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DIE SAMBASCHULEN VON RIO DE JANEIRO ANPASSUNG UND ...

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<strong>DIE</strong> <strong>SAMBASCHULEN</strong> <strong>VON</strong> <strong>RIO</strong> <strong>DE</strong> <strong>JANEIRO</strong><br />

<strong>ANPASSUNG</strong> <strong>UND</strong> WI<strong>DE</strong>RSTAND<br />

Ethnologische Beiträge zu Sozialorganisation und kultureller<br />

Manifestation<br />

Eva Kolm<br />

Diplomarbeit Wien 1994


INHALTSVERZEICHNIS<br />

EINLEITUNG .......................................................................................................... 1<br />

1. ALLES IST KARNEVAL – KARNEVAL IST ALLES ........................................... 6<br />

2. SAMBA ALS WI<strong>DE</strong>RSTANDSFORM................................................................. 9<br />

2.1. Das kleine Afrika in Rio........................................................................ 9<br />

2.2. Die Polizei als Erfinderin des Carnaval Carioca .................................. 17<br />

2.3. Die Gründung der Sambaschulen........................................................ 21<br />

3. <strong>DIE</strong> SAMBASCHULE ALS SOZIALER NUKLEUS............................................. 26<br />

3.1. Organisation Sambaschule.................................................................. 26<br />

3.2. Örtlichkeit und Nachbarschaft.............................................................. 31<br />

3.3. Die Plattenindustrie entdeckt den Samba............................................ 34<br />

4. KOMPOSITION IN SCHWARZ-WEISS............................................................. 39<br />

4.1. Invasion der weißen Mittelschicht........................................................ 39<br />

4.2. Der Kern bekommt Sprünge................................................................. 42<br />

4.3. Rassismus Marke Brasilien.................................................................. 44<br />

5. POLITIK <strong>UND</strong> SAMBA SIND WIE WASSER <strong>UND</strong> ÖL ...................................... 48<br />

5.1. Domestikation der urbanen Masse ...................................................... 48<br />

5.2. Populismus und Samba ....................................................................... 50<br />

5.3. Totalitarimus und Samba ..................................................................... 55<br />

5.4. Riotur proudly presents........................................................................ 61<br />

6. DAS LEBEN IST EIN GLÜCKSSPIEL ............................................................... 78<br />

6.1. Jogo do Bicho ...................................................................................... 78<br />

6.2. Finanzierung und Kontrolle des Karnevals .......................................... 83<br />

6.3. Glücksspielbarone als Sozialarbeiter................................................... 89


7. SAMBASCHULE AG.......................................................................................... 94<br />

7.1. Interne Organisationsstruktur............................................................... 95<br />

7.2. Wir sind alle eine großen Familie ........................................................ 106<br />

7.3. Die Sambaschule als Arbeitsplatz ....................................................... 112<br />

8. TRADITION MIT ZUKUNFT? ............................................................................ 126<br />

8.1. Sambistas von morgen......................................................................... 126<br />

8.2. Tradition mit leerem Bauch reicht nicht aus......................................... 132<br />

GLOSSAR .............................................................................................................. 134<br />

ABBILDUNGEN ...................................................................................................... 138<br />

BIBLIOGRAFIE....................................................................................................... 168


EINLEITUNG<br />

<strong>DIE</strong> <strong>SAMBASCHULEN</strong> <strong>VON</strong> <strong>RIO</strong> <strong>DE</strong> <strong>JANEIRO</strong><br />

<strong>ANPASSUNG</strong> <strong>UND</strong> WI<strong>DE</strong>RSTAND<br />

Ethnologische Beiträge zu Sozialorganisation und kultureller<br />

Manifestation<br />

"Der Moment des Außergewöhnlichen, der<br />

geplant wird und sich zu einem<br />

festgesetzten Zeitpunkt ereignet, ist ein sehr<br />

wichtiger Spiegel, in dem sich die<br />

Gesellschaft selbst sieht und von jedem<br />

gesehen werden kann, der sie kennenlernen<br />

will."<br />

Roberto da Matta 1989: 71<br />

Der barracão, die Werkstätte der Sambaschule. In dieser Traumfabrik wird das<br />

ganze Jahr hindurch "Karneval gemacht", werden Kostüme und allegorische<br />

Wägen entworfen und hergestellt aus Eisen, Holz, Papier, Styropor, Glasfasern,<br />

Schaumgummi, Plastik, Stoff, Federn und Farben. Nicht nur die Materialien<br />

kosten Milliarden Cruzeiros, auch die Arbeitskräfte wollen verpflegt und bezahlt<br />

sein. Die Chefschneiderin bespricht mit ihren Assistentinnen, wie die letzten<br />

gefärbten und gebogenen Straußenfedern auf den Saum des Kostüms der<br />

porta-bandeira, der Fahnenträgerin, aufgenäht werden sollen. Hunderte<br />

Stunden Handarbeit werden in dieser Robe stecken, bevor die porta-bandeira<br />

der Sambaschule sie beim desfile (umzugsähnliche Präsentation der<br />

Sambaschulen) zirka 20 Minuten lang zum Schwingen bringen wird. Danach<br />

bleibt das Kostüm Patrimonium der Sambaschule und kommt vielleicht noch<br />

einige Male bei Shows zu Ehren, während die Schneiderinnen bereits mit dem<br />

nächsten Karneval beschäftigt sind, bei dem die porta-bandeira ein neues<br />

Kostüm tragen wird.<br />

Um porta-bandeira zu werden, muß ein Mädchen nicht nur gut aussehen,<br />

sondern auch das ganze Jahr hindurch hart trainieren. Soninha, die früher<br />

selbst porta-bandeira war und jetzt den Nachwuchs unterrichtet, hat das schon<br />

oft miterlebt: "Die Mutter will, daß ihr Töchterchen porta-bandeira wird. »Ah,<br />

meine Tochter weint.« »Ah, deine Tochter weint, ja, sie weint?« Nicht so die


2<br />

Tochter, sie kommt und weint nicht, sie mag das nicht einmal in die Hand<br />

nehmen. Die Mutter will es aus Eitelkeit. Was machen wir also? Es ist wie beim<br />

Militär, wir sind hart. Wenn du wirklich Talent hast, wirst du es ertragen. »Ah, du<br />

willst tanzen, du willst wirklich, gut, meine Tochter, schau, zuerst ist es nicht die<br />

Fahne, du nimmst diesen Besen, schau, eine Stunde, gut. Zuerst tanzt du 15<br />

Minuten, hörst auf, wir üben eine Stunde, gut. Das Training ist so, so, so, dreh’<br />

dich, ich beobachte dich ab jetzt.« […] Also beobachten wir diese Mädchen, die<br />

das gewisse Etwas haben, lassen sie üben, wenn sie wirklich mitkommen – im<br />

ersten Jahr nimmt niemand am desfile teil, im ersten Jahr, denn es ist eine<br />

Sache, ohne Kostüm zu tanzen, eine andere Sache ist es mit dem Kostüm."<br />

(E8).<br />

Die porta-bandeira trägt eine schwere Verantwortung. Ihr Auftritt wird<br />

unabhängig vom Gesamteindruck, den ihre Sambaschule macht, beim<br />

Wettbewerb der Sambaschulen bewertet. Ein Punkt zu wenig kann<br />

ausschlaggebend für die Endplazierung der Sambaschule sein, Freude und<br />

Verzweiflung liegen knapp nebeneinander. "Verzweifelt über die Möglichkeit,<br />

den Verlust des Sieges der [Sambaschule] Salgueiro zu verursachen, weil sie<br />

während des desfile vor einem Juror gestolpert war, enthüllte die porta-bandeira<br />

