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H E I M K E H R DAS DORF MEINER KINDHEIT Otto ... - dkmotion

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legte sie sich hin und ging. Zu früh dem Knaben, zehnjährig und nicht fähig, des<br />

Menschen Größe zu erkennen. Zu rasch diesem Kind seines Dorfes Geschichte,<br />

zu winzig, sich selbst zu erheben, zu stehen fest und zu brüllen: raus aus meinem<br />

Leib, Dörflerseele, kleine, verlogene.<br />

Wie die Schreie, die sie ausstieß, als sie vom Tod ihrer Söhne erfuhr, im Ohr des<br />

Knaben weiterschrien, schlürfte weiter in ihm das Kaffeeschlürfen der<br />

Großmutter. Sie starb. Und was sie ihm hinterließ, das waren Geräusche. Schreie,<br />

Röcheln, Schlürfen. Nichts sonst. So lange sie lebte, benutzte sie, tagein, tagaus,<br />

immerfort dasselbe Kaffeegeschirr, die Großmutter. Eine große Tasse, Schüssel<br />

schon fast, aus dickem, weißem Porzellan. In ihren Kathreiner gab sie erst ein<br />

etwa nußgroßes Stück Margarine, die sie im Kaffee zerlaufen ließ, sodass die<br />

Fettaugen obenauf schwammen. Dann nahm sie ihr Brot und brockte es Stück für<br />

Stück in die Tasse, bis diese angefüllt war. An Sonntagen, wenn der Zucker auf<br />

dem Tisch stand, streute sie zwei Löffel davon über ihre „Brockat“, wie sie ihr<br />

Frühstück und Abendessen nannte und wartete, bis Brot und Zucker den Kaffee<br />

aufgesaugt hatten. Dann nahm sie die schwere Tasse knapp an ihren Mund heran<br />

und löffelte geräuschvoll und hörte nicht auf, eh die Tasse gelehrt war. Geräusche,<br />

sonst blieb nichts dem Knaben von seiner Großmutter. Geräusche, undefinierbar<br />

ihre Herkunft seinem jungen, schon zerstörten Denken. Geräusche, mit denen er<br />

weiterzuleben hatte, die ihn quälen sollten, Jahre und Jahrzehnte noch. Schreie,<br />

Röcheln, Schlürfen. Nichts ließ sie ihm sonst, die alte Frau, an der er wohl hing,<br />

der Knabe, die er aber trotzdem nicht kannte, die er nie genau angesehen hatte,<br />

weil sie einfach da war, immer schon. So, wie der See schon immer da war, die<br />

Äcker, Rhein und Ache und die Bäume, die vielen. Da gab’s kein Staunen über<br />

die Dinge, kein Wundern und Hinterfragen. Sie waren da. Aus. Basta. Wenige<br />

Jahre nach dem Tod der Großmutter erinnerte er sich kaum mehr ihres Aussehens,<br />

der Knabe. Schnell vergisst man das lange nicht Gesehene. Und wie das lange<br />

nicht Gesehene, vergisst man rasch auch das lange nicht Gesprochene und Getane.<br />

Eher noch als der Wunde Schorf, entschwanden so die zarten Spuren, gesetzt von<br />

einer alten Frau kraftlos ins Gesicht des Dorfes, dem Knaben. Nicht nötig Farb<br />

und Schminke, fielen ab sie, die Worte und Taten der Alten, schneller noch als<br />

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