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1 Thomas Huck Die ur- und frühgeschichtliche Besiedlung (100.000 ...

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<strong>Thomas</strong> <strong>Huck</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>ur</strong>- <strong>und</strong> <strong>frühgeschichtliche</strong> <strong>Besiedlung</strong> (<strong>100.000</strong> v.u.Z. - 750)<br />

Archäologie - Geschichte ohne Schrift<br />

Vorwort<br />

<strong>Die</strong> Ur- <strong>und</strong> Frühgeschichte umfaßt die Abschnitte der Menschheitsentwicklung von der<br />

körperlichen Herausbildung des Menschen, der Entfaltung seiner Gesellschaft bis z<strong>ur</strong> Bildung<br />

von Staaten. Mit über 1 Million Jahren ist sie der längste Abschnitt innerhalb der Geschichte. Zu<br />

den wichtigsten Besonderheiten zählt die Tatsache, daß schriftliche Überlieferungen weitgehend<br />

fehlen. An ihre Stelle treten archäologische Quellen. Das sind Sp<strong>ur</strong>en menschlicher Tätigkeiten:<br />

Fragmente von Werkzeugen, Überreste der Wohnbauten, Speisereste, Veränderungen der<br />

Umwelt <strong>und</strong> nicht zuletzt der menschliche Körper selbst. Am häufigsten überdauern im Boden<br />

Artefakte aus Stein, Knochen, Keramik <strong>und</strong> Metall. Organische Materialien sind n<strong>ur</strong> selten<br />

erhalten, z.B. in Mooren. Im Hinblick auf die z<strong>ur</strong> Verfügung stehende Ausstellungsfläche, w<strong>ur</strong>de<br />

bei der Konzeption auf die Abhandlung aller archäologischen Perioden zugunsten einer<br />

Präsentation von Schwerpunkten verzichtet. Neben der Erläuterung der Exponate soll der<br />

Ausstellungsführer die so entstandenen Lücken schließen helfen.<br />

Forschungsgeschichte<br />

Früheste Berichte über in der Erde verborgene Hinterlassenschaften unserer Vorfahren reichen<br />

bis ins 16. Jh. z<strong>ur</strong>ück. Der Sonneborner Pfarrer Matthias G<strong>und</strong>ermann (Pfarrer von 1562-1596)<br />

trug während seiner Amtszeit einen 1552 gemachten Bodenf<strong>und</strong> in das Kirchenbuch ein. Der<br />

Text lautet: „Nach dieser Zeit hat Veit Wolff Von Wangenheim das Schloß alhier angefangen zu<br />

bawen <strong>und</strong> auch den Weinberg, da man ettliche todten geripp Im felde f<strong>und</strong>en, die arm Und<br />

Halsringe Von Erz gehabt, auch Balbiers Zeug, Als einen spat In eim hirnschedel, auch<br />

pfeileisen, Daraus abzunehmen, das Vor Zeiten Kriegsrüstung Umb den Kramberg gelegen. <strong>Die</strong><br />

rüstung Von Ribg Und pfeileisen hat mir obgemelter der Edele Und Ehrenuehste Juncker<br />

gewiesen.“ 1 <strong>Die</strong> hier beschriebenen Gräber dürften aus der späten Bronzezeit oder der frühen<br />

Eisenzeit stammen.<br />

1685 notierte der Chronist Pfefferkorn: „Ich könnte hier auch ein sonderliches Capitel von den<br />

Thüringischen Raritäten...., von Römischen Münzen, welche die Ba<strong>ur</strong>en üm Gotha herum sollen<br />

ausgepflüget <strong>und</strong> den Goldschmieden daselbst zu verkauffen gebracht haben, von den Erdtöpfen,<br />

1 KAUFMANN, HERM. 1938: Ein F<strong>und</strong>bericht aus dem Jahre 1552. In: Der Spatenforscher. Vorgeschichtliche<br />

Beilage zum „Thüringer Fähnlein“. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat, Jahrgang 3, S. 1. Jena.<br />

1


so man im See-Berge bey Gotha vor diesem ausgegraben,...von dem großen A<strong>ur</strong> Ochsen-Horn,<br />

so man auch vor diesem im obgedachtem See-Berge ausgegraben <strong>und</strong> von dergleichen Dingen<br />

mehr einschieben“ 2 . Seit der ersten Hälfte des 19. Jh. begann man archäologische F<strong>und</strong>stücke zu<br />

sammeln, um sie dem Herzoglichen Museum zu übergeben. Gr<strong>und</strong>lage war die Verordnung des<br />

Ernestinischen Herzoghauses von 1827 die festlegte, „...daß allen besonderen Merkwürdigkeiten<br />

der Nat<strong>ur</strong>, der Kunst, des Alterthums usw., welche in Höchstdero Landen wahrgenommen<br />

werden <strong>und</strong> aufgef<strong>und</strong>en, eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet <strong>und</strong> alle Gegenstände dieser<br />

Art sorgfältig geschont <strong>und</strong> aufbewahrt werden, <strong>und</strong> haben zu dem Ende verordnet, daß die<br />

Behörden in den Städten <strong>und</strong> auf dem Lande ihr Augenmerk selbst auf dergleichen Gegenstände<br />

richten, insbesondere aber die Unterthanen, vornehmlich den weniger unterrichteten Theil<br />

derselbst, darauf aufmerksam machen, <strong>und</strong>, diese z<strong>ur</strong> Einlieferung von solchen Gegenständen<br />

ermahnen...“ 3 .<br />

Abb. 1:<br />

1 – Mittelpaläolithischer Schaber aus<br />

Quarzit von B<strong>ur</strong>gtonna „Tuffbruch Haun“<br />

2 – Mittelpaläolithisches Feuersteingerät von<br />

Gotha/Siebleben „Geierslache“<br />

1872 gründete Karl Samwer in Gotha den Anthropologischen Verein. Er ließ bereits 1872/73 die<br />

ersten archäologischen Ausgrabungen an dem frühbronzezeitlichen Grabhügel im „Langel“ bei<br />

Körner (früher Exklave von Gotha, heute Unstrut-Hainich-Kreis) <strong>und</strong> an den spätsteinzeitlichen<br />

Grabhügeln im „Berlach“ (Gemarkung Hörselgau) d<strong>ur</strong>chführen. <strong>Die</strong> Grabungen <strong>und</strong> deren<br />

Dokumentation w<strong>ur</strong>den in einer für diese Zeit vorbildlichen Weise ausgeführt. Mit der Tätigkeit<br />

des Mediziners Prof. G. Florschütz begann die Epoche der kontinuierlichen Erforschung der Ur-<br />

<strong>und</strong> Frühgeschichte im Gothaer Land. <strong>Die</strong> von ihm 1895 initiierte Gründung des Vereins für<br />

Gothaische Geschichte <strong>und</strong> Altertumsforschung <strong>und</strong> der Einrichtung des Gothaer<br />

Heimatmuseums 1928 schuf er die Basis der archäologischen Forschung im Gothaer Land. Von<br />

überregionaler Bedeutung waren seine Ausgrabungen des eisenzeitlichen Bestattungsplatzes von<br />

Seebergen („Heilige Lehne“) <strong>und</strong> des kaiserzeitlichen Urnenfriedhofes von Wechmar<br />

(„Altfeld“).<br />

2 KAUFMANN, HERM. 1955: Vor- <strong>und</strong> <strong>frühgeschichtliche</strong> F<strong>und</strong>stätten im Seeberggebiet bei Gotha, Anm. 1. In:<br />

Der Friedenstein Jg. 1955, H. II, S. 7-14; H. III, S. 11-14, Gotha.<br />

Anm. 1<br />

3 FLORSCHÜTZ, G. 1927: Der Stand der Denkmalpflege in Thüringen; S. 116. In: Nachrichtenblatt für deutsche<br />

Vorzeit 3, S. 116-118. Leipzig.<br />

2


Mit ähnlichen Intentionen entfaltete sich im Nessegebiet unter Leitung des Arztes Dr. H.<br />

Wagener die Behringer Heimatvereinigung.<br />

<strong>Die</strong> von Florschütz begonnene Arbeit w<strong>ur</strong>de seit 1940 d<strong>ur</strong>ch Hermann Kaufmann, den Leiter des<br />

Heimatmuseums, in würdiger Weise fortgesetzt. Zuvor hatte er Ende der 30er Jahre seine<br />

umfangreiche Privatsammlung in das Museum eingebracht. <strong>Die</strong> von ihm begonnene<br />

Inventarisierung der F<strong>und</strong>e w<strong>ur</strong>de auf die Gothaer Bestände ausgedehnt. Seine Aufarbeitung der<br />

im Museums verwahrten Stücke machten die Sammlung in der Fachwissenschaft zugänglich <strong>und</strong><br />

bekannt. Daneben hatte er maßgebenden Anteil an der Schaffung eines dichten Netzes<br />

ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger <strong>und</strong> an der Popularisierung der Forschungsergebnisse.<br />

1955 veröffentlichte Kaufmann einen zusammenfassenden Bericht über die <strong>Besiedlung</strong> des<br />

Seeberggebietes <strong>und</strong> 1964 über die <strong>Besiedlung</strong> des Gothaer Landes. Dem folgte 1975 die<br />

Gesamtbeschreibung der Gothaer Urgeschichte d<strong>ur</strong>ch D. W. Müller. In den letzten 20 Jahren war<br />

der Kreis Gotha ständig Forschungsgegenstand der Prähistorie. Grabungen <strong>und</strong> Fl<strong>ur</strong>begehungen<br />

konnten Bekanntes festigen <strong>und</strong> spezifizieren, aber auch Neues zu Tage fördern.<br />

Paläolithikum<br />

Altpaläolithikum (700.000-150.000 v.u.Z.)<br />

Der Mensch drang erst relativ spät während der Holsteinwarmzeit ins nördliche Mittele<strong>ur</strong>opa<br />

vor. Der bedeutendste thüringische F<strong>und</strong>platz des Altpaläolithikums befindet sich am Nordrand<br />

des Thüringer Beckens bei Bilzingsleben (Kyffhäuserkreis). Hier konnte ein Rastplatz des<br />

Urmenschen (Homo erectus) ergraben werden, der sich an einer ehemals stark schüttenden<br />

Karstquelle befand. <strong>Die</strong> Sp<strong>ur</strong>en menschlicher Tätigkeit w<strong>ur</strong>den im Travertin konserviert. Vor ca.<br />

300.000-350.000 Jahren lagerten hier Großwildjäger. Man fand Nahrungsüberreste sowie Geräte<br />

aus Stein, Knochen <strong>und</strong> Geweih.<br />

Mittelpaläolithikum (150.000-40.000 v.u.Z.)<br />

Der Übergang zum Mittelpaläolithikum verbindet sich mit dem Beginn der Saalekaltzeit. In<br />

räumlichem <strong>und</strong> zeitlichem Zusammenhang vollzog sich die Herausbildung des Altmenschen<br />

(Homo sapiens neandertalensis). Im Zuge der Anpassung an das zunehmend kälter werdende<br />

Klima erfolgte eine Ausbreitung nach Norden. Der früheste Nachweis von Altmenschen gelang<br />

im Travertin von Weimar-Ehringsdorf. Hier lagerten Jäger <strong>und</strong> Sammler am Rande einer<br />

Karstquelle.<br />

3


Der älteste Beleg für die Anwesenheit von Menschen im Gothaer Land ist der F<strong>und</strong> eines ca.<br />

<strong>100.000</strong> Jahre alten Feuersteinschabers in einem Travertinbruch bei B<strong>ur</strong>gtonna (Abb. 1/1). Bei<br />

einem Feuersteingerät, das zwischen dem Nordhang des Seeberges <strong>und</strong> dem Siebleber Teich<br />

(Gotha/Siebleben „Geierslache“ ) entdeckt w<strong>ur</strong>de, ist zumindest eine mittelpaläolithische<br />

Datierung zu vermuten (Abb. 1/2).<br />

Abb. 2: Jungpaläolithische<br />

Feuersteingeräte von Wandersleben<br />

„Am Bahnhof“<br />

Jungpaläolithikum (40.000 bis 8.000 v.u.Z.)<br />

Im Verlaufe des mittleren Würmglazial vollzog<br />

sich der Übergang zum modernen Menschen<br />

(Homo sapiens sapiens). Eine neue Art der Steinbearbeitung (Schmalklingentechnik) gestattet es<br />

von einem speziell präparierten Kernstein regelmäßige Klingen abzuschlagen. Typisch war auch<br />

die Vielzahl von Knochen- <strong>und</strong> Geweihgeräten. Im Verlaufe des Jungpaläolithikums führte die<br />

Erfindung von Pfeil <strong>und</strong> Bogen zu einer Vervollkommnung der Jagdtechnik. <strong>Die</strong> Jäger <strong>und</strong><br />

Sammler siedelten bevorzugt am Rande von Hochflächen <strong>und</strong> an Einmündungen von Sei-<br />

tentälern. Bemerkenswert erscheinen die vielen jungpaläolithischen Kunstwerke. Sie vermitteln<br />

einen großartigen Einblick in die Vorstellungswelt der damaligen Menschen. Sie lebten in<br />

Familien innerhalb einer Sippe zusammen.<br />

Aus dem Gothaer Land verweisen n<strong>ur</strong> wenige F<strong>und</strong>e auf eine jungpaläolithische <strong>Besiedlung</strong>. In<br />

der Fl<strong>ur</strong> von Wandersleben („Am Bahnhof“), ist aufgr<strong>und</strong> der F<strong>und</strong>e (Abb. 2) eine Station von<br />

Jägern <strong>und</strong> Sammlern zu vermuten. Zeitgleiche Einzelf<strong>und</strong>e sind von Molschleben <strong>und</strong> anderen<br />

Stellen der Gemarkung Wandersleben bekannt.<br />

Mesolithikum (8.000-5.000 v.u.Z.)<br />

Mit dem Ende der Eiszeit um 8.000 v.u.Z. trat eine spürbare Klimaverbesserung ein. Es kam zu<br />

einer zunehmenden Bewaldung. Das Mesolithikum Thüringens ist bisher n<strong>ur</strong> wenig erforscht.<br />

Mittels Grabungen gewonnenes Material fehlt. <strong>Die</strong> Oberflächenf<strong>und</strong>e konzentrieren sich im<br />

Elster-Saale-Gebiet. Typisch sind Kleingeräte (Mikrolithen) in Form von Spitzen, Dreiecken <strong>und</strong><br />

Trapezen sowie Schaber.<br />

Einige wenige F<strong>und</strong>stellen aus den Ortsfl<strong>ur</strong>en von Gotha, Friedrichroda <strong>und</strong><br />

Waltershausen/Langenhain lieferten bis jetzt mesolithische Feuersteingeräte (Abb. 3/1-3).<br />

4


Erstmalig w<strong>ur</strong>den aus Felsgestein geschliffene <strong>und</strong> zu Spitz- <strong>und</strong> Querhauen bearbeitete Geräte<br />

hergestellt. Eine d<strong>ur</strong>chlochte Geröllhacke (Abb. 3/4) von Gotha (Wüstung Töpfleben; Nordhang<br />

des Seeberges) belegt diesen, in seiner Datierung nicht unumstrittenen, Gerätetyp.<br />

RAUM 1<br />

Neolithikum (ca. 5.000-1.800 v.u.Z.)<br />

Frühneolithikum (ca. 5.000-2.900 v.u.Z.)<br />

Im Laufe des 5. Jt. v.u.Z. erfolgte die Einwanderung von Ackerbauern <strong>und</strong> Viehzüchtern nach<br />

Thüringen. Aus ihrer <strong>ur</strong>sprünglichen Heimat im Dona<strong>ur</strong>aum brachten sie alle notwendigen<br />

Voraussetzungen der neuen Wirtschaftsweise mit. Dazu gehörten Haustiere (Schaf, Ziege,<br />

Schwein, Rind), Kenntnisse der Bodenbearbeitung <strong>und</strong> Viehzüchtung sowie die Techniken der<br />

Keramikherstellung, des Spinnens, des Webens, des Hausbaues <strong>und</strong> der Steinbearbeitung d<strong>ur</strong>ch<br />

Schleifen, Sägen <strong>und</strong> Bohren. Alle notwendigen handwerklichen Tätigkeiten verrichtete man im<br />

Hauswerk.<br />

Landwirtschaft / Textilherstellung (Vitrine 1 <strong>und</strong> „Aktionsgrube“)<br />

N<strong>ur</strong> unter günstigen Umständen konnten sich landwirtschaftliche Produkte aus der Steinzeit<br />

erhalten. Ein wertvoller F<strong>und</strong> sind die verkohlten Getreidekörner von Wandersleben.<br />

Gelegentllich gelangten Getreidekörner auf die noch weiche Tonoberfläche von Gefäßen. Beim<br />

Brand w<strong>ur</strong>de das Korn dann zwar vernichtet, sein Abdruck aber blieb erhalten. Heute hat man<br />

vor allem d<strong>ur</strong>ch Pollenanalysen detaillierte Kenntnisse über die angebauten Kult<strong>ur</strong>pflanzen. <strong>Die</strong><br />

wichtigsten Getreidearten waren Einkorn, Emmer, Dinkel <strong>und</strong> Rispenhirse. Daraus w<strong>ur</strong>de auf<br />

Trogmühlen Mehl gemahlen. Im Unterschied zu späteren Mühlen versetzte man den Läuferstein<br />

nicht in Drehung, sondern bewegte ihn auf <strong>und</strong> ab. <strong>Die</strong>se Tätigkeit können die<br />

Museumsbesucher an einer ausgestellten Trogmühle selbst nachvollziehen.<br />

Ein Aspekt der Viehhaltung, der näher beleuchtet werden soll, ist die Gewinnung von Wolle <strong>und</strong><br />

deren Weiterverarbeitung zu Textilien. <strong>Die</strong> ausgekämmte Wolle mußte zu einem Faden<br />

versponnen werden. Das geschah mit einer Holzspindel, die d<strong>ur</strong>ch eine Schwungmasse (Wirtel)<br />

in Drehung gehalten werden konnte. Von dieser Tätigkeit zeugen Spinnwirtel, die auf allen<br />

Siedlungen sehr häufig vorkommen. <strong>Die</strong> aus der Völkerk<strong>und</strong>e bekannten senkrecht stehenden<br />

Webstühle (siehe Rekonstruktion) können d<strong>ur</strong>ch F<strong>und</strong>e von in einer Reihe liegenden<br />

Webgewichten belegt werden.<br />

5


Abb. 3: Mesolithische Steingeräte (1-3Feuerstein):<br />

1 – Großenbehringen, „An der Horl“;<br />

2 – 3 – Waltershausen/Langenhain, „Kalkberg“;<br />

4 – Mesolithische Geröllhacke von Gotha/Töpfleben<br />

Bearbeitung von Felsgestein (Vitrine 2)<br />

<strong>Die</strong> gr<strong>und</strong>legend neue Steinbearbeitungstechnik der<br />

Jungsteinzeit war das Schleifen. Von größeren Steinplatten schnitt man<br />

Rohlinge z<strong>ur</strong>echt. Dabei w<strong>ur</strong>de Rillen so weit eingeschliffen, daß sich der<br />

Stein an dieser Stelle leicht brechen ließ. Solche Bearbeitungssp<strong>ur</strong>en sind<br />

noch an einem Steinfragment von Molschleben zu erkennen.<br />

Anschließend konnte mit hölzernen Hohlbohrern <strong>und</strong> feinem Quarzsand<br />

als Schleifmittel der Rohling d<strong>ur</strong>chlocht werden. Neben den<br />

d<strong>ur</strong>chbohrten Steingeräten zeugen eine ganze Reihe von Bohrkernen <strong>und</strong><br />

mißglückten Bohrversuchen von dieser Technik.<br />

Abb. 4:<br />

Dechselklinge mit<br />

Schärfungsp<strong>ur</strong>en<br />

von B<strong>ur</strong>gtonna (L: 11,2 cm)<br />

An zwei nachgebauten „Bohrmaschinen“ können die Besucher diese Technik selbst<br />

ausprobieren. Abschließend w<strong>ur</strong>de die Oberfläche des steinernen Rohlings, besonders seine<br />

Arbeitskanten, geschliffen. Stumpfe Werkzeuge konnten jederzeit neu geschärft werden.<br />

Um die Geräte effektiv einsetzen zu können, waren sie häufig mit einer Handhabe versehen. Da<br />

die Schäftungen überwiegend aus organischem Material hergestellt w<strong>ur</strong>den, sind Originalteile<br />

sehr selten gef<strong>und</strong>en worden. Bei einer Flachhacke (Dechsel) von B<strong>ur</strong>gtonna hatte die um die<br />

Holzschäftung <strong>und</strong> das Gerät gewickelte Befestigungsschn<strong>ur</strong> Rillen in die Steinoberfläche<br />

geschliffen (Abb. 4).<br />

In der Regel w<strong>ur</strong>den Steinwerkzeuge für die Holzbearbeitung eingesetzt. Das trifft auch für die<br />

30 bis 40 cm großen d<strong>ur</strong>chbohrten Schuhleistenkeile zu.<br />

Bearbeitung von Feuerstein / Knochenwerkzeuge / Keramikherstellung (Vitrine 3)<br />

Geräte aus Feuerstein w<strong>ur</strong>den während der gesamten Steinzeit sehr häufig verwendet. Das<br />

Ausgangsmaterial, auch Silex genannt, war in der Eiszeit vom Norden bis in unser Gebiet<br />

transportiert worden (Feuersteinlinie). D<strong>ur</strong>ch Schlagen können von dem glasähnlichen Material<br />

Absplisse erzeugt werden, die rasiermesserscharfe Kanten haben. In der Jungsteinzeit wendete<br />

6


man die schon lange vorher entwickelte Technik z<strong>ur</strong> Erzeugung klingenförmiger Abschläge an.<br />

Eine Feuersteinknolle w<strong>ur</strong>de von der äußeren Verwitterungsschicht befreit <strong>und</strong> ein Ende so<br />

abgeschlagen, daß eine gerade Fläche entstand. Von der Schlagfläche ausgehend, konnten nun<br />

an den Kanten Klingen geschlagen werden. An einem sogenannten Kernstein aus der<br />

Gemarkung Sonneborn, sind noch die Sp<strong>ur</strong>en (Negative) der abgeplatzten Werkstücke zu sehen.<br />

Abb. 5: Bandkeramaisches<br />

Hockergrab mit<br />

Spondylusmuschel <strong>und</strong><br />

Tongefäß, Seebergen<br />

„Trockenwerk“<br />

<strong>Die</strong> Klingen ließen<br />

sich an den Kanten<br />

d<strong>ur</strong>ch Ausübung von<br />

Druck weiter<br />

bearbeiten<br />

(retuschieren). Je<br />

nach<br />

Verwendungszweck w<strong>ur</strong>den Größe <strong>und</strong> Form der Geräte gestaltet. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />

Werkzeugtypen waren Messer, Sägen, Bohrer, Schaber, Beile <strong>und</strong> Pfeilspitzen. Viele Silexgeräte<br />

waren mit hölzernen Schäftungen versehen, die sich jedoch kaum erhalten haben. Ein Gerät, das<br />

bei der Herstellung von Pfeilschäften Verwendung fand, ist aus der Fl<strong>ur</strong> von Tüngeda bekannt.<br />

Der Pfeilglätter besteht aus zwei Sandsteinen, in deren planen Seiten eine halbr<strong>und</strong>e Rille<br />

eingearbeitet w<strong>ur</strong>de. Aufeinandergelegt konnte so ein Schaft gleichmäßig geschliffen werden.<br />

Zum Gerätebestand der Jungsteinzeit gehörten auch Werkzeuge aus Knochen. Schaber, Kratzer,<br />

Pfrieme <strong>und</strong> Nadeln fanden besonders bei Fell- <strong>und</strong> Lederbearbeitung Verwendung.<br />

Eine der bedeutendsten technischen Errungenschaften der Jungsteinzeit war die<br />

Keramikherstellung. Im Gr<strong>und</strong>e ist Keramik der erste „Kunststoff“ der Menschheit. D<strong>ur</strong>ch<br />

Brennen w<strong>ur</strong>de das Ausgangsmaterial Ton zu einem neuen, in der Nat<strong>ur</strong> nicht vorkommenden,<br />

Stoff. Keramische Stilgruppen spielen eine entscheidende Rolle bei der Beschreibung <strong>und</strong><br />