Taninha gestern, daß sie am Karnevalsdienstag einen Selbstmordversuch<br />

verübte. Gestern, wiederhergestellt, bereitete sie sich auf das desfile der<br />

Siegerinnen vor." (O Globo, 28. 2. 1993).<br />

Diese Streiflichter auf eine der wichtigsten Figuren der Sambaschulen von Rio<br />

de Janeiro im barracão, in der quadra, dem Sitz der Sambaschule, und beim<br />

desfile sollen eine Idee von der Komplexität dieser Karnevalsorganisationen und<br />

ihres Umfeldes geben. Die Sambaschulen der Spezialgruppe1 und ihr desfile<br />

genießen sowohl von Seiten des Staates Brasilien und der Stadt Rio de Janeiro,<br />

als auch im Ausland die größte Aufmerksamkeit und Zuwendung unter allen<br />

Karnevalsgruppen und -veranstaltungen. Die Mitglieder jeder Sambaschule<br />

präsentieren jährlich mit Hilfe von Kostümen, Wägen, Tanz, Gesang und einer<br />

Rhythmusgruppe ein Thema und stellen sich einer Jury, die die beste<br />

Sambaschule küren soll. Die erfolgreichsten Sambaschulen sind Gegenstand<br />

der vorliegenden Untersuchung.<br />

Die Sambaschulen sind gemeinnützige Vereine, die unter anderem ihren<br />

Mitgliedern soziale Aufstiegs- und Arbeitsmöglichkeiten und Außenstehenden<br />

1 Gruppe, in der die besten Sambaschulen zusammengefaßt sind, s. Kapitel 5.3.


3<br />

Chancen auf Prestigegewinn und Investitionsmöglichkeiten bieten. Im<br />

Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen nicht die ästhetische<br />

Diskussion des Karnevals oder die Untersuchung des Karnevals als Ritual,<br />

sondern das soziale, politische und ökonomische Spannungsfeld, in dem sich<br />

ProtagonistInnen und MäzenatInnen der Sambaschulen der Spezialgruppe<br />

bewegen.<br />

Nach einer kurzen Zusammenfassung der Theorien über den Karneval in<br />

Kapitel 1 und einem historischen Abriß über die Entstehung des Samba und der<br />

Sambaschulen in Rio de Janeiro in Kapitel 2 wird in Kapitel 3 auf den<br />

identitätsstiftenden Aspekt der Sambaschulen eingegangen. Kapitel 4<br />

thematisiert die Aneignung der Sambaschulen durch die Mittelschicht. In Kapitel<br />

5 und 6 werden die Verbindungen zwischen Politik, Glücksspiel und<br />

Sambaschule beleuchtet. Die Organisationsstruktur einer Sambaschule der<br />

Spezialgruppe in den 90er Jahren wird in Kapitel 7 dargelegt. Abschließend soll<br />

in Kapitel 8 ein Ausblick auf die Weiterentwicklung dieser<br />

Karnevalsorganisationen versucht werden.<br />

Die im Rahmen dieser Diplomarbeit vorgenommenen Kategorisierungen des<br />

Phänomens Sambaschule existieren nicht separat voneinander und werden<br />

auch nicht als solche erlebt, ihre Anwendung erscheint mir aber sinnvoll, um die<br />

Machtverhältnisse in und rund um Sozialorganisationen zu analysieren, die<br />

sowohl einen ideologischen, als auch einen gesellschaftspolitisch und<br />

marktwirtschaftlich nicht zu vernachlässigenden Faktor darstellen. Roberto da<br />

Matta, der bekannteste Karnevalsforscher Brasiliens, bezeichnete den Karneval<br />

als Fest ohne Besitzer (vgl. da Matta 1981: 29) – ob das auch für seine<br />

Trägerinnen, die Sambaschulen, und ihren Wettbewerb gilt, soll hier untersucht<br />

werden.<br />

Das Datenmaterial, das dieser Arbeit zugrunde liegt, wurde fast ausschließlich<br />

während meines Forschungsaufenthaltes in Rio de Janeiro von Oktober 1991<br />

bis Juni 1992 sowie von Jänner bis März 1993 gesammelt. Neben intensiver<br />

Literaturrecherche in den Bibliotheken und Universitäten von Rio de Janeiro<br />

konnte ich in den Sambaschulen Caprichosos de Pilares und Mocidade<br />

Independente de Padre Miguel Feldforschung durchführen, die teilnehmende<br />

Beobachtung in barracão, quadra und beim desfile einschloß. Dabei war es mir<br />

möglich, viele Gespräche mit den Angehörigen und den ArbeiterInnen der<br />

Sambaschulen zu führen, die zum Teil in Form schriftlicher Protokolle, zum Teil


4<br />

auf Tonband und transkribiert vorliegen. Obwohl einige Personen durch den<br />

Umgang mit JournalistInnen mediengewohnt waren und mir viele ohne direkte<br />

Aufforderung ihre Lebensgeschichte erzählten, verweigerten ebensoviele meine<br />

Bitte um ein Interview mit der Begründung, sie hätten nichts zu erzählen.<br />

Die Zitate, die im Original auf Portugiesisch abgefaßt sind, wurden von mir<br />

übersetzt und auf Deutsch wiedergegeben. Die ebenfalls übersetzten<br />

Originalzitate aus den auf Tonband aufgezeichneten Interviews sind mit dem<br />

Buchstaben E und einer Zahl gekennzeichnet, die Interviews selbst im Anschluß<br />

an die Bibliographie ausgewiesen. Schräg gedruckte Fachausdrücke, die<br />

wiederholt vorkommen, sind im Glossar erklärt.<br />

Mein erster Eindruck von der quadra einer Sambaschule erinnerte mich an ein<br />

Bierzelt: eine dekorierte Halle, in der unheimlich viele Menschen tanzen und<br />

trinken, während auf der Bühne Musik gemacht wird. Diese undifferenzierte<br />

Sichtweise konnte ich durch viele und lange Besuche revidieren. In den<br />

Werkstätten der Sambaschulen, die weniger leicht zugänglich sind, hielt ich<br />

mich ebenfalls regelmäßig mehrmals in der Woche und kurz vor dem Karneval<br />

auch nachts auf und erhielt nach und nach Zugang zu allen dort arbeitenden<br />

Personen und ihren Tätigkeitsbereichen. Dieser intensive Kontakt ermöglichte<br />

es mir, Fotos zu machen, einige Leute in den Vorstadtbezirken zu besuchen und<br />

am desfile teilzunehmen.<br />

Die Reaktionen auf meine Anwesenheit waren unterschiedlich, aber fast alle<br />

sehr positiv für mich. Da ich so viel Zeit dafür aufwendete, Leuten bei der Arbeit<br />

zuzusehen und mich mit ihnen zu unterhalten, wurde ich von vielen als Touristin<br />

klassifiziert, die immer wieder vorbeikam. Aufgrund der unvermeidlichen Notizen<br />

und der Interviews wurde mir dann doch eine Beschäftigung zugestanden: ich<br />

müsse Journalistin sein. Diese Ansicht löste auch das Mißtrauen aus, daß ich<br />

eine Spionin sein könnte. Meine oftmalige Anwesenheit wurde schließlich aber<br />

doch als "Liebe zur Sambaschule und zum Karneval" interpretiert, und als<br />

"ausländische Freundin" wurde ich zum Prestigesubjekt, ich mußte als Zeugin<br />

für strategische Gespräche fungieren und meine Aufmerksamkeit möglichst<br />

gerecht verteilen. Nachdem sie mich besser kennengelernt hatten, fühlten sich<br />

die meisten für meine Sicherheit verantwortlich, da ich doch ohne Familie in<br />

