aufgebaut, die vielleicht sogar suggestiver ist als<br />

Arnims historische Verankerung.<br />

Einzige Ausnahmen <strong>von</strong> dieser Darstellungsweise sind Schlemihl selbst, der schon aufgrund<br />

der Erzählperspektive als Figur Komplexität gewinnen muss, der ‚Chamisso‘ der Erzählung, der<br />

Züge des realen Chamisso trägt und somit auf andere Weise auf die Erfahrungswirklichkeit ver-<br />

weist, und der Graue, der als phantastische Figur ja gerade keine generische Rolle in der Norm-<br />

realität erfüllt.<br />

Die typisierende Darstellungsweise lässt sich sogar bei Handlungselementen feststellen. So<br />

folgt die Liebesgeschichte mit Mina einem bekannten literarischen Muster. Thomas Mann nennt<br />

sie eine „rührende Episode, die ein unsterbliches Thema romantischer Poesie: die Liebe des Ge-<br />

zeichneten, Gehetzten, Infamen, Verdammten zu einem reinen und ahnungslosen Mädchen in<br />

stiller bürgerlicher Menschlichkeit abwandelt“, und fasst zusammen: „Es ist das unselige Idyll<br />

mit dem Forstmeisterskinde, und nichts fehlt dabei, was typischerweise zur Entwicklung des<br />

Themas gehört, weder die unschuldig eitle Kuppelei der Mutter und die biedere Ungläubigkeit<br />

des Vaters, der ‚so hoch nicht hinaus will‘, noch die Gewissensqual des Werbenden, die Ahnun-<br />

gen des Mädchens, ihre zärtlichen Versuche, in das Geheimnis des Geliebten einzudringen, und<br />

ihr Weibesruf: ‚Bist du elend, binde mich an dein Elend, daß ich es dir tragen helfe!‘“ 131 Tho-<br />

mas Mann lobt die Fähigkeit des Autors diese Elemente neu zu beleben, doch es ist wohl auch<br />

gerade die Bekanntheit des Handlungsschemas, das sie ‚realistisch‘ wirken lässt, so „daß man<br />

die Phantastik der Voraussetzungen völlig vergißt“ 132 , zumal es sich ja um typische Handlungs-<br />

elemente nicht-phantastischer Literatur handelt. Auch auf Handlungsebene werden also bekann-<br />

te Konzepte beim Leser aktiviert, um den Eindruck <strong>von</strong> Vertrautheit zu erzeugen.<br />

Umso auffallender ist die Genauigkeit bei der Darstellung <strong>von</strong> Schlemihls Wanderungen um die<br />

Welt mit den Siebenmeilenstiefeln. Bei deren Beschreibung (siehe PS, S. 72-76) verwendet<br />

131. Mann: Chamisso, S. 323.<br />

132. Mann: Chamisso, S. 323.<br />

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Chamisso eine Fülle <strong>von</strong> geographischen Namen, erwähnt bekannte Sehenswürdigkeiten (z.B.<br />

die ägyptischen Pyramiden, das „hunderttorige Theben“, die „Herkulessäulen“) und thematisiert<br />

auch sehr genau die geographischen Gegebenheiten, die es etwa verhindern, dass Schlemihl mit<br />

seinen Stiefeln „Neuholland“ erreichen kann. Die geographisch genaue Darstellung korrespon-<br />

diert hier mit dem Einsatz eines der spektakulärsten phantastischen Elemente, der Siebenmei-<br />

lenstiefel. Dieser wird durch den Wirklichkeitsrahmen gesteuert und auch beschränkt.<br />

Eine weitere auffallende Häufung <strong>von</strong> Eigennamen findet sich bei der Beschreibung <strong>von</strong> Schle-<br />

mihls erstem Traum, in dem er Chamisso in seinem Studierzimmer sieht, umgeben <strong>von</strong> Werken<br />

<strong>von</strong> „Haller, Humbolt und Linné“, sowie <strong>von</strong> „Goethe“ (PS, S. 31). Dies ist selbstverständlich<br />

nicht mit einer direkten Einbindung historischer Persönlichkeiten vergleichbar, dennoch bewirkt<br />

deren Erwähnung eine Verankerung der Erzählung in der Realität, zumal sie in Zusammenhang<br />

mit der auch in der außerliterarischen Wirklichkeit vorhandenen Person Chamisso stehen. Ähn-<br />

lich wirkt die Aussage Schlemihls, er wolle seine Manuskripte nach seinem Tode der „Berliner<br />

<strong>Universität</strong>“ (PS, S. 79) vermachen.<br />

Auffallend ist, dass fast alle konkreten, nicht-fiktionalen Referenzen mit dem wissenschaftli-<br />

chen Bereich in Beziehung stehen. Dieser bildet bei Chamisso einen Gegenpol zu den phantasti-<br />

schen Elementen, wobei es sich, wie die Analyse zeigen wird, nicht um ein feindliches Aufein-<br />

anderprallen, sondern eher um eine wechselseitige Hervorhebung handelt.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Chamissos Normrealität durch die Herausgeberfiktion<br />

an die Gegenwart des Autor gebunden ist. Innerhalb der Erzählung wird vornehmlich eine eher<br />

generische Alltagswirklichkeit dargestellt. Die Erzählung erhält dadurch auch einen Zug <strong>von</strong><br />

überzeitlicher und ortloser Beispielhaftigkeit, zu der die Offenheit <strong>von</strong> Anfang und Ende beitra-<br />

gen: Peter Schlemihl „kommt aus der endlosen Weite des Meeres in eine Hafenstadt [...], und er<br />

verschwindet im Irgendwo.“ 133 Allerdings steht dies nicht im Widerspruch zum Aufbau einer<br />

dem Leser ‚realistisch‘ erscheinenden Normrealität, denn die wenig konkreten Schauplätze und<br />

Figuren aktivieren vertraute Vorstellungen aus seiner Erfahrung.<br />

Eine Ausnahme <strong>von</strong> der generischen Darstellungsweise bilden vor allem wissenschaftliche De-<br />

tails, die einen Kontrast zu den phantastischen Elementen der Erzählung bilden. Diese tragen<br />

ebenfalls zum Aufbau einer Realismusillusion bei, vornehmlich durch die suggestive Assoziati-<br />

on <strong>von</strong> Wissenschaft mit Rationalität und Realismus.<br />

4.2 Die phantastischen Elemente<br />

Im Folgenden sollen die phantastischen Elemente, die sich vom Hintergrund dieser Normrea-<br />

lität abheben, genauer auf ihre Einbindung, Gestaltung und Funktion hin untersucht werden. Im<br />

Gegensatz zu „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ gibt es in der Erzählung nur eine phantastische Figur, den<br />

133. Wührl: Das deutsche Kunstmärchen, S. 150.<br />

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Grauen. Daneben spielen vor allem phantastische Objekte, die Zaubergegenstände, eine Rolle.<br />

Einen besonderen Status hat das für die Erzählung zentrale Schattenmotiv.<br />

4.2.1 Der Graue<br />

Durch seinen Status als einzige phantastische Figur gewinnt der Graue umso größere Bedeu-<br />

tung. Man kann sogar sagen, dass er es ist, der die Phantastik in die Erzählung bringt. Nicht nur<br />

begeht er den ersten Verstoß gegen die Gesetze der Normrealität, er ist auch der Besitzer ver-<br />

schiedener Zaubergegenstände, <strong>von</strong> denen vor allem das Glückssäckel eine große Rolle für den<br />

Handlungsverlauf spielt. Außerdem ist es der Graue, der durch seine phantastischen Fähigkeiten<br />

Schlemihl den Schatten abnehmen kann und damit die Haupthandlung initiiert. Es gibt nur ein<br />

phantastisches Element, das nicht unmittelbar mit dem Grauen in Verbindung steht, die<br />

Siebenmeilenstiefel.<br />

4.2.1.1 Die Einführung des Grauen<br />

Der erste Auftritt des Grauen erfolgt sehr früh und markiert den Beginn der Haupthandlung.<br />

Wie der Alraun in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ bewirkt er den ersten expliziten Verstoß gegen die<br />

Gesetze der Normrealität, doch der Bruch ist in seinem Fall deutlich stärker als bei der Al-<br />

raunerschaffung: Das Aufeinanderprallen verschiedener Realitätssysteme wird in einem Maße<br />

thematisiert, wie es in Arnims Erzählung nie der Fall ist.<br />

Seinen ersten Auftritt hat der Graue auf der Gartengesellschaft des Herrn John und die Umstän-<br />

de sind scheinbar ganz im Einklang mit der Normrealität, die der Erfahrungswirklichkeit des<br />

Lesers entspricht. Bei seiner ersten Erwähnung ist der Graue in Aussehen und Verhalten völlig<br />

eingefügt in die Gesellschaft: „Ein stiller, dünner, hagrer, länglichter, ältlicher Mann, der neben<br />

mitging, und den ich noch nicht bemerkt hatte, steckte sogleich die Hand in die knapp anliegen-<br />

de Schoßtasche seines altfränkischen, grautaffentnen Rockes, brachte eine kleine Brieftasche<br />

daraus hervor, öffnete sie, und reichte der Dame mit devoter Verbeugung das Verlangte.“ (PS,<br />

S. 24f.) Weinrich nennt den Grauen „fast ohne Eigenschaften, da selbst die wenigen Merkmale,<br />

an denen er zu identifizieren ist, [...] nur Chiffren seiner Eigenschaftslosigkeit sind.“ 134 Umso<br />

auffallender ist es, dass diese ‚Eigenschaftslosigkeit‘ so ausführlich thematisiert wird, vor allem<br />

angesichts der erwähnten Tendenz, Personenbeschreibungen knapp und generisch zu halten.<br />

Nicht nur hier, sondern auch in allen anderen Szenen, in denen der Graue auftritt, ist die Be-<br />

schreibung seiner Erscheinung, Mimik und Sprechweise im Vergleich zu anderen Figuren ge-<br />

nau. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, dass der Graue nicht in die Alltagswelt gehört und dass<br />

seine Unauffälligkeit gerade nicht gewöhnlich, sondern im Gegenteil <strong>von</strong> der Norm abweichend<br />

und erwähnenswert ist.<br />

Wie die Häufung der vagen, scheinbar auf Bedeutungslosigkeit deutenden Adjektive, die ihm<br />

134. Weinrich: Lethe, S. 150.<br />

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zugeordnet werden, fällt auch die penible Genauigkeit auf, mit der seine Handlung beschrieben<br />

wird. So weckt schon das völlig alltägliche Hervorziehen des Pflasters die Aufmerksamkeit des<br />

Lesers, gerade durch die übergenaue Beschreibung seiner Banalität, einem Zuviel an Alltäglich-<br />

keit. Damit ist der Boden bereitet für den Eintritt des Phantastischen in die Erzählung.<br />

Dieser erfolgt stufenweise, indem der Graue immer ungewöhnlichere Dinge aus seiner Rockta-<br />

sche zieht, angesichts derer sich Schlemihls Verstörung Schritt für Schritt steigert: das Pflaster,<br />

dann ein Fernrohr, einen türkischen Teppich, ein Zelt und schließlich drei Reitpferde (siehe PS,<br />

S. 24-26). Ist es zunächst nur die zunehmende Größe der Objekte, die den Realitätsbruch er-<br />

zeugt, so wird dieser auf der letzten Stufe noch einmal verstärkt dadurch, dass es sich um leben-<br />

dige Wesen handelt, die der Graue aus der Tasche zieht. Schlemihl reagiert bereits bei dem<br />

Fernrohr mit Erstaunen, da er den Widerspruch zwischen dem Augenschein und seinem Wirk-<br />

lichkeitsverständnis empfindet: „[I]ch aber sah verwundert den Mann an, und wußte nicht, wie<br />

die große Maschine aus der winzigen Tasche herausgekommen war [...].“ (PS, S. 25) Das Auf-<br />

einanderprallen verschiedener Realitätssysteme wird ausführlich gestaltet: Schlemihl beurteilt<br />

die Ereignisse aus der Position der Normrealität heraus und der offensichtliche Verstoß gegen<br />

deren Gesetze bewirkt zunächst Verwirrung; dann wird ihm „unheimlich, ja graulich zu Mute“<br />

(PS, S. 26) und der Graue erscheint ihm „schauerlich“ (PS, S. 27). Hier liegt beinahe ein<br />

Moment des Phantastischen im Todorov‘schen Sinne vor, also einer Unschlüssigkeit zwischen<br />

rationaler und wunderbarer Erklärbarkeit, allerdings fehlt der tatsächliche Versuch einer ratio-<br />

nalen Erklärung. Schlemihl zieht keinen Moment lang in Erwägung, dass es sich um einem<br />

Trick handeln oder seine Wahrnehmung gestört sein könnte. Es gibt also keine wirkliche<br />

Auflehnung gegen das Wunderbare: Auch in „Peter Schlemihl“ ist das Hauptthema also nicht<br />

die psychische Verstörung bei Konfrontation mit dem Übernatürlichen und die Erschütterung<br />

eines Weltbildes. Entscheidender als die Tatsache, dass das Übernatürliche auftritt, ist die Art,<br />

wie es auftritt und sich in die Normrealität einfügt. Schlemihls Verstörung beruht zu einem<br />

großen Teil darauf, dass die anderen Mitglieder der Gesellschaft nicht auf die Vorkommnisse<br />

reagieren. Zunächst vermutet er Unachtsamkeit – „[E]s schien aber niemandem aufgefallen zu<br />

sein [...].“ (PS, S. 25) –, doch schließlich muss er annehmen, dass sie ein anderes System zur<br />

Beurteilung der Wirklichkeit verwenden: „[N]iemand [fand] etwas Merkwürdiges darin [...].“<br />

(PS, S. 26) Diese Tatsache macht ihn noch mehr zum Außenseiter in der Gartengesellschaft, aus<br />

der er aufgrund seiner Armut sowieso ausgeschlossen ist, nicht, weil er Dinge sieht, die die<br />

Normrealität übersteigen, sondern weil diese Dinge ihn in Erstaunen versetzen, während sie für<br />

die anderen selbstverständlich sind – das typische Problem eines Außenseiters, der die Regeln<br />

der sozialen Gruppe nicht kennt. So scheint es zumindest zunächst – der Fortgang der Erzäh-<br />

lung legt allerdings nahe, dass die Mitglieder der Gesellschaft durchaus kein erweitertes Rea-<br />

litätsverständnis haben, das die Aktivitäten des Grauen natürlich erscheinen lässt, sondern diese<br />

tatsächlich nicht bemerken. Der Graue ist in der Lage, die Wahrnehmung der Menschen zu<br />

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eeinflussen, sodass er und sein Wirken unerkannt bleiben, wenn er es will. Dass er diese Fä-<br />

higkeit während der Gartengesellschaft einsetzt, lässt sich daraus schließen, dass sich bei späte-<br />

rer Befragung keiner der Gäste an ihn oder die Herkunft seiner Geschenke erinnern kann (siehe<br />

PS, S. 33). Die Szene ist einzigartig insofern, als hier Phantastisches sozusagen versteckt wird –<br />

das Geschehen wird <strong>von</strong> den Gästen als selbstverständlich genommen, ohne dass sich ihr Wirk-<br />

lichkeitsbild ändert. Bei „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ und in den anderen Szenen <strong>von</strong> „Peter Schle-<br />

mihl“ gibt es diesen seltsamen Zwischenstatus nicht, sondern das Übernatürliche wird als sol-<br />

ches wahrgenommen und meist ohne große Konflikte in der Normrealität akzeptiert.<br />

Wenn Ralph Flores die Gleichgültigkeit der Gäste gegenüber dem Grauen als Zeichen ihrer<br />

Egozentrik und Blindheit für alles, was sich außerhalb ihres gesellschaftlichen Kreises befindet,<br />

interpretiert, 135 so ist dies ebenfalls richtig. Die phantastischen Fähigkeiten, die der Figur des<br />

Grauen mitgegeben sind, extrapolieren nur diese psychologische Beobachtung: Die überhebli-<br />

che Grundeinstellung der Menschen auf der Gartengesellschaft schafft ideale Voraussetzungen<br />

und bietet die Grundlage für die Manipulation des Grauen.<br />

Flores interpretiert die Ereignisse während der Gartengesellschaft als ein täuschendes<br />

Schauspiel: „In his astonishment, Peter fails to suspect that the entire setting might be a perfor-<br />

mance: he is captivated by a well-performed magical show.“ 136 In der Tat hat man den Eindruck<br />

einer Inszenierung, an der jedoch die Gäste nur unbewusst teilnehmen. Der Graue scheint<br />

Schlemihl absichtlich zu erlauben, als einziger zu erfassen, dass sich übernatürliche Ereignisse<br />

abspielen. Flores ist der Meinung, dass dies dazu dient, Schlemihls Widerstand gegen die Annä-<br />

herung des Grauen zu schwächen, da er den Eindruck bekommen hat, dass – zumindest inner-<br />

halb der hohen sozialen Klasse, der er angehören möchte – unmittelbare Wunscherfüllung<br />

durch Magie selbstverständlich und akzeptabel sei und er deshalb das angebotene Glückssäckel<br />

sofort annimmt. 137 Jürgen Schwann interpretiert das Verhalten des Grauen so, dass er gegenüber<br />

Schlemihl zwei gegenläufige Strategien anwendet. Zum einen eine „Strategie der Assimilie-<br />

rung“, mit der er sich selbst als Außenseiter in der Gartengesellschaft präsentiert und so soziale<br />

Verträglichkeit zwischen sich und Schlemihl simuliert. Zum anderen eine „Beeindruckungs-<br />

oder Demonstrationsstrategie“, indem er Schlemihl seine Macht vorführt, ihn verängstigt und<br />

vom Rest der Gesellschaft isoliert. 138 In jedem Fall scheint Schlemihls Wahrnehmung während<br />

dieser ersten Szene bewusst vom Grauen kontrolliert.<br />

4.2.1.2 Charakteristik und Fähigkeiten des Grauen<br />

Der Graue ist der Teufel. Im Text wird dies nie direkt ausgesprochen, doch die Hinweise wer-<br />

den im Verlauf der Erzählung zunehmend konkreter. Damit entspricht die Figur einem phantas-<br />

135. Siehe Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 575.<br />

136. Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 576.<br />

137. Siehe Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 576.<br />

138. Siehe Schwann: Vom „Faust“ zum „Peter Schlemihl“, S. 218f. und 225f.<br />

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tischen Archetyp. Dies unterscheidet sie <strong>von</strong> Arnims phantastischen Figuren, <strong>von</strong> denen keine<br />

so prototypisch ist wie die Teufelsgestalt. 139 Grundlage der Handlung ist das ebenfalls prototy-<br />

pische Teufelspaktmotiv, das seine wohl bekannteste und einflussreichste literarische Bearbei-<br />

tung in Goethes „Faust“ („Faust I“ wurde 1808 veröffentlicht) erfahren hat. 140 Chamisso führt<br />

die typischen Stationen aus – Handel, Einforderung des Preises, Rettung/Untergang des Paktie-<br />

rers – mit dem Unterschied, dass sich der Pakt im „Schlemihl“ in zwei Schritten vollzieht und<br />

erst im zweiten Schritt die Seele gefordert wird. Chamissos Teufel zeigt damit besondere psy-<br />

chologische Finesse, indem er das Opfer durch das Leiden unter der sozialen Ächtung wegen<br />

des Schattenverlusts zermürbt, um dann zur eigentlichen Forderung vorzustoßen.<br />

Der Graue ist eine ungewöhnliche Verkörperung des Teufelstypus, was sogar dazu geführt hat,<br />

dass einige Interpreten ihm seinen Status als Teufel gern absprechen würden. Winfried Freund<br />

nennt ihn den „Verführer[s], in dem man den Teufel sehen zu müssen glaubte, den man jedoch<br />

zutreffender und weniger mystifizierend als Verkörperung des Ungeists kapitalistischer Ent-<br />

fremdung deuten sollte. Der Teufel ist zum prosaischen Geschäftsmann geworden, der seine<br />

Verführungskünste als Kundendienst versteht.“ 141 Das typische Paktmotiv des mit Blut zu unter-<br />

zeichnenden Vertrages (siehe PS, S. 51) würde damit zum reinen Geschäftsakt. Allerdings ist<br />

die Reduzierung nicht so weit fortgeschritten wie Freund es darstellt. Schwann merkt zu Recht<br />

an, dass es nicht zum Konzept eines nur am Materiellen interessierten Geschäftsmannes passt,<br />

dass er Interesse an Schlemihls immaterieller Seele hat. 142 Auch Thomas Mann geht zu weit,<br />

wenn er über den Grauen urteilt, dieser habe „[n]ichts <strong>von</strong> Pferdefuß, Dämonie und höllischem<br />

Witz.“ 143 Zwar fehlen tatsächlich die äußeren Teufelsmerkmale, die Figur besitzt jedoch durch-<br />

aus Witz und auch dämonische Züge.<br />

Das Dämonische ist wenig betont, ist jedoch spürbar in der Art, wie der Graue die Menschen<br />

und ihre Wahrnehmung kontrolliert, so dass es Schlemihl lange unmöglich ist, sich ihm zu ent-<br />

ziehen. Mit „satanischem Lächeln“ (PS, S. 57) blickt er auf den überlisteten Schlemihl. Zudem<br />

hat der Name Gottes Macht über den Grauen. Mit „[B]ei Gott, ich will es wissen!“ (PS, S. 68)<br />

fordert Schlemihl Aufklärung darüber, was aus Herrn John geworden ist und der Graue kommt<br />

der Aufforderung „zögernd“, also wohl nicht ganz freiwillig nach, denn ihm muss bewusst sein,<br />

139. Am ehesten hat der Golem als Typus eine Tradition, der als aus Lehm geschaffener Diener vor Arnims<br />

Bearbeitung in verschiedenen Legenden auftrat. Arnims Golem-Bella ist allerdings wegen der<br />

Verbindung mit dem Doppelgängermotiv eine sehr eigenständige Bearbeitung (siehe Frenzel: Golem,<br />

S. 308f.). Die Existenz eines Alraun-Typus ist zu bezweifeln, da sich das Motiv <strong>von</strong> der Alraunwurzel<br />

zwar in der Literatur findet, aber nie zuvor zu einer so komplexen Figur ausgearbeitet worden<br />

ist, wie bei Arnim (siehe Marzell: Alraun, Sp. 320f.). Die Tradition des Bärnhäuters beschränkt<br />

sich auf seine Rolle im Volksmärchen (siehe Rölleke: Bärenhäuter, Sp. 1225-1232).<br />

140. Chamisso hat sich 1803 ebenfalls an einer „Faust“-Dichtung versucht, die Jürgen Schwann in seiner<br />

Untersuchung mit dem „Peter Schlemihl“ vergleicht (siehe Schwann: Vom „Faust“ zum „Peter<br />

Schlemihl“).<br />

141. Freund: Geld und Geist, S. 31.<br />

142. Siehe Schwann: Vom „Faust“ zum „Peter Schlemihl“, S. 219.<br />

143. Mann: Chamisso, S. 320.<br />

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dass es taktisch unklug ist, Schlemihl die „bleiche, entstellte Gestalt“ (PS, S. 68) zu zeigen.<br />

Dieser Moment, als der Graue den verdammten Herrn John an den Haaren aus seiner Tasche<br />

zieht, schwankt zwischen Dämonie und Komik und demonstriert seine teuflisch-dämonische<br />