Unterscheidung archäologischer Kult<strong>ur</strong>en. Häufig gaben typische Gefäß- oder<br />

Verzierungsformen einer Kult<strong>ur</strong> ihren Namen (Glockenbecherkult<strong>ur</strong>, Bandkeramik-Kult<strong>ur</strong> usw.).<br />

In den Jahrtausenden vor der Zeitrechnung w<strong>ur</strong>den in unserem Gebiet Tongefäße ausschließlich<br />

ohne Drehscheibe frei geformt hergestellt. Kleinere Töpfe konnten aus einem Stück modelliert<br />

werden. Größere Gefäße w<strong>ur</strong>den aus einzelnen Lappen oder Wülsten stückweise aufgebaut, an<br />

den Nahtstellen verstrichen <strong>und</strong> geglättet. <strong>Die</strong> weiche Oberfläche ließ sich leicht verzieren. Nach<br />

7


dem Trocknen w<strong>ur</strong>den die Stücke im offenen Feuer gebrannt. Töpferöfen fanden hier in der<br />

Jungsteinzeit noch keine Verwendung.<br />

Bandkeramik (ca. 5.000-3.300 v.u.Z.; Vitrinen 4a-c)<br />

<strong>Die</strong> eingewanderten Siedler veränderten die nacheiszeitliche Umwelt <strong>und</strong> hinterließen vielfältige<br />

Sp<strong>ur</strong>en im Boden. Sie rodeten, legten Felder an <strong>und</strong> bauten Dörfer mit bis zu 30 m langen<br />

Sippenhäusern. Nach der typischen Verzierung der Gefäße mit linearen Mustern, bezeichnet man<br />

diese archäologische Kult<strong>ur</strong> als Bandkeramik. Man kennt zwei zeitlich aufeinanderfolgende<br />

Stilgruppen, die nach der bevorzugten Verwendung von Linien bzw. eingestochen Verzierungen<br />

als Linien- <strong>und</strong> Stichbandkeramik bezeichnet werden.<br />

<strong>Die</strong> Bandkeramik zählt im Gothaer Land zu den am häufigsten vertretenen archäologischen<br />

Kult<strong>ur</strong>en. Siedlungen <strong>und</strong> Gräberfelder sind vor allem aus den Flußgebieten der Apfelstädt,<br />

Hörsel <strong>und</strong> Nesse bekannt. Leider konnten in unserem Raum bei Siedlungsgrabungen noch keine<br />

Hausgr<strong>und</strong>risse aufgedeckt werden. <strong>Die</strong> meisten F<strong>und</strong>e stammen aus Gruben (Vitrine 4a), die<br />

sich im Boden als dunkle Verfärbungen abheben.<br />

Bandkeramische Brand- <strong>und</strong> Körpergräber (Vitrine 4b)<br />

In der Nähe der steinzeitlichen Dörfer findet man Friedhöfe. <strong>Die</strong> Toten w<strong>ur</strong>den auf der Seite<br />

liegend mit angezogenen Beinen bestattet. In den sogenannten Hockergräbern zeugen die<br />

Beigaben (Gefäße, Geräte <strong>und</strong> Schmuck) von offensichtlich damals bestehenden Vorstellungen<br />

über ein Weiterleben nach den Tode. <strong>Die</strong> Bestattungen aus der Gemarkung Friedrichswerth<br />

w<strong>ur</strong>den bei der Aufdeckung weitgehend zerstört. Dafür gelangten die bereits um 1906<br />

geborgenen Gräber von Erf<strong>ur</strong>t/Bischleben in die Gothaer Sammlung. In den 90er Jahren konnten<br />

bei Seebergen mehrere bandkeramische Bestattungen ausgegraben werden (Abb. 5). Von<br />

überregionaler Bedeutung ist der birituelle Friedhof von Wandersleben. Körpergräber <strong>und</strong><br />

Brandbestattungen traten hier gleichberechtigt auf.<br />

Bandkeramische Artefakte (Vitrine 4c)<br />

<strong>Die</strong> Keramik war meist r<strong>und</strong>bodig <strong>und</strong> wenig gegliedert. Typische Gefäßformen waren Kumpf<br />

(Abb. 6), Schale <strong>und</strong> Butte. Henkel <strong>und</strong> Knubben dienten der sicheren Handhabung der Gefäße<br />

<strong>und</strong> sicher auch gelegentlich als Aufhängevorrichtung. <strong>Die</strong> bereits erwähnten geritzten oder<br />

gestochenen Linienmuster schmückten die Oberfläche.<br />

Der zu einer Siedlung gehörende Kreisgraben (D<strong>ur</strong>chmesser 12 m) aus der Fl<strong>ur</strong> Seebergen gibt<br />

uns einen Hinweise auf das Vorhandensein von Kultanlagen.<br />

8


Rössener Kult<strong>ur</strong> (3.300-2.900 v.u.Z.)<br />

<strong>Die</strong> im Vergleich z<strong>ur</strong> Bandkeramik weitaus selteneren F<strong>und</strong>e der Rössener Kult<strong>ur</strong> zeigen, beson-<br />

ders in Westthüringen, süddeutsche Prägung. Charakteristisch war die Verzierung der Gefäße<br />

mittels Doppel- <strong>und</strong> F<strong>ur</strong>chenstichen, die sich zu flächendeckenden Ornamenten verdichten<br />

konnten (Abb. 7). Flaschen, Schalen, Kessel <strong>und</strong> tonnenförmige Gefäße gehörten mit<br />

Steingeräten des bandkeramischen Typenspektrums zum Inventar. Obwohl geschlossene<br />

Siedlungsgrabungen noch ausstehen, kann man die Wirtschafts- <strong>und</strong> Siedlungsweise mit der<br />

Bandkeramik vergleichen.<br />

Abb. 6: Tongefäße der Bandkeramik Abb. 7: Tongefäß (Kessel) der Rössener Kult<strong>ur</strong><br />

(Kumpf) von Friedrichswerth, „Alt-Erffa“ von Neudietendorf (heute Besitz Landesmuseum<br />

Halle)<br />

Mittelneolithikum (3.200-2.000)<br />

Das Mittelneolithikum ist in Mittele<strong>ur</strong>opa mit dem großen Komplex der Trichterbecherkult<strong>ur</strong><br />

verb<strong>und</strong>en.<br />

Baalberger Kult<strong>ur</strong> (3.200-2.700 v.u.Z.)<br />

<strong>Die</strong> Baalberger Kult<strong>ur</strong> mit ihrem Verbreitungsschwerpunkt im mitteldeutschen Raum ist im<br />

Gothaer Land n<strong>ur</strong> sehr sporadisch vertreten. Den einzigen Nachweis erbrachte die Ausgrabung<br />

einer Abfallgrube in der Fl<strong>ur</strong> von Remstädt. Dort fand sich eine große typisch vierhenklige<br />

Amphore (Abb. 8).<br />

Bernb<strong>ur</strong>ger Kult<strong>ur</strong> (2.800-2.300 v.u.Z.)<br />

<strong>Die</strong> Beziehungen der Bernb<strong>ur</strong>ger Kult<strong>ur</strong> nach Hessen <strong>und</strong> nach Südoste<strong>ur</strong>opa machten sich vor<br />

allem in der Keramik bemerkbar. Es waren r<strong>und</strong>e, bauchige, ungegliederte Gefäße mit<br />

umlaufenden Winkelbändern charakteristisch. Das Steingeräteinventar war in seiner Form funk-<br />

tional bedingt. <strong>Die</strong> Verwendung von Feuersteinbeilen <strong>und</strong> zweischneidigen Äxten aus<br />

Felsgestein ging auf Kontakte z<strong>ur</strong> nordischen Trichterbecherkult<strong>ur</strong> z<strong>ur</strong>ück. Häufig traten<br />

Knochen- <strong>und</strong> Geweihgeräte auf. Das Vorhandensein von Höhensiedlungen (z.B. auf dem<br />

Seeberg bei Gotha) deutet ein gewisses Schutzbedürfnis der damaligen Bevölkerung an.<br />

<strong>Die</strong> Bestattungsbräuche erwiesen sich als vielgestaltig. <strong>Die</strong> Toten w<strong>ur</strong>den unverbrannt in Hock-<br />

oder Strecklage beigesetzt. Neben einfachen Flachgräbern kamen auch Steineinbauten vor. Ende<br />

9


der 20er Jahre fand sich in einer Kiesgrube bei Gotha eine noch über 5,00 m lange Steinkiste mit<br />

mindestens 27 Bestattungen (Abb. 9). Hier konnte der älteste Metallf<strong>und</strong> unseres Gebietes<br />

geborgen werden. Das Schmuckröllchen aus Kupfer dürfte ein Import aus dem Südosten sein.<br />

Mit der jüngsten Beigabe im Kollektivgrab, einer Kugelamphore, ergibt sich eine<br />

Überschneidung z<strong>ur</strong> Nachfolgekult<strong>ur</strong>.<br />

Kugelamphorenkult<strong>ur</strong> (2.500-2.00 v.u.Z.)<br />

<strong>Die</strong> Kugelamphorenkult<strong>ur</strong> breitete sich am Ende des Mittelneolithikums über weite Teile<br />

E<strong>ur</strong>opas aus. <strong>Die</strong> thüringischen F<strong>und</strong>e gehören zu ihrer Westgruppe. Archäologische Leitformen<br />

sind die mit eingestempelten Rauten, Dreiecken, Strichen <strong>und</strong> Schn<strong>ur</strong>linien verzierten<br />

Kugelamphoren (Abb. 10). Im Bereich der schon oben erwähnten Höhensiedlung auf dem<br />

Seeberg fand sich Keramik dieser Kult<strong>ur</strong>gruppe. Neben dem Pflanzenanbau spielte wohl die<br />

Rinderzucht eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsleben.<br />

Spätneolithikum (2.400-1.800 v.u.Z.)<br />

Das Spätneolithikum w<strong>ur</strong>de in Thüringen d<strong>ur</strong>ch die Becherkult<strong>ur</strong>en (Schn<strong>ur</strong>keramik <strong>und</strong><br />

Glockenbecherkult<strong>ur</strong>) eingenommen.<br />

Schn<strong>ur</strong>keramik (2.400-1.800 v.u.Z.; F<strong>und</strong>auswahl: siehe Vitrine 7 Unten <strong>und</strong> Mitte)<br />

<strong>Die</strong> in Thüringen neben der Bandkeramik häufigste neolithische Erscheinung war die<br />

Schn<strong>ur</strong>keramik. Man kennt jedoch meist n<strong>ur</strong> die Gräber. <strong>Die</strong> geringe Anzahl von Siedlungen<br />

interpretiert man als Hinweis auf eine nomadisierende Lebensweise. Ausgesprochene Belege für<br />

eine Betonung der Tierhaltung, sind jedoch nicht sicher zu erbringen.<br />

<strong>Die</strong> Toten w<strong>ur</strong>den an topographisch exponierten Stellen unter Erdhügeln oder auch in<br />

Flachgräbern bestattet. Bedeutende Nekropolen sind im Gothaer Land aus den Fl<strong>ur</strong>en von<br />

Hörselgau („Berlach“), Gräfentonna („Fasanerie“), Leina („Boxberg“), Wechmar („Altfeld“)<br />

<strong>und</strong> vom Kamm des Seeberges bekannt. Mit der Untersuchung des 1893 abgetragenen<br />

„Semshög“ bei Gräfentonna, eines schn<strong>ur</strong>keramischen Grabhügels mit 32 Bestattungen, begann<br />

der damalige Amtsphysikus Dr. G. Florschütz sein Wirken in der archäologischen<br />

Denkmalpflege. Viele Einzelf<strong>und</strong>e der charakteristischen facettierten Äxte lassen auf zerstörte<br />

Gräber schließen. Auf Gr<strong>und</strong> der F<strong>und</strong>e läßt sich folgendes Gefäß- <strong>und</strong> Geräteinventar<br />

feststellen: Becher mit Schn<strong>ur</strong>- <strong>und</strong> Fischgrätenverzierung, bauchige Amphoren,<br />

Vierfüßchenschalen, zylindrische Dosen, facettierte <strong>und</strong> nichtfacettierte Hammeräxte,<br />

Silexgeräte, Meißel <strong>und</strong> Pfriemen.<br />

10


Schädelchir<strong>ur</strong>gie in der Steinzeit / schn<strong>ur</strong>keramischer Schmuck (Vitrine 5)<br />

Einen interessanten Einblick in medizinische Fähigkeiten <strong>und</strong> kultische Vorstellungen vermitteln<br />

Schädeloperationen (Trepanation). In einem sehr reich ausgestatteten Grab von Wechmar<br />

(„Altfeld“) fand sich ein Skelett, dessen Schädeldach an zwei Stellen großflächige Defekte zeigt.<br />

Schräge Abtragungssp<strong>ur</strong>en an den Rändern belegen, daß der Knochen abgeschabt w<strong>ur</strong>de.<br />

Abb. 8: Vierhenkeligen Amphore der Baalberger<br />

Kult<strong>ur</strong> von Remstädt, „Nördlich des Ortes“<br />

Abb. 10: Kugelamphore mit Rautenverzierung<br />

der gleichnamigen Kult<strong>ur</strong> von Gotha/Ostheim, Abb. 9: Kollektivgrab (Steinkiste) der Bernb<strong>ur</strong>ger<br />

„Kiesgrube Wagner Kult<strong>ur</strong> mit Nachbestattung der Kugelamphorenkult<strong>ur</strong><br />

von Gotha/Ostheim, „Kiesgrube Wagner“<br />

11


Abb. 11: Schädel mit Sp<strong>ur</strong>en zweier gut ver- Abb. 12: Beigaben aus dem schn<strong>ur</strong>keramischen Hügelgrab 12 von Hörselgau,<br />

heilter Operationen der Schn<strong>ur</strong>keramik von „Berlach“: 1 – Facettierte hammeraxt aus Stein;<br />

Wechmar, „Altfeld“ 2 – schn<strong>ur</strong>verzierter Becher<br />

<strong>Die</strong> knöchernen W<strong>und</strong>ränder beider Trepanationen waren ohne Komplikationen verheilt. Der<br />

Schn<strong>ur</strong>keramiker hatte die Eingriffe demnach gut überstanden (Abb. 11). <strong>Die</strong> Operate<strong>ur</strong>e der<br />

Steinzeit müssen über erstaunliche medizinische Kenntnisse <strong>und</strong> Fertigkeiten mit dem<br />

„Feuersteinskalpell“ verfügt haben.<br />

Sch<strong>ur</strong>keramisches Hügelgräberfeld Hörselgau „Berlach“ (Vitrine 6)<br />

Mit insgesamt 18 erhaltenen Grabhügeln ist der Bestattungsplatz im „Berlach“ der größte seiner<br />

Art im Gothaer Land. Bereits 1873 w<strong>ur</strong>de der F<strong>und</strong>platz d<strong>ur</strong>ch Mitglieder des<br />

Anthropologischen Vereins von Gotha vermessen <strong>und</strong> fünf Hügel ausgegraben. Weitere vier<br />

Anlagen w<strong>ur</strong>den 1898 vom Museum für Völkerk<strong>und</strong>e Berlin geöffnet. <strong>Die</strong> Hügel hatten einen<br />

D<strong>ur</strong>chmesser von 7 bis 35 m <strong>und</strong> eine Höhe zwischen 0,25 <strong>und</strong> 2 m. Skelette sind nicht<br />

überliefert. <strong>Die</strong> Beigaben bestanden aus schn<strong>ur</strong>verzierten Bechern (Abb. 12/2), Miniat<strong>ur</strong>gefäßen,<br />

facettierten Hammeräxten (Abb.: 12/1), Feuersteinklingen- <strong>und</strong> Pfeilspitzen <strong>und</strong> in einem Fall<br />

aus einer r<strong>und</strong>en Steinscheibe. Schmuckstücke aus d<strong>ur</strong>chbohrten Tierzähnen <strong>und</strong><br />

Muschelscheiben, wie sie aus vielen anderen Gräbern bekannt sind (siehe Vitrine 5), w<strong>ur</strong>den<br />

hier nicht geborgen.<br />

Glockenbecherkult<strong>ur</strong> (2.200-1.700 v.u.Z.; Vitrine 7, Oben)<br />

Das Verbreitungsgebiet der Glockenbecherkult<strong>ur</strong> deckt sich in Thüringen im wesentlichen mit<br />

dem der Schn<strong>ur</strong>keramik. Auch ihre Hinterlassenschaften sind meist aus Gräbern bekannt. <strong>Die</strong><br />

Menschen wanderten aus dem Südwesten nach Thüringen ein.<br />

<strong>Die</strong> namengebende Gefäßform war der Glockenbecher (Abb. 13/1). Weitere Keramikformen<br />

sind flachbodige Schüsseln <strong>und</strong> Fußschalen. Häufig treten dreieckige oder mit eingezogener<br />

12


Basis versehene <strong>und</strong> gelegentlich gestielte Silexpfeilspitzen auf. <strong>Die</strong> besondere Bedeutung von<br />

Pfeil <strong>und</strong> Bogen in der Bewaffnung verdeutlichen Arm- <strong>und</strong> Daumenschutzplatten aus Stein, die<br />

vor der z<strong>ur</strong>ückschnellenden Sehne schützten. Steinäxte waren in den Gräbern selten.<br />

Oberflächenf<strong>und</strong>e von spitznackigen Beilen aus Nephrit (Halbedelstein), gef<strong>und</strong>en in den Fl<strong>ur</strong>en<br />

von Sonneborn <strong>und</strong> Gotha/Ülleben, sind Importstücke. <strong>Die</strong> Toten bestattete man als Hocker in<br />

einfachen Erdgräbern <strong>und</strong> gelegentlich in Steinkisten oder Holzkammern. In der Gemarkung<br />

Ballstädt w<strong>ur</strong>den beim Pflügen aus einem Steinkistengrab kupferne Flachbeile (Abb. 13/2)<br />

herausgerissen. Mehrere Bestattungen sind vom Kamm des Seeberges <strong>und</strong> aus den Fl<strong>ur</strong>en von<br />

Wechmar, Wandersleben <strong>und</strong> Seebergen bekannt.<br />

Abb. 13: Glockenbecherkult<strong>ur</strong>: 1 – Glockenbecher von Wechmar „Altfeld“;<br />

2 – Kupferbeile (Länge: ca. 18 cm von der F<strong>und</strong>stelle in der Nähe der „Fixen Idee“<br />

Bronzezeit (1.700-700 v.u.Z.)<br />

Aunjetitzer Kult<strong>ur</strong> (1.700-1.500 v.u.Z.)<br />

Im Verlaufe des 17. Jh. v.u.Z. begannen die auf Mittele<strong>ur</strong>opa ausstrahlenden Impulse der<br />

Bronzemetall<strong>ur</strong>gie im thüringischen Raum wirksam zu werden. Bronzegegenstände, besonders<br />

Werkzeuge, waren äußerst selten. Überwiegend w<strong>ur</strong>den die Gräte noch aus Stein <strong>und</strong> Knochen<br />

gefertigt.<br />

Obwohl im Arbeitsgebiet keine Siedlungen untersucht w<strong>ur</strong>den, muß man davon ausgehen, daß<br />

Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht die ökonomische Gr<strong>und</strong>lage des Lebens bildeten. Einfache Flachgräber<br />

fanden sich häufiger im Gothaer Land. In der Mehrzahl handelte es sich dabei um Einzelgräber.<br />

Das bis jetzt umfangreichste Aunjetitzer Gräberfeld mit über 20 Bestattungen konnte in den<br />

letzen Jahren bei Remstädt untersucht werden.<br />

<strong>Die</strong> Spätstufe (Leubinger Kult<strong>ur</strong>) wird d<strong>ur</strong>ch das Auftreten überd<strong>ur</strong>chschnittlich gut<br />

ausgestatteter Hügelgräber, auch als "Fürstengräber" bezeichnet, gekennzeichnet. Aus einem<br />

Hügel von 30 m D<strong>ur</strong>chmesser <strong>und</strong> 1,90 m Höhe aus dem „Langel“, in der ehemaligen Exklave<br />

13


Körner (heute Unstrut-Hainich-Kreis), konnten eine Hauptbestattung <strong>und</strong> 18 Nachbestattungen<br />

geborgen werden. In dem mit Steinplatten ausgelegten <strong>und</strong> d<strong>ur</strong>ch Holzbohlen <strong>und</strong> Steine<br />

abgedeckten Zentralgrab ruhte ein Skelett in Rückenlage. Neben der rechten Hand lag ein<br />

Bronzedolch, neben dem Kopf ein Steinhammer sowie ein Randleistenbeil <strong>und</strong> neben dem<br />

Oberschenkel ein Tongefäß (Abb. 14). Unter den heute noch imposanten Grabhügeln von<br />

Bufleben („Mühlhög“) <strong>und</strong> Gotha/Kindleben („Gerichtshügel“), dürfen wir ähnliche<br />

Bestattungen vermuten.<br />

Hügelgräberbronzezeit (1600-1200 v.u.Z.)<br />

<strong>Die</strong> Verbreitungsschwerpunkte der Hügelgräberkult<strong>ur</strong> lagen in Südwest- <strong>und</strong> Südostthüringen.<br />

Bezeichnend für die Kult<strong>ur</strong> w<strong>ur</strong>de die Sitte, große Bestattungshügel zu errichten.<br />

Erkenntnisse aus Siedlungsgrabungen fehlen weitgehend. Dementsprechend ist die<br />

Rekonstruktion der<br />

Wirtschaftsweise kompliziert.<br />

<strong>Die</strong> wenigen bekannten<br />

F<strong>und</strong>stücke aus dem Gothaer Raum<br />

tragen sämtlich den Charakter von<br />

Einzelf<strong>und</strong>en. Neben Radnadeln<br />

von Wandersleben, Wangenheim<br />

<strong>und</strong> Schwabhausen verdient<br />

besonders ein Absatzbeil <strong>und</strong> eine<br />

Petschaftskopfnadel von<br />

Eschenbergen (Abb. 15)<br />

Erwähnung. Vermutlich stammen<br />

diese Stücke aus zerstörten<br />

Gräbern.<br />

Abb. 14: Grabungsf<strong>und</strong> (Originaldokumentation<br />

von 1872) des Hügelgrabes<br />

Aunjetitzer Kult<strong>ur</strong> von Körner, „Langel“<br />

14


Abb. 15: Beigaben aus zerstöreten Bestattungen der Hügel- Abb. 16: Grabbeigasben aus spätbronzezeitlichen<br />

gräberbronzezeit: 1 – Petschaftskopfnagel von Tüngeda; Bestattungen von Gräfentonna, „Am Bahnhof“:<br />

2 – Absetzbeil von Tüngeda; 1 – Schale (H: 6,4 cm);<br />

3 – Radnadel von Wandersleben, 2 – Spitzbecher (H: 13,4 cm);<br />

„Südlich der Wechmarer Straße“ 3 – Schulterwulstamphore (H: 17,1 cm);<br />

Urnenfelderkult<strong>ur</strong> (1200-700)<br />

4 – Tordierter Bronzehalsring (Dm.: 11,2 cm)<br />

Thüringen befand sich während des 12. bis 8. Jh. v.u.Z. an der Peripherie verschiedener<br />

Gruppierungen der Urnenfelderkult<strong>ur</strong>. Im Becken entstand auf Gr<strong>und</strong>lage der thüringischen<br />

Hügelgräberkult<strong>ur</strong> unter Beteiligung westböhmischer Elemente die Unstrutgruppe.<br />

Zu einer ganzen Reihe von Einzel- <strong>und</strong> Oberflächenf<strong>und</strong>en gesellen sich im Gothaer Raum<br />

einige bedeutende F<strong>und</strong>komplexe. Der Bronzehort (ein absichtlich im Boden verborgener<br />

Schatz) von Hohenbergen (Exklave Körner, heute Unstrut-Hainich-Kreis) beinhaltet sechs<br />

Knopfsicheln, ein Schaftlappenbeil mit Öse, eine Punze, einen Pfriem, eine Nähnadel, zwei<br />

Fußringe, einen Armring, eine Schmucknadel, sieben Zierknöpfe, Bruchstücke einer kleinen<br />

Büchse, kleinere Drahtfragmente <strong>und</strong> einen Schmelzrest.<br />

Auf dem Kamm des Seeberges kennen wir eine bedeutende birituelle Nekropole, d.h.<br />

Körpergräber in Steinkisten <strong>und</strong> Brandgräber w<strong>ur</strong>den in die dort vorhandenen steinzeitlichen<br />