Brasilien leben würde, hellhäutige Ausländerin und noch so jung sei. Man beriet<br />

mich, wer ein guter Umgang für mich sei, und alle interessierten sich für mein<br />

Liebesleben. Je länger ich mich in den Sambaschulen und ihren Werkstätten


5<br />

aufhielt, desto mehr Menschen nahmen mich schließlich doch auch als<br />

"Forscherin" wahr, die immer, wenn sie nach Hause ging, alles aufschrieb, was<br />

sie gesehen und gehört hatte. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen,<br />

daß ich von diesen Menschen nicht nur Informationen erhalten habe, sondern<br />

vor allem auch sehr viel Wärme, die es mir sehr erleichtert hat, mich in einer<br />

fremden Kultur zurechtzufinden.


1. ALLES IST KARNEVAL – KARNEVAL IST ALLES<br />

Damit dir nichts Böses während der drei<br />

Karnevalstage passiert<br />

Bevor du das Haus verläßt, um dich im<br />

Karneval zu amüsieren (auch wenn du<br />

verreist), ist es wichtig, daß du eine<br />

Siebentageskerze anzündest und auf ein<br />

Stück Papier deinen vollständigen Namen<br />

schreibst. Lege das Papier neben die Kerze.<br />

Danach nähe in den Saum deines<br />

Gewandes ein breve 2 , das folgendes<br />

enthält: ein Blättchen der Dieffenbachia<br />

picta und ein Zweiglein Raute. Höre erst am<br />

Aschermittwoch auf, dieses breve zu tragen.<br />

Damit es während der drei Karnevalstage<br />

nicht regnet<br />

Nimm ein Bild der Heiligen Barbara, die die<br />

heilige Schirmherrin des Donners und des<br />

Gewitters ist, und zünde neben ihr eine<br />

weiße Kerze an und wiederhole mit lauter<br />

Stimme folgendes: Meine gesegnete Heilige<br />

Barbara, so wie die Flamme dieser Kerze<br />

sicher und stark ist, mache, daß während<br />

der drei Karnevalstage auch die Sonne<br />

sicher und stark bleibt.<br />

zitiert aus: Carlos o.J.: 73<br />

6<br />

Die Theorien über den Karneval von Rio de Janeiro, die in der ersten Hälfte des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts in Brasilien publiziert wurden, waren Bestandteil<br />

allgemeiner rassistischer Abhandlungen über die sogenannten "Negerkulturen<br />

in der Neuen Welt" und ihre "Folklore". Arthur Ramos stellte in seinen Werken<br />

die europäische, zivilisierte Form des Karnevals der afrikanischen, primitiven<br />

Form gegenüber. In den Manifestationen der Schwarzen während des<br />

Karnevals sah er die "Ansammlung des uralten afrikanischen Unbewußten". Er<br />

glaubte im Auftreten der ranchos, Karnevalsorganisationen der Schwarzen, die<br />

"unbewußte Reproduktion totemistischer Zeremonien" zu erkennen, die auf<br />

Bantu- und Sudanursprung zurückgehen würden (vgl. Ramos 1954).<br />

Roger Bastide übernahm die Theorie des Fortlebens des Totemismus von<br />

Ramos (vgl. Bastide 1959a: 135) und charakterisierte den "europäischen<br />

Karneval" als Triumph des Individuums im Gegensatz zum "kollektiven<br />

2 Objekt der Verehrung aus zwei geweihten Stoffstückchen, das geschriebene Gebete oder eine<br />

Reliquie enthält und um den Hals getragen wird (vgl. Aurélio 1986: 249).


7<br />

afrikanischen Karneval", in dem die Clans und die nações3 ihre alte durch die<br />

Sklaverei zerstörte Sozialstruktur wiederaufleben lassen würden (vgl. Bastide<br />

1959a: 73). Während Totemismus als religiöses Weltbild heute unter anderem<br />

von Lévi-Strauss als wissenschaftliche Illusion angesehen wird4 , wird die<br />

Theorie vom Karneval als Ventil, das das Bedürfnis der Individuen nach einer<br />

Befreiung von den sozialen Zwängen befriedigt, die Bastide ebenfalls vertrat<br />

(vgl. Bastide 1959b: 36), auch heute noch mehrheitlich als Erklärung für das<br />

Phänomen Karneval herangezogen5 .<br />

Gegen eine solche vereinfachte Sicht des Karnevals wendete sich Roberto da<br />

Matta mit seiner Theorie über den brasilianischen Karneval6 . "For many<br />

interpreters of Brazilian social reality, carnaval is a kind of gross collective<br />

mystification which, along with soccer, the lottery, the samba, and the beach,<br />

moderates and diverts the social and political consciousness of Brazilians. Our<br />

research, however, has revealed that carnaval is one possible reading of<br />

Brazilian society by the members of that society (following the phraseology and<br />

ideas of Geertz 1973)." (da Matta 1979: 589). Die Gesellschaft ist etwas<br />

Kontinuierliches, doch manchmal erfindet sie für sich selbst einen Moment, in<br />

dem es Anfang, Mitte und Ende gibt und sie für sich selbst einen Diskurs<br />

produziert: das Ritual (vgl. dazu da Matta 1986: 80ff.). Jede Gesellschaft<br />

wechselt zwischen Routine und Ritual, zwischen gewöhnlichen Perioden und<br />

außergewöhnlichen. Beide Perioden sind wie die zwei Seiten einer Medaille, sie<br />

sind Bestandteil derselben Totalität (vgl. da Matta 1989: 67ff.).<br />

Der Karneval scheint die pragmatische Institution der Sicht von Brasilien als<br />

große "communitas" im Sinne Turners7 zu sein, in der es nicht notwendig ist,<br />

soziale Identitäten zu definieren (da Matta 1977: 28). Er ist als Neutralisierung<br />

der sozialen Regeln des Alltags definiert, was eine Individualisierung der<br />

Gesellschaft und damit die Gleichheit aller Individuen ermöglicht. Der Karneval<br />

ist die Umkehrung der Welt: er erlaubt kurzfristig die Erfindung und den<br />

Austausch von sozialen Positionen in einer Gesellschaft, in der sonst soziale<br />

3 ethnische bzw. pseudo-ethnische Gruppen, s. Kapitel 2.1.<br />

4 vgl. dazu Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1968, und Das Ende des<br />

Totemismus. Frankfurt am Main 1972.<br />

5 An dieser Stelle soll erwähnt werden, daß die Werke von Ramos und Bastide die einzigen in der<br />

Universitätsbibliothek Wien vorhandenen fremdsprachigen Abhandlungen über den<br />

brasilianischen Karneval sind.<br />

6 vgl. auch Le Roy Ladurie, Emmanuel: Karneval in Romans. Stuttgart 1982.<br />

7 da Matta bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die brasilianischen Ausgaben von Turner,<br />

Victor: O Processo Ritual. Petrópolis 1974, und Van Gennep, Arnold: Os Ritos de Passagem.<br />

Petrópolis 1978.