Macht. Schlemihl vertreibt ihn daraufhin mit einer gradezu klassischen Anrufung Gottes: „So<br />

beschwör ich dich im Namen Gottes, Entsetzlicher! hebe dich <strong>von</strong> dannen und lasse dich nie<br />

wieder vor meinen Augen blicken!“ (PS, S. 68) All dies weist den Grauen als echten Gegen-<br />

spieler Gottes aus.<br />

Witz hat der Graue ebenfalls. Seine Sprechweise ist keineswegs immer unterwürfig, sondern er<br />

macht sich etwa mit beißendem Spott über Schlemihls Wertschätzung der Seele lustig (siehe<br />

PS, S. 51) und begrüßt ihn sarkastisch, nachdem er ihn mit einem Trick in den Förstergarten ge-<br />

lockt hat (siehe PS, S. 57).<br />

Zudem gibt es zwei ironische Selbstbezeichnungen des Grauen als Teufel. Auf die Frage Schle-<br />

mihls, wer er sei, antwortet er: „Ein armer Teufel, gleichsam so eine Art <strong>von</strong> Gelehrten und<br />

Physikus.“ (PS, S. 51) Bei der Rechtfertigung seines Verhaltens verwendet er die Floskel: „Der<br />

Teufel ist nicht so schwarz, als man ihn malt.“ (PS, S. 64) Diese Äußerungen sind glänzende<br />

Beispiele für die Strategie des Grauen: Er sagt die Wahrheit über sich, zeigt sich ganz offen,<br />

doch da er abgeschliffene Redensarten verwendet, deren wörtliche Bedeutung nicht mehr im<br />

Vordergrund des Bewusstseins des Zuhörers steht, verschleiert er sie gleichzeitig. Diese Kunst,<br />

sich in der Routine der Gesellschaft zu verstecken, ist typisch für ihn.<br />

Die Bezeichnung des Teufels als ‚der Graue‘ sagt ebenfalls einiges über das Wesen aus, das<br />

Chamisso ihm verleiht. Es gibt Hinweise darauf, dass er ursprünglich als ‚der Grüne‘ bezeich-<br />

net werden sollte, ein Name, der auf die Jägernatur des Teufels anspielt. 144 Die Bezeichnung<br />

‚Grauer‘, ein volkstümlicher Name für den Teufel, 145 passt jedoch besser zu dem Wesen der Fi-<br />

gur, da sie die Unauffälligkeit und Unbestimmtheit in der Erscheinung der Teufelsfigur unter-<br />

streicht. Wie das oben zitierte Sprichwort sagt, ist der Teufel in der Erzählung nicht ‚schwarz‘,<br />

also klar in seiner Dämonie erkennbar, sondern ‚grau‘, also angepasst und scheinbar harmlos.<br />

Gleichzeitig wird aber bei dieser Bezeichnung auch die Assoziation zu ‚das Grauen‘ geweckt,<br />

sodass sie genau die Doppelgesichtigkeit <strong>von</strong> Chamissos Teufelsfigur ausdrückt.<br />

Man kann in der Bezeichnung auch Parallelen zum Schatten sehen, mit dem der Graue die Far-<br />

be und die ‚Substanzlosigkeit‘, die Nicht-Greifbarkeit, gemeinsam hat. Schwann weitet diese<br />

Interpretation zu einem Doppelgängermotiv aus in dem Sinne, dass der Graue danach strebt,<br />

Schlemihls ständiger Begleiter zu werden und dessen Persönlichkeit gleichsam wie ein Schatten<br />

zu verdecken bzw. auszulöschen. 146 Auch Flores sieht im Grauen einen Doppelgänger Schle-<br />

144. Siehe Schwann: Vom „Faust“ zum „Peter Schlemihl“, S. 221f.<br />

145. Gebräuchlich waren „Graurock“ oder „Grauröcklein“ (siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente,<br />

S. 16).<br />

146. Schwann: Vom „Faust“ zum „Peter Schlemihl“, S. 343.<br />

- 68 -


mihls. Als Indizien führt er die Außenseiterrolle an, die den beiden Figuren auf der Gartenge-<br />

sellschaft gemeinsam ist, die Tatsache, dass der Graue mit seiner devoten Annäherung Schle-<br />

mihls tiefste Wünsche erkennt und an ihn zurückgibt, sowie Schlemihls Anpassung an das<br />

Verhalten des Grauen bei ihrer erste Begegnung. Nach dem Schattenverlust wird Schlemihl zu-<br />

dem für die Mitglieder der Gesellschaft ebenso abstoßend, wie der Graue auf ihn wirkt. 147<br />

Die phantastischen Fähigkeiten, die Chamisso seiner Teufelsfigur verleiht, sind in ihrer Anwen-<br />

dung meist recht subtil, aber zahlreicher als die der phantastischen Figuren in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Ägypten</strong>“. Zusätzliches Gewicht gewinnen sie dadurch, dass der Graue sie immer wieder in ver-<br />

schiedenen Zusammenhängen anwendet.<br />

Das spektakulärste Motiv ist wohl das der Tasche, aus der der Graue beliebige Dinge ziehen<br />

kann. Chamisso hat es nach eigener Aussage aus einem Buch <strong>von</strong> A.H. Lafontaine übernom-<br />

men, das insbesondere die Szene mit der Gartengesellschaft angeregt habe. 148 Die Tasche des<br />

Grauen wird in dreierlei Funktion vorgeführt: Zuerst als Quelle der sofortigen Wunscherfüllung<br />

während Herrn Johns Gartengesellschaft (PS, S. 24-26). Dann in sehr ähnlicher Funktion als<br />

Quelle für Zaubergegenstände, Objekte mit phantastischen Eigenschaften (siehe PS, S. 28f. und<br />

S. 52). Deren Besitz ist eine weitere Besonderheit der Figur des Grauen und man kann sie als<br />

eine Art Extension seiner Fähigkeiten betrachten. Allerdings weist nichts darauf hin, dass der<br />

Graue sie selbst erschafft. Er tritt vielmehr als eine Art Verwalter der Zaubergegenstände auf.<br />

Die dritte Funktion der Tasche zeigt sich am Ende der Erzählung, als der Graue den toten und<br />

verdammten Herrn John daraus hervorzieht (siehe PS, S. 68). Hier enthüllt er die Kehrseite der<br />

Inanspruchnahme seiner Dienste. Seine Tasche gewährt scheinbar grenzenlose Wunscherfül-<br />

lung, doch der Preis dafür ist, dass, wer <strong>von</strong> ihr empfangen hat, sich am Ende sinnbildlich selbst<br />

hergeben muss, um sie wieder zu füllen.<br />

Außerdem besitzt der Graue die Fähigkeit, den Schatten und die Seele, also immaterielle We-<br />

sensteile des Menschen an sich zu nehmen und, im Falle des Schattens, auch zu kontrollieren.<br />

Der Raub der Seele gehört, wie oben bereits dargestellt, zu den prototypischen Eigenschaften<br />

einer Teufelsfigur. Die Manipulation des Schattens hingegen ist eine Besonderheit der Erzäh-<br />

lung und ihre Aspekte werden ausführlicher im Kapitel über das phantastische Motiv des Schat-<br />

tens behandelt. Macht über die Seele – und in der Erzählung ebenso über den Schatten – erlangt<br />

der Graue traditionsgemäß durch einen Pakt, also die explizite Erlaubnis des Opfers. Er ist je-<br />

doch auch in der Lage, Menschen zu ‚holen‘ ohne einen formellen Vertrag, wie er ihn mit<br />

Schlemihl abschließen will. Dies zeigt sich am Beispiel Herrn Johns: „Mit einem so guten<br />

Freund hab ich es [i.e. eine Unterschrift zu verlangen] keineswegs nötig gehabt.“ (PS, S. 68) In<br />

147. Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 578f.<br />

148. Siehe Brief <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong> Chamisso an Karl Bernhard <strong>von</strong> Trinius vom 11. 4. 1829; zit. n.<br />

Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 53f.<br />

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Bezug auf Schlemihls bösen und intriganten Diener verheißt der Graue: „[D]en Rascal [...]<br />

nehm ich auf mich, der Kerl ist reif.“ (PS, S. 50) und später: „[W]ir ließen den Rascal am Gal-<br />

gen baumeln, das wird uns ein Leichtes, solange es am Stricke nicht fehlt.“ (PS, S. 57) Der<br />

Graue hat also auch Macht über Menschen, die keinen Pakt mit ihm eingegangen sind, wenn<br />

deren Verhalten insgesamt so ist, dass es seinen Prinzipien entgegenkommt. Auch in dieser Be-<br />

ziehung ist er eine typische Teufelsgestalt, der die Sünder automatisch zufallen.<br />

Die subtilste Macht des Grauen ist die bereits erwähnte Fähigkeit, die Wahrnehmung der Men-<br />

schen zu beeinflussen, um unerkannt zu operieren. Diese Macht ist zentral für das Wesen der<br />

Figur, deren Besonderheit gerade die Anpassung an die Normrealität ist und die ihre Phantastik<br />

zeitweise ganz verschleiert. Das Außerkraftsetzen der Wahrnehmungsfähigkeit ist im Grunde<br />

eine phantastische Extrapolation der betont unauffälligen Erscheinung des Grauen.<br />

Der Graue demonstriert diese Fähigkeit mehrmals im Laufe der Erzählung. Zuerst auf der Gar-<br />

tengesellschaft, wo die Gäste seine Anwesenheit und phantastischen Kräfte als selbstverständ-<br />

lich hinnehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein, und später unfähig sind, sich an ihn zu erin-<br />

nern. Dann erlebt Bendel seine Macht, der <strong>von</strong> Schlemihl mit einer genauen Personenbeschrei-<br />

bung ausgeschickt wird, um den Grauen zu suchen, und sich dann mit diesem unterhält, ohne<br />

ihn zu erkennen (siehe PS, S. 33f.). Hier wird klar, dass die Macht des Grauen keine Täuschung<br />

der Sinne, sondern des Bewusstseins bewirkt. Bendel hat ihn genau gesehen und kann sich an<br />

alle Einzelheiten seiner Erscheinung erinnern. Erst als Schlemihl ihn darauf hinweist, ist er je-<br />

doch in der Lage, die Verknüpfung zwischen den Informationen, die ihm zur Verfügung stehen,<br />

zu leisten. Bendel bezeichnet sich daraufhin selbst als „Blödsinniger“ und „Verblendeter“ (PS,<br />

S. 34). Damit wird einmal ausgedrückt, dass der Graue auf den Verstand Einfluss nimmt, zum<br />

anderen auch Bezug genommen auf die Täuschung und Irreführung, die ‚Verblendung‘, die er<br />

bewirkt.<br />

Auch Peter Schlemihl selbst wird Opfer dieser Täuschung, und zwar zweimal: Zuerst als er das<br />

unsichtbar machende Vogelnest stiehlt, ohne zu erkennen, dass der Besitzer der Graue ist (siehe<br />

PS, S. 55f.), dann als er nach seiner Flucht aus dem Badeort die Gesellschaft eines Reisenden<br />

akzeptiert, wiederum ohne in diesem den Grauen zu sehen (siehe PS, S. 63f.). An diesen Episo-<br />

den kann man die Wirkung der Illusion noch genauer untersuchen, da sie direkt aus dem Blick-<br />

winkel des Ich-Erzählers dargestellt wird.<br />

Die Szene mit dem Vogelnest ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Dass Schlemihl in der<br />

Einsamkeit der Heide, in die er in seiner Verzweiflung geflohen ist, plötzlich jemandem begeg-<br />

net, der so ein seltenes phantastisches Objekt in seinem Besitz hat, scheint wohl die überra-<br />

schendste und unmotivierteste Wendung in der gesamten Erzählung. Auch das Verhalten dieser<br />

Person ist seltsam: Erst nähert sie sich Schlemihl und als er versucht, den scheinbar körperlosen<br />

Schatten zu fangen, flieht sie sofort in Richtung Waldrand. Schlemihl jedoch, das handelnde<br />

Ich, zeigt keinerlei Erstaunen und darüber hinaus auch keinerlei Interesse an dem Besitzer des<br />

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Vogelnests, der einfach als „Mensch“ oder „Mann“ (PS, S. 55) bezeichnet wird – neutralere Be-<br />

nennungen sind kaum möglich – und dessen Aussehen nicht beschrieben wird. Er entwendet<br />

das Vogelnest mit Gewalt und ohne jegliche Gewissensbisse und lässt den Mann auf der Heide<br />

zurück, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden. Die Unwahrscheinlichkeit der<br />

Umstände und die unangemessene Reaktion Schlemihls, für den so viel Gleichgültigkeit und<br />

Rücksichtslosigkeit untypisch sind, wirken irritierend auf den Leser. Doch gerade dies zeigt die<br />

Kunst des Grauen, das Gefühl für Wahrscheinlichkeit und die richtige Einordnung des Erlebten<br />

bei seinen Opfern zu stören. Nur das erzählende Ich kann im Rückblick nach Beschreibung<br />

dieser Szene einen Hinweis auf ihren Trugcharakter geben: „So wenigstens kamen mir damals<br />

alle Umstände dieses Ereignisses vor.“ (PS, S. 56) Das handelnde Ich ist dagegen in der Täu-<br />

schung gefangen und verhält sich ganz anders, als man es <strong>von</strong> ihm erwarten würde. Die Störung<br />

der natürlichen Verhaltensweisen eines Menschen ist eine subtile, aber umso unheimlichere<br />

Ausprägung übernatürlicher Macht. Der Mensch ist nicht mehr Herr über sich selbst, sondern<br />

wird <strong>von</strong> einem phantastischen Wesen beeinflusst, ohne sich dessen bewusst zu sein. In dieselbe<br />

Kategorie gehören die unerklärliche Anziehung, die Alraun und Golem in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> Ägyp-<br />

ten“ auf die Menschen ausüben.<br />

Schlemihl erliegt der Täuschung des Grauen noch ein zweites Mal. Die Situation, dass sich ein<br />

„Fußgänger“ (PS, S. 63) dem reisenden Schlemihl anschließt, wirkt allerdings viel plausibler.<br />

Auch dessen Aussehen wird nicht spezifiziert, was allerdings angesichts der üblichen Art der<br />

Personendarstellung in der Erzählung nicht erstaunt. Auch Schlemihls Verhalten gegenüber<br />

dem Fußgänger ist nicht ungewöhnlich. In diesem Fall ist der Leser ebenfalls in der Täuschung<br />

befangen, die ganz natürlich wirkt, bis der Graue sich offenbar bewusst <strong>von</strong> Schlemihl erkennen<br />

lässt. Hier wird außerdem demonstriert, dass der Graue noch in anderen Verführerrollen auftre-<br />

ten kann als der Schlemihl bereits bekannten. Er nimmt die Rolle eines Philosophen an, der ein<br />

System entwickelt, „das Wort aufzufinden, das aller Rätsel Lösung sei.“ (PS, S. 63) Das Ver-<br />

sprechen, dies leisten zu können, lässt sich als metaphysisches Äquivalent zum materialisti-<br />

schen Glückssäckel deuten – wie dieses uneingeschränkten Reichtum verspricht, so verspricht<br />

die Philosophie des Grauen uneingeschränkte Erkenntnis. 149 Peter Schlemihl erweist sich jedoch<br />

als immun gegen diese Art der Verführung – er hat sich „dieses Feld [i.e. die Philosophie] völ-<br />

lig abgesprochen“, seitdem er „den Philosophen durch die Schule gelaufen“ (PS, S. 63) ist.<br />

Hellsichtig erkennt er, dass das Gedankengebäude des Grauen bei aller Perfektion Selbstzweck<br />

ist und zu nichts führt: „[S]o ward es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche<br />

Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur Ergötzung diente [...].“ (PS, S. 64). Die<br />

rhetorische Kunst des Grauen ergreift zwar den Verstand, aber nicht die Seele. Die Assoziation<br />

der Philosophie mit der Figur des Grauen verrät eine deutliche Skepsis gegenüber dieser<br />

149. Siehe Pavlyshyn: Gold, Guilt and Scholarship, S. 53.<br />

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Wissenschaft. 150<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Graue zweifellos eine Teufelsfigur ist, seine Macht<br />

subtil ausübt und sich der Normrealität anpasst, um sein Tun zu verbergen. Interessant ist ein<br />

Vergleich mit dem Alraun, der sich nach seiner Erschaffung zunehmend an die Gepflogenheiten<br />

der Menschenwelt anpasst und versucht, eine Rolle darin einzunehmen. In seinem Fall wirkt<br />

dies lächerlich und scheint eher einen Machtverlust des phantastischen Wesens zu bewirken.<br />

Die Anpassung lässt auch den Grauen teilweise wie eine komische, harmlose Figur erscheinen –<br />

etwa dann, wenn er sich <strong>von</strong> Bendel ohne Gegenwehr prügeln lässt (siehe PS, S. 53) – doch sie<br />

ist im Gegensatz zu der Anpassung des Alrauns bewusst und kalkuliert. Der Graue wächst nicht<br />

in die Normrealität hinein wie der Alraun, er tritt <strong>von</strong> außen an sie heran und man hat den Ein-<br />

druck, er, der Teufel, erscheine so, wie es zu der jeweiligen Welt passt. Die Gefahr für die in<br />

„Peter Schlemihl“ dargestellte Welt liegt in Materialismus und leerer Philosophie und Sophiste-<br />

rei. Passend dazu erzwingt Chamissos Teufel seinen Willen nicht durch Einschüchterung und<br />

Gewalt, sondern bindet durch Bürokratismus und zermürbt durch Penetranz. Flores nennt ihn<br />

einen „perpetual actor“ und fasst seine Strategie zusammen: „The gray man attacks the human<br />

world by making use of methods and values of that world.“ 151<br />

4.2.2 Die Zaubergegenstände<br />

Die meisten phantastischen Elemente in „Peter Schlemihl“ sind Zaubergegenstände, Objekte<br />

mit übernatürlichen Eigenschaften. Als der Graue Peter Schlemihl zum Verkauf seines Schat-<br />

tens überreden will, bietet er ihm gleich eine ganze Sammlung an: „die ächte Springwurzel, die<br />

Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch <strong>von</strong> Rolands Knappen, ein Galgen-<br />

männlein zu beliebigem Preis; [...] besser, Fortunati Wünschhütlein, neu und haltbar wieder res-<br />

tauriert; auch ein Glücksseckel, wie der seine gewesen“ (PS, S. 28). Später erfährt der Leser,<br />

dass sich auch eine „Tarnkappe“ (PS, S. 52) und das „unsichtbare Vogelnest, welches den, der<br />

es hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar macht“ (PS, S. 55) im Besitz des Grauen befin-<br />

den. Die Motive entstammen alle literarischen Bearbeitungen <strong>von</strong> volkstümlichen Überlieferun-<br />

gen. 152 Die Alraunwurzel, das Galgenmännlein und das Vogelnest werden bei Grimmelshausen<br />

erwähnt, die Tarnkappe ist aus dem Nibelungenlied übernommen und Wunschhütlein und<br />

Glückssäckel entstammen dem Volksbuch <strong>von</strong> „Fortunatus“ (1509), auf dessen Basis Chamisso<br />

auch ein Schauspiel begonnen hat, das allerdings Fragment geblieben ist. 153 Als „Kommentar<br />

150. Dies entspricht der Haltung des Autors. Chamisso war <strong>von</strong> der theoretischen Philosophie enttäuscht<br />

und hat sich <strong>von</strong> der „müßigen Speculation“ hin zum „Wege der Erfahrung“, den praktischen<br />

Naturwissenschaften, gewandt (siehe Brief <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong> Chamisso an Rosa Maria Assing,<br />

geb. Varnhagen vom 17. 11. 1812; zit. n. Hitzig (Hg.): Leben und Briefe I, S. 337).<br />

151. Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 580.<br />

152. Siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 22f.<br />

153. Siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 18f. und S. 26f.<br />

- 72 -


zur Instruktion für den Übersetzer und zur Erklärung einiger Eigentümlichkeiten“ erklärt<br />

Chamisso selbst die Besonderheiten der verschiedenen Gegenstände für seinen Bruder, der an<br />

einer französischen Übersetzung des „Peter Schlemihl“ arbeitete. 154 Es handelt sich hier teilwei-<br />

se um dieselben Motive, die auch Arnim verwendet. Hier zeigt sich das für die Romantik typi-<br />

sche Interesse an Volksüberlieferungen, das beiden Autoren gemeinsam ist. Der Zweck der<br />

Aufzählung der vielen Zaubergegenstände, die der Graue bei seiner ersten Begegnung mit<br />

Schlemihl anbietet, ist wohl auch eine Rückbindung <strong>von</strong> Chamissos Erzählung an die Volks-<br />

überlieferung bzw. an deren literarische Bearbeitung, in deren Tradition er sich stellt. 155<br />

Im Vergleich zum Schattenmotiv, dem in der Forschung die meiste Aufmerksamkeit zuteil wur-<br />

de, wurden diese phantastischen Hilfsmittel relativ wenig beachtet. Unter den phantastischen<br />

Gegenständen der Erzählung haben sie jedoch ihre ganz eigenen Besonderheiten. Einen Hin-<br />

weis darauf, welche dies sind, gibt folgender Kommentar Thomas Manns: „[D]ie Erzählung<br />

nimmt hier auf bekannte und nicht wohl bezweifelbare Sagen- und Märchenmotive Bezug, wo-<br />

durch sie einen neuen Akzent <strong>von</strong> Legitimität und Vertrauenswürdigkeit erhält.“ 156 Diese Aus-<br />

sage ist auf den ersten Blick verblüffend. Wieso gibt die Verwendung märchenhafter, also der<br />

Erfahrungswirklichkeit widersprechender Motive, einer Erzählung mehr Vertrauenswürdigkeit?<br />

Plausibel ist dies nur, wenn man da<strong>von</strong> ausgeht, dass nicht die Übereinstimmung mit der außer-<br />

literarischen Realität, sondern der Rückgriff auf Wissen, das dem Leser vertraut ist, hier ent-<br />

scheidend ist. An dieser Stelle sei an die Ausführungen über das belief system erinnert – die<br />

Menge der Annahmen über die (reale oder fiktionale) Welt – das für jede fiktionale Erzählung<br />

während der Rezeption des Textes aufgebaut wird und als Bezugspunkt dient. Zwar werden be-<br />

kannte Märchenmotive in der außerliterarischen Welt nicht für real gehalten – sind also nicht<br />

Teil des belief systems für die Realität – aber sie haben eine hohe Präsenz im Bewusstsein des<br />

Lesers, weil sie schon aus anderen fiktionalen Texten bekannt sind. Darum können sie rasch<br />

eingeordnet werden und bewirken wenig phantastische Irritation. 157 Innerhalb der Erzählung ist<br />

die Reaktion auf die Zaubergegenstände in der Tat so, als gehörten sie zum belief system der<br />

Normrealität. Schlemihl, den noch kurz zuvor die Fähigkeiten des Grauen verstört haben, zeigt<br />

keinerlei Erstaunen über ihre Existenz. Sie sind für ihn im wahrsten Sinne des Wortes ‚bekannt<br />

und nicht wohl bezweifelbar‘ und werden ebenso akzeptiert wie die phantastischen Elemente in<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ – zwar als seltene und besondere Dinge, aber nicht als Verstöße gegen<br />

die Weltordnung.<br />

In ihrer Gestaltung haben die Zaubergegenstände einige Gemeinsamkeiten. Es handelt sich stets<br />