Grabhügel eingebracht. Das bis jetzt umfangreichste Gräberfeld der Unstrutgruppe im Gothaer<br />

Land konnte in den 90er Jahren unweit der Fasanerie bei Gräfentonna ausgegraben werden.<br />

Insgesamt w<strong>ur</strong>den 34 bronzezeitliche Bestattungen geborgen. Z<strong>ur</strong> Ausstattung der Gräber<br />

gehörten bis zu sechs Keramikgefäße <strong>und</strong> umfangreicher Bronzeschmuck (Abb. 16).<br />

15


Vorrömische Eisenzeit<br />

Hallstattzeit (7. Jh.- Mitte 5. Jh. v.u.Z.; Vitrine 8-9)<br />

Am Ende des 1. Jt. v.u.Z. gelangten Eisengegenstände <strong>und</strong> die mit dem neuen Material verbun-<br />

dene Technologie nach Thüringen. Nach einem Gräberfeld im österreichischen Hallstatt bezeich-<br />

net man diesen Zeitabschnitt als Hallstattzeit. <strong>Die</strong> eigentliche Hallstattkult<strong>ur</strong> erreichte Thüringen<br />

kaum. Im Beziehungsgeflecht des Mittelgebirgsraumes bildete sich die Thüringische Kult<strong>ur</strong><br />

(Ende 6. Jh. - Mitte 5. Jh. v.u.Z.) der späten Hallstattzeit heraus. Das charakteristische Merkmal<br />

ist der Wendelring. Im entwickelten Abschnitt der Kult<strong>ur</strong> traten erst-<br />

Abb. 17: Beigaben aus Brandgräbern<br />

der Thüringischen Kult<strong>ur</strong> von<br />

Gotha/Siebleben, „Kleiner Seeberg km<br />

5,6“ (Brandgräber 9 <strong>und</strong> 10):<br />

1 – Wendehalsring (Dm.: ca. 15 cm,<br />

Bronze);<br />

2 – Spitzpaukenfibel (L: ca. 3,5 cm,<br />

Bronze);<br />

3 – Steigbügelarmring<br />

(Dm.: 6,4 cm x 5 cm, Bronze);<br />

4 – feuerdeformierte Fibel (L: 2,8 cm,<br />

Bronze);<br />

5 – 7 – Bronzeblechstreifen;<br />

8 – Bronzekettchen;<br />

9 – 10 – Nedelschäfte (L 6,1 u. 3,4 cm,<br />

Eisen)<br />

mals Fibeln (Abb. 17/2, 4) als Gewandschließen auf. Ausdruck für die wechselseitige<br />

D<strong>ur</strong>chdringung bodenständiger Komponenten mit den vielfältigen späthallstattzeitlichen<br />

Kult<strong>ur</strong>strömen ist die Gothaer Gruppe der Thüringischen Kult<strong>ur</strong>. Inmitten eines körperbestat-<br />

tenden Umfeldes w<strong>ur</strong>de die Sitte der Leichenverbrennung ununterbrochen geübt. Auf zwei<br />

Nekropolen des Seeberges bei Gotha tritt uns dieses Phänomen entgegen.<br />

Trachtschmuck aus Gräbern der Thüringischen Kult<strong>ur</strong> (Vitrine 8)<br />

Der in den Gräbern des 6. Jh. v.u.Z. gef<strong>und</strong>ene Trachtschmuck bestand aus schweren bronzenen<br />

Wendelhalsringen (Abb. 17/1), steigbügelförmigen Armringen (Abb. 17/3) <strong>und</strong> Nadeln (Abb.<br />

17/9-10). Der Halsschmuck entstand aus einem vierkantigen Bronzestab, der erst erhitzt <strong>und</strong><br />

dann gegenläufig verdreht w<strong>ur</strong>de. <strong>Die</strong> so entstehenden Wendel gaben ihm den Namen. Bronze<br />

läßt sich im Gegensatz zu Eisen schmiedetechnisch n<strong>ur</strong> sehr schwer bearbeiten. <strong>Die</strong><br />

hervorragende Qualität vieler Ringe läßt auf eine meisterhafte Beherrschung der Technik<br />

16


schließen. Je nach Querschnitt des Stabes, ob sternförmig oder mit abger<strong>und</strong>eten Kanten,<br />

entstanden scharf- bis r<strong>und</strong>lappige Wendelringe. In der Spätzeit w<strong>ur</strong>den die Windungen n<strong>ur</strong> noch<br />

eingraviert (unechte Wendelringe). Der typische gegossene Armring war D-förmig, die<br />

Schauseite meist mit Perlstabmuster verziert. Große massive Nadeln mit umlaufenden Rillen am<br />

Kopf <strong>und</strong> Glasschmelzeinlagen (Throthaer Nadeln) waren dagegen selten. Der insgesamt sehr<br />

wuchtige Trachtschmuck ließ sich n<strong>ur</strong> schwer an- <strong>und</strong> ablegen, so daß er vermutlich ständig<br />

getragen w<strong>ur</strong>de, wie deutliche Abnutzungssp<strong>ur</strong>en an den Armringen zeigen.<br />

Der bedeutendste Grabf<strong>und</strong> der Sammlung w<strong>ur</strong>de 1884 bei Holzhausen, Ilmkreis, geborgen.<br />

Beim Tiefpflügen stieß der Finder auf drei Steinplatten, unter denen sich ein Ost-West<br />

orientiertes Skelett befand. Als Beigaben traten am Hals ein Wendelring mit scheibenförmigem<br />

Verschluß <strong>und</strong> jeweils sieben Steigbügelarmringe an den Unterarmen zutage. Ein in<br />

unmittelbarer Nähe entdecktes Kinderskelett war beigabenlos.<br />

Vorratsgefäß der Hallstattzeit (Vitrine 9)<br />

Ein aufschlußreicher Hinweis z<strong>ur</strong> früheisenzeitlichen <strong>Besiedlung</strong> stammt aus der in den 20er <strong>und</strong><br />

30er Jahren betrieben Kiesgrube „Erbach“ bei Goldbach. In zehn Abfall- <strong>und</strong> Kochgruben fand<br />

sich umfangreiches keramisches Material. Ein sogenannter Harpstedter Topf mit einem<br />

Mündungsd<strong>ur</strong>chmesser von ca. 45 cm dürfte aller Wahrscheinlichkeit z<strong>ur</strong> Aufbewahrung von<br />

Vorräten gedient haben. Vom gleichen F<strong>und</strong>platz stammt auch eine große Bronzenadel (Vitrine<br />

8) mit quergerieftem Kegelkopf <strong>und</strong> Resten blauer Emaileinlagen.<br />

Latènezeit (Mitte 5. Jh. v.u.Z. bis Mitte 1. Jh.; Vitrine 10-13)<br />

Vom südlichen Mittele<strong>ur</strong>opa strahlte die keltische Latènekult<strong>ur</strong> bis nach Mitteldeutschland aus.<br />

Südlich des Thüringer Waldes, an Werra, oberer Saale <strong>und</strong> Weißer Elster lebten zeitweise<br />

Kelten. Wir kennen ihre frühen Bestattungen mit Erzeugnissen des Latènestils. Keltische<br />

Künstler entwickelten griechische <strong>und</strong> etruskische ornamentale <strong>und</strong> florale Verzierungselemente<br />

zu aufgeblähten, schwellenden Formen <strong>und</strong> schufen stark stilisierte Tier- <strong>und</strong><br />

Menschendarstellungen. Sie schmückten Fibeln, Gürtelhaken <strong>und</strong> Schwertscheiden sowie viele<br />

Gegenstände des täglichen Gebrauchs. In Südthüringen zeigte sich an der keltischen Randzone<br />

ein zwar matter, aber dennoch sichtbarer Abglanz der keltischen Oppidakult<strong>ur</strong> des Südens. <strong>Die</strong><br />

Steinsb<strong>ur</strong>g bei Römhild (Lkr. Hildb<strong>ur</strong>ghausen) erscheint in ihrer Anlage einem keltischen Op-<br />

pidum (stadtartige Ansiedlung) nachgestaltet. Im Norden <strong>und</strong> Osten entstanden germanische<br />

Kult<strong>ur</strong>en. In einem breiten Streifen nördlich der Mittelgebirge bildete sich eine keltisch-<br />

germanische Ausgleichszone, in der sich die dort ansässige Bevölkerung den Latèneimpulsen<br />

bereitwillig öffnete. Trotzdem bestimmten dort im 5. Jh. v.u.Z. einheimische,<br />

17


späthallstattzeitliche Traditionen das kult<strong>ur</strong>elle Erscheinungsbild. Das schon seit dem Übergang<br />

von der Spätbronzezeit z<strong>ur</strong> Eisenzeit zu beobachtende Phänomen einer kult<strong>ur</strong>ellen <strong>und</strong><br />

vermutlich auch ethnischen Kontinuität, läßt sich im Gothaer Land an der Belegung des<br />

Gräberfeldes „Heiligen Lehne“, am Südhang des Seeberges (Gemarkung Seebergen),<br />

nachvollziehen.<br />

Gräberfeld Seebergen „Heilige Lehne“ (Vitrine 11)<br />

In zwei Grabungskampagnen (1927 <strong>und</strong> 1989-1996) konnten ca. 200 Bestattungen einer<br />

kleineren Siedlergemeinschaft untersucht werden. <strong>Die</strong> ältesten Gräber (6.-5. Jh. v.u.Z.) gehörten<br />

noch in die Hallstattzeit. Im Unterschied z<strong>ur</strong> zeitgleichen Nekropole auf dem Kamm des<br />

Seeberges, traten hier auch Körpergräber auf. Dem schlossen sich in der zweiten Hälfte des 5.<br />

Jh. v.u.Z. Brandgräber ohne Urne an. Vermutlich w<strong>ur</strong>de der Knochenbrand in einem organischen<br />

Behälter beigesetzt. Seit dem Ende des 2. <strong>und</strong> im 1. Jh. v.u.Z. dominierte das Urnengrab. <strong>Die</strong><br />

Beigaben (Abb. 18) spiegeln die kult<strong>ur</strong>ellen Einflüsse. Neben importierten frühkeltischen<br />

Erzeugnissen, Vogelkopffibeln <strong>und</strong> kastenförmigen Gürtelhaken, fanden sich heimische, der<br />

hallstättischen Tradition verpflichtete Formen (Tutulusnadeln). Bandförmige Gürtelschließen<br />

(Zungengürtelhaken) belegen Verbindungen z<strong>ur</strong> germanischen Jastorfkult<strong>ur</strong>. Auf der<br />

Drehscheibe gefertigte Keramikgefäße w<strong>ur</strong>den häufig als Knochenbrandbehälter verwendet.<br />

Der Gothaer Raum zeichnet sich d<strong>ur</strong>ch eine große Dichte keltischer Importe <strong>und</strong> Nachweise<br />

eines in dieser Tradition stehenden Handwerkes aus. Zu den eingeführten Gütern zählten<br />

Graphitton- <strong>und</strong> bemalte Keramik (Vitrine 13), Perlen <strong>und</strong> Armringe aus Glas, wesentlich sel-<br />

tener Münzen.<br />

Spätlatènezeitliche Siedlung Gotha „Fischhaus“ (Vitrine 12-13)<br />

Am Südrand von Gotha konnte eine spätlatènezeitliche Siedlung („Fischhaus/Kiesgrube Kieser“)<br />

untersucht werden. In einem zusammengebrochenen Töpferofen (Abb. 19) fand sich<br />

Drehscheibenkeramik. <strong>Die</strong> Fehlbrände belegen eindeutig die Produktion am Ort. Sowohl die<br />

Drehscheibe als auch die Konstruktion des Brennofens, sind als keltische Technologieimporte zu<br />

betrachten.<br />

Keltische Sandsteinfig<strong>ur</strong><br />

18


Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der ethnischen Diskussion gewinnt eine beim Abbruch der Stadtmauer<br />

Gothas gef<strong>und</strong>ene Sandsteinfig<strong>ur</strong> (Abb. 20) an Bedeutung. <strong>Die</strong> Plastik trägt Züge des keltischen<br />

Hirschgottes Cernunnos, der zwei abgeschlagene Köpfe (tête coupée) in den Armen hält.<br />

Abb. 18: Beigaben aus<br />

Gräbern der Latènezeit von<br />

Seebergen, „Heilige<br />

Lehne“:<br />

1 – Tutulusnadel (L 15,8<br />

cm, Eisen), Grab 47/1927;<br />

2 – als Urne verwendetes<br />

Drehscheibengefäß (H: 21,8<br />

cm), Grab 101/1994;<br />

3 – Vogelkopffibel (L 3,2<br />

cm, Bronze), Grab 10;<br />

4 – Zungengürtelhaken (L<br />

7,3 cm, Eisen), Grab<br />

9/1985;<br />

5 – Druchbrochener<br />

keltischer Gürtelhaken (L<br />

5,9 cm, Eisen), Grab<br />

39/1927<br />

Abb. 19: Modell des<br />

Töpferofens der Latènezeit<br />

von Gotha, „Fischhaus“<br />

<strong>Die</strong> nicht<br />

unumstrittene<br />

latènezeitliche<br />

Datierung<br />

Hinweis auf eine keltische Kultanlage abseits ihres eigentlichen Siedlungsgebietes.<br />

In der keltisch-germanischen Ausgleichszone traten im 1. Jh. v.u.Z. unvermittelt<br />

vorausgesetzt, wäre<br />

es ein interessanter<br />

Brandgrubenbestattungen auf. Gegenüber den üblichen Urnengräbern unterscheiden sie sich<br />

besonders d<strong>ur</strong>ch die Mitgabe von Waffen (Schwert, Schild <strong>und</strong> Lanze). Aufschluß über die<br />

Herkunft der neuen Elemente gibt die in diesen Gräbern gef<strong>und</strong>ene Keramik . <strong>Die</strong> typischen<br />

Tassen <strong>und</strong> Töpfe mit facettiertem Rand <strong>und</strong> zwei x-förmigen Henkeln finden ihre Entspre-<br />

19


chungen in der Keramik der Oder-Warthe Gruppe. Man geht in der Forschung von einem<br />

Vorstoß dort ansässiger Bevölkerungsteile bis an den Main aus.<br />

Hortf<strong>und</strong> mit eisernen Geräten von Körner (Vitrine 10)<br />

Ende des 19. Jh. stieß man beim Bau der Eisenbahnlinie Mühlhausen - Ebeleben nördlich der<br />

Bergmühle auf zwei Tongefäße. In einem großen, bauchigem Drehscheibengefäß befanden sich<br />

über 40 Eisengegenstände unterschiedlichster Verwendung. Es handelt sich um Waffen<br />

(einschneidiges Schwert mit Scheide, Fragment eines zweischneidigen Schwertes,<br />

Lanzenspitzen, schwere Messerklinge), Werkzeuge (Tüllenbeile, Axt, Meißel, Sicheln, Sensen<br />

<strong>und</strong> -ringe, Pflugscharen), Haus- <strong>und</strong> Küchengeräte (Fleischgabel, Feuerschippe, Schüreisen,<br />

Kesselhaken, Schnellwaage), Zubehör für Pferd <strong>und</strong> Wagen (Trense, Vorstecknagel,<br />

Beschläge) sowie weitere nicht näher zu bestimmende Fragmente. <strong>Die</strong> Gegenstände w<strong>ur</strong>den<br />

absichtlich in der Erde verborgen (Hort- oder Verwahrf<strong>und</strong>). <strong>Die</strong> Gründe, die die damaligen<br />

Besitzer bewogen, sich von ihrem wertvollen Eigentum zu trennen, werden sich wohl nie<br />

ermitteln lassen. Der Hort w<strong>ur</strong>de wohl in den Jahrzehnten um die Zeitenwende niedergelegt. Das<br />

Drehscheibengefäß <strong>und</strong> die chronologisch aussagefähigsten Eisenobjekte (Schwert, Tüllenbeil)<br />

sind spätlatènzeitlich, keltisch geprägt. Das schließt eine Datierung in den Übergangshorizont<br />

z<strong>ur</strong> römischen Kaiserzeit jedoch nicht aus, da viele Formen langlebig waren.<br />

Großromstedter Horizont (30 v.u.Z.- um 0; Vitrine 10)<br />

Mit dem Verlust der keltischen Unabhängigkeit als Folge des Gallischen Krieges (Mitte des 1.<br />

Jh. v.u.Z.) schwand auch der prägende Einfluß auf die Stämme des Mittelgebirges.<br />

Eigenständige Elemente führten weiter nördlich z<strong>ur</strong> Herausbildung der germanischen Elbgruppe.<br />

Von ihrem Entstehungsgebiet, das den Raum nördlich des Harzes, den Süden der Altmark, die<br />

mittlere Elbe<br />

<strong>und</strong> das Havelgebiet bis z<strong>ur</strong> Prignitz umfaßte, stieß die elbgermanische Kult<strong>ur</strong> nach Süden <strong>und</strong><br />

Westen vor. Thüringen w<strong>ur</strong>de nördlich des Waldes von dieser Expansion erfaßt.<br />

Siedlungsschwerpunkte bildeten das Elstertal, das Saale-Ilm-Dreieck <strong>und</strong> der Oberlauf der<br />

Unstrut sowie das westliche Becken. Südthüringen dagegen blieb unberührt. Der elbgermanische<br />

Vorstoß traf im Gothaer Land keineswegs auf unbesiedeltes Gebiet, wie Kontinuität auf Sied-<br />

lungsplätzen zeigt (z.B. Wangenheim). Im Gegensatz dazu brach die Belegung der meisten<br />

Friedhöfe ab <strong>und</strong> neue mit elbgermanischem Charakter w<strong>ur</strong>den angelegt. Das wohl bekannteste<br />

Gräberfeld in Thüringen, Großromstedt (Ilmkreis), gab diesem Zeithorizont den Namen.<br />

20


← Abb. 20: Sandsteinfig<strong>ur</strong> (H: 91 cm), Darstellung einer vermutlich keltischen Gottheit<br />

mit abgeschlagenen Köpfen in den Händen, Spolie aus der Stadtmauer von Gotha<br />

↑ Abb. 21: Keramikgefäß (Situla, H: 13,2 cm) des Großromstedter Horizontes von Leina,<br />

„Hinter der Schule“<br />

<strong>Die</strong> Hauptgefäßform war die Trichter<strong>ur</strong>ne (Situla) mit k<strong>ur</strong>zem Rand, schräger Schulter <strong>und</strong><br />

einem scharfen Umbruch zum stark einziehenden Gefäßunterteil. <strong>Die</strong> Schulter ist mit feinen<br />

Strich- <strong>und</strong> Rollrädchenmustern verziert, die Oberfläche glänzend schwarz (Abb. 21). <strong>Die</strong><br />

hochwertigen Töpferarbeiten w<strong>ur</strong>den ohne Drehscheibe hergestellt. Geschweifte Drahtfibeln,<br />

z.T. noch vom Spätlatèneschema, Bronzestab- <strong>und</strong> Lochgürtelhaken, Kamm <strong>und</strong> Messer<br />

gehörten z<strong>ur</strong> Grabausstattung. Schwerter, Lanzen <strong>und</strong> Schildbuckel (überwiegend<br />

Stangenschildbuckel) betonten die besondere Rolle des Kriegers in der Gesellschaft. Ein<br />

derartiges Waffengrab mit Messer <strong>und</strong> Lanzenspitzen in einem Bronzekessel als Urne, fand sich<br />

beim Eisenbahnbau in der Fl<strong>ur</strong> von Fröttstedt. Mit einigem Recht können wir die Herm<strong>und</strong><strong>ur</strong>en<br />

als die Träger der oben umrissenen Kult<strong>ur</strong> elbgermanischer Prägung bezeichnen. Sie standen<br />

nach römischen Überlieferungen <strong>und</strong> archäologischem F<strong>und</strong>material in enger Beziehung mit den<br />

Markomannen.<br />

Römische Kaiserzeit (um 0 - 375)<br />

Frühe Kaiserzeit (um 0 - Mitte 2. Jh.)<br />

Am Nordrand des Thüringer Waldes wich die elbgermanische <strong>Besiedlung</strong>sphase des<br />

Großromstedter Horizontes in den ersten Jahrzehnten u.Z. rhein-weser-germanischen<br />

Kult<strong>ur</strong>einflüssen. <strong>Die</strong> vormals bestehenden Beziehungen zu westlich benachbarten<br />

Bevölkerungen festigten sich erneut. Gegen Ende des 1. Jh. hatte sich in Thüringen bis z<strong>ur</strong><br />

21


mittleren Saale ein Kult<strong>ur</strong>komplex ausgebildet, der vergleichbar mit dem des Mittelrheins,<br />

keltische Komponenten <strong>und</strong> k<strong>ur</strong>zzeitige elbgermanische Impulse vereinigte. Wenngleich die<br />

äußere Erscheinung der F<strong>und</strong>e einen Bevölkerungswechsel nahelegt, ist doch eine Kontinuität in<br />

der Benutzung der Siedlungs- <strong>und</strong> Bestattungsplätze (z.B. Schlotheim, Unstrut-Hainich-Kreis)<br />

nachzuweisen. Vermutlich haben in Thüringen auch die Herm<strong>und</strong><strong>ur</strong>en Anteil an der rhein-weser-<br />

germanischen Kult<strong>ur</strong>. Archäologische Zeugnisse stammten zum größten Teil aus Siedlungen, da<br />

bis zum 2. Jh. relativ beigabenarme Brandbestattungen in einfachen Erdgruben vorherrschten.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> des Bestattungsbrauches sind an den Gräbern keine gesellschaftlichen<br />

Differenzierungen abzulesen, obwohl die Römer über einflußreiche Anführer mit stattlicher<br />

Gefolgschaft berichteten.<br />

Das keramische F<strong>und</strong>gut zeigte typische rhein-weser-germanische Züge. Töpfe, Schüsseln <strong>und</strong><br />

Näpfe hatten häufig abgesetzte Böden, Standringe oder Stengelfüße. Das Gefäßunterteil war mit<br />

Warzen, Tupfen <strong>und</strong> Einstichen flächendeckend überzogen. Als Beispiel aus dem Gothaer Raum<br />

seien hier Siedlungsf<strong>und</strong>e aus der „Kiesgrube Mönch“ bei Wangenheim genannt. In der<br />

Verfüllung eines rechteckigen Grubenhauses (L: 3,7 m; B: 3,0 m; T: ca. 0,8 m) w<strong>ur</strong>de<br />

frühkaiserzeitliche Keramik geborgen.<br />

Späte Kaiserzeit (2. Hälfte 2. Jh. - 375; Vitrine 14-18)<br />

<strong>Die</strong> <strong>Besiedlung</strong> des Gebietes zwischen mittlerer Elbe <strong>und</strong> Thüringer Wald war während der<br />

zweiten Hälfte des 2. Jh. bis Ende des 4. Jh. sehr intensiv. Das Siedlungsgebiet der Herm<strong>und</strong><strong>ur</strong>en<br />

erstreckte sich an der Wende zum 3. Jh. von der mittleren Elbe, dem Saalegebiet bis zum Raum<br />

nördlich der Donau. Aus dem 3.-4. Jh. liegen dafür jedoch keine schriftlichen Quellen vor, so<br />

daß eine Untergliederung in archäologische Gruppen vorgenommen w<strong>ur</strong>de. Zwischen Harz <strong>und</strong><br />

Thüringer Wald fand die rhein-weser-germanisch beeinflußte Kult<strong>ur</strong> der älteren Kaiserzeit in der<br />

Wechmarer Gruppe (benannt nach dem Gräberfeld Wechmar „Altfeld“) ihre Fortsetzung.<br />

Brandbestattungen des Gräberfeldes Wechmar „Altfeld“ (3. Jh.; Vitrine 14)<br />

Zwischen 1937-39 w<strong>ur</strong>den 280 Brandbestattungen beim Kiesabbau unter Leitung von Prof.<br />

Florschütz geborgen. Davon waren 60 % Urnengräber. Bei den übrigen Bestattungen lag der<br />

Knochenbrand frei in der Erde. Vermutlich befand er sich ehemals in einem Beutel aus Stoff<br />

oder Leder. Für diese Sitte sind vom Ausgräber ostgermanische Einflüsse geltend gemacht<br />

worden. <strong>Die</strong> Weiterführung älteren rhein-weser-germanischen Erbes kann jedoch ebenso belegt<br />

werden. Besonders Keramikgefäße mit Warzenverzierungen zeigen solche Traditionen (Abb.<br />

