Rawls - Wolfgang Melchior
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<strong>Wolfgang</strong> <strong>Melchior</strong>: John <strong>Rawls</strong>’ Theorie der Gerechtigkeit<br />
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1.) Entscheidend ist hier die Gegenseitigkeit der Vorteile, die die Gegenseitigkeit von Rechten und<br />
Verpflichtungen begründet. Dies begreift <strong>Rawls</strong> aber nicht in einem nutzentheoretischen Sinne,<br />
worauf der libertinistische Einwand abzielt, sondern in einem vertragstheoretischen Sinne. Das<br />
Fairneßprinzip ist auf die Vertragstheorie maßgeschneidert: Verträge wie das Fairneßprinzip setzen<br />
Freiwilligkeit und eine Willenserklärung voraus. Diese Willenserklärung muß nicht ausdrücklich,<br />
sondern kann auch stillschweigend<br />
- durch die Inanspruchnahme von Vorteilen oder<br />
- allgemein durch konkludente Handlungen geschehen, wenn also nach der üblichen Praxis<br />
zu erwarten ist, daß ein Einverständnis gegeben wurde. 47<br />
Gehe ich ein Geschäft, in dem Waren zum Verkauf angeboten werden (Praxis), und wähle eine<br />
Ware aus (Freiwilligkeit), so erkläre ich mich stillschweigend dazu bereit, die Ware zu kaufen<br />
(Willenserklärung zum Kaufvertrag und Zahlungsverpflichtung). Gleiches gilt, wenn ich die Ware,<br />
sofern sie eßbar ist, sofort verzehre. Ich kann mich nicht damit herausreden, ich hätte nicht<br />
ausdrücklich meinen Willen erklärt, die ausgewählte Ware auch zu kaufen. Der Vorteil der<br />
ausgewählten Ware verpflichtet mich also zu einer Zahlung. Etwas anderes ist die Höhe dieses<br />
Vorteils, also der Nutzen, den ich damit verbinde. Dieser mag verhandelbar sein, aber auch hier gilt,<br />
habe ich mich auf einen bestimmten Preis geeinigt, bin ich zur Zahlung verpflichtet.<br />
Die nutzentheoretisch-libertinistische Betrachtung verwechselt also offenbar das Bestehen der<br />
Verpflichtung mit der Frage der Höhe der Vorteile, die dieser Verpflichtung entsprechen. Es mag<br />
sein, daß ich - um auf das obengenannte Beispiel zurückzukommen - mehr an Steuern für den<br />
Straßenbau zahle als mir Vorteile dadurch entstehen, jedoch ist unbestreitbar, daß, wenn ich<br />
öffentliche Straßen benutze, ich mein grundsätzliches Einverständnis abgebe, auch dafür Steuern zu<br />
entrichten. Das eine ist eine Frage der Praktikabilität, die zum Grundsatzproblem stilisiert wird, das<br />
andere trifft den Grundsatzcharakter des Fairneßprinzips. Gegenseitige Vorteile sind für <strong>Rawls</strong><br />
damit nicht ein Ex-ante-, sondern ein Ex-post-Kriterium dieser Freiwilligkeit.<br />
2.) Fairneßprinzip als Kooperationsgrundlage: Jeder Vertrag besitzt als wesentliches Element die<br />
allseitige Erfüllung. Verträge machen nur dann Sinn, wenn sich alle Parteien an sie halten. Dies ist<br />
intuitiv das, was das Fairneßprinzip sagen will. Wenn es um einen Gesellschaftsvertrag geht und<br />
Gesellschaft als kooperatives Unternehmen interpretiert wird, wie <strong>Rawls</strong> dies tut, dann ist das Pacta<br />
sunt servanda-Problem das Grundproblem der Kooperation. Dies besteht darin, daß Parteien durch<br />
Bestehen auf ihrem Eigeninteresse zu einem für alle schlechteren Ergebnis gelangen, als wenn sie<br />
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