8<br />

Mobilität verhindert wird; die Abhaltung unzähliger Wettbewerbe in einer<br />

Gesellschaft, die sonst hierarchisch strukturiert ist; die "Feminisierung" der Welt<br />

in einer Gesellschaft, deren Regeln sonst von Männern aufgestellt werden (da<br />

Matta 1989: 67ff.). Doch "In Wirklichkeit enden die Umkehrungen des Karnevals<br />

– genau wegen der Tatsache, daß sie das offene Erscheinen von<br />

unmoralischen Verhaltensweisen und fantasias8 erlauben – mit der Provokation<br />

des Vertrauens in die Ordnung (da Matta 1977: 58).<br />

Auf den herrschaftslegitimierenden Aspekt des Karnevals konzentrierte sich<br />

Umberto Eco in seiner Abhandlung. "Carnival is revolution (or revolution is<br />

carnival): kings are decapitated (that is, lowered, made inferior) and the crowd is<br />

crowned. Such a transgressional theory has many chances to be popular […],<br />

but the theory is unfortunately false. If it were true, it would be impossible to<br />

explain why power (any social or political power throughout the centuries) has<br />

used circenses to keep the crowd quiet; why the most repressive dictatorships<br />

have always censured parodies and satires but not clowneries;" (Eco 1984: 3).<br />

Man muß die Regeln sehr genau kennen und sie respektieren, um sie<br />

parodieren zu können. "Thus the prerequisites of a »good« carnival are: (i) the<br />

law must be so pervasively and profoundly introjected as to be overwhelming<br />

present at the moment of its violation […]; (ii) the moment of carnivalization must<br />

be very short, and allowed only once a year […]" (Eco 1984: 6).<br />

Machen wir uns nun auf die Reise durch die Geschichte der Sambaschulen und<br />

ihrer ErfinderInnen, um später anhand der aktuellen Situation festzustellen, ob<br />

da Mattas Theorie von der "Vertikalisierung" der sozialen Segmente der<br />

brasilianischen Gesellschaft im Karneval auf sie zutrifft.<br />

8 port.: Fantasie, Kostüm.


2. SAMBA ALS WI<strong>DE</strong>RSTANDSFORM<br />

2.1. Das kleine Afrika in Rio<br />

Lá no seio d’África vivia Dort im Schoße Afrikas erlebte er<br />

Em plena selva fim da sua monarquia Mitten im Urwald das Ende seiner<br />

Monarchie<br />

9<br />

Terminou o guerreiro Der Krieger kam<br />

No navio negreiro Auf dem Sklavenschiff an<br />

Lugar do seu lazer feliz Ort seines glücklichen Vergnügens<br />

Veio cativo povoar nosso país Er kam unser Land als Gefangener<br />

bevölkern<br />

Seguiu do Cais do Valongo Er fuhr aus dem Hafen Valongo ab<br />

No Rio de Janeiro Nach Rio de Janeiro<br />

Com suas tribos chegando Er kam mit seinen Stämmen an<br />

Foi o chão cultivando sob o céu brasileiro Und kultivierte den Boden unter dem<br />

brasilianischen Himmel<br />

Nações Haussa Nacões Haussa<br />

Gêgê e Nagô Gêgê und Nagô<br />

Negra Mina e Angola Schwarze aus Mina und Angola<br />

Gente escrava de Sinhô Sklaven der Herren<br />

Foram muitas suas lutas Seine Kämpfe waren viele<br />

Para integração Für die Integration<br />

Inda hoje Noch heute<br />

Desenvolvendo esta nação während der Entwicklung dieser Nation<br />

Sua cultura, suas músicas e danças Seine Kultur, seine Musik und seine<br />

Tänze<br />

Reúnem aqui suas lembranças Vereinigen hier seine Erinnerungen<br />

O negro assim alcançou Der Schwarze erreichte so<br />

A sua libertação seine Befreiung<br />

E seus costumes abraçou Und seine Bräuche umarmte<br />

Nossa civilização Unsere Zivilisation<br />

samba-enredo 1976 der Sambaschule Salgueiro<br />

Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß der brasilianische Samba afrikanische<br />

Wurzeln hat (vgl. de Souza et alii 1988: 34). "Originally »samba« was a generic<br />

term designating, along with batuque, the choreography of certain circle-dances<br />

imported to America from Angola and the Congo. [...] Mostly in binary metre,<br />

samba melodies and accompaniments are highly syncopated [...]" (Béhague in<br />

Sadie1980: 447).<br />

Über die Entstehung des Wortes Samba gibt es verschiedene Meinungen, von<br />

denen hier nur zwei zitiert werden sollen. Ramos vertrat folgende Ansicht: "In<br />

den Ursprungsländern ist der Begriff batuque, wahrscheinlich portugiesischen


10<br />

Ursprungs (abgeleitet von bater [port.: schlagen]?), der Name eines Tanzes<br />

generell, bei dem die Schwarzen im Kreis Schritte ausführen, »gesteppt« im<br />

Rhythmus der klatschenden Hände und der Perkussionsinstrumente<br />

(atabaques). Gemäß einer Beschreibung von Alfredo Sarmento von Luanda und<br />

anderen Bezirken Angolas »besteht auch die batuque aus einem Kreis, der von<br />

den Tänzern gebildet wird, wobei ein Schwarzer oder eine Schwarze in die Mitte<br />

geht, der/die, nachdem er/sie mehrere Schritte ausgeführt hat, eine Person<br />

durch die Berührung mit Bauchnabel, die sie semba nennen, aussucht, die<br />

ihn/sie in der Mitte des Kreises ersetzt. Dieser Nabelberührung oder semba war<br />

es, von dem sich wahrscheinlich der Ausdruck samba ableitet, anfänglich als<br />

Synonym von batuque gebraucht. […] Batuque und samba wurden zwei<br />

generalisierte Ausdrücke für die Bezeichnung des profanen Tanzes der<br />

Schwarzen in Brasilien. […] Heute wohnen wir einer kuriosen Reinterpretation<br />

seiner [Brasiliens] populären Tänze schwarzen Ursprungs bei. […] So bekommt<br />

batuque seinen lautmalerisch-rhythmischen Sinn zurück, von bater, batuque,<br />

batucada, – Aktion des »Schlagens«, des Trommelns auf Trommeln, Dosen,<br />

Holzstücken, Tamburins und sogar Strohhüten, wie auch des Ausführens<br />

»gesteppter« Schritte im Tanz. […] Im Gegensatz zu batuque, dessen<br />

Bedeutung reduziert wird, erweitert und generalisiert sich samba." (Ramos<br />

1954: 124 ff.).<br />

Kubik dagegen stellte fest: "The Angolan cultural dimension in Brazil has so far<br />

been studied very little, though the Angolan presence testified by an abundunce<br />

of Angolan words in the Brazilian language […] is overwhelming." (Kubik 1979:<br />

11) und nimmt an, daß das brasilianische Wort Samba vom Wortstamm<br />

"samba" der Bantusprachen hergeleitet wurde, dessen Imperativ "spring, hüpfe"<br />

bedeutet (vgl. Kubik 1991: 46 ff.).<br />

Das "time line pattern", also das metrische Rückgrat des Samba, ist 16 Schläge<br />

lang und weist folgendes Schema auf, das hier in der Notation von Kubik<br />

wiedergegeben wird, wobei das x für einen Schlag und der Punkt für eine Pause<br />

stehen:<br />

[ x . x . x . x x . x . x . x x . ]<br />

Dieses pattern wird auch in Angola und Zaire verwendet (vgl. dazu Kubik 1979:<br />

17). Die Instrumente, mit denen der Samba in Brasilien gespielt wird und auf die<br />

wir später zurückkommen9 , sind zum Großteil ebenfalls afrikanischer Herkunft.<br />

"While not as sophisticated as its African counterpart, drum music among Afro-<br />

9 vgl. Kapitel 7.1.