22/9). <strong>Die</strong> Gräber waren unterschiedlich reich <strong>und</strong> geschlechtsspezifisch ausgestattet. Zu den<br />

Beigaben eines der ansehnlichsten Frauengräber (Grab 12a) gehörten römische Bronzegefäße<br />

22


(Kanne, kleines Becken sowie eine weiteres Gefäß), ein Holzeimer (?), eine bronzene Nähnadel,<br />

Spinnwirtel (Abb. 22/3, 5), Messer (Abb. 22/1, 7), eine Bronzefibel, Glasperlen, ein Hals- <strong>und</strong><br />

ein Fingerring aus Silber, ein römisches Brustgehänge mit mondförmigen Anhängern aus Silber<br />

<strong>und</strong> Eimeranhängern aus Bronze, ein römischer Militärbeschlag (sicher in sek<strong>und</strong>ärer<br />

Verwendung), zwei Knochennadeln <strong>und</strong> ein weiterer Fingerring aus Bronze. Typisch für<br />

Frauengräber waren Holzkästchen mit eisernem Verschluß <strong>und</strong> Hakenschlüssel.<br />

In Männergräbern traten neben den Gewandschließen (Bügel- <strong>und</strong> Scheibenfibeln; Abb. 22/2, 4,<br />

6) besonders eiserne Äxte, Pfeil- <strong>und</strong> Speerspitzen <strong>und</strong> Gürtelschnallen hervor (Abb. 22/8).<br />

Waffen spielten jedoch eine eher untergeordnete Rolle im Bestattungsritus. Vom gesamten<br />

Gräberfeld sind n<strong>ur</strong> ein einschneidiges Schwert sowie eine Einfassung <strong>und</strong> der Endbeschlag<br />

(Ortband) einer Schwertscheide bekannt.<br />

Körperbestattung eines germanischen Adligen von Haina, um 300 (Vitrine 15)<br />

Am Ende des 3. Jh. vollzog sich, wohl zuerst bei der gesellschaftlichen Oberschicht, eine<br />

Hinwendung zu Körperbestattungen. In scheinbar kleinen Gruppen w<strong>ur</strong>den Gräberfelder<br />

angelegt, in denen der Gentiladel seine Toten mit den Attributen einer gehobenen, an römischem<br />

Vorbild orientierten, Lebensweise bestattete. Nach der Nekropole von Haßleben (Ilmkreis) wird<br />

diese Erscheinung mit der Bezeichnung Haßlebener Gruppe umschrieben.<br />

Unweit von Haina w<strong>ur</strong>de ein solches „Adelsgrab“ bei Bauarbeiten angeschnitten. <strong>Die</strong><br />

Abb. 22: Beigaben aus<br />

germanischen<br />

Brandgräbern des 3. Jhrd.<br />

von Wechmar „Altfeld“:<br />

1, 7 – Messer, Eisen;<br />

2 – Fibelfragment, Bronze;<br />

3, 5 – Spinnwirtel,<br />

Keramik;<br />

4 – Scheibenfibel, Bronze;<br />

6 – Bügelfibel, Bronze;<br />

8 – Axt, Eisen;<br />

9 – Urne mit<br />

Warzenverzierung,<br />

Keramik;<br />

10 – Urne,<br />

Drehscheibenkeramik<br />

<strong>ur</strong>sprünglich 2,80 m lange, 0,80 m breite <strong>und</strong> 1,20 m tiefe Grabgrube war von Nord nach Süd<br />

ausgerichtet. Man stattete den um 300 verstorbenen jungen Mann mit umfangreichen Beigaben<br />

aus. Besonders das sich am römischen Tafelservice orientierende Trinkgeschirr war<br />

23


emerkenswert. Über dem Schädel standen neben römischen Buntmetallgefäßen (steilwandiges<br />

Becken, Kelle-Sieb-Garnit<strong>ur</strong>) <strong>und</strong> Gläsern (vier Schalen mit Schliffdekor) auch zwei<br />

einheimische Schalen aus Keramik. Im Fußbereich fanden sich zwei römische Eimer aus<br />

Buntmetall sowie auf einem Holzbrett ein germanischer Daubeneimer mit Reifen <strong>und</strong> Henkel<br />

aus Bronze. Z<strong>ur</strong> Tracht gehörten zwei Fibeln (Gewandspangen) aus Silber <strong>und</strong> eine aus Bronze,<br />

eine Gürtelschnalle <strong>und</strong> ein Knochenkamm. An der rechten Hand trug der Verstorbene einen<br />

römischen Goldfingerring mit eingesetzter Gemme. In den roten Halbedelstein (Karneol) ist eine<br />

Hirschdarstellung eingraviert. Zusammen mit zwei Pfeilspitzen aus Bronzeblech, die nicht als<br />

Waffen zu verwenden waren, symbolisierte der Ring sicher die gesellschaftlich herausragende<br />

Stellung des Trägers. <strong>Die</strong> Beigabe von Fleisch (Tierknochen) <strong>und</strong> einem Ei stand im<br />

Zusammenhang mit kultischen Vorstellungen des Totenrituals.<br />

Abb. 23: Römisches<br />

Bronzetablett aus<br />

germanischem Körpergrab<br />

von Hassleben<br />

<strong>Die</strong> Prunkgräbersitte<br />

setzte erst ein, als<br />

die gesellschaftliche<br />

Differenzierung so<br />

weit fortgeschritten<br />

war, daß eine Selbstdarstellung der Führungsschicht notwendig w<strong>ur</strong>de <strong>und</strong> die Kontakte zum<br />

römischen Reich dazu anregten. Es darf angenommen werden, daß über die Ehrung der Person<br />

des Verstorbenen hinaus, vor allem die Nachkommen ihre edle Abstammung bek<strong>und</strong>en wollten.<br />

Von einem Adel als Rechtsstand, in den man hineingeboren oder vom König berufen w<strong>ur</strong>de,<br />

kann vor dem 7. Jh. nicht gesprochen werden. <strong>Die</strong> soziale Oberschicht der Germanen des 3./4.<br />

Jh. hatte sich noch nicht völlig konstituiert <strong>und</strong> mußte daher d<strong>ur</strong>ch Prunkentfaltung unterstrichen<br />

werden.<br />

Der Übergang von der späten Kaiserzeit z<strong>ur</strong> Völkerwanderungszeit ist im archäologischen<br />

F<strong>und</strong>gut fließend <strong>und</strong> besonders an Keramik nicht in jedem Fall verifizierbar. Im Gothaer<br />

F<strong>und</strong>material läßt er sich jedoch anhand später Sigillata mit Rollrädchenverzierung <strong>und</strong> d<strong>ur</strong>ch<br />

das Fragment eines spätrömischen Militärgürtels von Gotha Siebleben gut belegen.<br />

Römische Importe im freien Germanien (Vitrine 17-18)<br />

Es handelte sich bei den römischen Importen vor allem um handwerkliche Produkte, deren<br />

Herstellung den Germanen nicht verfügbare Technologien voraussetzte. Im wesentlichen waren<br />

24


dies Metall- <strong>und</strong> Glasgefäße (Abb. 23), Terra sigillata (Geschirr aus rotem Ton), Glasperlen,<br />

Schmuck, Waffen <strong>und</strong> Münzen. Art <strong>und</strong> Verteilung römischer Importe ermöglichen Aussagen zu<br />

politischen Konstellationen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnissen zwischen Germanen <strong>und</strong><br />

Römern.<br />

<strong>Die</strong> geographische Lage im Rücken des germanischen Stammes der Chatten (im heutigen<br />

Hessen), die im 1. <strong>und</strong> 2. Jh. ständig die Reichsgrenzen bedrohten, machte die Herm<strong>und</strong><strong>ur</strong>en zu<br />

glänzenden römischen Vertragspartnern (Subsidienzahlung). So dürfte der Warenzufluß z.T.<br />

bewußt nach Thüringen gelenkt worden sein. Im direkten Kontakt mit den Römern nahm<br />

besonders die germanische Stammesaristokratie Elemente römischer Lebensweise an. Im<br />

archäologischen F<strong>und</strong>material dominieren römische Importe aus dem 3. Jh.. Größere<br />

germanische Truppenkontingente standen zu dieser Zeit im Sold der gallischen Gegenkaiser.<br />

Seit dem Fall des Limes (zweite Hälfte des 3. Jh.) w<strong>ur</strong>den die Rheinprovinzen d<strong>ur</strong>ch die<br />

Germanen verheert <strong>und</strong> geplündert.<br />

Völkerwanderungszeit (375-710)<br />

Politische Entwicklung<br />

Der Stammesverband der Thüringer w<strong>ur</strong>de in den schriftlichen Quellen erstmals um 400<br />

erwähnt. An seiner Entstehung waren mit großer Wahrscheinlichkeit die Ende des 2. Jh.<br />

letztmalig genannten Herm<strong>und</strong><strong>ur</strong>en beteiligt.<br />

Abb. 24: Keramikgefäße (1-<br />

3) <strong>und</strong> Knochenkamm (4)<br />

aus thüringischen<br />

Körpergräbern von<br />

Ingersleben (6. Jhrd.)<br />

Während für die<br />

erste Hälfte des 5.<br />

Jh. noch keine ein-<br />

heitliche<br />

thüringische Kult<strong>ur</strong><br />

in Mitteldeutschland<br />

faßbar war, bildete<br />

sie sich in der<br />

zweiten Hälfte heraus. Das Hauptsiedlungsgebiet der Thüringer erstreckte sich bis zum 6. Jh. in<br />

das Harzvorland, das Thüringer Becken <strong>und</strong> nördlich bis an die mittlere Elbe.<br />

25


Hauptproduktionszweig waren Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht. Das bäuerliche Handwerk umfaßte<br />

Töpferei, Grobschmiede, Textil- <strong>und</strong> Holzverarbeitung. Edelmetallverarbeitung <strong>und</strong><br />

Drehscheibentöpferei scheint an Adelshöfe geb<strong>und</strong>en gewesen zu sein. Importe aus Franken,<br />

Böhmen, Norddeutschland <strong>und</strong> dem Dona<strong>ur</strong>aum belegen ebenso wie thüringische Keramik <strong>und</strong><br />

Fibeln außerhalb des eigentlichen thüringischen Siedlungsgebietes Handelsbeziehungen mit den<br />

Nachbarstämmen.<br />

Über die merowingerzeitliche <strong>Besiedlung</strong> sind wir d<strong>ur</strong>ch Bodenf<strong>und</strong>e n<strong>ur</strong> sehr unz<strong>ur</strong>eichend<br />

unterrichtet. In der Schenkungs<strong>ur</strong>k<strong>und</strong>e Herzog Hedens von 704 w<strong>ur</strong>den das „castellum<br />

Mulenberge“ (Mühlberg) <strong>und</strong> ein „c<strong>ur</strong>tis Monhore“ (eventuell ein Königshof bei Ohrdruf)<br />

genannt. <strong>Die</strong> imposanten Wallanlagen („Hohe Nummer“) auf der Schloßleite bei Mühlberg <strong>und</strong><br />

im „Hainaer Holz“ („Schlößchen“) dürften fränkischen Ursprungs sein (Abb. Grimm).<br />

Einer der wenigen aussagefähigen Siedlungsf<strong>und</strong>e des Gothaer Raumes stammt aus einer<br />

Kiesgrube bei Wangenheim. In der Verfüllung einer Webhütte sowie eines rechteckigen<br />

Grubenhauses mit Eingangsrampe <strong>und</strong> Eckpfosten w<strong>ur</strong>den Webgewichte <strong>und</strong> Keramik geborgen.<br />

In der Mitte des 5. Jh. beerdigte man die Verstorbenen auf Friedhöfen (Reihengräberfeldern) in<br />

west-östlich orientierter, gestreckter Rückenlage. <strong>Die</strong> Männergräber enthielten Trachtzubehör<br />

<strong>und</strong> Waffen. Neben Differenzierungen im mitgegebenen Trachtzubehör, zeigten sich soziale<br />

Abb. 25: Bügelfibel (Silber, vergoldet) mit<br />

Kerbschnittverzierung aus dem Frauengrab der<br />

Völkerwanderungszeit von Großfahner, „S<strong>und</strong>hausgarten“<br />

(6. Jhrd.)<br />

Unterschiede am Grad der<br />

Waffenausstattung. Reitergräber <strong>und</strong> Pferdebestattungen gehörten zu den für die Thüringer<br />

typischen Erscheinungen. In gut ausgestatteten Frauengräbern lagen zwei größere <strong>und</strong> zwei<br />

kleinere Bügelfibeln. Daneben kamen Gürteltasche, Spinnwirtel, Schnallen, Perlen <strong>und</strong> Ringe in<br />

unterschiedlicher Anzahl <strong>und</strong> aus verschiedenen Materialien vor. Im Unterschied zum<br />

fränkischen <strong>und</strong> alemannischen Gebiet w<strong>ur</strong>den in Thüringen n<strong>ur</strong> kleine Gräberfelder angelegt.<br />

Grabf<strong>und</strong>e der Völkerwanderungszeit (Vitrine 19-20)<br />

In unserem Gebiet machte man bereits im 19. Jh. bei Eberstädt altthüringische Grabf<strong>und</strong>e. Leider<br />

w<strong>ur</strong>den die F<strong>und</strong>umstände n<strong>ur</strong> unz<strong>ur</strong>eichend überliefert. Ähnliches trifft auch auf die bei<br />

Bauarbeiten 1948 in Ingersleben angeschnittenen Gräber zu. Von den Beigaben gelangten n<strong>ur</strong><br />

26


ein Knochenkamm <strong>und</strong> Keramikgefäße, darunter auch thüringische Drehscheibenkeramik (Abb.<br />

24), ins Museum. Ein außergewöhnlicher F<strong>und</strong> war der künstlich deformierte Schädel<br />

(„T<strong>ur</strong>mschädel“) einer Frau. Er belegt anschaulich reiternomadische Einflüsse auf die Thüringer.<br />

<strong>Die</strong> mit den Hunnen verbündete Oberschicht übernahm die Sitte, Mädchen bereits im<br />

Säuglingsalter d<strong>ur</strong>ch Bandagen den Schädel t<strong>ur</strong>martig zu formen.<br />

<strong>Die</strong> Eigenart der thüringischen Kult<strong>ur</strong> hielt sich nach der Niederlage gegen die Franken 531<br />

noch bis zum Ende des 6. Jh. Aus dieser Zeit fand sich bei Großfahner ein Friedhof mit 13<br />

Gräbern <strong>und</strong> einer Pferdebestattung. Das am reichsten ausgestattete Frauengrab enthielt eine<br />

Perlenkette (darunter eine Elfenbeinrolle), zwei vergoldete Fibeln mit Kopfplatte <strong>und</strong><br />

Kerbschnittverzierung (Abb. 25), drei gehenkelte Goldbrakteaten, Beschläge eines Holzeimers,<br />

Knochenkamm- <strong>und</strong> Scheide, eine knöcherne Nadel <strong>und</strong> eine Porzellanschnecke (Cypraea<br />

pantherina, Vorkommen im Roten Meer).<br />

Spätestes mit dem Beginn des 7. Jh. w<strong>ur</strong>den die fränkischen Einflüsse jedoch immer stärker. Sie<br />

standen nicht n<strong>ur</strong>, wie Kriegergräber (z.B. Wandersleben) zeigten, im Zusammenhang mit der<br />

Besatzung, sondern auch zunehmend mit Assimilation <strong>und</strong> fränkischer Aufsiedlung. Fränkische<br />

Zentren bildeten sich um Erf<strong>ur</strong>t, Sömmerda, Langensalza <strong>und</strong> Mühlhausen.<br />

Bei Gotha/Siebleben entdeckte man fränkische Gräber des 7. Jh.. <strong>Die</strong> genauen Grabumstände<br />

sind nicht überliefert. Das einschneidige Hiebschwert (Sax) <strong>und</strong> ein Messer dürften zu einem<br />

Männergrab, Perlen sowie eine Scheibenfibel mit Goldblech- <strong>und</strong> Filigranauflage zu einem<br />

Frauengrab gehört haben.<br />

Mit der im 8. Jh. regierenden Dynastie der Karolinger treten wir in die mittelalterliche<br />

Geschichte ein - ein Zeitabschnitt in dem zunehmend schriftliche Zeugnisse die Überlieferung<br />

prägen.<br />

Literat<strong>ur</strong><br />

Im Hinblick auf die Lesbarkeit der Texte w<strong>ur</strong>de auf den in wissenschaftlichen Aufsätzen<br />

üblichen Einzelnachweis der verwendeten Literat<strong>ur</strong> verzichtet <strong>und</strong> n<strong>ur</strong> auf zusammenfassende<br />

Schriften regionalen Charakters <strong>und</strong> Abbildungsquellen verwiesen.<br />

27


GÖTZE, A. / P. HÖFER / P. ZSCHIESCHE 1909: <strong>Die</strong> Vor- <strong>und</strong> <strong>frühgeschichtliche</strong>n Altertümer<br />

Thüringens, S. 240. Würzb<strong>ur</strong>g.<br />

HENNIG, G. 1964: <strong>Die</strong> Schausammlung „Ur- <strong>und</strong> Frühgeschichte“ des Heimatmuseums Gotha.<br />

In: Gothaer Museumshefte 1964, S. 81-102. Gotha.<br />

HENNIG, E. 1967: Das Baalberger Haus von Remstädt, Kr. Gotha. In: Ausgrabungen <strong>und</strong> F<strong>und</strong>e<br />

12, S. 255-257. Berlin.<br />

KAUFMANN, H. 1984: Das spätkaiserzeitliche Brandgräberfeld von Wechmar. Weimar.<br />

KAUFMANN, HERM. 1955: Vor- <strong>und</strong> <strong>frühgeschichtliche</strong> F<strong>und</strong>stätten im Seeberggebiet bei<br />

Gotha. In: Der Friedenstein Jg. 1955, H. II, S. 7-14; H. III, S. 11-14, Gotha.<br />

PESCHEL, K. 1994: Thüringen in <strong>ur</strong>- <strong>und</strong> <strong>frühgeschichtliche</strong>r Zeit. Wilkau-Haßlau.<br />

SCHÄFER, D.1984: Ein paläolithisches Gerät von Gotha-Siebleben. In: Ausgrabungen <strong>und</strong><br />

F<strong>und</strong>e 29, S. 208-211. Berlin.<br />

SCHMIDT, B. 1970: <strong>Die</strong> späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland. Katalog (Südteil),<br />

S. 64; Taf. 55/4). Berlin.<br />

WEINER, J. / A. PAWLIK 1994: Neues zu einer alten Frage. Beobachtungen <strong>und</strong> Überlegungen<br />

zu Befestigung altneolithischer Dechselklingen <strong>und</strong> z<strong>ur</strong> Rekonstruktion bandkeramischer<br />

Querbeilholme. In: Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 8.<br />

Experimentelle Archäologie, Bilanz 1994. Oldenb<strong>ur</strong>g.<br />

Typentafeln z<strong>ur</strong> Ur- <strong>und</strong> Frühgeschichte der DDR. Weimar 1972.<br />

Ausstellungsführer<br />

„Geschichte des Gothaer Landes“<br />

Katja Vogel:<br />

Vom Mittelalter bis z<strong>ur</strong> Aufklärung (750-1800)<br />

28


FRÜHMITTELALTER<br />

<strong>Die</strong> <strong>Besiedlung</strong> des Gothaer Landes<br />

750-1030<br />

Nach dem Untergang des Königreiches der Thüringer im Jahre 531 erfolgte allmählich die<br />

Eingliederung des Gebietes in das Frankenreich. Das ehemalige Gut der Thüringer Könige,<br />

darunter befand sich auch die Siedlung Gotha, ging in den Besitz der fränkischen Herrscher<br />

über. <strong>Die</strong> Franken <strong>und</strong> insbesondere König, seit 800 Kaiser, Karl der Große (768-814)<br />

verstärkten ihren Einfluß in Thüringen d<strong>ur</strong>ch die Einführung des fränkischen Rechtes <strong>und</strong> einer<br />

Verfassung, der Christianisierung sowie d<strong>ur</strong>ch die Entwicklung von Handel <strong>und</strong> Verkehrswesen.<br />

Unter fränkischer Vorherrschaft begann mit dem Zuwachs der Bevölkerung <strong>und</strong> der<br />

Erschließung von neuen Wirtschaftsflächen der intensive Landesausbau des Westthüringer<br />

Raumes. Während im 6. Jahrh<strong>und</strong>ert n<strong>ur</strong> landwirtschaftlich <strong>und</strong> klimatisch günstige Gebiete<br />

besiedelt waren, wie zum Beispiel im Kreis Gotha die Fl<strong>ur</strong>en der Nesse, Hörsel <strong>und</strong> Apfelstädt,<br />

fanden seit dem 7. Jahrh<strong>und</strong>ert die Dorfgründungen d<strong>ur</strong>ch Rodungen südlich des Thüringer<br />

Waldes statt. Den Thüringern schreibt man solche Neugründungen mit den Endungen: -bach, -<br />

dorf <strong>und</strong> -feld zu; die Siedlungen der Franken sind an den Endungen: -heim <strong>und</strong> -hausen<br />

erkennbar. <strong>Die</strong> neuen Orte waren systematisch angelegt <strong>und</strong> d<strong>ur</strong>ch Fernwege überregional<br />

erschlossen. Viele Verkehrsstraßen des Gothaer Landes lassen sich auf fränkische Zeit<br />

z<strong>ur</strong>ückführen, wie die Fernhandelsstraße „via regia“. Nach der Wende des 1. Jahrtausends w<strong>ur</strong>de<br />

die Rodung weiterer Wald- <strong>und</strong> Sumpfgebiete fortgesetzt. Aus dieser Zeit stammen die Orte mit<br />

den Endsilben: -au, -tal, -hof, -kirchen, -stein, -hagen, -hain <strong>und</strong> -rode.<br />

<strong>Die</strong> Siedlung Gotha entstand bereits in vorfränkischer Zeit <strong>und</strong> befand sich am Wiegwasser,<br />

früher auch Goth genannt. Hier lokalisierten sich die im Hersfelder Güterverzeichnis des 9.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts „Breviarium sancti Lulli“ registrierten Höfe <strong>und</strong> Hufen, die als Schenkungen des<br />

fränkischen Königs an das Kloster Hersfeld überreicht w<strong>ur</strong>den. Auf den Schenkungen an die<br />

Klöster Fulda <strong>und</strong> Hersfeld beruhen die <strong>ur</strong>k<strong>und</strong>lichen Ersterwähnungen einer großen Zahl<br />

Thüringer Orte.<br />

<strong>Die</strong> erste schriftliche Überlieferung des Ortes Gotha fand sich in einer Urk<strong>und</strong>e des Königs Karl<br />

des Großen vom 25. Oktober 775, in welcher er dem Kloster Hersfeld den Zehnten von den<br />

Ländereien, Wald <strong>und</strong> Wiesen der villae Cimbero (Zimmern), Gothaha (Gotha) <strong>und</strong> Hasalaha<br />

(unbekannt) überließ. Der Zehnte war eine feudale Abgabe, die etwa dem Zehnten der<br />

Gesamternte entsprach.<br />

Das „Breviarium sancti Lulli“ vermerkte, daß Kaiser Karl der Große neben den zahlreichen<br />

Ländereien in Thüringen auch 6 Hufen <strong>und</strong> 6 Höfe in villa Gothaha (Gotha) dem Kloster<br />

überreichte. Eine Hufe war die zum Lebensunterhalt einer bäuerlichen Familie erforderliche<br />

Hofeinheit, die etwa 7 bis 15 ha betrug. Folgende Dörfer des heutigen Kreises Gotha sollten<br />

ebenfalls feudale Abgaben an das Kloster entrichten: Wechmar, Mechterstädt, Sonneborn,<br />

Remstädt, S<strong>und</strong>hausen, Leina, Wölfis, Molschleben, Günthersleben, Schwabhausen, Siebleben,<br />

Pferdingsleben, Friemar, Friedrichswerth, Apfelstädt <strong>und</strong> Zimmernsupra.<br />

29


Abb. 26: Ersterwähnung<br />

von Gotha, 25. Oktober<br />

775, Düren.<br />

Ausschnitt aus einem<br />

Kopialbuch des Klosters<br />

Hersfeld, 12. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Hessisches Staatsarchiv<br />