154. Siehe Brief <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong> Chamisso an Hippolyte <strong>von</strong> Chamisso vom 17. 3. 1821; in Übersetzung<br />

zit. n. Chamisso: Sämtliche Werke in 2 Bänden (Bd. 2) [Kommentar], S. 697.<br />

155. Siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 23.<br />

156. Mann: Chamisso, S. 321.<br />

157. Die Wirkung ist im Grunde sehr ähnlich wie die der typisierten und damit für den Leser wiedererkennbaren<br />

Figuren und Handlungselemente in der Normrealität.<br />

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um unbelebte Objekte, die in ihren physischen Merkmalen der Erfahrungswirklichkeit entspre-<br />

chen. Phantastisch werden sie durch bestimmte, übernatürliche Eigenschaften, die ihnen zusätz-<br />

lich zugewiesen werden. Diese sind der tatsächlichen Funktion des Gegenstandes angepasst und<br />

häufig eine Extrapolation <strong>von</strong> dieser. So dienen die Siebenmeilenstiefel wie normale Stiefel<br />

zum Laufen, aber führen zu extrem langen Schritten. Das Glückssäckel enthält wie ein normaler<br />

Geldbeutel Dukaten, aber eben in unbegrenzter Menge. Die übernatürlichen Eigenschaften der<br />

Zaubergegenstände sind in allen Fällen klar definiert und begrenzt. Sie können durch den Be-<br />

nutzer untersucht und erforscht werden, was im Verlauf der Erzählung mehrmals vorgeführt<br />

wird. Ernst Fedor Hoffmann gibt eine treffende Charakterisierung der Art ihrer Phantastik: „Die<br />

märchenhaften Utensilien werden also insgesamt einfach als noch nicht erforschte, aber dem<br />

Bereich der Empirie und ihren Gesetzen unterstellte Phänomene betrachtet.“ 158<br />

Im Folgenden sollen die vier Zaubergegenstände näher betrachtet werden, die in der Handlung<br />

eine größere Rolle spielen.<br />

4.2.2.1 Fortunati Glückssäckel<br />

Fortunati Glückssäckel ist der Zaubergegenstand, der in der Erzählung am längsten präsent ist.<br />

Bei seiner Einführung fällt die genaue äußere Beschreibung auf: Der Graue „zog einen mäßig<br />

großen, festgenähten Beutel, <strong>von</strong> starkem Korduanleder, an zwei tüchtigen ledernen Schnüren<br />

heraus [...].“ (PS, S. 29) Die Tatsache, dass das Säckel als handfestes Gebrauchsobjekt darge-<br />

stellt wird, bindet es an die Alltagswirklichkeit und lässt es als plausiblen Teil der Normrealität<br />

erscheinen. 159 Als der Name des Säckels genannt wird, weiß Schlemihl sofort über seine Eigen-<br />

schaften Bescheid, eine Folge <strong>von</strong> dessen ‚allgemeiner Bekanntheit‘, gemäß der oben ausge-<br />

führten Logik. Der Graue fordert ihn auf, die übernatürlichen Eigenschaften wie die Funktions-<br />

tüchtigkeit eines Geräts zu überprüfen (siehe PS, S. 29). Etwas später testet Schlemihl selbst<br />

den phantastischen Gegenstand nochmals. Er probiert aus, ob sich die übernatürliche Funktion<br />

auch umkehren lässt und herausgezogenes Geld wieder im Säckel verschwindet, eine Hypothe-<br />

se, die logisch auf seinem bisherigen Wissen aufbaut, und stellt empirisch fest, dass dies un-<br />

möglich ist (siehe PS, S. 31). 160 Der Umgang mit dem Glückssäckel ist ein Beispiel für die<br />

grundlegende Rationalität, mit der in der Erzählung an das Übernatürliche herangegangen wird.<br />

Kaum erwähnt der Graue das Glückssäckel zum ersten Mal, zeigt Schlemihl eine extrem starke<br />

Reaktion: „[E]r [hatte] mit dem einen Wort meinen ganzen Sinn gefangen. Ich bekam einen<br />

158. E. F. Hoffmann: Spiegelbild und Schatten, S. 184.<br />

159. Denselben Effekt hat auch der Zusatz „neu und haltbar wieder restauriert“ (PS, S. 28) in Bezug auf<br />

das Wunschhütlein, der die physische Beschaffenheit des Objekts in den Blickpunkt rückt.<br />

160. Nach Ernst Fedor Hoffmann verweist dies auch auf die Unumkehrbarkeit der Ereignisabfolge und<br />

die Notwendigkeit, sich mit dem Geschehenen abzufinden (siehe E. F. Hoffmann: Spiegelbild und<br />

Schatten, S. 183). Die Notwendigkeit (d.h. Schicksalhaftigkeit) als grundlegendes Gesetz der Welt<br />

wird an anderer Stelle explizit genannt: „Ich habe erstlich die Notwendigkeit verehren lernen, und<br />

was ist mehr als die getane Tat, das geschehene Ereignis, ihr Eigentum!“ (PS, S. 60)<br />

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Schwindel, und es flimmerte mir wie doppelte Dukaten vor den Augen.“ (PS, S. 28f.) Die Wir-<br />

kung, die der sagenhafte Gegenstand auf ihn hat, raubt ihm regelrecht die „Besinnung“ (PS, S.<br />

29) und lässt ihn trotz seiner Furcht und Abneigung gegen den Grauen übereilt den Handel ab-<br />

schließen. Die Reaktion ist so spontan und extrem, dass sie fast den Rahmen ‚realistischer‘<br />

Geldgier sprengt. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass dem Säckel ein weiterer<br />

Zauber innewohnt, der, ähnlich wie beim Alraun und beim Golem in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“,<br />

Menschen dazu bringt, dem phantastischen Gegenstand zu verfallen. Stattdessen ist es offenbar<br />

ausschließlich die Aussicht auf unermesslichen Reichtum, die Schlemihl gefangen nimmt, was<br />

schon vorbereitet worden ist durch seine leidenschaftliche Zustimmung zu Herrn Johns Aussage<br />

„Wer nicht Herr ist wenigstens seiner Million, [...] der ist, man verzeihe mir das Wort, ein<br />

Schuft!“ (PS, S. 24) Es steht also <strong>von</strong> vornherein nicht die Phantastik des Gegenstandes an sich<br />

im Mittelpunkt des Interesses, sondern das, was er hervorbringt. Seine Wirkung entfaltet er al-<br />

lein durch seinen materiellen Wert und die Geldgier selbst gewinnt in der Darstellung eine<br />

phantastisch übersteigerte Komponente. In seinem Hotelzimmer verfällt Schlemihl in einen<br />

wahren Goldrausch (siehe PS, S. 30f.). Dieser Rausch, in dem er das Gold auf dem Boden ver-<br />

teilt und sich zuletzt gar darin wälzt, hat orgiastische Züge und ergibt sich aus „einer Art Wut“<br />

(PS, S. 30) heraus, die sich zum völligen Verlust der Kontrolle über seine Gefühle steigert. Das<br />

erzählende Ich empfindet im Nachhinein Scham, darüber zu sprechen. Der Besitz der phantasti-<br />

schen, unerschöpflichen Geldquelle wirkt also störend auf die Persönlichkeit Schlemihls und<br />

treibt ihn zusammen mit der sozialen Ächtung in eine Existenz, für die ein ebenfalls phantasti-<br />

scher Vergleich angemessen scheint: „Ich lag, wie Faffner bei seinem Hort, fern <strong>von</strong> jedem<br />

menschlichen Zuspruch, bei meinem Golde darbend [...].“ (PS, S. 34)<br />

Auch die gesellschaftlich-ökonomische Ordnung wird durch das Glückssäckel gestört. Dies<br />

zeigt sich daran, dass Schlemihls Umgang mit seinem Reichtum, eben weil dieser grenzenlos<br />

ist, ökonomischen Regeln zuwider läuft. Mehrmals versucht er gezielt, sein Geld zu verschwen-<br />

den. Am offensichtlichsten geschieht dies am Tag nach dem Goldrausch, als er das Gold, das er<br />

herausgezogen hat, los wird, indem er möglichst teure Dinge kauft (siehe PS, S. 31f.). Doch<br />

auch wenn das ‚Beiseiteschaffen‘ unverhältnismäßig großer (und sperriger) Geldmengen nicht<br />

aus praktischen Gründen notwendig ist, zeigt er ähnliches Verhalten. So heißt es, als er als<br />

‚Graf Peter‘ im Seebad residiert: „[Bendel] half mir [...], in meinen Sinn eingehend, Gelegen-<br />

heiten ersinnen, ihn [i.e. den Reichtum] darzutun und Gold zu vergeuden.“ (PS, S. 42) Anstatt<br />

Mühe damit zu haben, das Geld zu erwerben, muss Schlemihl Aufwand betreiben, es loszuwer-<br />

den. Diese Verkehrung der ökonomischen Gesetze wird noch bildhafter dargestellt, als Schle-<br />

mihl sich nach dem Goldrausch „bequemen [muss], es [i.e. das Gold] mühsam und mit sauerm<br />

Schweiß zu einem großen Schrank [...] zu schleppen, und es darein zu verpacken.“ (PS, S. 31).<br />

Er muss körperlich arbeiten, um das Geld zur Seite zu schaffen, das er ohne körperliche oder<br />

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sonstige Anstrengung erlangt hat. 161<br />

Die Problematik des unermesslichen, mühelos erlangten Reichtums ist Grundlage <strong>von</strong> Interpre-<br />

tationen, die die Kapitalismuskritik als Kern der Erzählung sehen. So urteilt Winfried Freund,<br />

der das Ideal einer bürgerlichen Lebensweise, die in der „Synthese <strong>von</strong> Geld und Moral“ 162 be-<br />

steht, als Kern der Erzählung sieht: „Ohne Arbeit erworbener Reichtum und erworbenes Eigen-<br />

tum sind unmoralisch, da nur die moralisch motivierte Anstrengung dem Materiellen den Ge-<br />

ruch des Minderwertigen nehmen kann.“ 163 Das Säckel wäre damit ein Mittel, diesen ‚unmora-<br />

lisch‘ erworbenen Reichtum zu symbolisieren.<br />

Marko Pavlyshyn sieht in dem Glückssäckel ein Symbol für die sich ändernden ökonomischen<br />

Bedingungen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Der Zusammenhang zwischen dem<br />

Reichtum und seinen Quellen werde mit der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft immer<br />

abstrakter und undurchschaubarer, was im Motiv des Glückssäckels veranschaulicht werde.<br />

Schlemihls Drang, das Säckel zu besitzen, entspreche dem Drang, an diesem System teilzu-<br />

haben, und die Tatsache, dass er dem Teufel nur entkommen kann, indem er das Säckel fort-<br />

wirft, zeige die Schwierigkeit, sich aus diesem System zu befreien. 164<br />

Auffallend ist, dass die Tatsache, dass die Benutzung des Glückssäckels der Einsatz eines phan-<br />

tastischen Gegenstandes ist, sehr rasch in den Hintergrund rückt. Auch wird nie nach der Quelle<br />

<strong>von</strong> Peter Schlemihls unwahrscheinlichem Reichtum gefragt. Über Bendel heißt es explizit:<br />

„Dieser war gewohnt worden, meinen Reichtum als unerschöpflich zu denken, und er spähte<br />

nicht nach dessen Quellen [...].“ (PS, S. 42) Auch kein anderer, nicht einmal Rascal, scheint<br />

sich dafür zu interessieren. In der Gesellschaft erregt die Unendlichkeit des Geldflusses keinen<br />

Anstoß, ein weiteres Indiz dafür, dass hier tatsächliche gesellschaftliche Zustände in Form des<br />

Zaubergegenstandes nur nachgebildet werden.<br />

Die Existenz des phantastischen Objekts in der Normrealität bewirkt also eine Störung, vor al-<br />

lem was die Persönlichkeit des Protagonisten angeht. Die Irritation ist allerdings auf das eine,<br />

klar definierte Merkmal des Gegenstandes zurückzuführen. Damit bleibt die Phantastik sehr eng<br />

begrenzt und wichtiger als das Phantastische der Existenz einer solchen Geldquelle sind die<br />

psychischen und sozialen Auswirkungen, die ein unerschöpflicher Vorrat an Geld hat.<br />

Eine weitere übernatürliche Funktion hat das Säckel als Verbindung zum Grauen. Solange<br />

Schlemihl es besitzt, ist er an den Grauen gebunden und dieser kann ihn verfolgen. Dies wird<br />

sinnfällig gemacht, als Schlemihl versucht, den Grauen fortzuschicken und dieser erklärt, wie er<br />

zurückzurufen sei: „Sie brauchen nur Ihren Seckel zu schütteln, daß die ewigen Goldstücke dar-<br />

161. Siehe Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 576.<br />

162. Freund: Geld und Geist, S. 34.<br />

163. Freund: Geld und Geist, S. 34.<br />

164. Siehe Pavlyshyn: Gold, Guilt and Scholarship, S. 56.<br />

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innen rasseln, der Ton zieht mich augenblicklich an.“ (PS, S. 67) Diese „neue Kraft“ (PS, S. 67)<br />

des Säckels, die der Graue Schlemihl eröffnet, ist auch metaphorisch zu verstehen: Es ist die<br />

Macht des Geldes, das das Säckel produziert, die den Kontakt zum Grauen aufrecht erhält, das<br />

Geld ‚ruft ihn herbei‘. Auch hier wird die phantastische Funktion an die physikalischen Eigen-<br />

schaften des Gegenstandes – Klimpern der Goldstücke – geknüpft. Konsequenterweise kann<br />

Schlemihl sich auch nur vom Grauen befreien, als er das Säckel fortwirft, d.h. auf der Bildebene<br />

seine Verpflichtung gegenüber dem Vertragspartner löst und auf der symbolischen Ebene sich<br />

<strong>von</strong> dem unnatürlichen Reichtum abwendet.<br />

4.2.2.2 Das Vogelnest und die Tarnkappe<br />

Rolf Schneider hält <strong>von</strong> den Zaubergegenständen nur das Glückssäckel und die Siebenmeilen-<br />

stiefeln für entscheidend und bezeichnet den Rest als „Beiwerk“ und „bloßes Spiel mit dem<br />

Märchenelement“. 165 In der Tat erscheinen Vogelnest und Tarnkappe zufälliger als die anderen<br />

Zaubergegenstände und das spielerisch-humoristische Moment, das die Erzählung in hohem<br />

Maße besitzt, kommt an ihnen deutlich zum Ausdruck.<br />

Die beiden Gegenstände tauchen im fünften und sechsten Kapitel auf, als Schlemihls Schatten-<br />

losigkeit entdeckt wird und der Bruch mit Mina droht. Dadurch dass die Darstellung der Liebes-<br />

geschichte sich stark an Erzählstrategien der nicht-phantastischen Literatur orientiert, sind die<br />

phantastischen Elemente an diesem Punkt ziemlich weit in den Hintergrund getreten. Das<br />

Glückssäckel fungiert nur noch als Quelle des Reichtums und die Schattenlosigkeit ist zum<br />

Schicksal geworden, dessen phantastische Ursache fast in Vergessenheit geraten ist. 166 Mit der<br />

Wiederkehr des Grauen wird die Phantastik der Erzählung quasi wiederbelebt und die beiden<br />

neuen Zaubergegenstände, die er mitbringt, fungieren auch als Markenzeichen und Machtde-<br />

monstration.<br />

Die Tarnkappe wiederholt noch einmal das Schema des Handels, auf den Schlemihl zu Beginn<br />

der Erzählung eingegangen ist. Sie wird zunächst mit großer Beiläufigkeit erwähnt, als der<br />

Graue vorschlägt, damit ungesehen die Vorkommnisse in Minas Elternhaus zu beobachten (sie-<br />

he PS, S. 52). Ohne nähere Beschreibung heißt es nur: „[E]r zog etwas aus der Tasche“ (PS, S.<br />

52), eine Reminiszenz an die Einführungsszene des Grauen. Die Tarnkappe taucht wieder auf,<br />

als der Graue sie Schlemihl unvermutet über den Kopf zieht, als dieser – wie er meint selbst-<br />

ständig – zum Försterhaus kommt: „Ich fühlte mir wie Nebel über den Kopf ziehn, ich sah mich<br />

um, und – Entsetzen – der Mann im grauen Rock saß neben mir, mit satanischem Lächeln auf<br />

mich blickend.“ (PS, S. 57) Der Moment der ‚Umnebelung‘ bei der Anwendung des Zauberge-<br />

genstandes entspricht der Verwirrung Schlemihls, als er wieder unter die Macht des Grauen<br />

165. Scheider, S. 209.<br />

166. Siehe Mann: Chamisso, S. 323f.<br />

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fällt. Der Graue zwingt Schlemihl zur Komplizenschaft, sie sind vereint in der gemeinsamen<br />

Rolle als heimliche Beobachter. Gleichzeitig beginnt der Graue, die Vorzüge der Tarnkappe wie<br />

die einer Ware zu preisen und bietet sie als Dreingabe beim Seelenhandel, eine Fortsetzung der<br />

Metapher vom kaufmännischen Handel.<br />

Das Vogelnest wird wohl deswegen in die Erzählung eingeführt, weil es aufgrund seiner beson-<br />

deren Eigenschaften sehr gut zum Schattenmotiv passt und zu dessen Ausgestaltung verwendet<br />

werden kann. Da es seinen Träger, nicht aber dessen Schatten unsichtbar macht, wirkt es quasi<br />

‚komplementär‘ zu Schlemihls Schattenlosigkeit.<br />

Die Szene mit dem Vogelnest ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie in der Erzählung mit dem<br />

Übernatürlichen umgegangen wird. Schlemihl, der das Angebot des Grauen, seine Seele zu ver-<br />

kaufen, abgelehnt hat und darum im Begriff ist, Mina zu verlieren, hat sich in Verzweiflung auf<br />

eine öde Heide zurückgezogen, wo er sich drei Tage in völliger Isolation und mit halb verwirr-<br />

tem Geist aufhält. Da sieht er am vierten Tag „ein[en] Menschenschatten, dem meinigen nicht<br />

unähnlich, welcher, allein daher wandelnd, <strong>von</strong> seinem Herrn abgekommen zu sein schien.“<br />

(PS, S. 54) Da Schlemihl inzwischen weiß, dass das Ablösen eines Schattens <strong>von</strong> seinem Besit-<br />

zer möglich ist und der Graue ihm kurz zuvor vorgeführt hat, wie er den Schatten kontrollieren<br />

kann, ist es auf Grundlage dieser Erfahrungen nicht erstaunlich, dass Schlemihl die Existenz ei-<br />

nes herrenlosen Schattens ohne Zögern für möglich hält. Geistesgegenwärtig stellt er sofort eine<br />

Hypothese auf, wie er den Schatten fangen könnte: „[I]ch dachte nämlich, wenn es mir glückte,<br />

in seine Spur zu treten, so, daß er mir an die Füße käme, er wohl daran hängen bleiben würde,<br />

und sich mit der Zeit an mich gewöhnen.“ (PS, S. 55) Die Überlegung beruht auf einer inneren<br />

Logik, die Elemente der Erfahrungswirklichkeit (der Schatten ‚hängt‘ an den Füßen) mit den<br />

phantastischen Voraussetzungen verbindet. Dies ist ein Mechanismus, der sich in der Erzählung<br />

immer wieder beobachten lässt.<br />

Als Schlemihl den Schatten nach einer Verfolgungsjagd jedoch erreicht und auf ihn springt,<br />

stößt er mit einem Unsichtbaren zusammen, der nach einem kurzen Kampf das Nest verliert und<br />

sichtbar wird. Man spürt Schlemihls Erleichterung, als es ihm nun gelingt, das Geschehen<br />

einzuordnen: „Nun ward mir auch das ganze Ereignis sehr natürlich erklärbar. Der Mann mußte<br />

das unsichtbare Vogelnest, welches den, der er hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar<br />

macht, erst getragen und jetzt weggeworfen haben.“ (PS, S. 55) Die Erklärung eines phantasti-<br />

schen Ereignisses durch ein phantastisches Objekt ist deshalb ‚natürlich‘, weil das Vogelnest<br />

bekannt ist aus Sage und Literatur – seine Existenz ist damit legitimiert. Der Erzähler Schlemihl<br />

hält eine nähere Erklärung hier ebenso wenig für nötig wie für die anderen Zaubergegenstände<br />

und der Schlemihl der Handlungsebene weiß sofort nützliche Details über das unsichtbare Nest:<br />

Anhand seines sichtbaren Schattens lässt es sich finden. Er folgert rasch, dass er als Schatten-<br />

loser mit dem Nest vollständig unsichtbar ist und zieht sofort Nutzen aus dem erbeuteten Zau-<br />

bergegenstand, um unerkannt die Vorgänge im Förstergarten beobachten zu können. Hoffmann<br />

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stellt fest: „Sobald also die Ereignisse seinem Verständnis zugänglich sind, zeigt Schlemihl eine<br />

beachtenswerte Geistesgegenwart. Nur dort, wo sie sich der Einordnung widersetzen, wo seine<br />

eigenen Beobachtungen in Frage gestellt sind (wie etwa am Anfang, wo er etwas sieht, was an-<br />

scheinend kein anderer bemerkt), wandelt ihn das Grauen an.“ 167<br />

4.2.2.3 Die Siebenmeilenstiefel<br />

Die Siebenmeilenstiefel sind im Ursprung des Motivs und in ihrem Verhältnis zur Normrealität<br />

den anderen Zaubergegenständen sehr ähnlich, unterscheiden sich jedoch wesentlich dadurch,<br />

dass sie nicht aus dem Besitz des Grauen stammen. Sie bilden sogar einen Gegenpart zu dessen<br />

Zaubergegenständen, denn sie kommen in Schlemihls Besitz, nachdem er das Glückssäckel<br />

fortgeworfen hat, und wenden sein Schicksal zum Besseren.<br />

Da der Graue ansonsten Ausgangspunkt alles Phantastischen in der Erzählung ist, drängt sich<br />

umso mehr die Frage auf, woher die Siebenmeilenstiefel kommen. Sie treten unvermittelt, wie<br />

eine zufällige Fügung des Schicksals, in die Handlung ein. Als einziger Zaubergegenstand wer-<br />

den sie nicht sofort als solcher erkannt. Dies liegt nicht so sehr an ihrer äußeren Unscheinbar-<br />

keit – dieses Merkmal haben alle phantastischen Gegenstände in der Erzählung – sondern an<br />

den Umständen ihres Erwerbs. Weder sieht Schlemihl sie zuerst in ihrer phantastischen Funk-<br />

tion, wie das Vogelnest, noch werden sie ihm als Zaubergegenstände angepriesen, wie es bei al-<br />

len anderen Objekten der Fall war. Er kauft sie aus rein praktischen Gründen, weil seine eige-<br />

nen Stiefel durchgelaufen sind, an einer Kirmesbude. Die Szene wirkt alltäglich, völlig frei <strong>von</strong><br />

phantastischen Zügen, und wird zum Anlass genommen, Schlemihls Beschränkungen durch sei-<br />

ne veränderte finanzielle Situation zu zeigen. Nachdem er das Glückssäckel fortgeworfen hat,<br />

ist er noch ärmer als zu Beginn der Erzählung, muss lange handeln und auf ein Paar neue Stiefel<br />

verzichten. Ohne dass es ihm bewusst wird, ist damit der Erwerb der Siebenmeilenstiefel eine<br />

direkte Folge des Verlusts des unerschöpflichen Geldquelle. Die Beschreibung des Verkäufers<br />

als „schöne[r] blondlockige[r] Knabe“, der die Stiefel „freundlich lächelnd“ aushändigt (PS, S.<br />