11<br />

Brazilians exhibits similar complexity. Specific instruments have been inherited<br />

from the Africans, as well as certain performance features, such as responsorial<br />

singing and vocal style." (Béhague in Sadie 1980: 224).<br />

Die Geschichte des Samba in Brasilien begann mit der Verschleppung der<br />

ersten afrikanischen SklavInnen in die neue portugiesische Kolonie. Nachdem<br />

der portugiesische Seefahrer Cabral 1500 n. Chr. an der Ostküste Brasiliens<br />

gelandet war, dauerte es keine 40 Jahre, bis die ersten billigen Arbeitskräfte<br />

importiert wurden (vgl. Kubik 1991: 17). Im 17. Jahrhundert wurden sie vor allem<br />

auf den Zuckerrohrplantagen eingesetzt, im 18. Jahrhundert auch in den<br />

Goldminen.<br />

Auf den Plantagen wurden SklavInnen verschiedenster Herkunft<br />

zusammengepfercht, die keine Möglichkeit hatten, Kontakt zu ihren<br />

Angehörigen zu halten. Die SklavInnenhändler achteten aber aus geschäftlichen<br />

Gründen darauf, sie in ethnische oder pseudo-ethnische10 Gruppen, genannt<br />

nações, zusammenzuschließen, die von den Plantagenbesitzern oft beibehalten<br />

wurden (vgl. Kubik 1979: 10). Die brasilianischen Kolonialherren versuchten mit<br />

Erfolg, die Rivalität zwischen den nações zu schüren, um zu verhindern, daß<br />

sich die SklavInnen gemeinsam gegen ihre Besitzer erhoben. "Es war also<br />

nötig, diese Gefahr zu vermeiden, und der beste Weg, das zu erreichen, war,<br />

die ethnische Solidarität, die Rivalität der Stämme und Völker bis zu einem<br />

gewissen Grad aufrecht zu erhalten, um den Zusammenschluß der Sklaven im<br />

Zorn gegen die Sklavenhalter zu verhindern. Daher die gegenseitige<br />

Anstrengung der Kirche und der Zivilgouverneure im Sinne der Erhaltung der<br />

»nações«." (Bastide 1959b: 18)<br />

Es blieb den Frauen überlassen, ihre eigenen Kinder und die vieler anderer<br />

Leidensgenossinnen für kurze oder längere Zeit zu erziehen. "The African slave<br />

woman was in a position from the very outset to insinuate the richness of her<br />

cultural heritage into the lifestyle of emerging colonies. She had brought to that<br />

alien land much more than her physical self: she was a repository of<br />

philosophies, languages, religious beliefs and rituals, music, and dance forms."<br />

(Venture Young zit. bei Finn 1988: 182f.). Um dieses Erbe weitergeben zu<br />

können, mußten die Sklavinnen die sozialen Nischen nutzen, die ihnen von der<br />

Kolonialgesellschaft zugestanden wurden.<br />

10 Menschen mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft, aber ähnlicher Kultur und Sprache.


12<br />

In den ersten Jahrzehnten der Sklaverei herrschte totales Musizierverbot, doch<br />

"Kaplane der Zuckerrohrplantagen und Ratgeber der Sklavenhalter empfahlen<br />

in ihren Werken, den Sklaven zu gestatten, sich in den Nächten der Feiertage<br />

zu vergnügen […]" (Bastide 1959b: 19), um Unzufriedenheit und Rebellion zu<br />

vermeiden. Im 17. Jahrhundert wurde daher ein kaiserliches Dekret erlassen,<br />

das das Musizieren an Festtagen erlaubte. Die SklavInnen konnten nun tanzen<br />

und singen, ohne Repressionen fürchten zu müssen (vgl. Raderer 1984).<br />

Die Kolonialkirche selbst unterstützte die Entstehung von Laienbruderschaften<br />

für Schwarze, die ebenfalls als Regulativ für die sozialen Beziehungen zwischen<br />

SklavInnen und Sklavenhaltern dienen sollten, freilich ohne auf Separation zu<br />

verzichten. "Die Bruderschaften zerreißen die anfänglichen Verbindungen der<br />

Unterschiede und kultivieren diese als Rivalitäten. Bruderschaften verbunden<br />

mit jeder Nation oder mit ausschließlich einem Geschlecht, Bruderschaften<br />

afrikanischer Schwarzer, brasilianischer Schwarzer, von Mulatten, und,<br />

selbstverständlich getrennt, Bruderschaften Weißer. Integriert als Gläubige, aber<br />

unterschieden und hierarchisiert, so das Prinzip der Kolonialkirche […]" (Moura<br />

1983: 20). Die Bruderschaften übernahmen Sozialhilfefunktion, sie stellten Geld<br />

für Begräbnisse, Waisenrenten, Alters- und Krankenversorgung zur Verfügung.<br />

Die katholische Kirche Brasiliens reicherte auch ihre Lehre mit afrikanischen<br />

Merkmalen an. Die kulturellen und religiösen Manifestationen der Schwarzen<br />

vermischten sich mit den Festen des katholischen Kalenders, wobei die<br />

Funktion der afrikanischen Elemente verändert wurde, die Kirche also eine<br />

christianisierte, "artifizielle" Form der Folklore propagierte (z.B. congada11 in Rio<br />

de Janeiro). Die Prozessionen Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

zeichneten sich deshalb durch lärmende Lebendigkeit aus, mit der die<br />

SklavInnen an den Festtagen die Straßen der Städte Bahia (z.B. Nossa<br />

Senhora do Rosário, Triunfo da Cruz de Cristo Nosso Senhor und Senhor do<br />

Bonfim), São Paulo oder Rio de Janeiro (z.B. São Jorge und Santo António) in<br />

Besitz nahmen (vgl. Verger 1984). "Die congadas, die cordões, die cucumbis,<br />

die verschiedenen Prozessionen oder dramatischen Feste afrikanischen<br />

Ursprungs, stellten zeitlich begrenzte Möglichkeiten dar, verbotenes Territorium<br />

kollektiv zu betreten." (Sodré 1988: 133).<br />

11 Zum Zeitpunkt des Festes Nossa Senhora do Rosário im Mai krönten die SklavInnen König<br />

und Königin des Kongo (vgl. Sebe 1986: 40f.).