Marb<strong>ur</strong>g/Lahn<br />

<strong>Die</strong><br />

Christianisierung<br />

Das frühe<br />

Christentum in<br />

Thüringen war eng<br />

an das Wirken der<br />

angelsächsischen<br />

Missionare<br />

Willibrord <strong>und</strong><br />

Bonifatius<br />

geb<strong>und</strong>en. Der<br />

Letztere gründete im<br />

Jahre 725 ein<br />

Benediktinerkloster<br />

in Ohrdruf, das<br />

später in den Besitz<br />

des Klosters<br />

Hersfeld überging.<br />

<strong>Die</strong> Errichtung einer<br />

frühchristlichen<br />

Taufkapelle bei<br />

Altenbergen wird<br />

ebenfalls Bonifatius<br />

zugeschrieben.<br />

Während seiner<br />

Missionstätigkeit in<br />

Thüringen nahmen<br />

auch die Gothaer das Christentum an. In dieser Zeit erfolgte die Gründung der St. Wolfgang-<br />

Kapelle in Gotha, der ältesten Kirche der Stadt.<br />

Bei der weiteren Christianisierung des Landes spielten auch die Benediktinerklöster Fulda <strong>und</strong><br />

Hersfeld eine große Rolle.<br />

30


Abb. 27: Silberner Ohrring, slawisch, F<strong>und</strong>ort Bischleben,<br />

11. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Raum 5<br />

HOCH- <strong>und</strong> SPÄTMITTELALTER<br />

Abb. 28: Kruzifixus, Ostheim/Kreis Gotha, I. Hälfte des<br />

12. Jahrh<strong>und</strong>erts, Bronze, vergoldet<br />

Gotha als Stadt unter den Landgrafen von Thüringen<br />

1030-1247<br />

In der ersten Hälfte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts errang das Grafengeschlecht der Ludowinger,<br />

vorwiegend d<strong>ur</strong>ch intensive Rodungstätigkeit am Nordrand des Thüringer Waldes, eine<br />

bedeutende Stellung in Thüringen. Im Rahmen der landgräflichen Territorialbildung schufen sie<br />

sich im Raum Gotha <strong>und</strong> an der unteren Unstrut eine herausragende Position, die sie d<strong>ur</strong>ch den<br />

Bau von B<strong>ur</strong>gen <strong>und</strong> die Gründung von Städten beträchtlich festigen konnten. <strong>Die</strong> Verleihung<br />

der Landgrafenwürde an die Ludowinger 1130 hob dieses Grafengeschlecht aus den übrigen<br />

thüringischen Adelsgeschlechtern heraus <strong>und</strong> gab ihnen die wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong><br />

rechtlichen Möglichkeiten, die eigene Macht weiter auszubauen.<br />

Der Aufstieg der Siedlung Gotha z<strong>ur</strong> Stadt gehörte zu der ersten Periode der ludowingischen<br />

Städtegründungen in Thüringen zwischen 1150 <strong>und</strong> 1200. <strong>Die</strong> älteste überkommene<br />

Schriftquelle, die Gotha als Stadt („civitas“) nennt, ist die Urk<strong>und</strong>e des Landgrafen Ludwig III.<br />

zwischen 1180 <strong>und</strong> 1189, in der er dem hessischen Kloster Kappel steuerfreie Einkünfte in<br />

seinen „Städten“ Kassel, Münden, Kreuzb<strong>ur</strong>g, Eisenach, Gotha <strong>und</strong> Breitungen bewilligte. In<br />

ihrer frühen Entwicklungsphase stand die Stadt Gotha unter dem Schutz der Landgrafen, die zu<br />

Gotha enge Beziehungen unterhielten.<br />

Ende des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts erfuhr Gotha d<strong>ur</strong>ch die Münzprägung einen Aufschwung, der die<br />

wirtschaftliche Voraussetzung z<strong>ur</strong> Stadtentwicklung einleitete.<br />

31


Das Münzwesen<br />

<strong>Die</strong> Thüringer Landgrafen gehörten zu den mächtigsten Münzherren des mitteldeutschen<br />

Raumes. <strong>Die</strong> erste Münzprägestätte w<strong>ur</strong>de unter Ludwig II. (1140-1172) in Eisenach errichtet.<br />

Vermutlich zu Beginn der Regierung Ludwigs III. (1172-1190) eröffnete man die Gothaer<br />

Münze als zweite Hauptmünzstätte von Thüringer Brakteaten. Für die Thüringer Landgrafen<br />

erschien der Reiterbrakteat von etwa 1150 bis 1290 als charakteristische Münze. Der Brakteat<br />

w<strong>ur</strong>de aus dünnem Silberblech einseitig geprägt, hatte ein Gewicht von weniger als 1 g <strong>und</strong><br />

einen D<strong>ur</strong>chmesser bis zu 50 mm.<br />

Unter der Vorherrschaft der Wettiner entfaltete sich in Gotha zwischen 1340 <strong>und</strong> 1360 die<br />

Prägung der neuen Hohlpfennige. 1340 verpachtete Markgraf Friedrich II. (reg. 1323-1349) dem<br />

Rat der Stadt die Gothaer Münzprägestätte für drei Jahre gegen eine jährliche Summe von 60<br />

Pf<strong>und</strong> Pfennigen, zahlbar in vierteljährlichen Raten. Bis 1482 w<strong>ur</strong>den hier die Gothaer<br />

Hohlpfennige geprägt.<br />

Im Jahre 1381 schlossen sich die wettinischen Städte Eisenach, Gotha, Jena, Langensalza <strong>und</strong><br />

Weißensee zu einem Fünfstädteb<strong>und</strong> zusammen. Sie vereinbarten in zwei Urk<strong>und</strong>en, die jeweils<br />

die Räte der Stadt Gotha <strong>und</strong> der Stadt Eisenach ausfertigten, ab 5. Mai 1381 Pfennige aus<br />

gleichem Schrot <strong>und</strong> Korn mit Billigung des Landesherren zu schlagen (Doppelkronenpfennige).<br />

Neben der Sicherung von Handelswegen, welche zunehmend d<strong>ur</strong>ch Überfälle gefährdet waren,<br />

verpflichteten sie sich, hinsichtlich Gewerbe-, Handels- <strong>und</strong> Münzpolitik eng<br />

zusammenzuwirken.<br />

Abb. 29: Thüringer Brakteat, Münzstätte Gotha, 1190-1217 Abb. 30: Doppelkronenpfennig, Münzstätte Gotha, Mitte<br />

des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

B<strong>ur</strong>gen als Stätte der Landesherrschaft<br />

Für die Sicherung der inneren Herrschaft errichteten die Landesherren zahlreiche B<strong>ur</strong>gen als<br />

Wehrbauten. Zunächst als Grenz- <strong>und</strong> Fluchtstätte z<strong>ur</strong> Abwehr äußerer Feinde, entwickelten sie<br />

sich im Hoch- <strong>und</strong> Spätmittelalter zu Regierungs-, Wirtschafts- <strong>und</strong> Kult<strong>ur</strong>zentren des<br />

territorialen Verwaltungsbezirkes.<br />

Seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert trat die B<strong>ur</strong>g Grimmenstein bei Gotha als „festes Haus“ der Landgrafen<br />

von Thüringen in Erscheinung. Wegen ihrer Lage zwischen Wartb<strong>ur</strong>g <strong>und</strong> Neuenb<strong>ur</strong>g erlangte<br />

die Festung in der Landesherrschaft <strong>und</strong> in der Territorialpolitik der Ludowinger, später der<br />

Wettiner große Bedeutung. Im Jahre 1316 w<strong>ur</strong>de die B<strong>ur</strong>g Grimmenstein erstmalig <strong>ur</strong>k<strong>und</strong>lich<br />

erwähnt.<br />

32


Gotha unter der Vorherrschaft der Wettiner<br />

1247-1500<br />

Mit dem Tod Heinrich Raspes 1247 erlosch das Thüringer Landgrafengeschlecht der<br />

Ludowinger im Mannesstamme.<br />

Um das ludowingische Erbe stritten sich die Dynastien Wettin <strong>und</strong> Hessen-Brabant. Im Ergebnis<br />

dieser politisch-militärischen Auseinandersetzungen verlor die Landgrafschaft Thüringen ihre<br />

regionale Führungsspitze, indem die Landgrafschaft Thüringen - nach dem Sieg Heinrich des<br />

Erlauchten 1263/64 - zu einem Bestandteil des wettinischen Territorialstaates w<strong>ur</strong>de.<br />

Unter der Herrschaft Heinrich des Erlauchten als Markgraf von Meißen <strong>und</strong> Landgraf von<br />

Thüringen w<strong>ur</strong>de 1264/65 die dynastisch-territoriale Vereinigung der Landgrafschaft Thüringen<br />

mit der Markgrafschaft Meißen zum Abschluß gebracht.<br />

Seitdem gehörte die Stadt Gotha zu den bedeutenden Territorien der Markgrafen von Meißen,<br />

die im Jahre 1423 mit dem Herzogtum Sachsen-Wittenberg <strong>und</strong> der K<strong>ur</strong>würde belehnt w<strong>ur</strong>den.<br />

<strong>Die</strong> Gebiete der K<strong>ur</strong>lande um Wittenberg, die Markgrafschaft Meißen <strong>und</strong> die Landgrafschaft<br />

Thüringen w<strong>ur</strong>den unter dem Namen “Sachsen“ zusammengefaßt. Seit jener Zeit führten alle<br />

Wettiner den Beititel „Herzog von Sachsen“. Nach der Hauptteilung des Gesamthauses Wettin,<br />

die am 26. August 1485 zu Leipzig zwischen zwei (für ihre Linien zugleich namengebenden)<br />

Brüdern, K<strong>ur</strong>fürst Ernst <strong>und</strong> Herzog Albrecht, vorgenommen w<strong>ur</strong>de, fiel das Gothaer Land an<br />

die ältere, ernestinische Linie.<br />

<strong>Die</strong> wettinischen K<strong>ur</strong>fürsten bestätigten die städtischen Privilegien der Gothaer <strong>und</strong> statteten sie<br />

weitgehend mit kommunal-politischen Freiheiten aus, so daß die Entwicklung der<br />

Stadtgemeinde entscheidend gefördert w<strong>ur</strong>de. Trotzdem blieb die Stadt politisch von den<br />

Landesherren abhängig. Mit der D<strong>ur</strong>chsetzung der K<strong>ur</strong>fürstlichen Reformation im Jahre 1488<br />

aufgr<strong>und</strong> der innerstädtischen Auseinandersetzungen zwischen dem Rat <strong>und</strong> der Bürgerschaft,<br />

nahm der landesherrliche Einfluß auf die städtische Verfassung <strong>und</strong> die Verwaltung zu.<br />

Abb. 31: Ansicht der Stadt<br />

Gotha <strong>und</strong> der Festung<br />

Grimmenstein, Kupferstich<br />

von Petrus Kaerius, 1616<br />

Der Aufbau der<br />

Stadtverwaltung<br />

Seit der Mitte des<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

begannen die Bürger<br />

der Stadt Gotha, im<br />

Innern ihre<br />

gemeinsamen<br />

Angelegenheiten<br />

wie Marktaufsicht,<br />

Zölle, Steuern,<br />

Mauerbau,<br />

Stadtverteidigung <strong>und</strong> Rechtsprechung d<strong>ur</strong>ch eigene Beauftragte, Bürgermeister <strong>und</strong> Ratsherren<br />

zu regeln <strong>und</strong> nach außen als rechtlich handlungsfähige Einheit aufzutreten. Alles dieses war<br />

vorher die Sache des Stadtherren gewesen. Seit 1256 verwendeten die Ratsherren ein eigenes<br />

Stadtsiegel als Signum der städtischen Unabhängigkeit. St. Godehardus oder Gotthard (961-<br />

1038), ein Abt des Klosters Hersfeld <strong>und</strong> späterer Bischof von Hildesheim (1131 heilig<br />

gesprochen) symbolisiert auch heute noch die Stadt auf dem Siegel. Seit 1350 w<strong>ur</strong>de im Rat ein<br />

Stadtschreiber z<strong>ur</strong> Führung des Schriftverkehrs <strong>und</strong> z<strong>ur</strong> Beratung in Rechtsfragen eingesetzt.<br />

33


Im Gegensatz zum Schultheißen, der vom Landesherrn bestimmt war, w<strong>ur</strong>den der Bürgermeister<br />

<strong>und</strong> die Ratsherrn d<strong>ur</strong>ch die Mitglieder des bestehenden <strong>und</strong> des Ratskollegiums des Vorjahres<br />

gewählt. Der Zugang zum Rat der Stadt war ausschließlich dem Patriziat der Stadt vorbehalten,<br />

das sich aus Kaufleuten <strong>und</strong> reich gewordenen Ministerialen des Stadtherrn zusammensetzte. Im<br />

Spätmittelalter begannen auch die Zünfte zunehmend auf politischen Einfluß <strong>und</strong> Teilnahme an<br />

der Stadtregierung zu drängen. Erst mit der K<strong>ur</strong>fürstlichen „Reformation“ der Stadt Gotha im<br />

Jahre 1488 bekam die Bürgerschaft ein Mitbestimmungsrecht d<strong>ur</strong>ch vier Vertreter aus der<br />

Gemeinde. Sie bildeten einen Gemeindeausschuß <strong>und</strong> d<strong>ur</strong>ften die Finanzwirtschaft des Rates<br />

kontrollieren.<br />

Im Jahre 1253 w<strong>ur</strong>de das Stadtgericht <strong>ur</strong>k<strong>und</strong>lich erwähnt. An dessen Spitze stand ein<br />

Vorsitzender, der landgräfliche Schultheiß, dem ein Kollegium von zwölf Schöffen <strong>und</strong> die volle<br />

Gerichtsgemeinde der Bürger unterstellt waren. Das Schöffenkollegium war in Gotha - wie in<br />

Eisenach - mit dem Ratskollegium identisch. Als Gr<strong>und</strong>lage der richterlichen Entscheidungen<br />

diente zunächst das sächsische Gewohnheitsrecht sowie das Eisenacher Stadtrecht. Das Gothaer<br />

Stadtrecht w<strong>ur</strong>de bereits Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts von dem ältesten Stadtrecht Eisenachs<br />

abgeleitet. <strong>Die</strong> Bürger Gothas waren ausschließlich dem Stadtgericht unterstellt. <strong>Die</strong><br />

Verhandlungen w<strong>ur</strong>den vor der Jakobskapelle auf dem Jakobsplatz (heute unterer Hauptmarkt)<br />

geführt. Im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert hielt der Schultheiß von Gotha das Gericht auch in Siebleben,<br />

Warza, Molschleben <strong>und</strong> Nottleben (oder Rettbach) ab.<br />

<strong>Die</strong> städtische Militärorganisation des Spätmittelalters fand ihren Ausdruck in der Herausbildung<br />

des Schützenwesens. <strong>Die</strong> älteste Schützenordnung stammt aus dem Jahre 1442.<br />

1478 w<strong>ur</strong>de in Gotha das erste öffentliche Vogelschießen d<strong>ur</strong>chgeführt. <strong>Die</strong> Schützenfeste<br />

dienten dazu, Erfahrungen <strong>und</strong> Fertigkeiten im Umgang mit Waffen zu sammeln. Bis 1543<br />

w<strong>ur</strong>de in Gotha n<strong>ur</strong> mit der Armbrust geschossen. Der Schießplatz befand sich vor dem Brühler<br />

Tor am Schweinsrasen, in der Nähe des späteren Gasthofes „Zum Schützen„ am Schützenberg.<br />

Der beste Schützenmeister w<strong>ur</strong>de mit der Schützenkette, dem sogenannten „claynot“ (Kleinod)<br />

ausgezeichnet.<br />

Abb. 32: Supraporte von der<br />

Jakobskapelle mit<br />

Darstellung des St.<br />

Gotthard, Schutzpatron der<br />

Stadt Gotha, 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, Kupfer<br />

vergoldet<br />

34


Abb. 33: Hausmarke des Hauses „Z<strong>ur</strong> goldenen Henne“ in Gotha,<br />

Hauptmarkt 36, 1587<br />

<strong>Die</strong> Stadtbevölkerung<br />

<strong>Die</strong> Stadtbevölkerung setzte sich aus verschiedenen<br />

sozialen Schichten zusammen. Neben den Kaufleuten<br />

<strong>und</strong> freien Handwerkern, die meist im Besitz von<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden in der Stadt waren, gab es eine<br />

große Anzahl von Lohnarbeitern, Handwerksgesellen,<br />

Tagelöhnern sowie Knechten <strong>und</strong> Mägden, die<br />

hauptsächlich in der Waidbearbeitung, dem Bauwesen<br />

<strong>und</strong> der Landwirtschaft ihren Unterhalt verdienten.<br />

<strong>Die</strong> Vertreter dieser plebejischen Schicht waren<br />

vermögenslos <strong>und</strong> besaßen kein Bürgerrecht. Sie rekrutierten sich zum großen Teil aus den<br />

Landflüchtigen, die in der Stadt ihre Freiheit suchten <strong>und</strong> auch fanden. Nach dem Rechtssatz<br />

„Stadtluft macht frei“ versuchten viele Bauern, sich aus der Abhängigkeit ihrer Gr<strong>und</strong>herren zu<br />

lösen, indem sie in die Städte zogen. Wer ein Jahr <strong>und</strong> einen Tag unangefochten in der Stadt<br />

wohnte, der galt als frei von der Bindung an seinen Gr<strong>und</strong>herren. D<strong>ur</strong>ch die ständige<br />

Zuwanderung der Landbevölkerung erstarkten die Städte.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftlich schwache Bevölkerung bewohnte die unwirtliche Gegend am Stadtwasser<br />

oder Stadtrand, an den Mauern <strong>und</strong> davor. Das S<strong>und</strong>häuser Viertel in Gotha gehörte zu den<br />

ärmsten. <strong>Die</strong> wohlhabenden Kaufleute <strong>und</strong> Handwerker siedelten in der Nähe der Märkte <strong>und</strong><br />

Hauptstraßen. Das Erf<strong>ur</strong>ter Viertel war das reichste in Gotha; Siebleber <strong>und</strong> Kreuzviertel<br />

bewohnte der Mittelstand.<br />

Obwohl sich die Städte rasch entwickelten <strong>und</strong> ihre Zahl ständig stieg, lebte der überwiegende<br />

Teil der mittelalterlichen Bevölkerung auf dem Lande.<br />

Abb. 34: Kännchen,<br />

15. Jahrh<strong>und</strong>ert, Messing<br />

WIRTSCHAFT<br />

Gotha - eine Stadt der Handwerker, Ackerbürger <strong>und</strong><br />

Kaufleute<br />

<strong>Die</strong> an der Fernverkehrsstraße „via regia“ liegende Stadt Gotha<br />

entwickelte sich unter den Ludowingern <strong>und</strong> später den<br />

Wettinern zu einem Zentrum der gewerblichen Produktion <strong>und</strong><br />

des Handels.<br />

Neben der Landwirtschaft, deren Flächen sich d<strong>ur</strong>ch<br />

Einbeziehung der Fl<strong>ur</strong>en wüster Dörfer vergrößert hatten,<br />

erlangte das Handwerk eine bedeutende Rolle. Zu den ältesten<br />

Gewerbezweigen der Stadt gehörten die Bäckerei, die<br />

Fleischerei, die Wolltuchproduktion, die Herstellung von<br />

Schuhen <strong>und</strong> Lederwaren sowie verschiedene Eisen- <strong>und</strong> Bauhandwerke.<br />

Anfang des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts organisierten sich die Handwerker in Gotha in Zünften oder<br />

Innungen, unter denen die Wollweberinnung als erste im Jahre 1403 erwähnt w<strong>ur</strong>de.<br />

Bei der Zunft handelte es sich um eine Zwangsgemeinschaft von Meistern, Gesellen <strong>und</strong><br />

Lehrlingen eines oder mehrerer Handwerke, die wirtschaftliche Zielsetzungen mit sozialen <strong>und</strong><br />

kultisch-religiösen Funktionen in sich vereinigte. Dem wirtschaftlichen Interesse der Mitglieder<br />

diente der Zunftzwang, d. h. das Bestreben, alle Gewerbetreibenden eines Gewerbezweiges zu<br />

erfassen <strong>und</strong> andere, die nicht der Zunft angehörten, von der Ausübung des Gewerbes in der<br />

Stadt auszuschließen. Dabei regelte die Zunft nicht n<strong>ur</strong> den Zugang zum Handwerk <strong>und</strong> die<br />

35


Ausbildung vom Lehrling bis zum Meister, sondern sie reglementierte Produktion <strong>und</strong> Absatz,<br />

beaufsichtigte die einzelnen Betriebe, prüfte die gewerblichen Erzeugnisse. <strong>Die</strong> Leitung der<br />

Zunft lag in den Händen der Zunftmeister.<br />

<strong>Die</strong> kultisch-religiösen Elemente des Zunftlebens äußerten sich in der gemeinsamen Teilnahme<br />

an Gottesdiensten <strong>und</strong> Prozessionen.<br />

Im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert setzte sich innerhalb des Handwerks die Spezialisierung fort. In dieser Zeit<br />

traten in Gotha neben die Tuchmacher <strong>und</strong> Wollweber auch Tuchscherer <strong>und</strong> Gewandschneider.<br />

Im Bereich der metallverarbeitenden Handwerke hatten sich Waffen-, Huf-, Nagel-,<br />

Kupferschmiede, Schlosser, Schwertfeger, Nadler <strong>und</strong> Klempner herausgebildet. <strong>Die</strong><br />

Lederverarbeitung übernahmen die Lohgerber, Schuhmacher, Kürschner, Riemer, Sattler,<br />

Beutler, Täschner <strong>und</strong> Gürtler.<br />

Seit 1678 gab es im Herzogtum Gotha eine besondere Rangordnung sämtlicher Berufe <strong>und</strong><br />

Handwerke, die mit den gelernten Handelsleuten <strong>und</strong> Krämern, den Weißbäckern, Metzgern <strong>und</strong><br />

Tuchmachern begann <strong>und</strong> mit den Tünchern, Gürtlern <strong>und</strong> als 44. <strong>und</strong> letzte Nummer mit den<br />

„gemeinen Bürgern <strong>und</strong> Tagelöhnern“ endete.<br />

Waid: Anbau <strong>und</strong> Verarbeitung<br />

Von Bedeutung war in Gotha auch der Handel mit Gewerbeartikeln des täglichen Bedarfs,<br />

Nahrungsmitteln, Holz <strong>und</strong> vor allem mit der Färberpflanze Waid, die seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

in Thüringen angebaut w<strong>ur</strong>de <strong>und</strong> noch im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert oft die einzige Einnahmequelle für<br />

viele Dorfbewohner der Umgebung bildete.<br />

Färberwaid (isatis tinctoria) ist eine gelbblühende zweijährige Pflanze, die im zweiten Jahr mit<br />

ihren Blütenständen eine Höhe bis eineinhalb Meter erreicht. Aus dieser intensiv angebauten<br />

Pflanze konnte d<strong>ur</strong>ch Vergärung vornehmlich blaue Farbe gewonnen werden. <strong>Die</strong> Waidbauern<br />

färbten ihre Gewebe auch grün oder schwarz, indem sie die Wolle in den unbearbeiteten<br />

Waidbrei legten. <strong>Die</strong> Herbstaussaat erfolgte im November/Dezember, die Frühjahrsaussaat Ende<br />

Februar.<br />

Wenn die unteren Blätter der Waidpflanze welk w<strong>ur</strong>den, konnte der erste Schnitt mit dem<br />

Waideisen erfolgen. Der Zeitpunkt lag bei der Herbstaussaat nach dem Johannisfest (24.6.), bei<br />

der Frühjahrsaussaat drei Wochen später. In der Waidmühle w<strong>ur</strong>den die Blätter zu einem Brei,<br />

dem Waidmus, zerquetscht. Anschließend mußte das Waidmus mit den Händen zu faustgroßen<br />

Bällchen, dem sogenannten Ballenwaid, geformt werden. <strong>Die</strong>ser kam nach dem Trocknen zum<br />

Verkauf.<br />

<strong>Die</strong> Verarbeitung des Ballenwaides zu dem begehrten Blaufärbemittel (Waidpulver) erfolgte in<br />

speziellen Waidhäusern, die aus Kalksteinen errichtet <strong>und</strong> mit eisernen Türen <strong>und</strong> Läden<br />

ausgestattet w<strong>ur</strong>den. Der Gr<strong>und</strong> für diese massive Bauweise bei den Wirtschaftsgebäuden lag in<br />

einer möglichen Brandgefahr bei der Waidverarbeitung. Während des Gärungsprozesses erhitzte<br />

sich der Waid, da er bis zu 60 cm dick aufgeschüttet <strong>und</strong> befeuchtet w<strong>ur</strong>de. In einer mehrere<br />