70f.), weckt zudem positive Assoziationen, die einen ‚guten‘ Ursprung der Stiefel suggerieren.<br />

Die genaue Herkunft bleibt im Dunkeln, doch Schlemihls Reaktion, als er ihre Kräfte schließ-<br />

lich erkannt hat, deutet darauf hin, dass er sie für ein Geschenk Gottes hält: „Ich fiel in stummer<br />

Andacht auf meine Knie und vergoß Tränen des Dankes – denn klar stand plötzlich meine Zu-<br />

kunft vor meiner Seele.“ (PS, S. 72) Die Siebenmeilenstiefel wirken damit als Gegenstück zu<br />

den Zaubergegenständen des Grauen, vor allem zum Glückssäckel. Curt Hohoffs Aussage, dass<br />

die „magische Welt im Schlemihl des Teufels“ 168 sei, ist also nicht ganz richtig.<br />

167. E. F. Hoffmann: Spiegelbild und Schatten, S. 184.<br />

168. Hohoff: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso, S. 449. Dieselbe pauschale Haltung vertritt auch Flores: „Magic is<br />

a tool to the nameless man in gray, and it results less in delight than in agony and dehumanization.“<br />

(Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 582)<br />

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Anhand <strong>von</strong> Schlemihls ‚Erforschung‘ der Besonderheit der Stiefel lässt sich wiederum der<br />

Umgang mit dem Übernatürlichen beobachten. Schlemihl ist zunächst verwirrt, dass seine Um-<br />

gebung sich mit jedem Schritt drastisch verändert und ähnlich wie während der Gartengesell-<br />

schaft ergibt sich ein Moment Todorov‘scher phantastischer Unschlüssigkeit, wie es nur an die-<br />

sen zwei Stellen der Erzählung auftritt. Diesmal zweifelt Schlemihl sogar tatsächlich an seiner<br />

Wahrnehmungsfähigkeit: „[I]ch glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zunge, um mich zu er-<br />

wecken [...].“ (PS, S. 71) Dieser Verunsicherung begegnet er durch eine ‚wissenschaftliche‘<br />

Herangehensweise, indem er die verstrichene Zeit mit der Uhr misst, seine Schritte zunehmend<br />

kontrolliert und die Resultate beobachtet. Dadurch kommt er schließlich zu dem logischen<br />

Schluss: „[E]s war kein Zweifel, ich hatte Siebenmeilenstiefel an den Füßen.“ (PS, S. 71) Die<br />

Unschlüssigkeit löst sich in einer Erklärung auf, die aus genau demselben Grund ‚natürlich‘ ist<br />

wie im Falle des Vogelnestes. Wie alle aus der Volksüberlieferung übernommenen Gegenstän-<br />

de sind auch die Siebenmeilenstiefel in der Normrealität akzeptiert und Schlemihl hat in diesem<br />

Fall sogar einen Gewährsmann, „den berühmten Tieckius“, der <strong>von</strong> den Eigenschaften solcher<br />

Stiefel in seinem „sehr gelehrte[n] Werk [...] ‚De rebus gestis Pollicilli‘“ (PS, S. 78) berichtet.<br />

Dies ist eine Anspielung auf das Märchen „Leben und Thaten des kleine Thomas, genannt<br />

Däumchen“ (1812) <strong>von</strong> Ludwig Tieck, 169 das wie ein wissenschaftliches Werk behandelt wird<br />

und dessen Aussagen über die Abnutzung der Stiefel <strong>von</strong> Schlemihl empirisch überprüft und<br />

widerlegt werden. Von allen Zaubergegenständen zeigt dieser am deutlichsten die Anverwand-<br />

lung anderer literarischer Werke, deren Inhalt in der Erzählung Teil der Normrealität wird.<br />

Die Siebenmeilenstiefel werden zu einem Zweck eingesetzt, der der poetischen und irrationalen<br />

Natur <strong>von</strong> Zaubergegenständen direkt entgegengesetzt ist: für die naturwissenschaftliche For-<br />

schung. Sie ermöglichen Schlemihl, die Welt zu bereisen, um naturkundliche Studien zu betrei-<br />

ben, eine Tätigkeit, an der nur die Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit phantastisch ist.<br />

Die Siebenmeilenstiefel sind jedoch nicht eine bloße Metapher für Geschwindigkeit. Die Impli-<br />

kationen der einen übernatürlichen Eigenschaft, die sie besitzen, werden genau beachtet und mit<br />

einer realistischen Umgebung in Beziehung gesetzt. So werden die Wege, die Schlemihl mit<br />

seinen phantastischen Stiefeln geht, genau beschreiben. 170 Um den Ozean zu überqueren, muss<br />

er konsequenterweise <strong>von</strong> Insel zu Insel treten, weshalb er zu seiner großen Enttäuschung nicht<br />

in der Lage ist, „Neuholland“ (i.e. Australien) zu erreichen (siehe PS, S. 73f.). Die phantas-<br />

tische Macht der Stiefel ist nicht grenzenlos und beliebig, sondern fest umrissen. Auch ihre<br />

Nachteile werden beachtet. So ist es hinderlich, die Stiefel ausziehen zu müssen, um normale<br />

Schritte machen zu können, was für das Sammeln <strong>von</strong> Pflanzenproben natürlich unabdingbar<br />

169. Siehe Walach: Erläuterungen und Dokumente, S. 31f.<br />

170. Die Urschrift des „Peter Schlemihl“ ist an dieser Stelle sogar noch deutlich ausführlicher und gestaltet<br />

Schlemihls Weltumwanderung detailreich aus (siehe Chamisso: Peter Schlemiels Schicksale,<br />

S. 71-80).<br />

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ist. Schlemihl löst dieses Problem, indem er Pantoffeln als ‚Hemmschuhe‘ verwendet, die er<br />

über die Stiefel zieht (siehe PS, S. 74). Thomas Mann kommentiert: „[D]as ganze Wunder [er-<br />

hält] einen Charakter bürgerlicher Wirklichkeit, den es im Märchen niemals besaß.“ 171 Die<br />

Kombination der ‚spießbürgerlichen‘ Pantoffeln mit den Siebenmeilenstiefeln zeigt die Ver-<br />

quickung <strong>von</strong> Normrealität und Phantastik, die Beherrschbarkeit und Logik des Zaubergegen-<br />

standes gibt ihm Glaubwürdigkeit.<br />

Die Rolle der Stiefel in der Erzählung ist eng verknüpft mit Peter Schlemihls Forscherexistenz,<br />

der Folge und Kompensation seines Schattenverlustes. Die Bewertung dieses Endes und damit<br />

auch der Stiefel ist kontrovers – sie rangiert <strong>von</strong> der versöhnlichen Aussage, dass Schlemihl so<br />

zu einer „sinnvollen Erfüllung seines Lebens gelangen“ 172 könne, bis zu dem Urteil, dass er am<br />

Ende „selbst der Graue und besser als der Graue geworden“ 173 sei.<br />

Die Stiefel wurden als utopisches Moment gesehen, das den Ausbruch aus der zu eng begrenz-<br />

ten Welt ermöglicht. Freund urteilt: „An die Stelle der Angst ist die Hoffnung getreten, der<br />

phantastische hat sich zum utopischen Stil gewandelt. [...] [Peter Schlemihl] tritt [...] nun aus<br />

dem eng gezogenen Bannkreis heraus, veranschaulicht durch die Raum überwindenden Wun-<br />

derstiefel.“ 174 Flores bezeichnet die durch die Stiefel verliehenen Fähigkeiten als geradezu gott-<br />

gleich, da sie Schlemihl die Möglichkeit geben, den Raum so rasch zu durchmessen, dass auch<br />

die Zeit für ihn eine ganz andere Qualität erhält. 175<br />

Pavlyshyn hingegen weist darauf hin, dass die Stiefel trotz der positiven Konnotation, die oben<br />

festgestellt wurde, vom Geld aus dem Glückssäckel gekauft worden sind, ebenso wie alle<br />

Gerätschaften, die Schlemihl für seine wissenschaftlichen Studien braucht (siehe PS, S. 74).<br />

Dies stört das Bild der völlig unabhängigen, über die kapitalistisch-materialistische Gesellschaft<br />

erhabenen Wissenschaft. 176 Die Verquickung <strong>von</strong> Wissenschaft und Kapital, die sich in dieser<br />

Konstellation spiegelt, war seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Regel und Chamisso, der Bo-<br />

tanik studierte und, allerdings erst nach Vollendung des „Peter Schlemihl“, selbst eine For-<br />

schungsreise unternahm, durchaus bewusst. 177<br />

Zudem fällt auf, dass bei der Darstellung <strong>von</strong> Schlemihls Forscherleben das komische Moment<br />

sehr stark ist. Sein Sturz ins Eiswasser, weil ihm ein Pantoffel am Stiefel hängen bleibt, und das<br />

anschließende orientierungslose Herumtaumeln über mehrere Kontinente haben beinahe slap-<br />

stickhafte Züge (siehe PS, S. 75). Gerade das phantastische Motiv der Siebenmeilenstiefel wird<br />

171. Mann: Chamisso, S. 325.<br />

172. Baumgartner: Adelbert <strong>von</strong> Chamissos Peter Schlemihl, S. 55.<br />

173. V. Hoffmann: Peter Schlemihl und der Graue, S. 63.<br />

174. Freund: Geld und Geist, S. 55.<br />

175. „Schlemihl becomes almost god-like in his ability to change place and seasons.“ (Flores: The lost<br />

shadow of Peter Schlemihl, S. 580)<br />

176. Siehe Pavlyshyn: Gold, Guilt and Scholarship, S. 54.<br />

177. Siehe Pavlyshyn: Gold, Guilt and Scholarship, S. 57-59.<br />

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auf eine Art und Weise eingesetzt, die eine allzu ernsthafte Deutung <strong>von</strong> Schlemihls Gelehr-<br />

tenexistenz untergräbt, <strong>von</strong> der er weiß, dass sie „bloßes Fragment“ (PS, S. 73) bleiben wird.<br />

Schlemihl selbst ist sich der Vergeblichkeit und Trivialität menschlichen Strebens bewusst. Das<br />

Motiv der Siebenmeilenstiefel hat tatsächlich ein utopisches, die Grenzen der realen Welt<br />

durchbrechendes Moment, die Art, wie die Benutzung des Zaubergegenstandes beschrieben<br />

wird, verhindert jedoch eine Überhöhung und Überbewertung.<br />

4.2.3 Der Schatten<br />

Peter Schlemihls verkaufter Schatten ist das zentrale Motiv der Erzählung und hat mit Abstand<br />

am meisten Aufmerksamkeit durch die Interpreten erfahren.<br />

Im Gegensatz zu den Zaubergegenständen, der Teufelsfigur und dem Pakt ist das Motiv vom<br />

verkauften Schatten in der Literatur nicht direkt vorgebildet. Auch seine Herkunft hat Anlass zu<br />

zahlreichen Spekulationen gegeben. Nach den Untersuchungen Gero <strong>von</strong> Wilperts ist eine di-<br />

rekte Beeinflussung durch volkstümliche Überlieferung unwahrscheinlich, da gerade typische<br />

Elemente des Volksglaubens – der Schatten als Sinnbild für die Seele oder als Wesensteil der<br />

Persönlichkeit, dessen Manipulationen Einfluss auf seinen Besitzer haben – in Chamissos Er-<br />

zählung nicht gestaltet werden. 178 Als literarische Anregungen wurden Einflüsse <strong>von</strong> Lukians<br />

Dialog „Menippos e Nekyomanteia“ vorgeschlagen, der eine Reise ins Totenreich beschreibt,<br />

und Dantes „Divina Commedia“, in der Vergil, der Führer des Erzählers in der Unterwelt,<br />

schattenlos ist. 179 Auch Wielands „Geschichte der Abderiten“, in der <strong>von</strong> einem Prozess um des<br />

Esels Schatten erzählt wird, mag als Anregung gedient haben. 180 Im Wesentlichen ist die Gestal-<br />

tung des Schattenmotivs bei Chamisso jedoch neuartig.<br />

Unter den phantastischen Elementen der Erzählung hat der Schatten einen ganz besonderen Sta-<br />

tus. Der Graue ist in Wesen und Fähigkeiten eine inhärent phantastische Figur. Im Falle der<br />

Zaubergegenstände sind alltägliche Dinge mit phantastischen Eigenschaften ausgestattet, wobei<br />

ihre alltägliche Form noch deutlich erkennbar bleibt. Der Schatten nun ist ein alltäglicher Teil<br />

der Erfahrungsrealität und wird phantastisch durch die Art, wie er in der Erzählung behandelt<br />

und bewertet wird. Anders als bei den Zaubergegenständen handelt es sich nicht um einen be-<br />

stimmten Schatten, der klar definierte übernatürliche Eigenschaften hat, sondern das ganze<br />

Konzept ‚Schatten‘ verändert sich. Seine Phantastik konstitutiert sich über den Verlauf der Er-<br />

zählung hinweg und ist wesentlich weniger klar und begrenzt als die Phantastik der<br />

Zaubergegenstände.<br />

178. Siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 22.<br />

179. Zu den Parallelen zu Dante siehe auch Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 573.<br />

180. Zu allen genannten möglichen Quellen siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 25-29.<br />

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4.2.3.1 Der Schattenverlust - Beginn der phantastischen Umwertung<br />

Es ist der Graue, der die phantastische Umwertung anstößt, als er Schlemihl fragt, ob dieser ihm<br />

seinen Schatten überlassen wolle (siehe PS, S. 28). Schlemihl reagiert so, wie man es nach den<br />

Konventionen der Erfahrungswirklichkeit erwarten würde: Er hält den Grauen für verrückt. Es<br />

erscheint ihm unmöglich, seinen Schatten herzugeben – „Ich verstehe wohl Ihre Meinung nicht<br />

ganz gut, wie könnt ich nur meinen Schatten –“ (PS, S. 28) – und der hohe Wert, den der Graue<br />

seinem Schatten zuweist, den er überschwänglich als „schönen schönen“, „herrlichen“, „un-<br />

schätzbaren“ und „edlen Schatten“ (PS, S. 28) preist, wirkt absurd. Der Schatten ist in der Er-<br />

fahrungsrealität geradezu das Gegenteil eines wertvollen Gegenstandes: Er ist substanzlos, ver-<br />

änderlich, überhaupt nicht als Besitz zu klassifizieren und darum auch nicht veräußerbar. Alles<br />

deutet darauf hin, dass Schlemihl dies genauso empfindet wie der Leser. Da für ihn an diesem<br />

Punkt der Erzählung genau dieselben Regeln für Beschaffenheit und Bewertung des Schattens<br />

gelten wie in der außerliterarischen Erfahrungsrealität, kann er die Konsequenzen des Schatten-<br />

verlusts nicht abschätzen – ja, er glaubt trotz der Demonstration der phantastischen Fähigkeiten<br />

des Grauen während der Gartengesellschaft wohl nicht einmal ganz an die Möglichkeit eines<br />

solchen Verlusts. Das angebotene Glückssäckel dagegen erkennt er und weiß um seinen Wert.<br />

Aus diesem Grund überwindet er seine Furcht vor dem Grauen und geht auf den Handel ein.<br />

Der hastige Abschluss deutet darauf hin, dass er glaubt, den Grauen übervorteilt zu haben, eben<br />

weil er dessen ‚abnormale’ Ansichten über den Schatten nicht teilt.<br />

Direkt nach Schlemihls Einwilligung erfolgt der Bruch mit der Normrealität: Der Graue macht<br />

seine Ankündigung, Schlemihls Schatten an sich zu nehmen, wahr. „Er schlug ein, kniete dann<br />

ungesäumt vor mir nieder, und mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn<br />

meinen Schatten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise <strong>von</strong> dem Grase lösen, aufheben, zusam-<br />

menrollen und falten und zuletzt einstecken.“ (PS, S. 29) Der Schatten erscheint plötzlich als<br />

feste Materie, als eine Art folienartiges Objekt.<br />

Ab hier ist klar, dass in der Erzählung andere Gesetze in Bezug auf den Schatten gelten als in<br />

der Erfahrungswirklichkeit – und zwar nicht nur für den Grauen, wenn dieser auch der einzige<br />

zu sein scheint, der in der Lage ist, Schatten auf diese Weise zu erwerben und an sich zu<br />

nehmen.<br />

4.2.3.2 Phantastische Beschaffenheit<br />

Der spielerische Aspekt der Erzählung zeigt sich beim Ausbau des Schattenmotivs deutlicher<br />

als bei allen anderen phantastischen Elementen. Wilpert weist auf Briefzeugnisse hin, die die<br />

Idee zum „Peter Schlemihl“ auf ein Gespräch Chamissos mit Fouqué zurückführen, in dem die<br />

beiden Freunde über die Möglichkeit des Schattenverlusts scherzten. 181 Einer der früheren Titel,<br />

die Chamisso für seine Erzählung in Erwägung gezogen hat, trug den Untertitel „Als Beitrag<br />

181. Siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 29f.<br />

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zur Lehre vom Schlagschatten“ und im Vorwort der französischen Ausgabe <strong>von</strong> 1838, 25 Jahre<br />

später, spricht Chamisso <strong>von</strong> der „science de l’ombre“. Als eine Art „wissenschaftliche Schat-<br />

tenlehre“ wird das Motiv in der Erzählung nach vielerlei Richtungen ausgebaut. 182<br />

Dabei folgt die Phantastik fast immer einer inneren Logik. Die Beschaffenheit des Schattens als<br />

materielles, folienartiges Objekt ist Grundlage für abgeleitete Vorstellungen. Es bestimmt mög-<br />

liche Manipulationen, die am Schatten vorgenommen werden können. Da er materiell ist, unter-<br />

liegt er dem natürlichen Verschleiß, er läuft Gefahr zu „verschimmeln“ (PS, S. 52) oder <strong>von</strong><br />

Motten zerfressen zu werden (siehe PS, S. 67), er kann zerreißen und geflickt werden (PS, S.<br />

50). Da Menschen ihren Schatten verlieren können, ist auch ein Schatten ohne Besitzer denkbar<br />

(wie Schlemihl in der Vogelnest-Episode annimmt) oder eine Person mit mehreren Schatten<br />

(wie der Graue, der Schlemihls und seinen eigenen Schatten ‚trägt‘, siehe PS, S. 52f.). Der<br />

Schatten scheint zu aktivem Handeln fähig: Er kehrt zum Grauen zurück, als Schlemihl mit ihm<br />

fliehen will (siehe PS, S. 65). Sogar ein geringes Maß an Bewusstsein wird impliziert, wobei<br />

sich die Erzählung hier allerdings immer auf der Grenze zwischen metaphorischem Sprechen<br />

und phantastischer Wörtlichkeit bewegt. So glaubt Schlemihl, ein Schatten könne sich an ihn<br />

„gewöhnen“ (siehe PS, S. 55), er spricht da<strong>von</strong>, dass sein Schatten dem Grauen „gehorchen“<br />

müsse und zu einem „schnöden Dienst herabgewürdigt“ (PS, S. 53) würde. Die Behauptung des<br />

Grauen, einen Schatten ziehe es immer zu seinem Herrn (siehe PS, S. 67), suggeriert ebenfalls<br />

ein Bewusstsein des Schattens, jedoch scheint dies eine taktische Behauptung zu sein, da Schle-<br />

mihl, nachdem er das Glückssäckel losgeworden ist, <strong>von</strong> dem Grauen völlig in Ruhe gelassen<br />

wird und also offenbar das Säckel, nicht der Schatten, die Verbindung bewirkt hat.<br />

Im Verlauf der Erzählung erfährt der Leser immer mehr Eigenschaften des Schattens und er-<br />

staunlicherweise wird dieser Ausbau des Motivs <strong>von</strong> allen Figuren mitgetragen. Dies zeigt sich,<br />

wenn Schlemihl versucht, Ausreden für seine Schattenlosigkeit zu finden. Dem „berühmtesten<br />

Maler der Stadt“ (PS, S. 35) erzählt er, sein Schatten sei am Boden festgefroren, was eine mate-<br />

rielle Substanz des Schattens impliziert. Mehr noch, er bittet den Maler, ihm einen neuen Schat-<br />

ten zu malen, den er dann als Ersatz tragen will. Damit geht er über das hinaus, was durch die<br />

Handlungen des Grauen als phantastische Eigenschaften des Schattens eingeführt worden ist<br />

(folienhafte Beschaffenheit und Ablösbarkeit <strong>von</strong> seinem Besitzer). Der Maler zeigt jedoch kein<br />

Erstaunen, sondern erklärt mit größter Selbstverständlichkeit die ‚technischen Probleme‘ – der<br />

gemalte Schatten würde nicht an Schlemihl haften. Gegenüber dem Förster, Minas Vater, be-<br />

hauptet Schlemihl, jemand sei ihm auf den Schatten getreten und habe diesen zerrissen. Der<br />

Förster verlangt daraufhin, dass Schlemihl „binnen drei Tagen [...] mit einem wohlangepaßten<br />

Schatten“ (PS, S. 50) wiederkommen solle. Er akzeptiert offenbar die <strong>von</strong> Schlemihl implizierte<br />

Folienkonsistenz des Schattens und fügt darüber hinaus selbst noch die phantastische Vorstel-<br />

182. Siehe Wilpert: Der verlorene Schatten, v.a. S. 42-46.<br />

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lung <strong>von</strong> einem Schatten hinzu, der wie ein Kleidungsstück angepasst werden kann. Die dritte<br />

Ausrede bringt Schlemihl einem Bauern gegenüber vor, dem er erzählt, ihm seien „während ei-<br />

ner bösen langen Krankheit, Haare, Nägel und Schatten ausgegangen.“ (PS, S. 70) Damit ver-<br />

schiebt sich die phantastische Vorstellung vom Schatten: Er erscheint nun wie ein organischer<br />

Teil des Körpers, während er zuvor wie ein materielles Besitztum behandelt worden ist. Selbst<br />

unter diesen Umständen bezeugt der Bauer jedoch kein Erstaunen und akzeptiert die grundsätz-<br />

liche Plausibilität dieser Geschichte. Zwar hat Schlemihl in keinem Fall mit seinen Lügen den<br />

erwünschten Erfolg, nämlich die Leute dazu zu bringen, ihm seine Schattenlosigkeit nachzuse-<br />

hen, doch das liegt nicht an der offensichtlichen Phantastik seiner Erklärungen. Keiner der<br />

Angesprochenen, allesamt typische Vertreter der Normrealität, reagiert mit Zweifeln an Schle-<br />

mihls Verstand, wie dieser es gegenüber dem Grauen getan hat. Im Verlauf der Erzählung findet<br />

also eine Verschiebung des Realitätsmaßstabs statt, ohne das dies thematisiert würde.<br />