13<br />

Die "heidnischen" und erotischen Momente der afrikanischen Tänze waren<br />

allerdings in den Augen der Kirche eine Gefahr, und 1817 wurde das Tanzen in<br />

den Kirchen verboten (vgl. Sebe 1986: 36). In São Paulo führte die repressive<br />

Haltung der Kirche gegen die profanen Aktivitäten während ihrer Feste dazu,<br />

daß in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts z.B. die Bruderschaft Nossa<br />

Senhora do Rosário dos Homens Pretos ihren Mitgliedern verbot, an solchen<br />

teilzunehmen, und daß genau zur Zeit des Karnevals religiöse Exerzitien<br />

angesetzt wurden, die es den Mitgliedern der Bruderschaften unmöglich<br />

machte, mitzufeiern (vgl. Marques Britto 1986: 91 – 97).<br />

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Stil der Prozessionen<br />

andächtiger und dezenter. Die Autoritäten von Rio de Janeiro transferierten die<br />

pompösen Umzüge zum Karneval, der zu dieser Zeit vom entrudo12 nach<br />

portugiesischem Vorbild beherrscht wurde und nun ein völlig neues Gesicht<br />

bekam. Verger bemerkt in seiner Vergleichsstudie über kirchliche Prozessionen<br />

und Karneval: "[…] wenn die Prozessionen im Brasilien von früher einen<br />

fröhlichen, karnevalesken Anschein hatten, hat sich im Gegensatz dazu der<br />

Straßenkarneval der Sambaschulen von heute zu einer Art pompöser<br />

Prozession gewandelt." (Verger 1984:13).<br />

Gleichzeitig mit den Laienbruderschaften entstanden die ersten städtischen<br />

Organisationen der freien schwarzen ArbeiterInnen mit dem Ziel, Angehörige<br />

freizukaufen, die juntas de alforria (vgl. Moura 1983: 22f.). Die Stadt war schon<br />

vor der Abschaffung der Sklaverei das Symbol der Freiheit für geflüchtete und<br />

freigelassene SklavInnen. Seit dem 18. Jahrhundert wurden vor allem<br />

BantusklavInnen direkt nach Rio geliefert, zu denen in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts sudanesische ehemalige SklavInnen aus Bahia kamen (vgl.<br />

Moura 1983: 28f.). Für die Gruppe der freien Schwarzen boten sich fast keine<br />

Arbeitsmöglichkeiten, viele verdienten ihren Lebensunterhalt mit Handwerk und<br />

ambulantem Handel. Als logische Folge der Sklaverei bildeten sich die Familien<br />

rund um die Frauen, ihnen oblag die Verantwortung für die Kinder, während die<br />

Männer auf der Suche nach Arbeit meist die Familie verließen. Die Frauen<br />

hielten sich mit bezahlter Hausarbeit, der Herstellung und dem Verkauf von<br />

Speisen und Süßigkeiten – oft gemeinsam mit anderen Frauen und Kindern –<br />

über Wasser und zwangen ihre Kinder früh zu arbeiten. Die Männer fanden vor<br />

12 Diese Form des Karnevals wurde von ZeitgenossInnen als brutal und schmutzig beschrieben,<br />

bei dem sich die Bürger und seltener auch Gruppen von SklavInnen in Rio de Janeiro damit<br />

vergnügten, mit stinkender Flüssigkeit gefüllte Wachskugeln zu schmeißen und sich gegenseitig<br />

zu verprügeln (vgl. Eneida 1958: 17ff.).


14<br />

allem im Hafen, wenige auch in der Industrie, bei der Polizei und beim Militär<br />

Beschäftigung. Viele fanden nur am Rand der Gesellschaft Platz und wurden<br />

Prostituierte, Zuhälter oder malandros13 (vgl. Moura 1983: 42ff.).<br />

Die schwarzen Frauen fungierten auch als religiöse Oberhäupter, was unter<br />

anderem auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß es ihnen eher erlaubt war,<br />

kurzfristig die Zentren der Städte zu betreten, als den Männern. "Es gab weniger<br />

Hindernisse in Bezug auf die Frauen, was zum Teil die führende Rolle der<br />

Frauen über die Männer in der Organisation der Negerkulte erklären dürfte.<br />

Tatsächlich haben Unabhängigkeit und Autonomie immer die schwarze Frau in<br />

der Kolonialgesellschaft charakterisiert, und das erklärt sich teilweise durch<br />

dieses Recht zu zirkulieren, das ihnen eine spezielle Position für den Eintritt in<br />

Räume der weißen Gesellschaft oder für kleine Geschäfte gewährte." (Sodré<br />

1988: 133).<br />

Am 13. 5. 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien vor allem auch auf Grund des<br />

steigenden internationalen Drucks abgeschafft. Die ehemaligen SklavInnen<br />

beschleunigten den Prozeß der Urbanisierung und der Proletarisierung der<br />

Städte. "Durch die Umwandlung des Sklaven in den freien Arbeiter wird das<br />

Unternehmen von der Last des Besitzes eines Faktors befreit, an dem jetzt nur<br />

seine Kapazität, Wert zu produzieren, interessiert." (Ianni zit. bei Tupy 1985:<br />

54). Die Regeln dieses neuen Systems konnten nicht sofort von den an die<br />

Sklaverei gewöhnten Schwarzen erkannt und angewendet werden. Ihre soziale<br />

Neudefinition im urbanen Kontext gestaltete sich extrem schwierig. "Der<br />

schwarze Bürger ist nicht der schwarze Sklave, der zum freien Arbeiter wurde.<br />

Der schwarze Bürger ist nur der Schwarze, der juristisch kein Sklave mehr ist."<br />

(Ianni zit. bei Tupy 1985: 56). Die ehemaligen SklavInnen hatten nur sehr<br />

eingeschränkten Zugang zu Arbeitsmarkt und Kommunikationsmitteln und<br />

bildeten eine Art "Reserveheer" an Arbeitskräften. Dazu kam die Konkurrenz mit<br />

den immigrierten europäischen ArbeiterInnen, die von den Arbeitgebern<br />

vorgezogen wurden (vgl. Moura 1983: 12).<br />

Die letzten Organisationen der nações in Rio de Janeiro lösten sich nach der<br />

Abschaffung der Sklaverei auf. Stattdessen entstanden im Hafen mehrere<br />

Arbeiterorganisationen wie z.B. die Sociedade de Resistência dos<br />

Trabalhadores em Trapiches de Café (Widerstandsgemeinschaft der<br />

13 s. Kapitel 2.2.


15<br />

Kaffeelagerarbeiter), die mit einem eigenen bloco14, dem Recreio das Flores,<br />

am Karneval im Bezirk Saúde teilnahm (vgl. Moura 1983: 46f.). Viele ihrer<br />

Mitglieder gehörten der Gruppe von Schwarzen an, die aus Bahia nach Rio<br />

gekommen waren und sich im Bezirk Saúde nahe beim Hafen angesiedelt<br />

hatten. Diese Gruppe sollte bald eine führende Rolle unter den ehemaligen<br />

SklavInnen von Rio de Janeiro spielen.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Regierung im Zuge eines "Konzepts der<br />

Zivilisation und urbanen Modernität" die sanitäre Frage in den Vordergrund und<br />

ließ die Armenquartiere abreißen. Die BewohnerInnen wurden gewaltsam an die<br />

Peripherie abgesiedelt, ohne daß für geeignete Transportmittel zu den<br />

Arbeitsplätzen im Zentrum gesorgt wurde. Als Ausweg bot sich die Besiedelung<br />

der morros, der Hügel von Rio de Janeiro an, wo nun die ersten favelas, die<br />

Elendsviertel entstanden, für die somit nicht nur ihre BewohnerInnen, sondern<br />

auch die Stadt selbst verantwortlich ist (vgl. Moura 1983: 31ff.).<br />

Der Großteil der BewohnerInnen von Saúde zog nach Cidade Nova, das sich zu<br />

einem der größten ArbeiterInnenviertel Rios entwickelte. Die politischen<br />

Organisationen bildeten aber nicht die primären kollektiven Fixpunkte in dieser<br />