Monate dauernden Verarbeitung mit Wasser <strong>und</strong> Harnstoff setzte sich die Spaltung in Zucker<br />

<strong>und</strong> Indoxyl d<strong>ur</strong>ch, wobei in Verbindung mit Sauerstoff sich das Indoxyl in den blauen Farbstoff<br />

Indigo verwandelte. <strong>Die</strong> vollständig zerfallene Masse w<strong>ur</strong>de unter Aufsicht vereidigter<br />

Waidbeschauer, die die Qualität der Ware prüften, in Holzfässer abgefüllt. Das Waidpulver aus<br />

Gotha gelangte über den Fernhandel in die Textilverarbeitungszentren Deutschlands, der<br />

Niederlande <strong>und</strong> Englands.<br />

36


Abb. 36: Willkomm der<br />

Brunnennachbarschaft in der<br />

Schwabhäusergasse, 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

<strong>Die</strong> Wasserversorgung in Gotha<br />

Im Mittelalter herrschte in Gotha oftmals<br />

großer Wassermangel, die Einwohner waren<br />

fast n<strong>ur</strong> auf die Brunnen angewiesen.<br />

Um die bessere Instandhaltung der öffentlichen<br />

Brunnen der Stadt zu gewährleisten, bildete<br />

man im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert die sogenannten<br />

Brunnennachbarschaften. Alljährlich am<br />

Johannistag (24. Juni) w<strong>ur</strong>den zwei<br />

Brunnenmeister gewählt, nach deren<br />

Anordnung die Naßspender vom Unrat<br />

gereinigt <strong>und</strong> z<strong>ur</strong> Verbesserung des<br />

Schichtwassers Holzkohle <strong>und</strong> Kochsalz in den<br />

Schacht geschüttet w<strong>ur</strong>den. <strong>Die</strong><br />

Brunnenmeister erhielten für ein Jahr die<br />

Aufsicht über den jeweiligen Brunnen <strong>und</strong><br />

sorgten für die Sauberkeit der Straße.<br />

Eine wesentliche Verbesserung der<br />

Wasserversorgung brachte der Leinakanal, der<br />

1369 während der Regierung des Landgrafen<br />

Balthasar (1349-1381) vom Thüringer Wald<br />

über eine Entfernung von 30 km herangeführt<br />

w<strong>ur</strong>de. Da im Leinakanal bei großer<br />

Trockenheit das Wasser versiegte, w<strong>ur</strong>de 1653<br />

Abb. 35: Blaudruck, mit<br />

Waid gefärbtes Bettzeug, 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Neben dem Waid<br />

war der Handel mit<br />

Getreide <strong>und</strong> Bier auf<br />

den Gothaer<br />

Wochenmärkten sehr<br />

verbreitet. Mit der<br />

Entfaltung des<br />

Gewerbes <strong>und</strong> des<br />

Handels erhielt der<br />

Gothaer Marktplatz<br />

eine bedeutende<br />

Funktion <strong>und</strong> w<strong>ur</strong>de<br />

zum Mittelpunkt des<br />

gesamten städtischen<br />

Wirtschaftslebens<br />

<strong>und</strong> der bürgerlichen<br />

Verwaltung.<br />

37


oberhalb von Georgenthal ein Graben angelegt, der mit dem Wasser der Apfelstädt den<br />

Leinakanal verstärkte. 1697-98 verbreiterte man den Flößgraben, um den Kanal für den<br />

Holztransport zwischen Georgenthal <strong>und</strong> Emleben zu nutzen. Dad<strong>ur</strong>ch erhöhte sich die<br />

zugeführte Wassermenge.<br />

Das Wasser des Leinakanals beeinflußte die gesamte Wirtschaft der Stadt. Einige Gewerbe, wie<br />

Gerber, Müller, Tuchwalker, Bierbrauer <strong>und</strong> andere konnten sich nun erst voll entwickeln.<br />

<strong>Die</strong>ser Wasserverlauf existiert heute noch als bedeutendes technisches Denkmal <strong>und</strong> speist die<br />

Wasserkunst am Schloßberg, die Springbrunnen der Altstadt <strong>und</strong> füllt die beiden Parkteiche.<br />

Abb. 37: Rekonstruktion<br />

eines Fuhrmannswagens,<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

<strong>Die</strong> Königsstraße<br />

„via regia“<br />

Von großer<br />

Bedeutung war im<br />

Mittelalter <strong>und</strong> in der<br />

Neuzeit die<br />

sogenannte<br />

Königsstraße oder<br />

Hohe Landstraße, die<br />

den Verkehr<br />

zwischen dem<br />

Westen <strong>und</strong> Osten<br />

zunächst<br />

Deutschlands,<br />

Frankreichs, der Niederlande <strong>und</strong> der slawischen Länder vermittelte.<br />

<strong>Die</strong> Hohe Straße, via regia lusatiae genannt, erstreckte sich von Frankf<strong>ur</strong>t am Main über Hanau,<br />

Schlüchtern, Fulda, Vacha, Eisenach, d<strong>ur</strong>ch das Hörseltal über Gotha nach Erf<strong>ur</strong>t, Eckartsberga<br />

über Leipzig, Großenhain, Bautzen, Görlitz bis Breslau.<br />

In Gotha verlief die Königsstraße über den jetzigen Bertha-von-Suttner-Platz, querte das<br />

Wiegwasser <strong>und</strong> folgte weiter dem Brühl <strong>und</strong> der Erf<strong>ur</strong>ter Straße über den Hohen Sand <strong>und</strong> die<br />

Schlichte, Kindleben <strong>und</strong> Friemar nach Erf<strong>ur</strong>t.<br />

Über die „Straße“ gingen nun Tuche aus den Niederlanden <strong>und</strong> England, das als Baumöl<br />

bekannte Olivenöl aus Frankreich; Gewürze, Seide <strong>und</strong> Schmuck aus Italien; Weine von Rhein,<br />

Main <strong>und</strong> Mosel; Pelze aus Novgorod; Rohleder aus Böhmen; Eisen <strong>und</strong> Silber aus dem<br />

Erzgebirge; Vieh aus den Karpaten <strong>und</strong> der Puszta; Salz <strong>und</strong> Färberwaid aus Thüringen.<br />

<strong>Die</strong> Stadt Gotha bot günstige Voraussetzungen als Marktzentrum. Der regional bedeutende<br />

Warenaustausch konzentrierte sich zunächst auf einem, später auf zwei Märkten, auf denen am<br />

Mittwoch <strong>und</strong> Sonnabend Wochenmärkte abgehalten w<strong>ur</strong>den, während es einen Jahrmarkt vor<br />

dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert in Gotha nicht gegeben hat.<br />

Für einen reibungslosen Handel <strong>und</strong> geordneten Marktbetrieb sorgte die Gothaer<br />

Münzprägestätte. <strong>Die</strong> Münzrechte waren für Gotha nicht zufälliges Privileg, sondern Ergebnis<br />

der hohen Einnahmen, die dem d<strong>ur</strong>chziehenden Handel zu verdanken waren.<br />

Im Laufe der Zeit begleiteten die Kaufleute ihre Transporte immer seltener. <strong>Die</strong> Handelsware<br />

w<strong>ur</strong>de häufiger den Kaufmannsgehilfen <strong>und</strong> Fuhrleuten anvertraut. <strong>Die</strong> Fuhrleute, auch<br />

„Haderer“ genannt, trugen zum Zeichen ihres Berufsstandes einen weißen, später einen blauen<br />

Kittel, der auf der Schulter <strong>und</strong> an den Ärmelbündchen mit Stickereien geschmückt war. Sie<br />

rekrutierten sich aus den Dörfern entlang der „Hohen Straße“ <strong>und</strong> verdienten sich ihren<br />

Lebensunterhalt d<strong>ur</strong>ch Fuhrmanns- <strong>und</strong> Vorspanndienste. Weit über Thüringens Grenzen hinaus,<br />

38


im Norden bis zu den Hansestädten <strong>und</strong> südwärts nach Franken, führten diese Leute die<br />

Handelsfuhren, bis sie schließlich d<strong>ur</strong>ch die Eisenbahn ersetzt w<strong>ur</strong>den.<br />

Gründung der ersten Druckerei in Gotha<br />

Im Jahre 1640 w<strong>ur</strong>de in Gotha die erste Druckerei, die auch eine der ältesten Druckereien<br />

Thüringens darstellte, gegründet. Ihre Entstehung verband sich mit dem Namen des Thüringer<br />

Pädagogen Andreas Reyher (1601-1673).<br />

Im Dezember 1640 w<strong>ur</strong>de der berühmte Schulmann aus Schleusingen nach Gotha berufen, um<br />

das Schulwesen im neu gegründeten Herzogtum Sachsen-Gotha zu reformieren. Reyher brachte<br />

auch die Druckerei <strong>und</strong> den Buchdrucker Peter Schmid mit.<br />

Am 31. Dezember desselben Jahres schloß Herzog Ernst I. (reg. 1640-1675) mit P. Schmid einen<br />

Vertrag ab, in dem er sich verpflichtete, alle Patente, Paßzettel, Mandate <strong>und</strong> Lehrbücher gegen<br />

Lieferung des Papiers zu drucken. Seit 1644 stand Andreas Reyher im Besitz des Unternehmens.<br />

1646 verlegte er die Druckerei aus dem Augustinerkloster in die Erf<strong>ur</strong>ter Gasse, wo sie bis 1904<br />

verblieb <strong>und</strong> unter dem Namen „Engelhard-Reyhersche Hofbuchdruckerei„ bekannt w<strong>ur</strong>de.<br />

Im Jahre 1679 erhielt die Familie Reyher das Druckmonopol, das sie sich über 150 Jahre<br />

erhalten konnte.<br />

Mit dem raschen Anwachsen des Schrifttums <strong>und</strong> des Buchdrucks blühten Schriftgießerei <strong>und</strong><br />

besonders Buchbinderei auf <strong>und</strong> gestalteten sich zu lohnenden Gewerben.<br />

Im Raum Gotha haben die Buchdruckerei <strong>und</strong> Buchbinderei einen hohen Rang erreicht. <strong>Die</strong><br />

Gothaer Buchbinder w<strong>ur</strong>den zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu den berühmtesten in<br />

Deutschland gerechnet.<br />

<strong>Die</strong> Gründung der Druckerei in Gotha hatte große Auswirkungen auf die Entwicklung des<br />

geistig-kult<strong>ur</strong>ellen Lebens im Gothaer Land.<br />

REFORMATION<br />

1517-1555<br />

Das kirchliche Leben der Stadt vor der Reformation<br />

<strong>Die</strong> kirchlich-religiösen Verhältnisse im Gothaer Land in den Jahrzehnten vor der Reformation<br />

unterschieden sich nicht von denen im übrigen Deutschland. Sie waren geprägt von einer das<br />

ganze Leben einschließenden kirchentreuen Frömmigkeit. Sie spiegelten sich in zahlreichen<br />

Stiftungen von Altären, Bildern, kirchlichem Gerät, Messen <strong>und</strong> Begängnissen, in der Heiligen-<br />

<strong>und</strong> Reliquienverehrung <strong>und</strong> in Wallfahrten wider. Vor allem der Handel mit dem Ablaß war für<br />

die spätmittelalterliche Frömmigkeit eine charakteristische Erscheinung.<br />

Das kirchliche Leben der Stadt bestimmten die Margarethenkirche, 1064 <strong>ur</strong>k<strong>und</strong>lich erwähnt, die<br />

Jakobskapelle, 1380 erwähnt, die Marienkirche oder Liebfrauenkirche, 1281 erwähnt. Im Jahre<br />

1251 gründete man ein Zisterzienserinnenkloster „Zum Heiligen Kreuz“, das vier Jahre später<br />

vor das Brühler Tor verlegt w<strong>ur</strong>de. 1258 folgte eine Niederlassung der Augustiner-Bettelmönche<br />

als erste in Thüringen. 1344 siedelten die Augustiner-Stiftsherren von Ohrdruf nach Gotha über,<br />

sie waren von der Landgräfin Elisabeth (gest. 1339) sehr begünstigt worden <strong>und</strong> erhielten ihren<br />

Wohnsitz auf dem Marienberg.<br />

Zu Beginn der Reformation lebten in Gotha nach Friedrich Myconius “Geschichte der<br />

Reformation“ 14 Domherren im Marienstift, 40 Meßpfaffen, 30 Augustinermönche, zwei<br />

Bettelmönche, 30 Nonnen im Kloster „Zum Heiligen Kreuz“, die beiden Pfarrer der<br />

Marienkirche <strong>und</strong> St. Margarethen.<br />

<strong>Die</strong> Fürsorgeleistungen für Arme <strong>und</strong> Kranke übernahmen in Gotha die Hospitale. Um 1226<br />

gründete Landgraf Ludwig IV. (reg. 1217-1227) mit Zustimmung seiner Gemahlin, der später<br />

heilig gesprochenen Elisabeth, in einem von der Bürgerin Hildegard geschenkten Haus ein<br />

Hospital. Es w<strong>ur</strong>de von Brüdern des Ritterordens St. Lasari betreut, nach dessen Auflösung 1489<br />

39


d<strong>ur</strong>ch die Johanniter. 1525/1534 ging das Mariae - Magdalenae - Hospital an die Stadt über. Das<br />

heutige Hospitalgebäude w<strong>ur</strong>de 1716-1719 errichtet.<br />

Um Aussätzige zu isolieren, entstand weitab von der Stadt auf dem Schlichtenfeld, neben dem<br />

heutigen Krankenhaus, das Hospital Leprosorum, auch Siechhof oder Sonderhof genannt. Es war<br />

1347 eine mit Ländereien <strong>und</strong> anderen Schenkungen reich bedachte Einrichtung.<br />

Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts w<strong>ur</strong>de ein Armenhaus oder Hospital Peregrinorum vor dem Brühler<br />

Tor für d<strong>ur</strong>chreisende Fremde, Arme <strong>und</strong> verlassene Kranke eingerichtet.<br />

Abb. 38: Friedrich Myconius, Theologe, Prediger, Reformator (1490<br />

– 1546), Aquarell eines unbekannten Malers, 17. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Beginn <strong>und</strong> D<strong>ur</strong>chführung der Reformation<br />

<strong>Die</strong> am 31. Oktober 1517 gegen den Ablaßhandel<br />

gerichteten 95 Thesen von Martin Luther lösten eine<br />

reformatorische Bewegung aus, die weder<br />

päpstlicher Bann, noch kaiserliche Reichsacht<br />

aufhalten konnten.<br />

<strong>Die</strong> Empörung gegen die Praktiken des<br />

Ablaßhandels <strong>und</strong> die Forderungen nach einer<br />

Erneuerung der bestehenden Kirche führten den<br />

Augustinermönch <strong>und</strong> Wittenberger<br />

Theologieprofessor Martin Luther zu der Erkenntnis,<br />

daß die katholische Sakramentenlehre, das<br />

Meßopfer, das Mönchtum, ja sogar das Papsttum<br />

abzulehnen seien.<br />

Wie in anderen thüringischen Territorien der<br />

Ernestiner fand auch in Gotha, besonders seit<br />

Luthers Aufenthalt in der Stadt in den Jahren 1515,<br />

1516 <strong>und</strong> 1521, die neue Lehre breite Unterstützung bei dem Bürgertum. Im Jahre 1523<br />

versuchte es, d<strong>ur</strong>ch Verträge mit dem Klerus unter anderem die Verfügungsgewalt über die<br />

Pfarreien St. Margarethen <strong>und</strong> St. Marien zu bekommen <strong>und</strong> „evangelische“ Prediger<br />

einzustellen. Besonders im „Pfaffenst<strong>ur</strong>m“ zu Pfingsten 1524 richtete sich der Zorn der Gothaer<br />

gegen die Augustiner-Chorherren. Im August 1524 berief daher der K<strong>ur</strong>fürst mit Friedrich<br />

Myconius einen Mann seines Vertrauens in die Stadt, der als Prediger die lutherische Lehre<br />

einführen sollte <strong>und</strong> für eine Neuordnung der kirchlichen Zustände zu sorgen hatte.<br />

Der 1490 in Lichtenfels am Main geborene Reformator trat mit 19 Jahren in das<br />

Franziskanerkloster in Annaberg ein. Im Jahre 1516 w<strong>ur</strong>de er zum Priester geweiht <strong>und</strong><br />

übernahm später ein Predigeramt in Weimar. Hier lernte er Luthers Schriften kennen, <strong>und</strong> mit<br />

wachsender Begeisterung schloß er sich der neuen Bewegung an. <strong>Die</strong> Kirche duldete den<br />

fünfmal gebannten Ketzer nicht mehr länger <strong>und</strong> versetzte ihn in das Annaberger Kloster z<strong>ur</strong>ück.<br />

Nach einer 18wöchigen Gefängnishaft gelang ihm im Frühjahr 1524 die Flucht in das<br />

k<strong>ur</strong>sächsische Buchholz. K<strong>ur</strong>z danach hielt er seine erste reformatorische Predigt in Zwickau.<br />

In der schwierigen Situation der aufflammenden sozialen Unruhen begann Friedrich Myconius<br />

(seit 1529 Superintendent) die Neugestaltung des Gothaer Kirchen-, Schul- <strong>und</strong> Sozialwesens im<br />

Sinne Luthers. Nachdem im Oktober 1525 zum ersten Mal in Wittenberg der<br />

Gemeindegottesdienst in deutscher Sprache stattgef<strong>und</strong>en hatte, versuchte auch Myconius, die<br />

„deutsche Messe“ den Gothaern zugänglich zu machen.<br />

Als ein wichtiges Instrument für die Neuordnung des Kirchenwesens dienten die seit 1525 in<br />

Thüringen d<strong>ur</strong>chgeführten Visitationen, deren Ziel es war, eine einheitliche Lehre <strong>und</strong><br />

Gottesdienstordnung d<strong>ur</strong>chzusetzen <strong>und</strong> geeignete evangelische Pfarrer einzustellen. Im Raum<br />

Weimar, Gotha, Eisenach wirkten Friedrich Myconius, Justus Menius, Christoph von der Planitz<br />

<strong>und</strong> Philipp Melanchthon erfolgreich als Visitatoren.<br />

40


Hand in Hand mit der Reformation der Kirchen ging die humanistisch-evangelische<br />

Neuausrichtung der Schulen vonstatten. Entscheidend waren die Bemühungen Melanchthons für<br />

die Planung der Lehrinhalte. In Gotha setzte sich Myconius für den Wiederaufbau der während<br />

des Pfaffenst<strong>ur</strong>mes 1524 zerstörten Lateinschule ein. In ihr sah er eine Pflanzstätte für die<br />

Vorbildung der zukünftigen Theologiestudenten. Auch die Gothaer „deutsche Schreibschule“,<br />

die vom Bürgertum unterstützt w<strong>ur</strong>de, erhielt d<strong>ur</strong>ch die Reformation neue Impulse.<br />

Sächsische K<strong>ur</strong>fürsten - Protektoren der Reformation<br />

Während sich in anderen Gebieten Theologen <strong>und</strong> Fürsten den Forderungen des Kaisers in der<br />

Religionspolitik anpaßten, unterstützten die sächsischen K<strong>ur</strong>fürsten die neue Lehre.<br />

Auch wenn Friedrich der Weise (reg. 1486-1525) erst 1525 auf dem Sterbebett das Abendmahl<br />

nach evangelischem Ritus empfing, so w<strong>ur</strong>den die späteren K<strong>ur</strong>fürsten Johann der Beständige<br />

(reg. 1525-1532) <strong>und</strong> Johann Friedrich der Großmütige (reg. 1532-1547) schon früh zu<br />

entschiedenen Protektoren der reformatorischen Bewegung. Sie gehörten neben dem Landgrafen<br />

Philipp von Hessen (reg. 1518-1567) zu den Begründern des politischen Protestantismus.<br />

<strong>Die</strong> Z<strong>ur</strong>ückweisung der Augsb<strong>ur</strong>ger Konfession d<strong>ur</strong>ch Kaiser Karl V., die Erneuerung des<br />

Wormser Edikts <strong>und</strong> seine Drohung, alle kirchlichen Reformen rückgängig zu machen, führten<br />

die Anhänger der lutherischen Lehre 1531 in Schmalkalden z<strong>ur</strong> Gründung eines protestantischen<br />

Verteidigungsb<strong>und</strong>es. Ihre Mitglieder verpflichteten sich zum gegenseitigen Beistand bei<br />

Angriffen Dritter. 1537 schrieb Luther die neue Bekenntnisschrift des Protestantismus, die<br />

sogenannten „Schmalkaldischen Artikel“.<br />

Trotz der Erfolge des Kaisers gegen die evangelischen Reichsstände im Schmalkaldischen Krieg<br />

1546-47 gelang es ihm nicht, die Glaubenseinheit im Heiligen Römischen Reich<br />

wiederherzustellen.<br />

Im Passauer Vertrag von 1552 <strong>und</strong> im Augsb<strong>ur</strong>ger Religionsfrieden 1555 w<strong>ur</strong>de die<br />

konfessionelle Trennung im Reich <strong>und</strong> damit die Anerkennung der evangelisch-lutherischen<br />

Glaubenslehren besiegelt.<br />

Der Bauernkrieg 1525<br />

<strong>Die</strong> wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zunehmenden sozialen Spannungen <strong>und</strong><br />

besonders die Verschärfung der Leibeigenschaft der Bauern schufen Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

eine Krisensituation, die 1525 im Bauernkrieg ihren Höhepunkt erreichte.<br />

Besonders <strong>Thomas</strong> Müntzers Lehren spiegelten die Interessen der Bauern <strong>und</strong> der plebejischen<br />

Schichten der Städte wider. <strong>Die</strong> von Luther auf den „inneren“ Menschen begrenzte These von<br />

christlicher Freiheit artikulierte Müntzer als „Freiheit von jeglicher Bedrückung“.<br />

Im Verlauf des April 1525 bildeten sich in ganz Thüringen kampfbereite Bauernhaufen. Vor allem<br />

die Bauern der kirchlichen Gr<strong>und</strong>herrschaften richteten ihre Feindseligkeit gegen den Klerus. Den<br />

sogenannten Klosterstürmen fielen unter anderem die Klöster Reinhardsbrunn <strong>und</strong> Georgenthal<br />

zum Opfer. <strong>Die</strong> Mönche mußten Zuflucht in dem benachbarten Gotha suchen.<br />

<strong>Die</strong> Zerstörung der B<strong>ur</strong>gen Gleichen, Mühlberg, Wachsenb<strong>ur</strong>g <strong>und</strong> das Übergreifen der Unruhen<br />

auf Gotha, w<strong>ur</strong>den d<strong>ur</strong>ch das beschwichtigende Einwirken von Friedrich Myconius während der<br />

Verhandlungen mit den Aufständischen verhindert. Wie Luther mahnte auch er die Bauernschaft<br />

zu Mäßigung <strong>und</strong> Geduld, vor allem aber zu Gehorsam der Obrigkeit gegenüber.<br />

GEGENREFORMATION<br />

41


Gotha in den Rivalitätskämpfen: Grumbach`sche Händel<br />

1555-1567<br />

Nach der Niederlage der Protestanten in der Schlacht bei Mühlberg 1547 richteten die<br />

ernestinischen Wettiner ihre Politik auf die Revision der Wittenberger Kapitulation. Im Jahre<br />

1563 schloß Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen eine Allianz mit dem geächteten<br />

Reichsritter Wilhelm von Grumbach. Er hoffte, in einem Gewaltstreich die sächsische K<strong>ur</strong>würde<br />

z<strong>ur</strong>ückerobern zu können, die sein Vater, Johann Friedrich der Großmütige, im<br />

Schmalkaldischen Krieg an seinen albertinischen Vetter Moritz von Sachsen verloren hatte.<br />

In den sogenannten Grumbach`schen Händeln beauftragte Kaiser Maximilian II. den K<strong>ur</strong>fürsten<br />

August von Sachsen mit der Vollstreckung der auch über Herzog Johann Friedrich II., den<br />

Mittleren, verhängten Reichsacht.<br />

Der zu dieser Zeit erneut befestigte Grimmenstein bei Gotha, auf dem Johann Friedrich II. seit<br />