Auch Schlemihls eigenes Verhalten lässt dies erkennen. Nicht nur nimmt er hin, dass der Graue<br />

seinen Schatten einpackt, ohne an seinem Verstand zu zweifeln, er beginnt schon bald damit,<br />

wie oben gezeigt, die phantastischen Eigenschaften des Schattens zu extrapolieren und mit wei-<br />

teren Vorstellungen zu ergänzen, und dabei gelingt es ihm automatisch, nicht gegen die Rea-<br />

litätsvorstellungen der Gesellschaft zu verstoßen. Auch für Schlemihl ist die phantastische Be-<br />

schaffenheit des Schattens nun eine Selbstverständlichkeit. Dies wird aber nicht als Erkenntnis-<br />

und Lernprozess dargestellt, sondern geschieht stillschweigend – das Realitätssystem wird<br />

durchdrungen <strong>von</strong> der Phantastik des Schattens, einer Phantastik, die nie klar definiert wird wie<br />

die phantastischen Eigenschaften der Zaubergegenstände, sondern Stück für Stück zutage tritt,<br />

nur aus der Beobachtung erschließbar.<br />

4.2.3.3 Phantastische Bedeutung<br />

Dasselbe gilt für die (soziale) Bedeutung des Schattens. Wie der phantastischen Beschaffenheit<br />

mit ihren Vagheiten und niemals ausgesprochenen Prämissen liegt auch ihr ein stiller Konsens<br />

zugrunde und gerade dessen Undurchschaubarkeit ist entscheidend für die Erzählung.<br />

Sobald Schlemihl sich nach dem Schattenverkauf wieder unter Menschen begibt, muss er fest-<br />

stellen, dass die Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Schatten nicht der Erfahrungswirk-<br />

lichkeit entspricht, an der er sich in der Verkaufsszene orientiert hat. Als erstes erstaunt, wie<br />

schon Thomas Mann anmerkte, 183 dass das Fehlen des Schattens auch <strong>von</strong> flüchtigen Beobach-<br />

tern sofort bemerkt wird. Normalerweise schenkt man dem Schatten einer Person, zumal er je<br />

nach Beleuchtung nicht immer zu sehen ist, sehr geringe Beachtung und dass es hier nicht so<br />

ist, deutet bereits auf den grundsätzlich anderen Stellenwert hin, den der Schatten in der Erzäh-<br />

lung hat. Hinzu kommt, dass das Fehlen des Schattens nicht als unheimlich oder verwirrend<br />

183. Siehe Mann: Chamisso, S. 321.<br />

- 85 -


empfunden, also als Bruch mit der Normrealität wahrgenommen wird. Die Möglichkeit der<br />

Schattenlosigkeit erstaunt niemanden. Allerdings scheint es, für Schlemihl und den Leser glei-<br />

chermaßen unerwartet, gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass sie ein schwerer Mangel ist, so-<br />

dass der Schattenlose gesellschaftlich geächtet wird. Diese ungewöhnliche Haltung wird gerade<br />

<strong>von</strong> den Figuren vertreten, die als typische Vertreter der Normrealität fungieren, den generi-<br />

schen Alltagsmenschen, die die Verknüpfung zur Alltagswirklichkeit schaffen.<br />

Durch die Art der Reaktionen wird zudem impliziert, dass Schlemihl in seiner Schattenlosigkeit<br />

nicht einzigartig, sondern einer Gruppe <strong>von</strong> gesellschaftlich nicht akzeptablen Individuen zuzu-<br />

ordnen ist. Die Menschen scheinen eine bestimmte Vorstellung da<strong>von</strong> zu haben, wie Schatten-<br />

losen zu begegnen sei. Mina ist das Konzept der Schattenlosigkeit als persönlicher Makel offen-<br />

bar bekannt, sonst könnte sie nicht ausrufen: „O meine Ahnung, meine Ahnung! [...] ja, ich<br />

weiß es längst, er hat keinen Schatten!“ (PS, S. 49) Schattenlosigkeit ist damit skandalös, aber<br />

nicht einmalig.<br />

Es zeigt sich eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der Realitätsauffassung Schlemihls, der<br />

über diesen besonderen Wert des Schattens ebenso wenig Bescheid wusste wie der Leser, und<br />

dem Rest der Gesellschaft. Flores beschreibt die Situation folgendermaßen: „In his conspicuous<br />

impropriety, Schlemihl finds himself in a society which is privy to an assumption (appearing as<br />

superior insight) which is so well understood as to remain tacit.“ 184 In den Mittelpunkt der Dar-<br />

stellung rückt das soziale Problem, das sich daraus ergibt, dass Schlemihl mit einer Gesellschaft<br />

konfrontiert wird, deren Regeln er nicht hinreichend durchschaut. Es ist Flores zuzustimmen,<br />

der dies als eine Versinnbildlichung des Außenseitertums sieht. 185 Zusätzlich verwirrend an der<br />

Konstruktion ist, dass Schlemihl sich eigentlich in einer Gesellschaft bewegt, die ihm vertraut<br />

ist. Zwar kommt er zu Beginn der Erzählung wie aus dem Nirgendwo nach einer „Seefahrt“<br />

(PS, S. 23) im Hafen an, wobei seine Herkunft und Vergangenheit auffallend unklar bleiben.<br />

Andererseits zeigen die Briefe der Herausgeberfiktion und die Anknüpfungen daran innerhalb<br />

der Erzählung, dass Schlemihl keinesfalls ein Fremder in der Gesellschaft der Normrealität ist.<br />

Den plötzlichen ‚Absturz‘ erlebt er, indem er eine Regel übertritt, die erst durch die Übertretung<br />

selbst erkennbar wird.<br />

Im Verlauf der Erzählung ändert sich auch seine Einstellung zum Schatten. Er lernt die gesell-<br />

schaftliche Regel, „daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so<br />

viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde [...].“ (PS, S. 30) Zunächst reagiert<br />

er nur auf die Abweisung selbst, beginnt dann jedoch zunehmend, seine Schattenlosigkeit als<br />

Schuld zu internalisieren. Gegenüber Minas Vater zeigt sich das rationale Aufbegehren gegen<br />

eine sinnlos erscheinende Konvention, an deren Sinnlosigkeit er im Grunde schon nicht mehr<br />

ganz glaubt: „Ich hatte dergestalt alle Besinnung verloren, daß ich, wie irre redend, anfing: Es<br />

184. Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 571.<br />

185. Siehe Flores: The lost shadow of Peter Schlemihl, S. 570.<br />

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wäre doch am Ende ein Schatten, nichts als ein Schatten, man könne auch ohne das fertig wer-<br />

den, und es wäre nicht der Mühe wert, solchen Lärm da<strong>von</strong> zu erheben. Aber ich fühlte so sehr<br />

den Ungrund <strong>von</strong> dem, was ich sprach, daß ich <strong>von</strong> selbst aufhörte, ohne daß er mich einer Ant-<br />

wort gewürdigt.“ (PS, S. 49) Hier zeigt sich die Macht der gesellschaftlichen Konvention, die<br />

den Einzelnen in ihre Regeln zwingt, denen er nur entkommen kann, wenn er die Gesellschaft<br />

verlässt.<br />

Wofür der Schatten steht und was sein Verlust bedeutet, sind die Fragen, die in der Forschungs-<br />

literatur mit Abstand die größte Beachtung gefunden haben. Schon zu Chamissos Lebzeiten be-<br />

gannen die Spekulationen darüber und in seiner 1978 erschienenen Darstellung spricht Gero<br />

<strong>von</strong> Wilpert bereits <strong>von</strong> „über 50 sich teils überlappende[n] teils einander ausschließende[n]<br />

Deutungen“ 186 , zu denen in den letzten fast 30 Jahren noch einige hinzugekommen sind.<br />

Chamisso selbst reagierte im Vorwort zur französischen Ausgabe <strong>von</strong> 1838 auf das Drängen<br />

seiner Zeitgenossen nach einer Erklärung und lieferte, aus dem damals gebräuchlichen Physik-<br />

buch „Traité élémentaire de physique“ <strong>von</strong> Haüy zitierend, eine eigene Interpretation: Der<br />

Schatten sei ein Abbild <strong>von</strong> ‚le solide‘ – wörtlich: dem festen Körper. Die Lehre aus Schlemihl<br />

Geschichte sei folglich: „[S]ongez au solide“ 187 – „Denket an das Solide!“ 188 in der Übersetzung<br />

Hitzigs. Diese Erklärung ist, trotz ihres ironisch-scherzhaften Tons in der Folgezeit oftmals zu<br />

Auslegungsversuchen herangezogen worden und lieferte die Grundlage zu der Interpretation<br />

des Schattens als Sinnbild für bürgerliche Solidität, die Schlemihl fehle. Zu den bekanntesten<br />

Deutungen vor allem früher Interpreten gehört daneben die vom Schatten als Allegorie für das<br />

Vaterland, biographisch begründet durch Chamissos Situation als Franzose in Deutschland, der<br />

sich beiden Ländern nicht vollständig zugehörig fühlte. Des weiteren wurden im Schatten u.a.<br />

Ehre, soziale Fähigkeiten und Beziehungen aber auch eigene Identität gesehen. Wilpert stellt<br />

fest, dass „die Deutungsgeschichte des Schattens starke Affinität zur Geistesgeschichte auf-<br />

weist, indem die Werte, die für den Schatten eingesetzt werden, sich stets mit den Werthaltun-<br />

gen der jeweiligen Gesellschaft berühren, so daß ihre chronologische Abfolge – mit individuel-<br />

len Abweichungen – die Spitzenskala der Wertbegriffe innerhalb der Gesellschaft zu jedem<br />

beliebigen Zeitpunkt widerspiegelt.“ 189 Wie <strong>von</strong> Wilpert und mehreren anderen Interpreten fest-<br />

gestellt wurde, ist es nicht befriedigend möglich, dem Schatten eine eindeutige ‚Übersetzung‘<br />

zuzuordnen. Seine Bedeutung liegt vielmehr nicht in ihm selbst, sondern in der Konstruktion,<br />

die um das Motiv herum aufgebaut wird. Wilpert sieht im Schatten einen Scheinwert der bür-<br />

gerlichen Gesellschaft, der nur in der Konvention existiert. Um welchen Wert es sich dabei ge-<br />

186. Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 32.<br />

187. Chamisso: Sämtliche Werke in 2 Bänden (Bd. 2), S. 703.<br />

188. Hitzig: Vorrede des Herausgebers, S. VI.<br />

189. Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 32. Für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Interpretationsansätze<br />

siehe z.B. Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 30-42 und Walach: Erläuterungen<br />

und Dokumente, S. 221-239.<br />

- 87 -


nau handelt, ist irrelevant. Entscheidend ist vielmehr, dass die Erzählung vorführt, wie ein<br />

Mensch mit einer solchen Konvention umgeht. Den Schatten als „soziale Bindungen“ zu inter-<br />

pretieren, ist nur ein Ausweichen, denn dies ist eigentlich keine Bedeutung des Motivs selbst,<br />

sondern beschreibt nur, was sein Verlust bewirkt. Das phantastische Motiv ist also gerade nicht<br />

metaphorisch aufzulösen. Durch seine Verwendung wird eine phantastische Stimmung ausge-<br />

löst, in der Regeln der Normrealität nicht mehr gelten und das Gefüge, in dem der Mensch sich<br />

bewegt, brüchig und undurchschaubar wird. Auch hier steht nicht der Zusammenprall <strong>von</strong><br />

Wirklichkeitssystemen im Mittelpunkt, der Schlemihl an seinem Verstand zweifeln ließe, son-<br />

dern der Zusammenprall <strong>von</strong> stillschweigenden Annahmen über die Welt, die Erfahrung, dass<br />

die eigenen Annahmen nicht mit denen der Gesellschaft übereinstimmen. Schlemihls letzter Rat<br />

an Chamisso, dem er seine Lebensgeschichte als ein Exempel erzählt, lautet: „Du aber, mein<br />

Freund, willst Du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann<br />

das Geld. Willst Du nur Dir und Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst du keinen Rat.“<br />

(PS, S. 79) Dieses Ende vermittelt eine resignative Einsicht – nicht unbedingt die Aufforderung,<br />

sich <strong>von</strong> der Gesellschaft abzuwenden, aber die Gewissheit, dass Scheinwerte und Materialis-<br />

mus notwendig sind, um in ihr zu bestehen, und dass ein Leben nur nach dem ‚bessern Selbst‘<br />

keinen Erfolg in der Gesellschaft garantiert.<br />

- 88 -


5 Vergleich<br />

Im Folgenden werden die beiden Erzählungen in Hinblick auf Status und Bedeutung ihrer phan-<br />

tastischen Elemente verglichen.<br />

Die ersten beiden Abschnitte beschäftigen sich mit der Wirklichkeitsstruktur der Erzählungen,<br />

der Präsenz der phantastischen Elemente und deren Natur.<br />

Im dritten und vierten Abschnitt wird das jeweilige Verhältnis der phantastischen Elemente zur<br />

Komik und zur Transzendenz verglichen, zwei Aspekten, zu denen sie in natürlicher Verbin-<br />

dung stehen.<br />

Der fünfte Abschnitt liefert eine abschließende Betrachtung der Erzählungen und der Gesamt-<br />

wirkung ihrer phantastischen Elemente.<br />

5.1 Wirklichkeitsstruktur und Erzählweise<br />

Das Phantastische wirkt nur vor einem Hintergrund, <strong>von</strong> dem es sich abheben kann, und vor al-<br />

lem das Verhältnis zur außerliterarischen Erfahrungsrealität ist hier entscheidend. Darum soll<br />

zunächst die Realitätsstruktur der beiden Erzählungen verglichen werden.<br />

Im „Peter Schlemihl“ liegt eine ziemlich klare Wirklichkeitsstruktur vor, die man klassisch für<br />

eine phantastische Erzählung nennen könnte. Es gibt eine Normrealität, die der Erfahrungsrea-<br />

lität nachgebildet ist. In dieser treten einige übernatürliche Elemente auf, die sich deutlich abhe-<br />

ben und im Fall der Zaubergegenstände auch sehr klar definierte Eigenschaften haben. Eine<br />

Ausnahme bildet das Schattenmotiv, dessen Phantastik weniger klar begrenzt ist und unge-<br />

wöhnlicherweise vor allem <strong>von</strong> den Vertretern der Normrealität getragen wird.<br />

Die Erzählweise ist gradlinig, abgesehen <strong>von</strong> einigen Vorausdeutungen und Reflexionen des er-<br />

zählenden Ich, die Bezüge zur Herausgeberfiktion herstellen. Die verwendete Ich-Perspektive<br />

ist typisch für Erzählungen, die phantastisch im minimalistischen Sinne sind, denn sie ist durch<br />

ihre Subjektivität weniger verlässlich und lässt mehr Raum zur Unschlüssigkeit über den Rea-<br />

litätsstatus des Dargestellten. 190 Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass Peter Schlemihl<br />

als unzuverlässiger Erzähler konzipiert ist, der etwa geisteskrank oder verwirrt sein könnte. Die<br />

Glaubwürdigkeit seiner Geschichte wird in keiner Weise in Frage gestellt oder auch nur thema-<br />

tisiert und sie erhält ihre indirekte Beglaubigung über den Rahmen der Herausgeberfiktion, in<br />

der Schlemihl mit all seinen aus der Erzählung bekannten Attributen in der ‚realen‘ Welt <strong>von</strong><br />

Chamisso und seinen Freunden auftritt. Die Ich-Perspektive bewirkt also in diesem Falle keine<br />

Infragestellung des Übernatürlichen, ist aber dennoch besonders gut dazu geeignet, die Irritation<br />

darzustellen, die es auslöst.<br />

Schlemihls Sicht der Wirklichkeit scheint zumindest am Anfang der Erzählung genau der<br />

außerliterarischen Erfahrungsrealität zu entsprechen. Darum löst das erste übernatürliche Ge-<br />

190. Siehe Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 75.<br />

- 89 -


schehen, die Handlungen des Grauen auf der Gartengesellschaft, bei ihm auch eine phantasti-<br />

sche Irritation im Todorov‘schen Sinne aus, die darin besteht, dass er unfähig ist, das Beobach-<br />

tete mit seiner Vorstellung <strong>von</strong> Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Auch seine Bewertung des<br />

Schattens entspricht zu Anfang ganz der außerliterarischen Norm, was überhaupt der Grund da-<br />

für ist, dass er sich auf den verhängnisvollen Handel einlässt. Als mit dem Auftritt des Grauen<br />

phantastische Elemente Teil der Erzählung werden, ist Schlemihl allerdings ohne jegliche<br />

Auflehnung bereit, diese als gegeben zu akzeptieren. Insbesondere die Zaubergegenstände wer-<br />

den sofort als wirklichkeitskonform hingenommen. Hier macht sich Chamisso den Bekannt-<br />

heitsgrad dieser Motive zunutze, um sie quasi über das Allgemeinwissen des Lesers fast ohne<br />

Irritation in die Welt seiner Erzählung zu integrieren. Um phantastische Elemente handelt es<br />

sich trotzdem, denn sie sind kein selbstverständlicher Bestandteil der Normrealität, sondern<br />

werden als Besonderheit präsentiert.<br />

Insgesamt stehen in der Erzählung nicht die psychische Verstörung durch die Konfrontation mit<br />

dem Übernatürlichen als solchem und die Erschütterung eines Weltbildes im Vordergrund, son-<br />

dern die Auseinandersetzung damit, was die phantastischen Elemente – insbesondere die phan-<br />

tastische Bewertung des Schattens, aber auch die Benutzung <strong>von</strong> Glückssäckel und Siebenmei-<br />

lenstiefeln – für Folgen in der Welt der Erzählung haben. Die Elemente fügen sich in die<br />

Normrealität ein, indem sie Teile der ‚realistischen‘ Wirklichkeit zur Bemäntelung verwenden.<br />

Der Graue tarnt sich als Geschäftsmann und ‚Physikus‘, die Zaubergegenstände erscheinen wie<br />

wertvolle Dinge mit besonderen Funktionen, die mit der Logik der Wissenschaft untersucht<br />

werden können. Der Ton der Erzählung bleibt durchgehend novellistisch und erinnert bereits an<br />

den Stil des Realismus.<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ hat eine kompliziertere Wirklichkeitsstruktur, da dort mehrere Ebenen<br />

der Abweichung <strong>von</strong> der Erfahrungsrealität vorliegen. Neben der historischen Folie, die die<br />

Welt Karls V. nachbildet, gibt es die legendenhaft-poetische Ebene <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> und den Zigeu-<br />

nern. Kontakt, Verflechtung und letztendliches Auseinanderstreben dieser beiden Ebenen ist das<br />

Hauptthema der Erzählung, doch gleichzeitig bilden sie gemeinsam die Normrealität, <strong>von</strong> der<br />

sich die phantastischen Elemente abheben. Zusätzliche Komplexität gewinnt die Struktur da-<br />

durch, dass auch Momente des Todorov‘schen Phantastischen (aufgelöst hin zum Unheimli-<br />

chen) auftreten, die jedoch gerade nicht mit tatsächlich übernatürlichen Elementen in Beziehung<br />

stehen.<br />

Die Verankerung in der außerliterarischen Realität ist expliziter als in „Peter Schlemihl“, wo die<br />

Normrealität eher generisch wirkt und eine exemplarische Komponente hat, denn die Anknüp-<br />

fung an eine bestimmte historische Epoche ist für die Aussage <strong>von</strong> „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ent-<br />

scheidend. Durch die Einbindung der <strong>Isabella</strong>-Ebene, auf der die Handlung auch beginnt,<br />

herrscht in der Erzählung jedoch trotzdem <strong>von</strong> vornherein eine <strong>von</strong> der Erfahrungsrealität abge-<br />

hobene Stimmung, sodass die eingebetteten phantastischen Elemente weniger mit der Normrea-<br />

- 90 -


lität kontrastieren. Deren Akzeptanz ist ebenso hoch wie in „Peter Schlemihl“ und sie haben<br />

auch etwa den gleichen Status: Sie wirken in der Normrealität ungewöhnlich, bewirken jedoch<br />

keine Erschütterung des Realitätsgefüges. Wie Chamisso macht sich Arnim die Bekanntheit der<br />

aus der volkstümlichen Überlieferung übernommenen Motive für eine selbstverständliche Ein-<br />

gliederung zunutze.<br />

Die Erzählhaltung in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ist auktorial. Dies passt zu Arnims Absicht, Aus-<br />

sagen über den Weltzustand an sich zu machen, und ist ein deutlicher Gegensatz zur subjekti-<br />

ven Form der privaten Lebensbeichte, die Chamisso wählt. Die auktoriale Erzählhaltung wirkt<br />

als Beglaubigung des Erzählten und unterstützt so die selbstverständliche Eingliederung überna-<br />

türlicher Elemente.<br />

Der Handlungsverlauf in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ist zwar im Wesentlichen chronologisch, an-<br />

ders als in „Peter Schlemihl“ gibt es jedoch mehrere Handlungsstränge, abrupte Schauplatz-<br />

wechsel und mehr eingeschobene Reflexionen und Kommentare des Erzählers. Noch mehr Un-<br />

ruhe in den Erzählablauf bringen die typisch romantische Integration <strong>von</strong> Liedern und<br />

Gedichten und die Einbindung der Binnenerzählung vom Bärnhäuter. Im Gegensatz zu Chamis-<br />

sos meist ruhiger und gradliniger Erzählweise wirkt Arnims überbordend und manchmal<br />

sprunghaft. Sie trägt Züge des mündlichen Erzählens, worauf sogar in der Rahmenhandlung der<br />

Novellensammlung angespielt wird. Dort heißt es, die Erzählung werde <strong>von</strong> einem Manuskript<br />

abgelesen, aber der Erzähler betont, dass er „sie viel lieber ganz <strong>von</strong> frischem noch einmal er-<br />

zählt hätte.“ 191 Gerade diese Erzählweise, die starkes Gewicht auf die Ausmalung <strong>von</strong> Einzel-<br />

szenen legt, trägt aber auch zur Verbindung der disparaten Erzählelemente und zur Integration<br />

der phantastischen und legendenhaften Züge bei. Neumann führt aus: „Das Wahrscheinlich-<br />

keitsempfinden des Lesers korrigiert sich fortlaufend in den Stationen der Erzählung. Das Ein-<br />

zelgewicht der vorgetragenen Episode ist so groß, daß sie scheinbar mühelos jene Motivierun-<br />

gen vergessen macht, welche ihre Wahrscheinlichkeit eigentlich ausschließen. [...] Im Erzählen<br />

erst konstituiert sich die poetische Welt.“ 192 Der Leser wird mitgerissen in eine Welt, deren ge-<br />

samte Darstellung sich im Grunde einer getrennten Betrachtung der realistischen, poetischen<br />

und übernatürlichen Elemente widersetzt, die bei „Peter Schlemihl“ relativ problemlos möglich<br />

ist.<br />

5.2 Natur und Präsenz der phantastischen Elemente<br />

In „Peter Schlemihl“ gibt es etwa die gleiche Anzahl <strong>von</strong> phantastischen Elementen wie in<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“. Von ihrer Natur her sind sie jedoch unterschiedlich und haben darum<br />

auch verschiedenes Gewicht.<br />

In „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ sind die drei phantastischen Figuren, der Alraun, der Bärnhäuter und<br />

191. Arnim, Werke in 6 Bänden (Bd. 3), S. 621.<br />

192. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 301.<br />

- 91 -


der Golem, zentral. Zwar tauchen auch Zaubergegenstände auf, wie etwa die Spring- und<br />

Sprechwurzel und der Zauberspiegel, doch diese spielen eine untergeordnete Rolle und dienen<br />

als Hilfsmittel bei der Erschaffung und Entwicklung der phantastischen Figuren.<br />

Im Gegensatz dazu stehen in „Peter Schlemihl“ die Objekte mit phantastischen Eigenschaften,<br />

die Zaubergegenstände, mehr im Vordergrund. Es gibt dort nur eine phantastische Figur, den<br />