Gemeinschaft. Die Zentren der afrobrasilianischen Religionen, die sich im<br />

Schutze der Bruderschaften neben der von der Kirche geförderten Folklore<br />

entwickeln konnten, und ihre Festorganisationen standen im Mittelpunkt des<br />

Interesses der überwiegend schwarzen Bevölkerung. Jedes Kulthaus des<br />

candomblé15 hatte seinen bloco. Bei den Festen in den Häusern der tias baianas<br />

("baianische Tanten"), die als religiöse Oberhäupter eine zentrale Rolle spielten,<br />

wurden meist eine katholische Messe zelebriert, candomblé praktiziert und<br />

pagode16 gefeiert (vgl. Moura 1983: 63).<br />

Über die Feste im Haus einer der berühmtesten tias, Tia Ciata, erzählte João da<br />

Baiana: "Der Samba war vorher, der candomblé war am selben Tag, aber ein<br />

separates Fest. Der Teil des Rituals fand nach dem Samba statt. Zuerst gab es<br />

den vergnüglichen Teil, dann den religiösen Teil." (João da Baiana in Museu da<br />

imagem e do som 1970: 52). Wir begegnen also dem Samba erstmals im<br />

Umfeld des candomblé. "Als der Musikstil sich am Ende der ersten Dekade<br />

14 Bezeichnung für eine Gruppe von Personen, die von einer Musikgruppe begleitet am Karneval<br />

teilnimmt.<br />

15 afrobrasilianische Religion.<br />

16 informelle Versammlung, bei der populäre Rhythmen gesungen werden, vor allem Samba, mit<br />

Begleitung durch Percussion, Cavaquinho, Gitarre etc. (vgl. Aurélio 1986: 1246).


16<br />

dieses Jahrhunderts zu verbreiten begann, waren seine natürliche Umwelt die<br />

großen Feste in den Häusern der baianischen »tias«, die nach Rio de Janeiro<br />

auswanderten, wo sich die schwarze Gemeinschaft verbrüderte." (de Souza et<br />

alii 1988: 146). Samba und candomblé wurden in ihrer Entstehungszeit von der<br />

Polizei verfolgt, und ein Grund für Tia Ciatas großen Einfluß war die Tatsache,<br />

daß es für sie einfacher war, religiöse Feste zu realisieren, da ihr Mann<br />

anerkannter Arzt und später Kabinettchef der Polizei war. Das Modell ihres<br />

Hauses symbolisiert eine Strategie des Widerstandes gegen die<br />

Marginalisierung der Schwarzen nach der Abschaffung der Sklaverei: Da sie<br />

durch die Position ihres Mannes gesellschaftsfähig war, konnte sie nicht nur<br />

über den Handel mit Süßigkeiten und Kleidern mit der Mittelschicht in Kontakt<br />

treten, sondern ihre VertreterInnen auch zu Bällen im Vordertrakt ihres Hauses<br />

einladen, während im Hintertrakt Samba gespielt wurde (vgl. Moura 1983: 66f.).<br />

Doch nicht alle Kulthäuser hatten diese Möglichkeiten.


17<br />

2.2. Die Polizei als Erfinderin des Carnaval Carioca<br />

Malandro que não bebe, Malandro, der nicht trinkt,<br />

Que não come, que não abandona Der nicht ißt, der<br />

O samba Den Samba nicht aufgibt<br />

Pois o samba mata a fome Denn der Samba tötet den Hunger<br />

Noel Rosa<br />

Zahlreiche Zeugenaussagen belegen die Brutalität, mit der die Polizei gegen die<br />

sambistas auf offener Straße vorging, sie einsperrte, verletzte und ihre<br />

Instrumente beschädigte. "Der Samba war im Bereich der Kriminalität, er war<br />

Landstreicherei, und wir konnten nicht singen, denn auf Landstreicherei stand<br />

Kolonie [Strafkolonie], sodaß man nicht singen konnte." (Carlos Cachaça zit. bei<br />

Magalhães Bevilaqua 1988: 39).<br />

Die sambistas, SambatänzerInnen und -musikerInnen, die bald die ersten<br />

Sambaschulen gründen sollten, wurden mit zunehmendem Bekanntheitsgrad<br />

von Presse und Publikum als malandros bezeichnet. Der malandro kam "aus<br />

einer relativ kleinen Gruppe: der der niedrigen Klassen, die die morros und<br />

einige Bezirke der Stadt bewohnen, und noch kleiner, aus der Gruppe der<br />

Halbmarginalisierten in jeder Beziehung, ohne konstante Arbeit, ohne gut<br />

definierten Platz im Sozialsystem […]" (Matos 1982: 48). Ihm werden so<br />

unterschiedliche Eigenschaften wie Arbeitsscheu, Faulheit, Durchtriebenheit,<br />

Schurkerei, Gaunerei, aber auch Schlauheit, List und Durchtriebenheit<br />

zugeschrieben (vgl. Aurélio 1986, 1068). Er ist "[…] ein Wesen der Grenze, des<br />

Randes. […] Seine Mobilität ist permanent, von ihr hängt es ab, dem Druck des<br />

Systems zu entkommen, wenn auch nur vorübergehend." (Matos 1982: 54).<br />

Da Matta charakterisiert den malandro als Figur, die sich weder innerhalb noch<br />

außerhalb der Ordnung befindet. "Er scheint in die geschlossene Welt unserer<br />

Moral eine Möglichkeit der Relativierung einzuführen." (da Matta 1983: 133). Er<br />

versucht, Probleme zu lösen, indem er das unpersönliche und unmögliche<br />

Gesetz mit der Freundschaft und der persönlichen Beziehung verknüpft. Es<br />

handelt sich dabei um eine Lebens- und Überlebensweise in einem System, in<br />

dem die formalen Gesetze des öffentlichen Lebens nichts mit den Regeln der<br />

üblichen Moral zu tun haben, die unsere Ehre, unseren Respekt und die Treue<br />

gegenüber unseren Freunden und Verwandten bestimmen (vgl. da Matta 1989:<br />

102ff.). Die sambistas präsentierten sich anfangs selbst als malandros, um die<br />

Solidarität unter der marginalisierten Bevölkerung nach außen hin zu beweisen,


18<br />

indem sie die positive Konzeption der Marginalisierung des morros und seiner<br />

BewohnerInnen betonten, nämlich gemeinschaftliche Werte und die Moral des<br />

malandro (vgl. Goldwasser 1975: 115). Doch der Wunsch der sambistas nach<br />

Anerkennung und Integration war stärker, und sie versuchten bald, sich vom<br />

Image des Halbkriminellen zu distanzieren und der Verfolgung durch die Polizei<br />

zu entgehen.<br />

Der Repressionsapparat beschränkte sich aber nicht auf Einzelpersonen. Vor<br />

allem bei Versammlungen griff die Polizei ein. "Es tauchen Hindernisse und<br />

sogar Polizeirazzien in den casas de santo17 und bei den öffentlichen<br />

Vorstellungen der Schwarzen auf, Demonstrationen, die von den Eliten als<br />

Schaustellungen von Primitivismus angesehen wurden, die die eigene Stadt<br />

kompromittieren würden, die okzidental und modern sein wollte trotz ihrer<br />

offensichtlichen Afrikanität." (Moura 1983: 25). Als Beispiel dafür kann auch die<br />