1564 residierte, w<strong>ur</strong>de zum Sammelpunkt von Querulanten, Bankrotte<strong>ur</strong>en, Schwindlern, die<br />

dem Herzog Auswege aus seinen Schwierigkeiten versprachen. Mit Hilfe eines Visionärs Hans<br />

Müller von S<strong>und</strong>hausen, „Tausendschön“ genannt, übte Grumbach seinen Einfluß auf den<br />

Herzog aus. Johann Friedrich II. steigerte sich unter Grumbachs <strong>und</strong> Tausendschöns Visionen in<br />

eine politische W<strong>und</strong>erwelt hinein, die ihm nicht n<strong>ur</strong> die Rückgewinnung der K<strong>ur</strong>würde, sondern<br />

sogar den Erwerb des Kaisertums vorgaukelte.<br />

Infolge der Mobilmachung Gothas befahl Johann Friedrich II. das hölzerne Kaufhaus auf dem<br />

Markt niederz<strong>ur</strong>eißen <strong>und</strong> auf den Stadtwällen Brustwehren <strong>und</strong> Blockhäuser zu errichten. <strong>Die</strong><br />

Häuser der Vorstädte w<strong>ur</strong>den abgerissen <strong>und</strong> alle Obst- <strong>und</strong> anderen Bäume gefällt, um dem<br />

Gegner keinen Schutz zu bieten. Aus den umliegenden Dörfern bis ins Erf<strong>ur</strong>ter Gebiet hinein<br />

w<strong>ur</strong>den die Lebensmittel requiriert. Schließlich zog der Herzog knapp 3000 Mann schlecht<br />

bewaffnetes Landvolk, etwa 300 Söldner <strong>und</strong> 700 Mann aus der Bürgerschaft zusammen. Frauen<br />

<strong>und</strong> Kinder w<strong>ur</strong>den in die Dörfer <strong>und</strong> Städte der Umgebung evakuiert. Johann Friedrich II.<br />

erklärte den Bürgern, daß die Belagerung Gothas die Unterdrückung des protestantischen<br />

Glaubens <strong>und</strong> die Wegnahme seines Landes bezwecke. Auch Grumbach bemühte sich, darüber<br />

hinwegzutäuschen, daß er die Ursache des Krieges war.<br />

<strong>Die</strong> Belagerer, es waren um 10 000 Fußsoldaten <strong>und</strong> 6 000 Reiter, bauten rings um die Stadt<br />

Schanzen <strong>und</strong> Blockhäuser <strong>und</strong> schufen umfangreiche Grabensysteme. Im März 1567 zerstörten<br />

sie die Mühlen, die Brunnenleitungen <strong>und</strong> den Leinakanal, um die Wasserversorgung der Stadt<br />

zu sperren.<br />

<strong>Die</strong> vom 31. Dezember 1566 bis zum 13. April 1567 andauernde Belagerung Gothas endete für<br />

Anführer <strong>und</strong> Einwohner mit schweren Folgen. Herzog Johann Friedrich II. geriet in kaiserliche<br />

Gefangenschaft, die er bis zu seinem Tode 1595 nicht verlassen d<strong>ur</strong>fte. Wilhelm von Grumbach<br />

<strong>und</strong> Kanzler Christian Brück, Sohn des einst mächtigen k<strong>ur</strong>sächsischen Kanzlers Gregor Brück<br />

<strong>und</strong> Schwiegersohn des Malers Lucas Cranach d.Ä., w<strong>ur</strong>den mit einigen ihrer Leute zum Tode<br />

ver<strong>ur</strong>teilt <strong>und</strong> am 18. April auf dem Gothaer Marktplatz hingerichtet. An dieses Datum erinnert<br />

heute noch die Steinplatte in der Mitte des Gothaer Hauptmarktes. <strong>Die</strong> Festung Grimmenstein<br />

w<strong>ur</strong>de für alle Zeiten geschleift. Auch die Jacobskapelle auf dem unteren Markt fiel der<br />

Zerstörung zum Opfer, denn sie diente als wichtiger strategischer Punkt gegen die Belagerer. <strong>Die</strong><br />

verwüstete Stadt Gotha mußte hohe Kriegskosten entrichten.<br />

Seit den Ereignissen von 1567 hatten sich die Ernestiner endgültig mit dem Verlust der<br />

K<strong>ur</strong>würde <strong>und</strong> der neuen Territorien abzufinden, ihr Einflußbereich war fortan auf Thüringen<br />

begrenzt.<br />

<strong>Die</strong> Ämter Arnshaugk, Weida <strong>und</strong> Ziegenrück im Orlaland <strong>und</strong> das Amt Sachsenb<strong>ur</strong>g, die seit<br />

1567 den Namen der „vier assek<strong>ur</strong>ierten Ämter“ führten, w<strong>ur</strong>den 1571 an K<strong>ur</strong>sachsen verpfändet<br />

<strong>und</strong> gelangten 1660 in seinen Besitz, da die Ernestiner auf das Einlösungsrecht verzichteten.<br />

Als die Söhne Johann Friedrichs des Mittleren, Johann Casimir <strong>und</strong> Johann Ernst, wieder in die<br />

väterlichen Lande eingesetzt worden waren, teilte Johann Wilhelm, der Bruder des geächteten<br />

Herzogs, mit ihnen 1572 die ernestinischen Besitzungen.<br />

42


Er erhielt dabei die im mittleren Thüringen <strong>und</strong> östlich der Saale gelegenen Ämter mit den<br />

Kernstücken Weimar <strong>und</strong> Altenb<strong>ur</strong>g, während seinen Neffen das neugegründete Herzogtum<br />

Sachsen-Cob<strong>ur</strong>g-Eisenach mit den Hauptstädten Gotha, Eisenach <strong>und</strong> Cob<strong>ur</strong>g überlassen w<strong>ur</strong>de.<br />

Abb. 39: Exekution der<br />

Geächteten Reichsritter<br />

Wilhelm von Grumbach <strong>und</strong><br />

Kanzler Christian Brück am<br />

18. April 1567 auf dem<br />

Marktplatz, Kupferstich von<br />

Johann Georg Göbel, 1717<br />

Der Dreißigjährige<br />

Krieg (1618-1648)<br />

Der Dreißigjährige<br />

Krieg begann als<br />

eine ständischreligiöse<br />

Auseinandersetzung<br />

in Böhmen <strong>und</strong> griff<br />

mit der Königswahl<br />

Friedrichs V. von<br />

der Pfalz d<strong>ur</strong>ch die<br />

böhmischen Stände<br />

auf das Reich über.<br />

Fast alle deutschen Länder waren in das Kriegsgeschehen einbezogen. Plünderung, Zerstörung<br />

von Wohnstätten <strong>und</strong> Kult<strong>ur</strong>gütern, Teuerung, Hungersnöte <strong>und</strong> Seuchen gehörten in dieser Zeit<br />

zum Alltag.<br />

„Thüringen war insonderheit ein Sammelplatz aller feindlichen Armeen; Städte <strong>und</strong> Dörfer lagen<br />

guten Theils in der Asche, theils ganz, theils von den meisten Inwohnern d<strong>ur</strong>ch Krieg, Hunger<br />

<strong>und</strong> Pest entblößt, die fürstlichen Kammergüter waren wüst <strong>und</strong> öde, alle etwas festen Oerter mit<br />

eines oder des andern kriegenden Theils Garnisonen, so d<strong>ur</strong>ch unerträgliche Contributiones das<br />

wenige noch übrige Volk auffraßen, belegt; die öftern D<strong>ur</strong>chmärsche <strong>und</strong> Quartiere nahmen<br />

vollends mit, was diese alle an Pferden, Vieh <strong>und</strong> Getreide hinterlassen hatten.“ (C. W. Credner:<br />

Herzog Ernst der Fromme nach seinem Wirken <strong>und</strong> Leben, Gotha 1837, Seite 31/32)<br />

Stadt <strong>und</strong> Land Gotha, wie die anderen thüringischen Gebiete, litten besonders unter den<br />

d<strong>ur</strong>chziehenden schwedischen <strong>und</strong> k<strong>ur</strong>sächsischen Truppen: 1630 erfolgte eine Plünderung des<br />

Landes d<strong>ur</strong>ch die kaiserliche Armee unter Tilly; 1631 D<strong>ur</strong>chzug der Schweden nach dem Sieg<br />

Gustav Adolfs bei Breitenfeld; 1632 entstand ein großer Stadtbrand infolge der schwedischen<br />

Einquartierung; von Anfang Mai bis zum August 1639 waren die im Heere des Generals Johann<br />

Banner erkrankten Offiziere <strong>und</strong> Soldaten von der Stadt zu verpflegen; vom 8. bis 11. Dezember<br />

1640 befand sich in Gotha das Hauptquartier mit dem schwedischen Generalstab.<br />

Der unter dem Vorwand des „rechten Glaubens“ geführte Krieg brachte riesige Verluste an<br />

Menschen. In den am meisten betroffenen Gebieten Nordost-, Mittel- <strong>und</strong> Südwestdeutschlands<br />

überlebte n<strong>ur</strong> etwa ein Drittel der Bevölkerung. So betrug im Jahre 1618 die Einwohnerzahl des<br />

Amtes Gotha (16 Dörfer) 8942, nach zwanzig Jahren Krieg waren es n<strong>ur</strong> noch 3124.<br />

D<strong>ur</strong>ch die ständig anwachsenden Söldnerheere <strong>und</strong> den hohen Aufwand an Kriegsmaterial<br />

überzogen alle am Krieg beteiligten Staaten ihre Finanzen.<br />

Fürsten, Reichsstädte <strong>und</strong> kleinere reichsfreie Herren richteten zusätzliche Prägestätten ein,<br />

wod<strong>ur</strong>ch die Masse des umlaufenden Geldes ständig anwuchs. Es w<strong>ur</strong>de der Silberfeingehalt der<br />

Münzen zugunsten unedler Metalle, hauptsächlich des Kupfers, herabgesetzt. Das führte zu einer<br />

allgemeinen Münzverschlechterung <strong>und</strong> zum Währungsverfall. Während der „Kipper- <strong>und</strong><br />

Wipperzeit“ entstanden auch in Gotha <strong>und</strong> Reinhardsbrunn neue Münzstätten.<br />

43


Nachdem am 24. Oktober 1648 der Westfälische Frieden verkündet w<strong>ur</strong>de, dauerte es noch<br />

lange, bis die W<strong>und</strong>en des verheerenden Krieges im Gothaer Land geheilt waren.<br />

ABSOLUTISMUS<br />

<strong>Die</strong> Entstehung des Herzogtums Sachsen-Gotha unter Ernst I.<br />

1640-1675<br />

Seit der Landesteilung 1572 gehörte Gotha zu der älteren Linie der Ernestiner von Cob<strong>ur</strong>g-<br />

Eisenach, die mit dem Tod von Johann Ernst III. im Jahre 1638 ausgelöscht w<strong>ur</strong>de. Der größere<br />

Teil der Länder fiel an das verwandte herzoglich-weimarische Haus, <strong>und</strong> zwar an die Prinzen<br />

Wilhelm, Albrecht <strong>und</strong> Ernst. Nach dem Erbteilungsvertrag vom 13. Februar 1640 entstanden<br />

drei Staaten: Sachsen-Weimar, Sachsen-Eisenach <strong>und</strong> Sachsen-Gotha. Ernst übernahm das<br />

gothaische Erbteil, das aus den Ämtern Gotha, Georgenthal, Reinhardsbrunn, Tenneberg,<br />

Ichtershausen, Wachsenb<strong>ur</strong>g, Schwarzwald, Königsberg, Salzungen <strong>und</strong> Tonndorf bestand. <strong>Die</strong><br />

Stadt Gotha w<strong>ur</strong>de z<strong>ur</strong> Haupt- <strong>und</strong> Residenzstadt des neugegründeten Herzogtums erklärt.<br />

<strong>Die</strong> Auflösung des alten ständischen Ordnungsgefüges nach dem 30jährigen Krieg ver<strong>ur</strong>sachte<br />

ein allgemeines Verlangen nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnungsfunktion, die in der<br />

Person des Fürsten verkörpert schien. So kam es im Herzogtum Sachsen-Gotha z<strong>ur</strong><br />

Herausbildung der absolutistischen Regierungsform, in der der Herzog als alleiniger Inhaber der<br />

Herrschaftsgewalt nicht an die bestehenden Gesetze geb<strong>und</strong>en, wohl aber dem göttlichen Recht<br />

unterworfen war.<br />

In der Zeit von 1640 bis 1675 entstand unter Ernst I. ein Territorialstaat, der d<strong>ur</strong>ch die<br />

Zentralisierung des Landes, die Förderung sozialer <strong>und</strong> kult<strong>ur</strong>eller Leistungen <strong>und</strong> besonders<br />

d<strong>ur</strong>ch die fortschrittliche Gesetzgebung eine Vorbildwirkung für viele deutsche Länder erzielte.<br />

Während der Regierung Ernsts I. umfaßte das Herzogtum Sachsen-Gotha (-Altenb<strong>ur</strong>g, seit 1672)<br />

etwa zwei Drittel des gesamten ernestinischen Thüringens <strong>und</strong> war damit der größte thüringische<br />

Staat. In Herzog Ernst I., genannt der Fromme, der dem Gothaer Land <strong>und</strong> besonders seiner<br />

Residenzstadt neue Lebensimpulse gab, verehren die Gothaer ihren bedeutendsten Landesherrn<br />

nach der Reformation.<br />

Abb. 40: Herzog Ernst I. von<br />

Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g (reg. 1640-1675)<br />

Kupferstich von J. Sandrart, 1677<br />

<strong>Die</strong> Zentralisierung des Landes<br />

<strong>Die</strong> ersten Maßnahmen Ernst I. waren darauf<br />

ausgerichtet, seine absolute Macht auszubauen <strong>und</strong> die<br />

Souveränität des Landes zu stärken.<br />

Mit diesem Ziel w<strong>ur</strong>de im Jahre 1643 unter der<br />

Leitung von Andreas Rudolphi (1601-1679) der Bau<br />

eines repräsentativen Fürstensitzes, des Schlosses<br />

„Friedenstein“ begonnen, obwohl der andauernde<br />

Krieg immer noch alle menschlichen <strong>und</strong> materiellen<br />

Kräfte forderte. Am 26. Oktober 1643 erfolgte die<br />

Gr<strong>und</strong>steinlegung für die Schloßkirche. Am 17.<br />

September 1646 fand ihre feierliche Einweihung statt.<br />

K<strong>ur</strong>z danach zogen die herzogliche Familie <strong>und</strong> die<br />

Regierungskollegien in das neue Residenzgebäude ein. Zu diesem Zeitpunkt w<strong>ur</strong>de der Name<br />

„Friedenstein“ bereits gewählt, noch bevor der Westfälische Friedensschluß den Dreißigjährigen<br />

Krieg beenden sollte. Im Jahre 1654 w<strong>ur</strong>de das erste große Bauwerk des Frühbarock in<br />

Deutschland beendet.<br />

44


Als eine weitere Aufgabe stand vor dem Herzog die Zentralisierung des Landes <strong>und</strong> der Aufbau<br />

eines Beamten- <strong>und</strong> Verwaltungsapparates. Es w<strong>ur</strong>den das Konsistorium (Beaufsichtigung des<br />

Kirchen- <strong>und</strong> Schulwesens); die Regierung (Aufsicht über die Ämter, Gerichte, Innungen <strong>und</strong><br />

Handwerke) <strong>und</strong> die Kammer (Kontrolle über das Finanz- <strong>und</strong> Bauwesen) gebildet. Dabei sah es<br />

der neue Landesherr als wichtig an, bei der Besetzung der Behörden erfahrene Personen<br />

auszuwählen. In k<strong>ur</strong>zer Zeit berief der Herzog den tüchtigsten Mitarbeiterkreis, darunter<br />

hervorragende Gelehrte wie<br />

Salomon Glas (1593 - 1656), Superintendent <strong>und</strong> Konsistorialrat (1640-1656);<br />

Dr. Georg Frantzke (gest. 1659), erster Kanzler des Herzogs (1641-1659);<br />

Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692), Kanzler seit 1664;<br />

Ernst Ludwig Avemann (1609-1689), Konsistorialpräsident seit 1660, Kanzler (1673-1675).<br />

Abb. 41: Schloß<br />

Friedenstein, Kupferstich<br />

eines unbekannten Meisters,<br />

um 1660<br />

<strong>Die</strong> ernestinische<br />

Gesetzgebung<br />

Im Jahre 1653<br />

erschien die<br />

Fürstliche<br />

Landesordnung für<br />

das Herzogtum<br />

Gotha, in der die<br />

umfangreichen<br />

Verordnungen für<br />

alle Bereiche der<br />

damaligen<br />

Gesellschaft erfaßt<br />

waren. Besonders<br />

fortschrittlich war<br />

die Gesetzgebung für die Organisation des Verwaltungsapparates <strong>und</strong> der höchsten Behörden,<br />

für die Entwicklung der Schulen <strong>und</strong> Ausbildungsstätten sowie auf dem Gebiet des<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens. Andererseits trugen einige Anordnungen dieser Gesetzgebung feudalpatriarchalischen<br />

Charakter, zum Beispiel w<strong>ur</strong>de z<strong>ur</strong> Bekämpfung des Aberglaubens die<br />

Folterung der Betroffenen festgelegt.<br />

<strong>Die</strong> von Ernst I. herausgegebene Landesordnung fand bei Zeitgenossen große Anerkennung. Der<br />

Gothaer Staatsmann Veit Ludwig von Seckendorff verfaßte den „Teutschen Fürstenstaat“, in<br />

dem der Gothaer Staat <strong>und</strong> seine Gesetzgebung als Vorbild in der staatsrechtlichen Wissenschaft<br />

diente.<br />

<strong>Die</strong> Landesordnung von 1653 hatte fast 200 Jahre für das Herzogtum Gotha Geltung, sie<br />

erreichte bis 1740 mit einigen Verbesserungen <strong>und</strong> Änderungen vier Auflagen.<br />

<strong>Die</strong> erste deutsche Medizinalordnung, 1653<br />

45


Den Zweck in dieser Verordnung sah Ernst I. darin, die Anzahl der ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

berufstüchtigen Bürger im Lande möglichst zu vergrößern. Für die Heilung von Krankheiten<br />

w<strong>ur</strong>den gelehrte, erfahrene Ärzte <strong>und</strong> geschickte Barbiere empfohlen.<br />

<strong>Die</strong> Bezirksärzte sollten eine systematische Überwachung des Ges<strong>und</strong>heitszustandes der<br />

Bevölkerung (Seuchenbekämpfung) d<strong>ur</strong>chführen. Den Land-Medicis w<strong>ur</strong>de die Pflicht auferlegt,<br />

die Apotheken zu überwachen. <strong>Die</strong> Apotheken sollten am Sitz der Ärzte errichtet <strong>und</strong> mit allen<br />

erforderlichen guten, vorwiegend einheimischen Materialien <strong>und</strong> Kräutern ausgestattet werden.<br />

<strong>Die</strong> Verordnungen w<strong>ur</strong>den insbesondere z<strong>ur</strong> Bekämpfung des K<strong>ur</strong>pfuschertums <strong>und</strong> des<br />

Aberglaubens ausgerichtet.<br />

Abb. 42: Apothekenzubehör, 17./18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

<strong>Die</strong> erste Feuerordnung<br />

In den Jahren 1656 <strong>und</strong> 1666<br />

erließ Herzog Ernst I. eine<br />

Feuerordnung, die die erste<br />

Gr<strong>und</strong>lage der organisierten<br />

Brandverhütung <strong>und</strong><br />

Brandbekämpfung im<br />

Herzogtum Sachsen-Gotha<br />

bildete. Es w<strong>ur</strong>den zum<br />

Beispiel veranlaßt:<br />

Errichtung von Brandmauern<br />

zwischen je dem dritten <strong>und</strong> vierten Haus;<br />

Bedeckung der Dächer mit Ziegeln statt Holzschindeln;<br />

Verlegung der Scheunen vor die Stadt;<br />

Anlage weiterer Abzweigungen des Leinakanals <strong>und</strong> der Schwemmen innerhalb der Stadt.<br />

D<strong>ur</strong>ch diese Brandschutzmaßnahmen w<strong>ur</strong>den nach 1665 größere Brände in der Residenzstadt<br />

Gotha verhindert.<br />

Das ernestinische Staatserziehungsprogramm<br />

Für die innere Stabilität des Herzogtums sowie eine Anhebung der gesunkenen Sitten <strong>und</strong><br />

Lebensarten der Bevölkerung w<strong>ur</strong>de von Ernst I. ein Staatserziehungssystem für alle Untertanen<br />

ausgearbeitet. <strong>Die</strong> Religion diente als wichtiges Mittel für die Verwirklichung dieser Ziele. <strong>Die</strong><br />

Erwachsenen w<strong>ur</strong>den mit dem sogenannten Informationswerk, wie Unterricht im Katechismus,<br />

qualifiziert; die Kinder w<strong>ur</strong>den verpflichtet, die Volksschulen zu besuchen.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung der Allgemeinbildung stand auf dem ersten Platz im herzoglichen Programm.<br />

Das Schulwesen sollte nach Meinung von Ernst I. die Gr<strong>und</strong>pfeiler des Staates bilden. D<strong>ur</strong>ch<br />

veraltete Lehrmethoden bestand eine akute Notwendigkeit der Neugestaltung des Schulwesens<br />

im Land. <strong>Die</strong> Schulgebäude befanden sich in schlechtem Zustand; der Unterricht beschränkte<br />

sich auf das mechanische Auswendiglernen der Worte des Katechismus, auf Lesen <strong>und</strong><br />

Schreiben. <strong>Die</strong> Schulen w<strong>ur</strong>den nicht als Erziehungsstätten, sondern als Strafanstalten<br />

angesehen. Bei der Lösung dieser schweren Aufgabe stand dem Herzog der fortschrittliche<br />

Schulreformer Andreas Reyher z<strong>ur</strong> Seite; er war seit 1641 als Rektor des Gothaer Gymnasiums<br />

tätig. Eine der Hauptmaßnahmen, die z<strong>ur</strong> Förderung <strong>und</strong> zum Aufschwung des Schulwesens im<br />

Herzogtum Gotha führten, war eine von Reyher entworfene Schulordnung, die im Jahre 1642<br />

unter dem Titel „Spezial- <strong>und</strong> sonderbahrer Bericht...“ erschien, der berühmte <strong>und</strong> für seine Zeit<br />

umwälzende „Gothaer Schulmethodus“. <strong>Die</strong>s war die erste staatliche Schulordnung des<br />

Herzogtums Sachsen-Gotha für Elementarschulen. Der „Schulmethodus“ stellte die Gr<strong>und</strong>lage<br />

für das einheitliche Bildungswesen der Volksschulen dar <strong>und</strong> beinhaltete:<br />

46


allgemeine Schulpflicht vom 5. - 12. Lebensjahr; nterricht in der Muttersprache; Schuljahrbeginn<br />

nach den Ernteferien, Abschluß mit Prüfung; täglicher Unterricht von über 6 St<strong>und</strong>en;<br />

Einschränkung der Prügelstrafe.<br />

Unter den verschiedenen Unterrichtsmethoden war bei Reyher die Anschaulichkeit von<br />

besonderer Bedeutung, die bis heute ein notwendiges Element im Unterricht darstellt. Für diese<br />

Zwecke sollten nach Reyhers Vorschlägen in jeder Schule einige physikalische Apparate, eine<br />

kleine Mineraliensammlung, ein Herbarium mit den wichtigsten Sämereien, Giftpflanzen,<br />

Arzneien <strong>und</strong> Küchenkräutern vorhanden sein.<br />

Der Gothaer Schulmann Andreas Reyher erwarb sich damit große Verdienste bei der Erneuerung<br />

des Schulwesens. Seine umfassenden Reformen in der Volksbildung waren die fortschrittlichsten<br />

innerhalb der deutschen Staaten.<br />

Abb. 43: Magister Andreas<br />

Reyher, der XII. Rektor des<br />

Gothaer Gymnasiums (1601-<br />

1673),<br />

Ölgemälde von August Erich,<br />

1643<br />

AUFKLÄRUNG<br />

<strong>Die</strong> Residenzstadt<br />

Gotha - ein Zentrum<br />

der Kult<strong>ur</strong> <strong>und</strong><br />

Nat<strong>ur</strong>wissenschaften<br />

in Thüringen<br />

1730-1800<br />

Ab Mitte des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts breitete<br />

sich in E<strong>ur</strong>opa eine als<br />

Aufklärung bezeichnete<br />

geistige Bewegung aus.<br />

Zu ihren<br />

Voraussetzungen<br />

gehörten die<br />

merkantilistische Wirtschaftspolitik, der beginnende Aufstieg des Bürgertums <strong>und</strong> die<br />