Grauen, aber vier Zaubergegenstände, die Teil der Handlung sind, und <strong>von</strong> denen vor allem das<br />

Glückssäckel und die Siebenmeilenstiefel eine wichtige Rolle spielen.<br />

Die Konzentration auf Objekte statt auf Figuren beeinflusst die Qualität der dargestellten Phan-<br />

tastik. Objekte sind, gerade wenn sie in ihren Eigenschaften so genau beschrieben sind wie in<br />

„Peter Schlemihl“, beherrschbarer – ihre Phantastik zeigt sich nur in der Benutzung und kann<br />

damit vom Besitzer in gewissem Maße kontrolliert werden. Eine Figur hingegen kann aktiv<br />

handeln und mit den Protagonisten aus der Normrealität in direkten Austausch treten. Die Ver-<br />

wendung <strong>von</strong> Figuren statt Gegenständen bringt die phantastische Komponente damit auf eine<br />

offensivere und unkontrolliertere Weise in die Normrealität ein.<br />

Das Schattenmotiv in „Peter Schlemihl“ ist als phantastisches Element weniger klar abgegrenzt<br />

als die Figuren und Gegenstände und durchzieht die gesamte Erzählung. Von seiner Natur her<br />

steht es <strong>Isabella</strong>s poetischem Wesen näher, da es, zumindest im entscheidenden Aspekt der Be-<br />

deutung des Schattens, vor allem eine abweichende Sichtweise auf die Wirklichkeit darstellt.<br />

Anders als die <strong>Isabella</strong>-Ebene bei Arnim dient es aber nicht dazu, die gesamte Erzählung der<br />

Erfahrungswirklichkeit zu entrücken, sondern bleibt eine ständige Irritation in der Normrealität<br />

und damit eindeutig ein phantastisches Element.<br />

In „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ tritt das erste phantastische Wesen, der Alraun, nach dem ersten<br />

Viertel der Erzählung auf, als bereits ein signifikanter Teil der Handlung, die erste Begegnung<br />

<strong>von</strong> <strong>Isabella</strong> und Karl, vorbei ist. Bis zu seiner ‚Dämonisierung‘, die in den Abspann der Erzäh-<br />

lung fällt, spielt er in zahlreichen Szenen eine Rolle und ist <strong>von</strong> den phantastischen Figuren ein-<br />

deutig die aktivste, der auch die meiste Aufmerksamkeit zuteil wird.<br />

Der Bärnhäuter tritt in Erscheinung, nachdem der Alraun seine Entwicklung abgeschlossen hat,<br />

und bleibt Teil der Erzählung bis zur Prozesssequenz, der vorletzten Episode der Haupthand-<br />

lung. Auch er ist in häufig präsent, bleibt aber meist im Hintergrund, wie es seiner Dienerrolle<br />

entspricht. Seine Funktion ist eher die Verstärkung der phantastischen Grundstimmung durch<br />

seine bloße Anwesenheit; außerdem fungiert er als Kommentarfigur.<br />

Der Golem wird erst in der Hälfte der Erzählung erschaffen und seine Vernichtung markiert den<br />

Höhepunkt der Haupthandlung. Die beiden noch folgenden Sequenzen, der Prozess und Isabel-<br />

las Flucht, gehören bereits zum Schlussteil der Haupthandlung. Die Präsenz des Golems als<br />

Lehmhaufen erstreckt sich noch bis in den Abspann und endet zeitgleich mit der Dämonisie-<br />

rung des Alrauns. Es fällt auf, dass damit in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ Anfang und Ende der Er-<br />

zählung ganz frei <strong>von</strong> verkörperter Phantastik sind.<br />

- 92 -


Alle drei Figuren treten durch menschliche Initiative in die Erzählung ein. Alraun und Golem<br />

werden explizit erschaffen, der Bärnhäuter scheint aus Brakas Geschichte hervorzutreten. Da-<br />

durch wird deutlich, dass es die Menschen sind, die dieser Art <strong>von</strong> phantastischen Wesen zu ei-<br />

ner Existenz verhelfen. Alle Figuren verlassen die Erzählung jedoch auch wieder – zumindest in<br />

ihrer körperlichen Form. Mit dem Körper verlieren Golem und Alraun jedoch nicht ihre Macht.<br />

Insbesondere im Falle des Alrauns wird die körperlose Form nicht umsonst die ‚dämonisierte‘<br />

genannt, denn sie ist die gefährlichere. Er wird mit seiner körperlichen Vernichtung zu einem<br />

Prinzip – der Essenz seiner negativen Eigenschaften –, das <strong>von</strong> Karl Besitz ergreift und wesent-<br />

lich schwerer zu kontrollieren ist als in seiner Form als kleiner Wurzelmann. Der Bärnhäuter<br />

bewahrt als einzige Figur seine Körperlichkeit. Wie der Erzähler impliziert, tritt er als phantasti-<br />

sche, ruhelose Figur aus der Erzählung hinaus und bleibt bis in die Gegenwart bestehen. Da-<br />

durch wird die Existenz des Phantastischen in der außerliterarischen Wirklichkeit suggeriert.<br />

In „Peter Schlemihl“ ist die einzige phantastische Figur, der Graue, weniger durchgängig prä-<br />

sent als die Figuren aus „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“. Er hat seinen Auftritt allerdings dafür schon in<br />

der ersten ausgebauten Szene in Kapitel 1 und initiiert die Haupthandlung. In Kapitel 2 tritt er<br />

nicht direkt auf, erscheint aber in Bendels Bericht. Dann folgt eine ganze Sequenz, Kapitel 3<br />

und 4, in der er abwesend ist. In den Kapiteln 5-8 kehrt er zurück und dominiert die Handlung<br />

sehr stark bis zu seiner Vertreibung durch Schlemihl. In den letzten drei Kapiteln, dem Schluss-<br />

teil, fehlt er.<br />

Das Glückssäckel erhält Schlemihl in Kapitel 1 und es spielt eine durchgängige Rolle bis zu<br />

Kapitel 8, wo er es fortwirft. Für den Rest der Erzählung wird es fast nahtlos durch einen neuen<br />

Zaubergegenstand, die Siebenmeilenstiefel, ersetzt. So ist, abgesehen vom Anfang, immer ein<br />

phantastischer Gegenstand in der Erzählung präsent und bleibt auch über das Ende der Erzäh-<br />

lung hinaus in Schlemihls Besitz. Was die relative Dauer der Präsenz der phantastischen Ele-<br />

mente angeht, übertrifft „Peter Schlemihl“ also „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ sogar. Allerdings tritt<br />

die phantastische Natur des Glückssäckels rasch in den Hintergrund. Dies führt dazu, dass wäh-<br />

rend der Phase der Abwesenheit des Grauen, in die Schlemihls Beziehung zu Mina fällt, die<br />

phantastischen Voraussetzungen der Erzählung beinahe in Vergessenheit geraten.<br />

Im Gegensatz zu „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ werden die phantastischen Elemente in „Peter Schle-<br />

mihl“ nicht in der Erzählung erschaffen, sondern <strong>von</strong> außen in die Normrealität hineingetragen.<br />

Dies geschieht, außer bei den Siebenmeilenstiefeln, immer durch den Grauen, der selbst eben-<br />

falls einer Domäne außerhalb der dargestellten Welt anzugehören scheint. Er verschwindet zwar<br />

aus Peter Schlemihls Blickfeld und damit aus der Erzählung, seine Existenz dauert jedoch un-<br />

verändert fort. Auch die Zaubergegenstände verlieren ihre phantastischen Eigenschaften nicht,<br />

die Siebenmeilenstiefel sind sogar über das Ende der Erzählung hinaus in Gebrauch und ermög-<br />

lichen dem Protagonisten eine phantastische Existenz. Damit erscheint das Phantastische in ver-<br />

körperter Form stabiler und dauerhafter als in Arnims Werk und weniger dem Einfluss des<br />

- 93 -


Menschen unterworfen.<br />

5.3 Verhältnis der phantastischen Elemente zur Komik<br />

Beiden Texten ist ein Schwanken zwischen Tragik und Komik gemeinsam, ein Aspekt, der sich<br />

auch mit der Verwendung phantastischer Elemente in Beziehung setzen lässt. Phantastische<br />

Elemente sind, wie eingangs ausgeführt, dadurch definiert, dass sie mit der Normrealität in<br />

Konflikt stehen, sie verstoßen gegen bekannte Gesetze und damit gegen die Erwartungen des<br />

Lesers. Wie die zahlreichen Schauer- und Horrorgeschichten beweisen, die üblicherweise dem<br />

Genre der Phantastik zugeordnet werden, 193 kann dies zu einer tiefgreifenden Verstörung füh-<br />

ren. Andererseits kann der Verstoß gegen die Erwartung aber auch Komik bewirken – viele<br />

Witze funktionieren nach diesem Prinzip. Phantastische Elemente tragen also das Potential zur<br />

Komik in sich, wenn sie entsprechend präsentiert werden.<br />

Um Komik mit ihren phantastischen Elementen zu provozieren, gehen die beiden Autoren teil-<br />

weise recht ähnlich vor.<br />

Sowohl bei Arnim als auch bei Chamisso geht das Wortspiel mit der Phantastik eine Verbin-<br />

dung ein. Bei Arnim zeigt sich dies an der Episode mit der Spring- und der Sprechwurzel:<br />

„Kaum hatte das Männlein [i.e. der Alraun] eine Springwurzel genossen, so fing es an so lächer-<br />

lich über Tisch und Stuhl, kopfüber, kopfunten zu springen, daß Bella in Angst die Augen weg-<br />

wenden mußte [...].“ (IÄ, S. 646) Die Wurzel ist ein Zaubergegenstand, der zum Arsenal der be-<br />

kannten Sagenmotive gehört und sogar kurz vorher im Text in seiner ‚klassischen‘ Verwen-<br />

dung, dem Aufsprengen <strong>von</strong> Türen, erwähnt worden (siehe IÄ, S. 635). Hier wird ihr jetzt je-<br />

doch eine andere phantastische Eigenschaft entsprechend ihrem Namen zugeschrieben. Analog<br />

erschafft Arnim dann die ‚Sprechwurzel‘. „Als er [i.e. der Alraun] diese ekelhafte Wurzel gierig<br />

genossen, [...] so waren die ersten Worte des Männleins ein spottendes Wiederholen ihrer [i.e.<br />

<strong>Isabella</strong>s] Lehren.“ (IÄ, S. 646)<br />

Ähnlich verfährt Chamisso, als er die ‚Hemmschuhe‘ einführt, die die Geschwindigkeit der Sie-<br />

benmeilenstiefel abbremsen: „Zuvörderst Hemmschuhe, denn ich hatte erfahren, wie unbequem<br />

es sei, seinen Schritt nicht anders verkürzen zu können, [...] als indem man die Stiefel auszieht.<br />

Ein Paar Pantoffeln, übergezogen, hatten völlig die Wirkung, die ich mir da<strong>von</strong> versprach [...].“<br />

(PS, S. 74) Die Bezeichnung ‚Hemmschuh‘ wird wörtlich genommen und auf tatsächliches<br />

Schuhwerk, die Pantoffeln, übertragen, die den Lauf bremsen und damit im phantastischen<br />

Kontext genau die Funktion <strong>von</strong> Hemmschuhen erfüllen. Beide Autoren zeigen eine Tendenz,<br />

die wörtliche Bedeutung Wirklichkeit werden zu lassen, nach Durst ein typisches Kennzeichen<br />

des Wunderbaren: „Das Wunderbare macht das Eigentliche der uneigentlichen Sprechweise zur<br />

193. Siehe z.B. die Auswahl der Texte in Freund: Deutsche Phantastik oder die Beispiele bei Todorov:<br />

Einführung in die fantastische Literatur.<br />

- 94 -


Realität, die Tropik wird zur Handlung.“ 194<br />

Die meisten humoristischen Effekte in beiden Werken werden durch die Kombination inkon-<br />

gruenter Elemente beim Ausbau der phantastischen Motive erzielt. Es werden verschiedene<br />

Bereiche in Beziehung gesetzt, die zwar genug Ähnlichkeiten haben, um sie zu verknüpfen, die<br />

aber gleichzeitig so unterschiedlich sind, dass es verblüffend und komisch wirkt, wenn sie<br />

plötzlich als eins gesehen werden.<br />

So sagt etwa der aus dem Grabe erstandene Bärnhäuter: „[W]as den Körper anbetrifft, es sind<br />

bloß ein paar Verknöcherungen in den Adern gewesen, woran ich gestorben, die putz ich mit ei-<br />

nem scharfen Messer leicht weg [...].“ (IÄ, S. 657) Der Körper des Untoten wird wie eine Ma-<br />

schine behandelt, die ‚in Stand gesetzt‘ werden kann, das Vergleichsglied sind die verstopften<br />

Adern/Röhren. An anderer Stelle erinnert sich der Alraun an die Bekanntschaft mit einer Meer-<br />

rettichpflanze: „[D]ie tat sich immer viel darauf zu gute, daß sie Blasen ziehen könnte und daß<br />

die Augen bei ihr übergingen, das nannte sie ihre tragische Wirkung.“ (IÄ, S. 658) Hier wird<br />

die Pflanze vermenschlicht und die körperliche Reaktion auf sie umgedeutet zur emotionalen<br />

Reaktion: Weinen wegen der Schärfe des Meerrettichs wird zum Weinen aus Rührung.<br />

Der Humor in „Peter Schlemihl“ basiert fast ausschließlich auf solchen Mechanismen, was<br />

besonders beim Schattenmotiv auffällt, das ständig mit weiteren Übertragungen aus inkongru-<br />

enten Realitätsbereichen ausgebaut wird. Als Beispiel soll eine der bildhaften Ausreden Schle-<br />

mihls dienen, die das Erscheinungsbild des Schattens als zartes Stück Stoff zur Grundlage hat:<br />

„Es trat mir dereinst ein ungeschlachter Mann so flämisch in meinen Schatten, daß er ein großes<br />

Loch darein riß – ich habe ihn nur zum Ausbessern gegeben [...].“ (PS, S. 50) Auf diese Weise<br />

entwickelt Chamisso eine ganze humoristische „Lehre vom Schlagschatten“. 195 Komisch wirkt<br />

auch die für die Aussage zentrale Übertragung <strong>von</strong> Geschäftsdenken auf einen so übernatürli-<br />

chen Akt wie den Seelenhandel. Der Vertrag des Grauen lautet in bestem Amtsdeutsch: „Kraft<br />

dieser meiner Unterschrift vermache ich dem Inhaber dieses meine Seele nach ihrer natürlichen<br />

Trennung <strong>von</strong> meinem Leibe.“ (PS, S. 51)<br />

Was die Komik in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ jedoch <strong>von</strong> der in „Peter Schlemihl“ unterscheidet,<br />

sind die grotesken Züge. Kari E. Lokke zeigt auf Basis <strong>von</strong> Michail Bachtins Grotesketheorie<br />

in dem Werk Züge der ursprünglichen Groteske des mittelalterlichen Karnevals auf. 196 In deren<br />

Zentrum stehen das Leben und die Körperlichkeit, menschliche Schwächen werden enthüllt und<br />

gleichzeitig gefeiert. Sie zeichnet sich durch ein Gefühl der Gemeinsamkeit aus, in der Werden<br />

194. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 311. Dass Durst hier vom ‚Wunderbaren‘ statt vom<br />

‚Phantastischen‘ spricht, liegt an der minimalistischen Phantastikdefinition, <strong>von</strong> der er ausgeht.<br />

Seine Beobachtung ist jedoch sehr treffend für die hier behandelten Elemente (für genauere Ausführungen<br />

siehe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 304-312).<br />

195. Siehe Wilpert, S. 43.<br />

196. Siehe Lokke: Achim <strong>von</strong> Arnim and the romantic grotesque, S. 24f.<br />

- 95 -


und Vergehen gleichermaßen aufgehoben und die Regeln der Ständegesellschaft außer Kraft<br />

gesetzt sind. Dass Arnim auf diese Art <strong>von</strong> Groteske Bezug nimmt, zeigt sich schon daran, dass<br />

die Schranken überschreitende Begegnung des Erzherzogs mit der Zigeunerprinzessin ausge-<br />

rechnet während einer Kirmes stattfindet, deren buntes, karnevalistisches Treiben ausführlich<br />

geschildert wird. Derb-komische Szenen, die nicht mit Anspielungen auf Sexualität und Kör-<br />

perfunktionen sparen, durchziehen die gesamte Erzählung. 197 Groteske Figuren sind auch die<br />

beiden alten Frauen, Braka und Frau Nietken, in ihrer Lebensfreude, die sich in Trinken und<br />

Tanzen, lautem Fluchen und Lachen äußert. 198 Trotz ihrer fragwürdigen Moral ist Braka nicht<br />

als grundsätzlich negative Figur gezeichnet, ebenso wenig wie ihre „Diebsschwester“ (IÄ, S.<br />

660) Nietken. Das Karnevalistisch-Groteske ist für Arnim positiv besetzt als Ausdruck eines<br />

unmittelbaren und volkstümlichen Lebensgefühls. „Mir gefällt auch das Freieste, auch das Bür-<br />

leskeste“ 199 , bekennt er im Zusammenhang mit seinen Sammlungen <strong>von</strong> Volksdichtung für<br />

„Des Knaben Wunderhorn“. In diesem Zusammenhang ist es bedeutungsvoll, dass gerade auch<br />

seine phantastischen Figuren durch ihre engen Verbindungen zum Vegetativen, Tier- und Pflan-<br />

zenhaften, Ausprägungen der Groteske sind, für die Vermischungen <strong>von</strong> Tier und Mensch oder<br />

Pflanze und Mensch typisch sind. 200 Gerade der Alraun steht im Zentrum vieler grotesk-<br />

burlesker Szenen und gewinnt als komische Figur sogar Sympathien.<br />

Allerdings ist das Groteske bei Arnim ambivalent. Nach Bachtins Grotesketheorie führt die Ent-<br />

wicklung der bürgerlichen Kultur und deren Fixierung auf das Individuum zu einer Umwertung<br />

des Grotesken, die gerade in der Epoche der Romantik spürbar wird. 201 Die Erfahrung des Gro-<br />

tesken wird ins Individuum verlagert und wandelt sich <strong>von</strong> der lebensbejahenden Karnevalskul-<br />

tur zum Ausdruck <strong>von</strong> Entfremdung und Isolierung. Dies kommt dem Lebensgefühl sehr nahe,<br />

das mit moderner Phantastik assoziiert wird, für die Angst und Verstörung angesichts einer<br />

nicht mehr durchschaubaren Welt ja sogar als Gattungsmerkmal vorgeschlagen wurden. 202 Als<br />

Verzerrungen der Wirklichkeit sind Groteske und Phantastik eng verwandt. Für Arnim ist eine<br />

vollkommen naive Wiederbelebung der volkstümlichen Groteske nicht mehr möglich. Wenn<br />

auch etwas <strong>von</strong> der positiv konnotierten karnevalistischen Groteske auf die phantastischen Fi-<br />

guren abfärbt und sie weniger erschreckend erscheinen lässt, so tragen sie dennoch das verstö-<br />

rende Moment bereits in sich.<br />

Zudem wird deutlich, dass Arnim die in <strong>Isabella</strong> verkörperte Moral und ernsthafte Religiosität<br />

letztlich höher stellt als Komik und respektlose Vitalität. Strack stellt fest: „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> Ägyp-<br />

197. Gerade Körperfunktionen sind nach Bachtin zentral für das Groteske (siehe Bachtin: Literatur und<br />

Karneval, S. 17).<br />

198. Für eine detaillierte Darstellung <strong>von</strong> Brakas grotesken Zügen siehe Kugler: Kunst-Zigeuner, S.<br />

147-152.<br />

199. Brief <strong>von</strong> Achim <strong>von</strong> Arnim an Dr. Hinze vom 4. 4. 1806; zit. n. Steig (Hg.): Achim <strong>von</strong> Arnim und<br />

Clemens Brentano, S. 169.<br />

200. siehe Bachtin: Literatur und Karneval, S. 15 und Haaser/Oesterle: Grotesk, Sp. 745.<br />

201. Siehe Lokke: Achim <strong>von</strong> Arnim and the romantic grotesque, S. 25.<br />

202. Z.B. <strong>von</strong> Caillois; siehe Gustafsson: Über das Phantastische in der Literatur, S. 16f.<br />

- 96 -


ten hätte durchaus ein ‚Lustspiel‘ werden können – wie Jacob Grimm wünschte – und wäre es<br />

gewissermaßen, wenn nicht ein streng wertender Erzähler gegen Ende der Geschichte die Fäden<br />

sichtbar in der Hand führte und sich in einen erhabenen Sprachton hineinsteigerte.“ 203 Im letzten<br />

Abschnitt der Erzählung nämlich, wenn <strong>Isabella</strong> sich nach <strong>Ägypten</strong> aufmacht, verschwinden die<br />

grotesken und die phantastischen Züge gleichermaßen, wie um ihre Verklärung und die Utopie<br />

nicht zu stören. 204<br />

Die Groteske, sowohl in ihrer alten als auch in der modernen Form, fehlt in „Peter Schlemihl“.<br />

Zwar gibt es Situationskomik, die machmal an Slapstick grenzt, wie etwa bei Schlemihls Jagd<br />

nach dem vermeintlich herrenlosen Schatten (siehe PS, S. 55) oder bei seinem Unfall mit den<br />

Siebenmeilenstiefeln (siehe PS, S. 75). Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem körperbe-<br />

tonten, karnevalistischen Humor in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“. Während bei Arnim die phantasti-<br />

schen Elemente eng mit dem Grotesken assoziiert sind, stehen sie bei Chamisso vorwiegend in<br />

Verbindung mit dem Realen und gerade daraus bezieht er die meiste Komik. Phantastisches<br />

wird als selbstverständlich behandelt und alltägliche, aber unpassende Kategorien werden auf es<br />

angewendet, womit der Leser immer aufs neue verblüfft und zum Lachen angeregt wird.<br />

Wie oben dargestellt, verwendet auch Arnim diese Techniken, jedoch weniger systematisch und<br />

in Vermischung mit dem grotesken Humor, der phantastische und nicht-phantastische Elemente<br />

gleichermaßen erfasst.<br />

In beiden Werken schafft die Komik einen Ausgleich zur im Grund tragischen Handlung. Dass<br />

es sich dabei um eine bewusste Entscheidung handelt, belegt für Chamisso folgendes Zitat aus<br />

einem Brief, den er während der Entstehung des Werks an Hitzig schrieb: „[Der ‚Schlemihl‘]<br />

besteht doch und soll bestehen aus a + b, Ideal und Caricatur, das tragische und komische El-<br />

ement.“ 205 Die Phantastik geht dabei mit der Komik eine enge Verbindung ein. Dies zeigt sich<br />

auch daran, dass sich genau an den Stellen, an denen das Phantastische zurücktritt, bei Arnim<br />

am Schluss der Erzählung und bei Chamisso in der Mina-Passage, der Ton verändert – bei Ar-<br />

nim hin zum Religiös-Pathetischen, bei Chamisso zur Empfindsamkeit.<br />

In beiden Werken bewirkt die Komik auch eine gewisse Entschärfung des verstörenden Aspekts<br />

der Phantastik. Selbst wenn sie in beiden Fällen die Ordnung stört und überwiegend negative<br />