Ausbildung der Nat<strong>ur</strong>wissenschaften. <strong>Die</strong> Aufklärungsideen w<strong>ur</strong>den zunehmend vom gebildeten<br />

Bürgertum getragen <strong>und</strong> verbanden sich mit der Auffassung von Gleichheit <strong>und</strong> Bildbarkeit aller<br />

Menschen, der Forderung nach Gewissensfreiheit, Toleranz, Humanität sowie irdischem Glück.<br />

<strong>Die</strong> Menschen sollten d<strong>ur</strong>ch Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung an die Realisierung dieser Ideale<br />

herangeführt werden. Gleichzeitig sollte die Belehrung die praktische Lebensbewältigung<br />

erleichtern. Eine große Rolle spielten dabei Zeitungen, Zeitschriften <strong>und</strong> Kalender, wie zum<br />

Beispiel die seit 1751 erschienene „Wöchentliche Gothaische Anfragen <strong>und</strong> Nachrichten“, „Der<br />

Reichsanzeiger“ als das erste deutsche überregionale Anzeigenblatt (seit 1793), „Almanac de<br />

Gotha“, seit 1777 als „Gothaischer Hofkalender“ auch „Gotha“ genannt <strong>und</strong> die „Gothaische<br />

gelehrte Zeitung“ (1774-1804).<br />

47


Abb. 44: Ansicht der Stadt<br />

Gotha, um 1730<br />

Sie w<strong>ur</strong>den in den<br />

Gothaer Verlagen<br />

unter Jacob Mevius<br />

(gest. 1737), Karl<br />

Wilhelm Ettinger<br />

(1738-1804), Johann<br />

Christian <strong>Die</strong>trich<br />

(1712-1800), Justus<br />

Perthes (1749-1816)<br />

<strong>und</strong> Rudolf Zacharias<br />

Becker (1752-1822)<br />

herausgegeben <strong>und</strong><br />

trugen wesentlich<br />

zum literarischen Ruf<br />

der Residenzstadt bei.<br />

Viele Fürsten in<br />

deutschen Staaten<br />

leiteten im Sinne der<br />

Aufklärung Reformen<br />

ein, kennzeichnend<br />

für den sogenannten „aufgeklärten Absolutismus“. Als seine bedeutendsten Vertreter in den<br />

wettinisch-ernestinischen Ländern in Thüringen galten Luise Dorothee (1710-1767), Gemahlin<br />

Friedrichs III., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g (reg. 1732-1772), Ernst II., Herzog von<br />

Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g (reg. 1772-1804), Karl (reg. 1775-1782) <strong>und</strong> Georg I. (reg. 1782-<br />

1803), Herzöge von Sachsen-Meiningen, Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar-<br />

Eisenach (reg. 1758-1775).<br />

Im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g setzte die Aufklärung die Akzente, die z<strong>ur</strong> Förderung<br />

der Musik, Literat<strong>ur</strong>, Theaterkunst, Pädagogik, des Bibliotheks- <strong>und</strong> Verlagswesens, der<br />

Gartenbaukunst <strong>und</strong> der Nat<strong>ur</strong>wissenschaften, insbesondere der Astronomie, beitrugen.<br />

<strong>Die</strong> Residenzstadt Gotha w<strong>ur</strong>de zu einem geistig-kult<strong>ur</strong>ellen Zentrum in Thüringen, das<br />

d<strong>ur</strong>chaus neben Weimar mit seiner spezifischen Entwicklung - als Zentrum der deutschen<br />

Klassik - bestehen konnte.<br />

Abb. 45: Gesellschaftskleid,<br />

II. Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>Die</strong> Nat<strong>ur</strong>wissenschaften<br />

Zu den geistigen Gr<strong>und</strong>lagen der Aufklärung gehörte<br />

auch der Umbruch in den Nat<strong>ur</strong>wissenschaften, der<br />

ein neues Welt- <strong>und</strong> Menschenbild entstehen ließ:<br />

<strong>Die</strong> Physik erforschte den d<strong>ur</strong>ch Nat<strong>ur</strong>gesetze<br />

bestimmten Aufbau der Welt; die Astronomie<br />

erkannte, daß die Erde nicht das Zentrum des<br />

Weltalls ist; die Medizin betrachtete den Menschen<br />

als Teil der Nat<strong>ur</strong> neben anderen Lebewesen.<br />

Besonders auf den Gebieten der Astronomie,<br />

Geologie <strong>und</strong> Geographie haben Gothaer Aufklärer<br />

einen bedeutenden Anteil zu der Entwicklung der<br />

Nat<strong>ur</strong>wissenschaften in Deutschland beigetragen.<br />

Wie die Gothaer Künstler standen sie im <strong>Die</strong>nste des Herzogs. <strong>Die</strong> Staatsbeamten Karl Ernst<br />

48


Adolf von Hoff (1771-1831), Geologe <strong>und</strong> Mineraloge, Begründer des Aktualismus in der<br />

Geologie, <strong>und</strong> Ernst Friedrich von Schlotheim (1764-1832), Begründer der wissenschaftlichen<br />

Paläobotanik, widmeten sich den Wissenschaften überwiegend in ihrer Freizeit.<br />

Von 1781 bis 1794 gab Ludwig Christian Lichtenberg (1738-1812) das „Magazin für das<br />

Neueste aus der Physik <strong>und</strong> Nat<strong>ur</strong>geschichte“ heraus, die erste nat<strong>ur</strong>wissenschaftliche<br />

Zeitschrift, die in Gotha erschien.<br />

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert profilierte sich der Verlag von Justus Perthes (1785<br />

gegründet) auf geographische <strong>und</strong> kartographische Literat<strong>ur</strong>, die die Stadt Gotha weltbekannt<br />

machte.<br />

Im Auftrag Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g w<strong>ur</strong>de auf dem Seeberg bei Gotha<br />

von 1787 bis 1791 eine musterhafte Sternwarte nach dem Muster des Raddiff-Observatoriums<br />

von dem Architekten Carl Christoph Besser (1726-1800) errichtet <strong>und</strong> mit den besten damals<br />

erhältlichen Instrumenten ausgerüstet.<br />

Unter den Astronomen Franz Xaver von Zach (1754-1832), der als erster Direktor der Seeberg-<br />

Sternwarte von 1791 bis 1806 tätig war, <strong>und</strong> seinen Nachfolgern Bernhard von Lindenau, Franz<br />

Encke <strong>und</strong> Peter Andreas Hansen w<strong>ur</strong>de dieses Institut ein e<strong>ur</strong>opäisches Zentrum der<br />

astronomischen Forschung.<br />

Zu Zachs bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen in Gotha gehörten die Herausgabe von<br />

Sonnentafeln, in denen auch die Ergebnisse der Sonnenbeobachtungen des Herzogs Ernst II.<br />

publiziert w<strong>ur</strong>den, des Sternenkatalogs (1792) <strong>und</strong> der Zeitschrift „Monatliche Correspondenz<br />

z<strong>ur</strong> Beförderung der Erd- <strong>und</strong> Himmelsk<strong>und</strong>e“ (1800).<br />

Im Jahre 1798 organisierte er in Gotha den I. Internationalen Astronomenkongreß, auf dem ein<br />

Erfahrungsaustausch zwischen den Astronomen, Geodäten <strong>und</strong> Gerätebauern der deutschen<br />

Staaten, Frankreichs, der Schweiz <strong>und</strong> Englands stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />

Abb. 46: Sternwarte auf dem Kleinen Seeberg bei Gotha, Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

49


Abb. 47: Reisesonnenuhr,<br />

17. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Das Manufakt<strong>ur</strong>wesen<br />

Im ersten Viertel des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts begann im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g die<br />

Epoche des Manufakt<strong>ur</strong>wesens.<br />

<strong>Die</strong> schwierige Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftslage des Landes führte im Sinne des Merkantilismus zu<br />

staatlichen Fördermaßnahmen der privaten Industrien. Der Aufbau <strong>und</strong> Betrieb von<br />

Manufakt<strong>ur</strong>en w<strong>ur</strong>de vielseitig von der Landesregierung unterstützt. Zum Beispiel bekamen<br />

Unternehmer für einige Jahre die Befreiung von allen persönlichen Abgaben, Akzisen <strong>und</strong><br />

Zöllen auf Rohmaterialien. <strong>Die</strong> einheimischen Produkte w<strong>ur</strong>den d<strong>ur</strong>ch Einfuhrbeschränkungen<br />

vor fremder Konk<strong>ur</strong>renz geschützt.<br />

In den Jahren 1711-13 entstanden in Gotha die Zeug- <strong>und</strong> Modewaren- sowie Glasmanufakt<strong>ur</strong>en.<br />

1719 kam es z<strong>ur</strong> Gründung der Herzoglichen Wollmanufakt<strong>ur</strong>, die als Gothaer<br />

Hauptwollmanufakt<strong>ur</strong> im Jahre 1756 wieder die Produktion von Stoffen aufnahm.<br />

D<strong>ur</strong>ch den Widerstand der Gothaer Handwerker <strong>und</strong> Absatzschwierigkeiten gingen die Textil-<br />

<strong>und</strong> Modewarenmanufakt<strong>ur</strong>en bald ein. Eine Ausnahme bildete die von dem Kammerrat<br />

Wilhelm Theodor von Rotberg (1718-1795) im Jahre 1757 gegründete Porzellanmanufakt<strong>ur</strong>, als<br />

erste in Thüringen überhaupt. Sie bestand bis 1934.<br />

Von den anderen thüringischen Porzellanmanufakt<strong>ur</strong>en unterschied sich die Gothaer dad<strong>ur</strong>ch,<br />

daß sie sich mehr nach norddeutschen (Berliner Manufakt<strong>ur</strong>), als nach Meißner Vorbildern<br />

orientierte <strong>und</strong> eine Vorliebe für einfache Formen, sparsame <strong>und</strong> feine Bemalung zeigte. Fast<br />

alle Stücke bis zum Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren Einzelanfertigungen, die auf besondere<br />

Bestellung entstanden.<br />

Wilhelm von Rotberg wählte den Anfangsbuchstaben seines Namens als Marke für die in seiner<br />

Manufakt<strong>ur</strong> hergestellten Porzellane. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, w<strong>ur</strong>den die Gothaer<br />

R- Marken <strong>und</strong> später auch die R. g.- Marken ausschließlich unterglas<strong>ur</strong>blau ausgeführt. Zu<br />

Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts w<strong>ur</strong>de auch mit G (für Gotha) gemarkt.<br />

Abb. 48: Erzeugnisse der<br />

Gothaer<br />

Porzellanmanufakt<strong>ur</strong>, 1767-<br />

1795<br />

Gothaer Orangerie<br />

<strong>und</strong><br />

Gartenbaukunst<br />

Das<br />

Orangerieensemble<br />

w<strong>ur</strong>de <strong>ur</strong>sprünglich<br />

als Barockgarten von<br />

dem Gothaer<br />

Baumeister Johann<br />

E. Straßb<strong>ur</strong>ger<br />

angelegt. Von 1747<br />

bis 1752 errichtete<br />

man die Orangen-<br />

<strong>und</strong> Gewächshäuser nach Plänen des Landesbaumeisters Gottfried Heinrich Krohne. Ihre<br />

Fertigstellung erfolgte in den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg von 1766 bis 1774 unter<br />

Krohnes Schüler Johann David Weidner (1721-1784). <strong>Die</strong> Architekt<strong>ur</strong> der beiden Gebäude<br />

enthielt Einflüsse des Wiener Barock, in den chinoisen Dachformen war auch der Einfluß des<br />

Dresden-Pillnitzer-Barock zu erkennen.<br />

50


Nach einem „Inventarium“ über die Orangerie vom 25. September 1781 waren in der Anlage<br />

608 Orangen- <strong>und</strong> 282 Zitronenbäume vorhanden, vor allem Pomeranzen, Apfelsinen, einige<br />

Pampelmusen <strong>und</strong> Zitronatbäume. Hinzu kamen über 300 Lorbeerbäume als Pyramiden <strong>und</strong><br />

Kugeln sowie viele andere Zierpflanzen <strong>und</strong> Gewächse.<br />

Im Gegensatz zum barocken Orangeriegarten, der nach französischem Vorbild im strengen Stil<br />

angelegt w<strong>ur</strong>de, strebte die Gartenkunst der II. Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts einer der freien Nat<strong>ur</strong><br />

nachgebildeten romantischen Gartengestaltung an. 1769 begann die Umgestaltung des<br />

ehemaligen Küchengartens beim Schloß Friedenstein südlich des Leinakanals im Stil eines<br />

englischen Landschaftsparks als einer der frühesten Anlagen dieser Art in Deutschland. Herzog<br />

Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g führte mit den neuen Ideen der Aufklärung den<br />

englischen Park ein, den er auf einer Reise nach Wales kennengelernt hatte. So entstand südlich<br />

des Schlosses Friedenstein ein Landschaftsgarten mit einem angelegten Teich, dessen Insel Ernst<br />

II. sich als letzte Ruhestätte auserwählt hatte. <strong>Die</strong> Anlage w<strong>ur</strong>de nach Konzeptionen des<br />

Engländers Haverfield, des aus Molsdorf berufenen Hofgärtners Christian Heinrich Wehmeyer<br />

sowie des Landschaftsgärtners Johann Rudolf Eyserbeck aus Wörlitz gestaltet.<br />

Der dorische Tempel zwischen Leinakanal <strong>und</strong> dem großen Parkteich w<strong>ur</strong>de um 1780 nach<br />

einem Entw<strong>ur</strong>f des bekannten Wörlitzer Architekten Fr. W. von Erdmannsdorff (1736-1800)<br />

erbaut.<br />

Abb. 49: Herzoglicher Park<br />

mit Ansicht des Grabmahls<br />

von Herzog Ernst II. von<br />

Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g,<br />

Kupferstich eines<br />

unbekannten Meisters,<br />

1822/25<br />

<strong>Die</strong> Freima<strong>ur</strong>erei<br />

Eine charakteristische<br />

Erscheinung der<br />

Aufklärungsepoche<br />

waren die<br />

Gründungen der<br />

Orden <strong>und</strong> Geheimgesellschaften;<br />

unter<br />

denen spielten die<br />

Freima<strong>ur</strong>erlogen eine<br />

besondere Rolle. In ihnen versuchte man, das aufklärerische Ideengut vor allem in der<br />

Menschenbildung umzusetzen <strong>und</strong> weiterzuentwickeln.<br />

<strong>Die</strong> Freima<strong>ur</strong>erei wird bis heute als symbolische Baukunst verstanden, die die Formung des<br />

Einzelnen <strong>und</strong> dad<strong>ur</strong>ch der Menschheit z<strong>ur</strong> Humanität, Toleranz <strong>und</strong> Brüderlichkeit zum Ziele<br />

hat.<br />

Führende Persönlichkeiten engagierten sich im Freima<strong>ur</strong>erb<strong>und</strong>, vor allem Vertreter der<br />

bürgerlichen Intelligenz, Angehörige des höheren Staatsdienstes <strong>und</strong> Adels, gelegentlich<br />

wohlhabende Handwerker <strong>und</strong> Künstler.<br />

Ihr direktes Wirken beschränkte sich auf den sozialen Bereich; insbesondere den Kindern,<br />

Waisen <strong>und</strong> Kranken galt ihre Fürsorge.<br />

Seit den 40er Jahren des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts verbreitete sich im Herzogtum Sachsen-Gotha-<br />

Altenb<strong>ur</strong>g die <strong>ur</strong>sprünglich kosmopolitisch orientierte bürgerliche Bewegung der Freima<strong>ur</strong>er.<br />

Auf Initiative des Hofschauspielers Conrad Ekhof versammelten sich am 25. Juli 1774 Vertreter<br />

des progressiven Gothaer Bürgertums <strong>und</strong> des Beamtentums z<strong>ur</strong> Gründung der Johannisloge<br />

„Cosmopolit“. Zu ihrem ersten Meister vom Stuhl (Vorsitzendem) w<strong>ur</strong>de Ekhof gewählt. Unter<br />

51


seinem Einfluß, auch den von Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g, entwickelte sich<br />

die Gothaer Loge (seit 23. September 1774 „Zum Rautenkranz“, seit 10. Dezember 1784 Loge<br />

„Compass“) zum Mittelpunkt des kult<strong>ur</strong>ellen Lebens in der Stadt <strong>und</strong> trug z<strong>ur</strong> verstärkten<br />

Ausbreitung der Ideen der Aufklärung <strong>und</strong> des Philanthropismus bei. Nach ihrer Auflösung am<br />

29. Mai 1801 gründete man erneut am 30. Januar 1806 in Gotha die Loge „Ernst zum Compass“.<br />

Im sozialen Bereich stifteten die Mitglieder der Loge 1776 ein „Institut z<strong>ur</strong> Beförderung der<br />

Blattern-Inokulation“ <strong>und</strong> später gründeten sie eine Leih- <strong>und</strong> Hilfskasse z<strong>ur</strong> Unterstützung von<br />

verarmten Gewerbetreibenden.<br />

Das Schulwesen<br />

<strong>Die</strong> Ideen der Aufklärung beeinflußten wesentlich die Entwicklung des Gothaer Schulwesens<br />

<strong>und</strong> insbesondere den Geist, die Lehrinhalte <strong>und</strong> Unterrichtsmethoden des Gymnasiums illustre,<br />

seit 1859 Gymnasium Ernestinum.<br />

<strong>Die</strong> hervorragenden Gelehrten wie Rektor Johann Gottfried Geißler (1726-1800), Johann Georg<br />

August Galletti (1750-1828 ), Friedrich Jacobs (1764-1847) <strong>und</strong> andere reformierten das<br />

veraltete Bildungssystem im Sinne der Aufklärung. Sie lösten das starre Klassensystem auf <strong>und</strong><br />

bildeten einzelne Fachgemeinschaften, führten das Fachlehrersystem <strong>und</strong> die Abit<strong>ur</strong>prüfungen<br />

ein, schufen eine Bibliothek <strong>und</strong> ließen begabten Kindern eine besondere Förderung zu kommen.<br />

<strong>Die</strong> Reform schuf wichtige Voraussetzungen für den Aufschwung des Schulwesens im<br />

Herzogtum.<br />

<strong>Die</strong> moderne wissenschaftliche Pädagogik verdankt ihr Entstehen der Aufklärung, die allein der<br />

Erziehung, die Schaffung eines neuen besseren Menschen zutraute.<br />

Im Sinne der Aufklärung wirkte in Gotha Superintendent Josias Friedrich Christian Löffler<br />

(1752-1816). Im Jahre 1800 gründete er die sogenannte Freischule für Kinder verarmter Eltern<br />

im Gebäude des Werkhauses hinter der Margarethenkirche. Der Besuch der Schule war<br />

kostenlos, aber Mädchen <strong>und</strong> Knaben zwischen 7 <strong>und</strong> 15 Jahren mußten ihren Lebensunterhalt<br />

d<strong>ur</strong>ch Erledigung verschiedener Arbeiten verdienen. <strong>Die</strong> Freischule bestand bis zum Jahr 1892.<br />

Um die Ausbildung der Volksschullehrer im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g zu<br />

verbessern, errichtete im Jahre 1780 Pfarrer Johann Christian Haun (1748-1801) in den Räumen<br />

des Zucht- <strong>und</strong> Waisenhauses ein Lehrerseminar. Neben den allgemeinen Fächern wie Religion,<br />

Lesen, Musik <strong>und</strong> Zeichnen w<strong>ur</strong>de in der Ausbildung besonderer Wert auf die Vermittlung<br />

nat<strong>ur</strong>wissenschaftlicher Kenntnisse gelegt.<br />

Das Philantropinum Schnepfenthal<br />

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts versuchten die Philantropen (Menschenfre<strong>und</strong>e) das<br />

Erziehungs- <strong>und</strong> Unterrichtswesen im Sinne der Aufklärung umzugestalten. Ziel war, einen<br />

neuen, geistig <strong>und</strong> körperlich harmonisch ausgebildeten Menschen für ein „gemeinnütziges,<br />

patriotisches <strong>und</strong> glückseliges Leben“ zu erziehen.<br />

Einer der bedeutendsten Vertreter des Philantropismus in Gotha war Christian Gotthilf<br />

Salzmann, der die Ideen der Aufklärung <strong>und</strong> des Humanismus in seiner pädagogischen Tätigkeit<br />

schöpferisch umzusetzen bemüht war. Im Jahre 1784 errichtete er mit Unterstützung von Herzog<br />

Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenb<strong>ur</strong>g das Philantropinum in Schnepfenthal bei Gotha. Das war<br />

die vierte <strong>und</strong> letzte der deutschen Gründungen dieser Art. Z<strong>ur</strong> wichtigsten Aufgabe der Anstalt<br />

gehörte die Vermittlung einer vielseitigen Bildung. Der Schwerpunkt w<strong>ur</strong>de auf nützliche<br />

Inhalte gelegt. Neben den traditionell bewährten Fächern w<strong>ur</strong>den neue wie Statistik,<br />

Technologie, Mathematik, Physik <strong>und</strong> e<strong>ur</strong>opäische Fremdsprachen eingeführt. Im<br />

nat<strong>ur</strong>wissenschaftlichen Unterricht stand das Prinzip der Anschaulichkeit im Vordergr<strong>und</strong>, was<br />

z<strong>ur</strong> realen Auffassung der Welt führen sollte. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e w<strong>ur</strong>de in der Erziehungsanstalt<br />

Schnepfenthal zum Beispiel ein Nat<strong>ur</strong>alienkabinett gegründet <strong>und</strong> für die Zöglinge Exk<strong>ur</strong>sionen<br />

d<strong>ur</strong>chgeführt. Da es auch Salzmann, wie dem Philantropismus allgemein, um eine harmonische<br />

Bildung <strong>und</strong> Erziehung ging, w<strong>ur</strong>den Musik, Gesang, Tanzen, Reiten, Gymnastik <strong>und</strong><br />

Arbeitserziehung in den Unterricht aufgenommen.<br />

52


Literat<strong>ur</strong>:<br />

Abb. 50: Christian Gotthilf Salzmann<br />

(1744-1811), Pädagoge, Begründer der<br />

Erziehungsanstalt Schnepfenthal<br />

Neben Salzmann wirkten im Schnepfenthaler<br />

Philantropinum solche hervorragenden Pädagogen wie<br />

Johann Friedrich GutsMuths, Begründer des<br />

Schult<strong>ur</strong>nens, Johann Matthäus Bechstein,<br />

Nat<strong>ur</strong>forscher <strong>und</strong> Forstmann, Bernhard Heinrich<br />

Blasche, Ottmar Lenz <strong>und</strong> Christian Carl Andre`, Leiter<br />

einer „Erziehungsanstalt für Mädchen“ in Schnepfenthal<br />

(1786-1790).<br />

Boehne, W.: Das Informationswerk Ernst des Frommen von Gotha, Leipzig 1885<br />

Breviarium sancti Lulli. Ein Hersfelder Güterverzeichnis aus dem 9. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Faksimileausgabe, Bad Hersfeld 1986<br />

Credner, Ch.: Herzog Ernst der Fromme, nach seinem Wirken <strong>und</strong> Leben, Gotha 1837<br />

53


Emminghaus, A.: Aus den übriggeblibenen Innungsbüchern der Gothaer alten Bäckerinnung, in:<br />

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Fritze, K.: Charakter <strong>und</strong> Funktionen der Kleinstädte im Mittelalter, in: Jahrbuch für<br />

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Regionalgeschichte, 16/II Weimar 1989, S. 13-28<br />

Müller,J.-L.: <strong>Die</strong> Erziehungsanstalt Schnepfenthal 1784-1934. Festschrift aus Anlaß des<br />

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Patze, H.: <strong>Die</strong> Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, Teil I, Köln-Graz 1962<br />

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1973<br />

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Abbildungsnachweis:<br />

Lutz Ebhardt, Wechmar (Nr. 9, 11, 18, 25)<br />

Museum für Regionalgeschichte <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>e Gotha<br />

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