203. Strack: Das ‚Wunder‘ der Geschichte und die ‚Wahrheit‘ der Sagen, S. 298 (Hervorhebung <strong>von</strong><br />

Strack).<br />

204. Lokke sieht in Arnims Werk eine Zwischenstufe zwischen der alten und der modernen Groteske<br />

realisiert, die Bachtin als ‚romantische Groteske‘ bezeichnet und bei deren theoretischer Darlegung<br />

er sich auf Victor Hugo bezieht. Die romantische Groteske fungiert als Indikator für eine ideale,<br />

transzendente Ordnung. Sie dient nicht nur dazu, ihr Gegenstück, das Sublime, umso deutlicher<br />

hervorzuheben (wie die Figur der <strong>Isabella</strong> durch den Kontrast mit den phantastischen Figuren hervorgehoben<br />

wird), sondern verweist auch auf eine für den Menschen nicht durchschaubare göttliche<br />

Ordnung (siehe Lokke: Achim <strong>von</strong> Arnim and the romantic grotesque, S. 26).<br />

205. Brief <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong> Chamisso an Julius Eduard Hitzig vom 6. 9. 1813; zit. n. Chamisso: Peter<br />

Schlemiels Schicksale [Einleitung mit Briefdokumenten], S. 4.<br />

- 97 -


Auswirkungen hat, bleibt durch das humorvolle Ausmalen ihrer Absurditäten doch die Freude<br />

am freien Spiel der Phantasie spürbar. 206<br />

5.4 Verhältnis der phantastischen Elemente zur Transzendenz<br />

Phantastische Elemente bringen Aspekte in die Erzählung, die nicht der Erfahrungsrealität ent-<br />

sprechen. Sie bieten damit nicht nur das Potential zur Komik, sondern auch zur Eröffnung einer<br />

metaphysischen Dimension. Im Folgenden soll untersucht werden, welche transzendenten und<br />

utopischen Züge sich in den Werken feststellen lassen und wie diese mit den phantastischen<br />

Elementen in Beziehung stehen.<br />

Struktur und Aussage <strong>von</strong> „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ sind <strong>von</strong> einem geschichtsphilosphischen<br />

Ansatz bestimmt, in dem Poesie und Religion eine entscheidende Rolle spielen. Nach Bernd<br />

Haustein „versteht [Arnim] Geschichte organisch in der Tradition Herders, und ihre Bewegung<br />

gemäß dem Erbsündegedanken pejorativ.“ 207 Die Einheit aller Lebensbereiche, die in der Ideal-<br />

zeit, dem Mittelalter, geherrscht habe, sei in der Gegenwart zerbrochen – eine Auffassung, die<br />

typisch ist für das Denken der Romantik: „Als ‚Sündenfall‘ erscheint jetzt die Reformation, die<br />

als Triumph der emanzipierten Subjektivität über die alteuropäische Glaubenseinheit, des Wis-<br />

sens über die Poesie und zugleich als Präfiguration der [französischen] Revolution interpretiert<br />

wird.“ 208 Diese Denkweise drückt sich geradezu exemplarisch in der Erzählung aus, die mit<br />

poetischen Mitteln zu erklären versucht, wie es in der Regierungszeit Karls V. zu diesem Ab-<br />

stieg kommen konnte. <strong>Isabella</strong> entstammt in ihrer Reinheit, Unschuld und instinktiven Einsicht<br />

in höhere Seinszusammenhänge der idealen Vorzeit, die nach dem romantisch-idealistischen<br />

Denkmodell durch Überwindung der momentanen Zerrissenheit wiedererlangt werden soll. Es<br />

wurde bereits dargestellt, wie eng das Schicksal der Zigeuner und auch <strong>Isabella</strong>s selbst dem re-<br />

ligiösen Muster <strong>von</strong> Sünde, Buße und Erlösung nachgebildet ist. In der Erzählung fungiert vor<br />

allem das Geld als ‚Apfel der Versuchung‘, dem Karl V. verfällt, womit das Kaisertum nicht<br />

mehr Träger der idealen Einheit sein kann. 209 Durch seine romantische Interpretation macht Ar-<br />

nim „ein Stück europäischer Geschichte zum Welttheater als Spiel vom Sündenfall.“ 210 Am<br />

Ende verlässt <strong>Isabella</strong> die zerrissene Welt und zieht in ein „legendäres romantisches Morgen-<br />

land, wo sie eine ideale Monarchie freier Untertanen aufzubauen versucht, wie sie ähnlich in<br />

den Sagen aus ‚alter Zeit‘ in Novalis‘ „Heinrich <strong>von</strong> Ofterdingen“ beschrieben wird.“ 211 Die<br />

206. Durst weist darauf hin, dass gerade die Komik zerstörerisch auf das minimalistisch definierte Phantastische<br />

– also die verstörende Unschlüssigkeit – wirkt; siehe Durst: Theorie der phantastischen<br />

Literatur, S. 313-321.<br />

207. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. XI.<br />

208. Schwering: Romantische Geschichtsauffassung, S. 546.<br />

209. Siehe Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. XII.<br />

210. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. 35.<br />

211. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. XIII.<br />

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Brüchigkeit dieser Utopie deutet darauf hin, dass Arnim sich selbst bewusst war, dass ein sol-<br />

ches Ideal nicht erreichbar ist. Die wahre Erfüllung kann <strong>Isabella</strong> nur im Jenseits finden – ihr<br />

Tod wird als Apotheose gestaltet, in der sie den Sünder Karl mit sich hinaufzieht.<br />

An metaphysischen Bezügen herrscht in der Erzählung also kein Mangel, doch welche Rolle<br />

spielen die phantastischen Elemente in diesem Zusammenhang? Es fällt auf, dass <strong>Isabella</strong> die<br />

einzige ist, die in Kontakt zu der höheren Macht steht, <strong>von</strong> der sie Visionen empfängt und die<br />

ihr Schicksal steuert. Die anderen Figuren, sowohl die der historischen Ebene als auch die phan-<br />

tastischen, sind in die symbolhafte Geschichtsentwicklung eingebunden, die den gesamten<br />

Handlungsablauf bestimmt, doch sie haben kein Bewusstsein <strong>von</strong> ihrer Rolle und keine Fähig-<br />

keit zur höheren Wahrnehmung. Hausstein interpretiert den Alraun als metaphysische Verkör-<br />

perung des „den Menschen seit seiner Vertreibung aus dem Paradies quälende[n] Böse[n], Sym-<br />

bol des Eros und des Wissens und des romantischen irdisch-unterirdischen Geistes“ 212 , also fast<br />

als eine Art Teufel. Allerdings besitzt der Alraun kein dämonisches Bewusstsein und versucht<br />

auch nicht gezielt, die Menschen zu verderben. Sein verderblicher Einfluss wirkt allein durch<br />

seine Existenz. Alraun und Golem sind in der religiös überhöhten Weltordnung der Erzählung<br />

Ergebnisse pervertierter Schöpfung und in diesem Sinne Teil der metaphysischen Aussage des<br />

Werkes. Sie sind am ehesten zu charakterisieren als Verkörperung der niederen Triebkräfte der<br />

Menschen, denen diese nur allzu leicht verfallen.<br />

Die Phantastik öffnet also gerade kein Tor zur Transzendenz, sondern steht vielmehr auf der<br />

Gegenseite, da die Figuren die profanen Triebe verkörpern, die den Zugang zur höheren Ein-<br />

sicht verhindern. Den transzendenten Aspekt besitzt dagegen <strong>Isabella</strong>, die selbst keine phantas-<br />

tische Figur ist, aber über jene poetisch-phantasievolle Wahrnehmungskraft verfügt, die es ihr<br />

ermöglicht, die ‚höhere Wahrheit‘ hinter den Dingen zu erkennen. Phantasie und Poesie sind für<br />

Arnim entscheidend für die Fähigkeit zur Transzendenz – er betrachtet „die Poesie als eine<br />

überrationale, mythische, in der Welt objektivierte Kraft.“ 213 Nicht jedes die Erfahrungswirk-<br />

lichkeit übersteigende Element trägt jedoch die Möglichkeit höherer Einsicht in sich.<br />

Auf den ersten Blick erscheint auch „Peter Schlemihl“ prädestiniert für eine dominante meta-<br />

physische Komponente. Schließlich geht es darin um einen Teufelspakt. Der Graue ist eine ech-<br />

te Teufelsfigur und steht damit in gewisser Weise höher als die Figuren in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> Ägyp-<br />

ten“, die als Zerrbilder der Menschen ganz in irdischen, niederen Trieben befangen sind. Auch<br />

die Rolle des manipulativen Geschäftsmanns, die er einnimmt, ist ein Zerrbild, doch der Graue<br />

bedient sich der Laster der Menschen nur, er verkörpert sie nicht. Stattdessen folgt er seinen ei-<br />

genen Plänen, die seiner Rolle als Gegenspieler Gottes entsprechen, der die Seelen der Men-<br />

schen in seine Gewalt bringen möchte. Menschliche Merkmale nimmt er nur an, wenn dies sei-<br />

212. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. 42.<br />

213. Werner: Zur Wirkungsfunktion des Phantastischen, S. 23.<br />

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nen Zwecken dient, anstatt sich wie der Alraun in die menschliche Gesellschaft zu verstricken.<br />

Man kann in seinem Auftreten somit tatsächlich ein metaphysisches Moment sehen.<br />

Allerdings wird die spirituelle Bedeutung des Teufelspaktes ausgesprochen zurückhaltend ge-<br />

staltet. Schlemihl erscheint es „doch gewissermaßen bedenklich“ (PS, S. 51), seine Seele zu<br />

verkaufen, und seine Weigerung gründet sich letztendlich nicht in religiöser Empörung, sondern<br />

in der persönlichen Abneigung gegen den Grauen. Zwar zeugt gerade diese instinktive Abnei-<br />

gung <strong>von</strong> der Intaktheit seines inneren Wertesystems, doch religiöse Argumente fehlen an<br />

dieser Stelle. Gott ist nicht ganz aus der Erzählung ausgeklammert – an zwei Stellen gibt es<br />

deutliche Bezüge zu ihm: bei der Vertreibung des Grauen, die auf klassische Art mit der Anru-<br />

fung Gottes einhergeht, und beim Erhalt der Siebenmeilenstiefel, die Schlemihl als Geschenk<br />

Gottes auffasst. Im Ganzen bleibt die metaphysische Dimension der Ereignisse jedoch sehr im<br />

Hintergrund des Geschehens. Schlemihl hat nicht den direkten Bezug zur transzendenten Welt,<br />

den <strong>Isabella</strong> besitzt. Spirituelle Hilfe sucht er auch in tiefster Verzweiflung nicht. Sein Leiden<br />

ist nicht durch eine religiöse Bestimmung vorgezeichnet wie <strong>Isabella</strong>s, sondern er kämpft für<br />

sich selbst mit den Konsequenzen seiner persönlichen Verfehlungen.<br />

Das Leben mit den Siebenmeilenstiefeln am Ende der Erzählung weist Anspielungen auf reli-<br />

giöse Aspekte auf: die Suche nach dem „Urbild“ (PS, S. 72) der Dinge, zu der er sich nach dem<br />

Erhalt des göttlichen Geschenks der Siebenmeilenstiefel berufen fühlt, und sein Leben in der<br />

„Höhle, wo christliche Einsiedler sonst wohnten“ (PS, S. 72). Als Einsiedler genießt er jedoch<br />

weiterhin den Luxus einer gutbürgerlichen Pfeife und die Gesellschaft eines treuen Pudels 214<br />

und sein wissenschaftliches Werk wird er nie vollenden können. Aufgrund dieser humoristisch-<br />

parodistischen Darstellung und des resignativen Untertons kann man hier wohl kaum <strong>von</strong> einer<br />

Überhöhung oder Utopie sprechen. Es besteht offenbar keine Absicht, „Peter Schlemihl“ in ei-<br />

ner <strong>von</strong> einem phantastischen Element, den Siebenmeilenstiefeln, getragene Utopie, d.h. Eröff-<br />

nung eines tranzendentalen Idealbildes, enden zu lassen.<br />

Exkurs: Träume<br />

Träume gehören nicht zu den phantastischen Elementen, sie stehen aber insofern mit diesen in<br />

Beziehung, als auch sie die Realität überschreiten. Ihre Betrachtung unterstützt die festgestell-<br />

ten Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen in ihrem Verhältnis zur Metaphysik.<br />

In „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ gibt es zwei Arten <strong>von</strong> Träumen: diejenigen, die sich auf <strong>Isabella</strong>s<br />

Erlösungsbestimmung, und diejenigen, die sich auf ihre Beziehung zu Karl beziehen. Die erste<br />

Art ist stark <strong>von</strong> religiöser Symbolik beherrscht. Zuerst sieht <strong>Isabella</strong> den Tod ihres Vaters als<br />

Verklärung und Aufstieg zum Thron <strong>Ägypten</strong>s (siehe IÄ, S. 622). Als sie unter einem Dorn-<br />

strauch in Erstarrung verfällt – ein deutlicher Verweis auf Christi Leiden in Golgatha und den<br />

brennenden Dornbusch als Erlösungssymbol – empfängt sie eine Vision <strong>von</strong> ihrem Vater, der<br />

214. siehe Pavlyshyn: Gold, Guilt and Scholarship, S. 60f.<br />

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sie an ihre Bestimmung als Erlöserin ihres Volker erinnert (siehe IÄ, S. 699f.). Schließlich sieht<br />

sie sich in der Kapelle selbst mit ihrem Kind als Figuration der Heiligen Jungfrau (siehe IÄ, S.<br />

718).<br />

Die andere Art <strong>von</strong> Träumen begleitet Karls und <strong>Isabella</strong>s Beziehung: Karl singt, bevor er im<br />

‚Spukhaus‘ einschläft, da<strong>von</strong>, die Sterne vom Himmel zu holen, um sich damit zu schmücken<br />

(siehe IÄ, S. 632). <strong>Isabella</strong> hat den korrespondierenden Traum, in dem Karl Sterne vom Him-<br />

mel schießt, um sie ihr anzustecken (siehe IÄ, S. 644), sodass sich über den Traum die Verbin-<br />

dung zwischen ihnen etabliert, denn auch Karl träumt nach der ersten Begegnung im Fieber <strong>von</strong><br />

<strong>Isabella</strong> (siehe IÄ, S. 634).<br />

Auch ihre Trennung ergibt sich durch einen Traum, in dem Karl die Wahrheit über sein Schick-<br />

sal, die Fesselung durch den Reichtum des Alrauns, sieht und <strong>Isabella</strong> im Schlaf <strong>von</strong> sich stößt<br />

(siehe IÄ, S. 734).<br />

Träume sind in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ Quellen höherer Erkenntnis und sogar handlungstrei-<br />

bend. Sie zeigen tiefere, noch nicht erkannte Wahrheiten über das Geschehen in der Erzählung.<br />

„Peter Schlemihl“ enthält nur zwei Träume und beide weisen aus der Erzählung hinaus in den<br />

Rahmen der Herausgeberfiktion und zeigen den fiktiven Chamisso, an den Schlemihl seinen Be-<br />

richt adressiert. Sie sind an signifikanten Stellen eingeschoben und kommentieren jeweils<br />

Schlemihls Befindlichkeit. Direkt nach dem Schattenverkauf sieht er Chamisso tot in seinem<br />

Studierzimmer – ein Sinnbild völliger Erstarrung, dessen Bedeutung darin widerspiegelt, dass<br />

Schlemihls Uhr nach dem Aufwachen stehen geblieben ist (siehe PS, S. 31). Nachdem er sich<br />

<strong>von</strong> dem Glückssäckel und damit dem Grauen befreit hat, sieht er Chamisso und andere Be-<br />

kannte schattenlos und trotzdem glücklich (siehe PS, S. 68f.).<br />

Im Vergleich zu den Träumen in „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ sind diese Träume statisch. Sie kom-<br />

mentieren die momentane Situation – durchaus mit einem schärferen Blick als Schlemihl ihn im<br />

Wachzustand besitzt, doch ohne auf den Fortgang der Handlung vorauszudeuten oder gar Hand-<br />

lungsimpulse zu geben. Auch weisen sie nicht auf Gott, eine transzendente Instanz, sondern auf<br />

den Rahmen der Herausgeberfiktion, der um Peter Schlemihls Lebensbericht herum aufgebaut<br />

ist. Dieser hat mit seinen zahlreichen Verweisen auf reale Fakten und Personen den höchsten<br />

Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit. So kann man sagen, dass die Erzählung in den Träu-<br />

men ihre Verknüpfung mit der Erfahrungswirklichkeit noch verstärkt, anstatt sich <strong>von</strong> ihr<br />

abzuheben. 215<br />

5.5 Gesamtwirkung<br />

Die beiden Erzählungen entstanden in einer Umbruchszeit, in der sich nicht nur grundlegende<br />

215. Dass gerade Chamisso hier auftritt, deutet auf die autobiographischen Züge des Werkes –<br />

Chamisso, der Autor, setzt sein fiktives Ich und dessen Befindlichkeit mit dem Geschehen in der<br />

Erzählung in direkte Beziehung.<br />

- 101 -


gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, sondern auch der Glaube an die Durchschaubarkeit<br />

der Welt ins Wanken geriet. Die französische Revolution war ein drastischer Einschnitt, der die<br />

feudalen und absolutistischen Herrschaftsstrukturen nachhaltig erschütterte. Chamisso, dessen<br />

Familie aus Frankreich fliehen musste, hat die Auswirkungen am eigenen Leib erfahren.<br />

Preußen, wo beide Autoren aufwuchsen, erlebten sie in der Jugend in einem Zustand der Erstar-<br />

rung in überkommenen Regeln. 1807 wurden sie Zeugen des Zusammenbruchs und der Beset-<br />

zung durch Napoleons Truppen. In der Folgezeit kam es zu einem Erstarken der nationalen Be-<br />

wegung und den Befreiungskriegen 1813. Gleichzeitig wurden nun endlich Reformen<br />

durchgesetzt, die Bürgerlichen mehr Möglichkeiten – etwa auch einer Karriere im Heer – ein-<br />

räumten. Nicht mehr ererbtes Recht allein verlieh Macht, stattdessen nahm mit dem Beginn der<br />

Industrialisierung in Deutschland die Bedeutung des Kapitals immer mehr zu. Es war eine Um-<br />

bruchszeit, in der progressive und konservative Tendenzen gegeneinander stritten, eine Zeit des<br />

Abstiegs der Aristokratie und des Aufstiegs des Bürgertums.<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ ist ein Werk, das nur aus der philosophischen und politischen Haltung<br />

seines Autors heraus verstanden werden kann. Arnim unternimmt darin den typisch romanti-<br />

schen Versuch einer symbolischen Weltdeutung, um die Zustände in seiner Gegenwart zu erklä-<br />

ren und zu kommentieren.<br />

Seine Haltung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit war zwiespältig. 216 Einer-<br />

seits war er konservativ, was angesichts seiner Herkunft aus dem märkischen Landadel nicht<br />

verwunderlich ist. Er rühmte die Macht des Adels und der Kirche, die er als organisch gewach-<br />

sen empfand, und lehnte Handel und Fabriken ab, die zur geistigen Verarmung des Volkes bei-<br />

trügen. Sein Antisemitismus lässt sich zum Teil daraus erklären, dass er die Juden als typische<br />

Vertreter dieses ‚Krämergeistes‘ sah. Andererseits hatte Arnim liberale Ansichten, verteidigte<br />

die Freiheit <strong>von</strong> Forschung und Lehre, forderte eine Verfassung und war ein Gegner der restau-<br />

rativen Karlsbader Beschlüsse. Er befürwortete sogar die Beschneidung der Macht <strong>von</strong> Adel<br />

und Geistlichkeit zugunsten des ‚Volkes‘: „Das ganze Volk muß aus einem Zustande der Unter-<br />

drückung durch den Adel zum Adel erhoben werden.“ 217 Revolution als Mittel zur gesellschaft-<br />

lichen Veränderung lehnte er jedoch ab und sah stattdessen, wie die obige Formulierung bereits<br />

andeutet, die Veränderung als einen bewusst gesteuerten Prozess <strong>von</strong> ‚oben‘. Das Ständesystem<br />

sollte nicht grundsätzlich abgeschafft werden, sondern der Adel sollte sich durch Leistung und<br />

vorbildhaftes Verhalten neu legitimieren. Geist und Poesie schienen Arnim das einzige Mittel<br />

zur Auflösung gesellschaftlicher Gegensätze zu einer höheren Einheit. Die Befürwortung <strong>von</strong><br />

Veränderung einerseits und das Beharren auf der alten Ordnung andererseits führt zu einer stän-<br />

digen Spannung innerhalb seines Werks. Haustein fasst zusammen: „Arnims Modell der ‚Ver-<br />

216. Zu Arnims Weltbild siehe Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. XII-XX und Schürer:<br />

Quellen und Fluss der Geschichte, S. 205f.<br />

217. Arnim: Was soll geschehen im Glücke, S. 200.<br />

- 102 -


söhnung des Geistes alter und neuer Zeit‘ impliziert die Mythisierung feudal-‚heilen‘ Bewusst-<br />

seins, welche die Romantisierung der in der Dichtung empirisch fixierten sozialen Wider-<br />

sprüche zur Folge hat.“ 218<br />

Das ‚Volk‘ hat für Arnim Vorbildcharakter wegen seiner ‚Schlichtheit‘, die noch den Geist der<br />

naturhaft-harmonischen Vorzeit in sich trage, weshalb er auf Volksüberlieferungen als Quellen<br />

der wahren Geschichtsdeutung zurückgreift. Die Konstruktion seiner Erzählung aus Elementen<br />

der Sage und Legende zeigt den Glauben an die Erklärbarkeit geschichtlicher Vorgänge durch<br />

die Phantasie. Durch die Bezüge zur biblischen Heilsordnung und die bildhafte Verkörperung<br />

der negativen Triebkräfte in den phantastischen Figuren wird das geschichtliche Geschehen als<br />

grundlegenden Mustern unterworfen dargestellt.<br />

Die phantastischen Figuren dienen vor allem der Kritik an der Geldwirtschaft, in der Arnim das<br />

zentrale Übel seiner Gegenwart sah. <strong>Isabella</strong> und ihr Volk der Zigeuner verkörpern im Gegen-<br />

zug eine ideale feudal-christliche Ordnung, die Arnims Vorstellung der ‚alten Zeit‘ entspricht.<br />

In der Utopie am Ende der Erzählung wird diese Ordnung im entrückten Raum nochmals ver-<br />

wirklicht, wenn auch in brüchiger Form. Eine Vereinigung <strong>von</strong> ‚neuer‘ und ‚alter‘ Ordnung, ein<br />

Eingehen dieses ursprünglichen Ideals in die geschichtliche Wirklichkeit, kann jedoch gerade<br />

nicht vollzogen werden, ebenso wenig wie es Arnim gelingt, die Gegensätze seiner Gegenwart<br />

zusammenzubringen. „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ hat also einen deutlich resignativen Zug.<br />

Mit ihren komischen und grotesken Zügen ist die Erzählung auch eine Feier der überbordenden<br />

Phantasie. Man spürt die Freude des Autors am Spiel mit den Sagenmotiven und an der Absur-<br />

dität, die sich durch die Verstöße gegen die Erfahrungswirklichkeit ergibt. Gleichzeitig trägt<br />

„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ jedoch die typisch phantastische Verstörung in sich: „Solch ein Grauen<br />

wohnt in der Tiefe des hochmütigsten Menschen vor der unnennbaren Welt, die sich nicht un-<br />

sern Versuchen fügt, sondern uns zu ihren Versuchen und Belustigungen braucht.“ (IÄ, S. 633)<br />

Dieses Zitat bezieht sich nicht direkt auf das Auftreten eines phantastischen Elements, aber ge-<br />

rade dies ist bezeichnend für die Erzählung. Die Wirklichkeitsordnung ist komplex und wider-<br />

setzt sich einem klaren Gegeneinander <strong>von</strong> Phantasie und Wirklichkeit – die Golemerschaffung<br />

ist ein Spaß für reiche Edelleute, die Wurzelnatur des Alraun wird aufgefasst als gesellschaftli-<br />

ches Manko, aber ein vermeintliches Gespenst löst phantastisches Entsetzen aus. Die Wahrneh-<br />

mung des Menschen wird als unzuverlässig dargestellt, die Erzählung quillt über vor Täuschun-<br />

gen und Verkleidungen, in denen die phantastischen Gestalten ebenso verschwinden wie<br />

gewöhnliche Menschen.<br />

Durch die Verwendung der die Erfahrungsrealität übersteigenden Elemente schafft Arnim also<br />

einerseits größere Klarheit, indem er sie gebraucht, um den historischen Entwicklungen eine Er-<br />

klärung zu unterlegen. Andererseits stellt er durch seine Erzählweise und die Einbeziehung<br />

phantastischer Elemente auch gerade die Undurchschaubarkeit der Wirklichkeit dar.<br />

218. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. XX.<br />

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Das folgende Zitat, das den Aufbruch zur Hochzeit <strong>von</strong> Alraun und Golem beschreibt, drückt<br />

viel <strong>von</strong> dem aus, was die Quintessenz des Werkes und seiner phantastischen Figuren aus-<br />

macht – ihre Verschmelzung mit der realen Welt in Banalität, die Untrennbarkeit <strong>von</strong> Schein<br />

und Sein und Arnims Leiden an seiner Gegenwart: „[D]ie sonderbare Gesellschaft, eine alte<br />

Hexe, ein Toter, der sich lebendig stellen mußte, eine Schöne aus Tonerde und ein junger Mann<br />

aus einer Wurzel geschnitten, saßen in feierlicher Eintracht, hegten große Gedanken vom Glück<br />

des Lebens, das sie eben zu begründen fuhren, <strong>von</strong> Schätzen, Heldentaten und Biergeldern, auf<br />

die der Bärnhäuter bei dieser Festlichkeit ungemein rechnete. Wie vergebens quält uns das Ver-<br />

hältnis zu manchen Menschen; könnten wir uns einbilden, er sei ein Toter, eine Erdscholle, eine<br />

Wurzel, unser Kummer und unser Zorn müßte verschwinden, wie aller Gram über unsre Zeit,<br />

wenn wir nur endlich gewiß wüßten, daß wir bloß träumten.“ (IÄ, S. 691)<br />

„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ weist zwar Bezüge zu Chamissos Gegenwart auf,<br />

hat jedoch keine geschichtsphilosophische Komponente. Wie sich schon an der Form der Er-<br />

zählung als Lebensbeichte – die nicht einmal zur Veröffentlichung bestimmt gewesen ist (siehe<br />

PS, S. 17f.) – zeigt, hat die Erzählung einen deutlich privateren Charakter als „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Ägypten</strong>“. Sie bewegt sich nicht im Bereich der Herrscher, deren Entscheidungen Einfluss auf<br />

des Schicksal eines ganzen Volkes haben, sondern nimmt die Perspektive eines recht durch-<br />

schnittlichen Menschen aus dem Bürgertum ein und zeigt dessen persönliches Schicksal. Die<br />

Verankerung in Chamissos Gegenwart ist wenig spezifisch, sondern geschieht durch eine eher<br />

generische Darstellung, und die Erzählung gewinnt dadurch einen Zug der Allgemeingültigkeit.<br />

Chamisso war, trotz seiner ebenfalls adligen Herkunft, eher bereit als Arnim, sich damit abzu-<br />

finden, dass die Zeit des Adels abgelaufen war. Da<strong>von</strong> zeugen etwa folgende Zeilen aus seinem<br />

Gedicht „Der Klapperstorch“, das er im Oktober 1832 anlässlich der Geburt seines vierten Soh-<br />

nes verfasste: „Ich bin ergraut, die alte Zeit ist abgelaufen, / Mein Erb ist worden eitel Rauch. /<br />

Ich mußte, was ich hab und bin, mir selbst erkaufen. / Und du, mein Sohn, das wirst du auch.“ 219<br />

Er war liberal eingestellt und stand dem Bürgertum positiv gegenüber, wie folgendes Briefzeug-<br />

nis aus der Entstehungszeit des Peter Schlemihl zeigt: „Mehr fast als Preußen ist mir Hamburg<br />

an‘s Herz gewachsen, Du hast mich schon darob verhöhnt, Du kannst denken, mit welcher<br />

Theilnahme ich immer nach der Niederelbe hinab gesehen habe, – eine Republik – wär‘ es auch<br />

nur eine rein kaufmännische – erzeugt doch eine Herrlichkeit, die man nicht verkennen<br />

kann.“ 220<br />

Allerdings sieht Chamisso die Entwicklung der Geldwirtschaft auch kritisch und stellt das Geld<br />

als eines der Hauptmotive ins Zentrum seiner Erzählung. Das Credo des Herrn John, „Wer nicht<br />

Herr ist wenigstens einer Million, [...] der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft.“ (PS, S.<br />

219. Chamisso, Sämtliche Werke in 2 Bänden (Bd. 1), S. 42.<br />

220. Brief <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong> Chamisso an Karl August Varnhagen <strong>von</strong> Ense vom 27. 5. 1813, zit. n. Hitzig<br />

(Hg.): Leben und Briefe I, S. 342.<br />

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24), dem Schlemihl am Anfang eifrig zustimmt, ist eine überspitzte Verdeutlichung der Vermi-<br />

schung <strong>von</strong> Geld und Moral, einer Tendenz, die Chamisso ebenso mit Besorgnis erfüllt wie Ar-<br />

nim. Die Kritik am sich entwickelnden Kapitalismus, in dem Moral und Ehre ihren Wert verlie-<br />

ren, ist die offensichtlichste Gemeinsamkeit der beiden Werken. Der Ausspruch des Herrn John<br />

findet seine Entsprechung in der Aussage des Erzählers über den Alraun: Er „meinte in seiner<br />

geldbringenden Natur, alles was mit Gelde bezahlt würde, sei auch ehrenvoll [...]. “ (IÄ, S. 664)<br />

Die Parallelfigur zum Alraun ist der Graue: Beide verleihen unbegrenzten Reichtum und brin-<br />

gen damit Unglück über die, die sich mit ihnen einlassen. Auch in „Peter Schlemihl“ werden<br />

die phantastischen Elemente dazu verwendet, die verderbliche Natur des Geldes zu zeigen. Es<br />

dient als Mittel der Verführung, ist der erste Schritt auf dem Weg zum Teufel, der selbst die<br />

Maske eines Geschäftsmannes trägt. Der Verkauf des Schattens illustriert mit phantastischen<br />

Mitteln, wie ein immaterieller Bestandteil der Person zur Ware wird, ebenso wie es mit der See-<br />

le geschehen soll, die nach Aussage des Grauen substanz- und wertlos ist und nur aufgrund der<br />

Nachfrage, die nach ihr besteht, Schlemihl noch Gewinn bringen kann (siehe PS, S. 51). Auch<br />

die Zaubergegenstände, die der Graue bei sich trägt, werden in die Profanität der Geschäftswelt<br />

eingebunden und als Waren behandelt.<br />

Was „Peter Schlemihl“ im Gegensatz zu „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“ fehlt, ist die Darstellung einer<br />

höheren, poetischen Ordnung. Diese wird auch bei Arnim nicht <strong>von</strong> den phantastischen Ele-<br />

menten getragen, sondern <strong>von</strong> <strong>Isabella</strong>, bestimmt aber die Stimmung der Erzählung maßgeblich.<br />

Bei Chamisso gibt es nichts Entsprechendes: „[A]ll diese Elemente [mit märchenhaft-<br />

phantastischem Charakter] dienen in Peter Schlemihls wundersame[r] Geschichte gerade nicht<br />

als Einfallstor für eine andere mythische Ordnung, lassen nichts <strong>von</strong> der Atmosphäre jenes<br />

ursprünglichen Naturzustands erahnen, in dem die Menschen nach der Paralogik der Ekstase<br />

und Entgrenzung existiert haben sollen. Vielmehr ist gerade das Gegenteil der Fall. Die mär-<br />

chenhaften und mythologischen Elemente nisten sich im Realen ein, werden <strong>von</strong> allen Figuren<br />

als Elemente des Realen genommen und sind der Logik des Sozialen unterworfen.“ 221<br />

Chamisso übt keine grundlegende Kritik an Poesie und Phantasie – er scheint das Spiel mit ihr<br />

ebenso zu genießen wie Arnim – sie ist für ihn allerdings nicht fähig, eine Entgrenzung zu be-<br />

wirken. Ein poetisches Ideal, wie <strong>Isabella</strong> es verkörpert, ist keine Option in Peter Schlemihls<br />

Welt.<br />

Am deutlichsten kommt die Wirkung des Phantastischen im Schattenmotiv zum Ausdruck.<br />

Schlemihl wird zum Ausgestoßenen vor allem dadurch, dass seine Erwartungen an die Wirk-<br />

lichkeit und die Gesellschaft durch andere, verwirrende und nicht rational erklärbare Regeln er-<br />

setzt werden. Man kann dem Schatten keine genaue Bedeutung zuweisen, eben weil das Motiv<br />

phantastisch ist und seine Wirkung daraus bezieht, dass es auch für den Leser undurchschaubar<br />

und absurd ist. Wenn es ‚übersetzt‘ wird, etwa in ‚Vaterland‘ oder ‚bürgerliche Solidität‘, ver-<br />

221. Braun: Reiseschatten, S. 148 (Hervorhebung <strong>von</strong> Braun).<br />

- 105 -


liert es diese Wirkung. Die <strong>von</strong> der Normrealität abweichende Beschaffenheit und Bewertung<br />

des Schattens führt zu einer ständigen Irritation und genau dies ist beabsichtigt, denn es zeigt<br />

die Willkürlichkeit sozialer Prozesse. Wie wirkungsvoll das Motiv durch seine Phantastik wird,<br />

zeigt nichts besser als die zahllosen Versuche, es zu erklären.<br />

- 106 -


6 Schlussbemerkung<br />

Rolf Schneider urteilt in Hinblick auf „Peter Schlemihl“: „Daß die der Erzählung eigentümliche<br />

Synthese aus Märchenmotiv und Wirklichkeit in Arnims großer romantischer Erzählung<br />

‚<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>‘ ihr Vorbild habe, ist eine Behauptung, die am eigentlichen und durchaus<br />

unromantischen Kern des Werkes vorbeigeht [...].“ 222 Die Analyse hat ergeben, dass dem durch-<br />

aus zuzustimmen ist. Während „<strong>Isabella</strong> vom <strong>Ägypten</strong>“ ein zutiefst romantisches Werk ist,<br />

durchdrungen <strong>von</strong> romantischer Geschichtsphilosophie und Sehnsucht nach höherer poetischer<br />

Wahrnehmungskraft, ist „Peter Schlemihl“ ein Werk, das im Diesseits bleibt, Phantastik zur<br />

Veranschaulichung sozialer Mechanismen verwendet und Erzählweisen des Realismus vorweg-<br />

nimmt. Die Stimmung in beiden Erzählungen ist unterschiedlich, obwohl sie beide phantasti-<br />

sche Elemente verwenden und sogar aus denselben Quellen schöpfen, den volkstümlichen<br />

Überlieferungen.<br />

Die Verwendung phantastischer Elemente bestimmt also weder den Ton, noch die philosophi-<br />

sche Ausrichtung einer Erzählung, und doch haben diese Elemente eine ganz eigene Natur, die<br />

trotz ihrer Verschiedenheit in beiden Werken spürbar ist.<br />

Phantastische Elemente setzen Regeln der Erfahrungsrealität außer Kraft. Ein wesentlicher Be-<br />

standteil ihrer Wirkung ist die Irritation, die sich durch den Kontrast zur außerliterarischen<br />

Wirklichkeit ergibt. Diese Irritation muss nicht immer ausgestaltet werden – für den Leser ist es<br />

manchmal sogar irritierender zu sehen, wie die Figuren einer sonst der Erfahrungsrealität ange-<br />

passten Welt Phantastisches als selbstverständlich akzeptieren. Erzählungen, die Elemente der<br />

Phantastik enthalten, tragen damit immer ein gewisses Maß an Zweifel an der Durchschaubar-<br />

keit der Wirklichkeit in sich.<br />

Phantastische Elemente dienen auch dazu, Dinge auszudrücken, die sich mit den Mitteln der<br />

Alltagswirklichkeit nicht sagen lassen. Sie sind mehr als Metaphern, denn <strong>von</strong> dem Moment an,<br />

da sie Gestalt gewinnen, beginnt die Phantasie, mit ihnen zu spielen. Sie können für üble Trieb-<br />

kräfte oder sogar das Böse an sich stehen – sobald diese Prinzipien einen Körper bekommen, er-<br />

öffnen sich plötzlich vielerlei Möglichkeiten sie auszugestalten, ihnen Aussehen, Stimme und<br />

Verhaltensmuster mitzugeben, sodass sie bald nicht mehr auf ein einziges Wort reduzierbar<br />

sind. In der Analyse hat sich gezeigt, wie viele Facetten die einzelnen Elemente haben und wie<br />

unterschiedlich sie behandelt werden können.<br />

Phantastische Elemente entspringen dem Was-wäre-wenn, dem Spiel der Vorstellungskraft, die<br />

über das hinausgeht, was wir aus der alltäglichen Welt kennen und nach etwas dahinter und dar-<br />

über Liegendem sucht – ob es uns nun zum Lachen oder zum Erschrecken bringt.<br />

222. Schneider: Wirklichkeitsmärchen und Romantik, S. 208.<br />

- 107 -


7 Literaturverzeichnis<br />

7.1 Primärtexte, Quellen und Lebenszeugnisse<br />

Arnim, Achim <strong>von</strong>: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802-1817, hrsg. v.<br />

Renate Moering, Frankfurt a. M. 1990.<br />

Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Prosa, hrsg. v. Werner Feu-<br />

del und Christel Laufer, Leipzig 1980.<br />

Achim <strong>von</strong> Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1: Achim <strong>von</strong> Arnim und Clemens Brentano,<br />

hrsg. v. Reinhold Steig, Stuttgart 1894.<br />

Achim <strong>von</strong> Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 3: Achim <strong>von</strong> Arnim und Jacob und Wilhelm<br />

Grimm, hrsg. v. Reinhold Steig, Stuttgart/Berlin 1904.<br />

Arnim, Achim <strong>von</strong>: Werke in sechs Bänden. Bd. 2: Die Kronenwächter, hrsg. v. Paul Michael<br />

Lützeler, Frankfurt a. M. 1989.<br />

Arnim, Achim <strong>von</strong>: Von Volksliedern, in: Brentano, Clemens: Sämtliche Briefe und Werke.<br />

Bd. 6: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Teil 1, hrsg. v. Heinz Rölleke,<br />

Stuttgart 1975, S. 405-442.<br />

Arnim, Achim <strong>von</strong>: Was soll geschehen im Glücke, in: Görres, Jörn: Was soll geschehen im<br />

Glücke. Ein unveröffentlichter Aufsatz Achim <strong>von</strong> Arnims, in: Jahrbuch der deutschen<br />

Schillergesellschaft 5 (1961), S. 196-221.<br />

Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Peter Schlemiels Schicksale. Die Urschrift des Peter Schlemihl [mit<br />

einer Einleitung <strong>von</strong> Helmuth Rogge mit Briefdokumenten], hrsg. v. Helmuth Rogge, Leip-<br />

zig 1922.<br />

Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Gedichte Dramatisches,<br />

hrsg. v. Werner Feudel und Christel Laufer, Leipzig 1980.<br />

Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Werke. Bd. 5: Leben und Briefe I, hrsg. v. Julius Eduard Hitzig, Leip-<br />

zig 1839.<br />

Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb: Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die<br />

Lebensart und Verfassung Sitten und Schicksale dieses Volkes seit seiner Erscheinung in<br />

Europa, und dessen Ursprung. Zweyte, viel veränderte und vermehrte Auflage, Göttingen<br />

1787.<br />

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel <strong>von</strong>: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Kleinere<br />

Schriften, hrsg. v. Rolf Tarot, Tübingen 1973.<br />

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel <strong>von</strong>: Grimmelshausens Werke. Bd. 3: Simplicianische<br />

Schriften, hrsg. v. Felix Bobertag, Berlin/Stuttgart [1890].<br />

Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben <strong>von</strong> Ludwig<br />

Achim <strong>von</strong> Arnim bei Mohr und Zimmer <strong>Heidelberg</strong> 1808 [Fotomechanischer Nachdruck],<br />

Stuttgart 1962.<br />

- 108 -


7.2 Forschungsliteratur<br />

7.2.1 Allgemein<br />

Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval, Frankfurt a. M. 1990.<br />

Blume, Peter: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitu-<br />

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Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur, Tübingen/Basel 2001.<br />

Freund, Winfried: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle <strong>von</strong> Tieck bis Storm,<br />

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Mayer, Mathias / Tismar, Jens: Kunstmärchen, Stuttgart/Weimar 2003.<br />

Kremer, Detlef: Romantik, Stuttgart/Weimar 2003.<br />

Schmitz-Emans, Monika: Phantastische Literatur: Ein denkwürdiger Problemfall, in: Neoheli-<br />

con XXII (1995), Heft 2, S. 53-116.<br />

Schwering, Markus: Romantische Geschichtsauffassung – Mittelalterbild und Europagedanke,<br />

in: Romantik-Handbuch, hrsg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 541-555.<br />

Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972.<br />

Wührl, Paul-Wolfgang: Das deutsche Kunstmärchen. Geschichte, Botschaft und Erzählstruktu-<br />

ren, Hohengehren 2003.<br />

7.2.2 Zu Achim <strong>von</strong> Arnim und „<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“<br />

Andermatt, Michael: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in<br />

Achim <strong>von</strong> Arnims Erzählwerk, Berlin u. a. 1996.<br />

Burwick, Roswitha: Dichtung und Malerei bei Achim <strong>von</strong> Arnim, Berlin 1989.<br />

Fischer, Bernd: Literatur und Politik – Die „Novellensammlung <strong>von</strong> 1812“ und das „Landhaus-<br />

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Frenzel, Elisabeth: Golem, in: dieselbe: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsge-<br />

schichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 2005, S. 308-312.<br />

Haustein, Bernd: Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim <strong>von</strong> Ar-<br />

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Kastinger Riley, Helene M.: Achim <strong>von</strong> Arnim in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rein-<br />

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- 109 -


Knapp, Gunther: Groteske, Phantastik, Humor und die Entstehung der polyphonen Schreibwei-<br />

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Kohler, Alfred: Karl V. 1500-1558. Eine Biographie, München 1999.<br />

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Rölleke, Heinz: Bärenhäuter, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen<br />

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„<strong>Isabella</strong> <strong>von</strong> <strong>Ägypten</strong>“, in: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hrsg. v.<br />

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Wingertszahn, Christof: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims <strong>von</strong> Ar-<br />

nim, St. Ingbert 1990.<br />

- 110 -


7.2.3 Zu Adelbert <strong>von</strong> Chamisso und „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

Baumgartner, Ulrich: Adelbert <strong>von</strong> Chamissos „Peter Schlemihl“, Frauenfeld/Leipzig 1944.<br />

Braun, Peter: Reiseschatten. „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ <strong>von</strong> Adelbert <strong>von</strong><br />

Chamisso, in: Schwellentexte der Weltliteratur, hrsg. v. Reingard M. Nischik und Caroline<br />

Rosenthal, Konstanz 2002.<br />

Feudel, Werner: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso. Leben und Werk, Leipzig 1988.<br />

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Bewußtseinsspiegel. Entstehung – Struktur – Rezeption – Didaktik, Paderborn u.a. 1980.<br />

Hitzig, Julius Eduard: Vorrede des Herausgebers, in: Chamisso, Adelbert <strong>von</strong>: Peter Schle-<br />

mihl‘s wundersame Geschichte, hrsg. v. Julius Eduard Hitzig, Nürnberg [1839], S. III-X.<br />

Hohoff, Curt: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso, in: Das innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und<br />

deutsches Leben 7 (1940/41), Heft 2, S. 448-460.<br />

Hoffmann, Ernst Fedor: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Bren-<br />

tano, Hoffmann und Chamisso, in: Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Litera-<br />

tur. Festschrift für Heinrich E. K. Henel, hrsg. v. Jeffrey L. Sammons und Ernst Schürer,<br />

München 1970, S. 167-188.<br />

Hoffmann, Volker: Peter Schlemihl und der Graue. Fremdverführung und teuflische Selbstver-<br />

führung, in: Der gefundene Schatten. Chamisso-Reden 1985-1993, hrsg. v. Dietrich Kru-<br />

sche, München 1993, S. 46-65.<br />

Mann, Thomas: Chamisso, in: derselbe: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke –<br />

Briefe – Tagebücher. Bd. 14.1: Essays I (1893-1914), hrsg. v. Heinrich Detering, Frankfurt<br />

a. M. 2002, S. 305-330.<br />

Pavlyshyn, Marko: Gold, Guilt and Scholarship. Adelbert <strong>von</strong> Chamisso‘s „Peter Schlemihl“,<br />

in: The German Quarterly 55 (1982), Heft 1, S. 49-63.<br />

Schlechtendahl, Dietrich Franz Leonhard <strong>von</strong>: Dem Andenken an Adelbert <strong>von</strong> Chamisso als<br />

Botaniker, in: Linnaea 13 (1839), S. 91-112.<br />

Schneider, Rolf: Wirklichkeitsmärchen und Romantik. Bemerkungen zum Werk Adelbert <strong>von</strong><br />

Chamissos, in: Aufbau. Kulturpolitischen Monatsschrift 13 (1957), Heft 8, S. 203-210.<br />

Schulz, Franz: Die erzählerische Funktion des Motivs vom verlorenen Schatten in Chamissos<br />

„Peter Schlemihl“, in: The German Quarterly 45 (1972), Heft 3, S. 429-442.<br />

Schwann, Jürgen: Vom „Faust“ zum „Peter Schlemihl“. Kohärenz und Kontinuität im Werk<br />

Adelbert <strong>von</strong> Chamissos, Tübingen 1984.<br />

Walach, Dagmar: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Erläute-<br />

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Walach, Dagmar: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in: Er-<br />

zählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen (Bd. 1), Stuttgart 1996, S.<br />

- 111 -


221-256.<br />

Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 2005.<br />

Wersig, Peter: Einleitung, in: Chamissos Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1967, S. V-<br />

XXVIII.<br />

Wiese, Benno <strong>von</strong>: Adelbert <strong>von</strong> Chamisso „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in:<br />

derselbe: Die deutsche Novelle <strong>von</strong> Goethe bis Kafka. Interpretationen, Düsseldorf 1956,<br />

S. 97-116.<br />

Wilpert, Gero <strong>von</strong>: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs, Stuttgart 1978.<br />

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