Festa da Penha, Fest des Felsens, dienen, ein ursprünglich portugiesisches<br />

Fest anläßlich einer Wallfahrt, das jährlich im Oktober von der Bruderschaft<br />

Irmandade da Penha organisiert wurde. Es entwickelte sich aber zu einem<br />

Volksfest, an dem alle Bewohner von Rio teilnahmen und zu seinem Gelingen<br />

beitrugen. "Abgesehen vom Karneval ist das wichtigste Volksfest der Stadt das<br />

der Nossa Senhora da Penha, wo parallel zu den katholischen Kulten Samba,<br />

batuque und capoeira18 rings um die Kirche praktiziert wurden." (Tupy 1985: 22).<br />

Mit der Zeit "übernahmen" die Schwarzen das Fest, und auch Tia Ciata baute<br />

jedes Jahr ihren Marktstand dort auf. Ab 1920 stellten die Komponisten der<br />

damaligen Zeit mit eigens gegründeten Bands ihre Musik für den nächsten<br />

Karneval ebenfalls dort vor. Aufgrund der Konkurrenz durch das Radio, vor<br />

allem aber auch wegen der anhaltenden polizeilichen Verfolgung der sambistas<br />

verlor das Fest Ende der 20er Jahre seine Bedeutung (vgl. Moura 1983: 71 –<br />

75).<br />

Nicht nur die Geschichte des Samba, sondern die Geschichte des gesamten<br />

Karnevals von Rio de Janeiro ist durch viele Kontrollversuche von Seiten der<br />

Polizei gekennzeichnet. Nachdem im Jahr 1600 der entrudo an den drei Tagen<br />

vor dem Aschermittwoch nach portugiesischem Vorbild in den Straßen Einzug<br />

gehalten hatte, wurde er bereits 1604 erstmals verboten. Der entrudo hielt sich<br />

aber trotz weiterer Verbote, bis er nach 1853 langsam aus dem Straßenbild von<br />

Rio verschwand (vgl. Eneida 1958: 17ff. und Associação 1989: 29f.). Dieses<br />

17 port. Bezeichnung für die Kulthäuser der afrobrasilianischen Religionen.<br />

18 afrobrasilianischer Kampftanz.


19<br />

Datum wird von den meisten AutorInnen als "Geburtsdatum" des Karnevals von<br />

Rio de Janeiro angegeben (vgl. Sebe 1986: 55). Die Polizei stellte im Laufe der<br />

Zeit auch mehrmals "die Masken und Verkleidungen auf der Straße" unter<br />

Strafe.<br />

Nach der Abschaffung des entrudo mußte die Bevölkerung andere Wege finden,<br />

um das Fest wiederzubeleben. Die nationale Elite der damaligen Hauptstadt Rio<br />

de Janeiro, die sich seit der Unabhängigkeit Brasiliens als Führungskraft<br />

etablierte und deren kulturelle Manifestationen Modellcharakter für das ganze<br />

Land hatten, gründete Mitte des 19. Jahrhunderts ihre eigenen<br />

Karnevalsorganisationen, die sociedades carnavalescas, die sich nach ihrer<br />

Vorstellung auf der Straße zum Weiterfeiern in die Salons begaben. Der<br />

Salonkarneval konnte sich bald etablieren, und die ersten Bälle wurden in Hotels<br />

und im Stadttheater abgehalten. 1851 erließ die Polizei zwar noch ein Verbot<br />

gegen den "Baile do Oriente", den "Orientball", da er auch von Prostituierten<br />

und Spielern besucht wurde, die Bälle entwickelten sich jedoch bald zum<br />

exklusiven Vergnügen für die Oberschicht in den Städten Brasiliens (vgl. Sebe<br />

1986. 60ff.).<br />

Für den Straßenkarneval von Rio de Janeiro wurden immer strengere<br />

Sicherheitsvorschriften getroffen, und das Fest der armen Bevölkerung wurde in<br />

die Außenbezirke abgedrängt, um erst später wieder zurückzukehren, als die<br />

Elite ihren Anspruch auf die zentralen Straßen aufgab. Die räumliche Aufteilung<br />

führte zur sozialen Trennung, der Straßenkarneval war der Masse der<br />

Unterschichtangehörigen, der Salonkarneval der kleinen Oberschicht<br />

vorbehalten (vgl. Sebe 1986. 60ff.).<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Straßenkarneval wieder einen<br />

Aufschwung, zwei verschiedene Formen der Karnevalsorganisationen<br />

rivalisierten miteinander, die cordões und die ranchos. Die cordões hatten sich<br />

aus den congadas der religiösen Bruderschaften entwickelt und traten nun als<br />

Gruppen von Kostümierten mit Perkussionsinstrumenten, StandartenträgerIn<br />

und Dirigent auf, die langsame Märsche spielten (vgl. Eneida 1958: 121ff.). Die<br />

ranchos waren ursprünglich aus dem Nordosten Brasiliens nach Rio gekommen,<br />

wo sie beim pastoril, einer dramatischen Aufführung anläßlich des Festes der<br />

Heiligen Drei Könige, die HirtInnen auf dem Weg nach Betlehem symbolisierten<br />

(vgl. Pereira Dutra 1985: 9). Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts hatten sie<br />

aber Vergnügungscharakter angenommen und nahmen mit einer viel


20<br />

komplizierteren Struktur am Karneval teil (vgl. Kapitel 2.3.). Auch hier nahm die<br />

Polizei Einfluß auf die weitere Entwicklung: sie favorisierte die ranchos wegen<br />

ihres disziplinierten und "ordentlichen" Auftretens. Das war der Hauptgrund, aus<br />

dem sich die SambaschulgründerInnen an den ranchos orientierten (Moura<br />

1983: 60).


21<br />

2.3. Die Gründung der Sambaschulen<br />

Vai levantar poeira Staub wird aufwirbeln<br />

Oi deixa o couro comer (leo lelê) Oi laßt die Trommeln sprechen (leo lelê)<br />

O Estácio virou tema Estácio 19 wurde zum Thema<br />

Seu passado é um poema Seine Vergangenheit ist ein Gedicht<br />

Agora é que eu quero ver... Jetzt will ich es sehen...<br />

É o samba, iáiá Es ist der Samba, iáiá<br />

É o samba, ioiô Es ist der Samba, ioiô<br />

Mostrando pro mundo inteiro Der der ganzen Welt<br />

O seu berço verdadeiro Seine wahre Wiege zeigt<br />

Onde nasceu e se criou Wo er auf die Welt kam und aufwuchs<br />

É samba de roda Es ist samba de roda<br />

Batucada e candomblé Batucada und candomblé<br />

Tem capoeira gafieira dando olé Es gibt capoeira und Musik, die "Olé" rufen<br />

Foi Ismael Es war Ismael<br />

O criador da primeira escola Der Gründer der ersten Sambaschule<br />

Ao som do surdo e da viola Zum Klang der Trommel und der Gitarre<br />

Fez o nosso povo cantar Ließ er unser Volk singen<br />

Poesia e fantasia Poesie und Fantasie<br />

Num carrossel de ilusão in einem Karussell der Illusion<br />

Viemos mostrar agora Wir werden jetzt zeigen<br />

O velho Estácio de outrora den alten Estácio von damals<br />

Revivendo a tradição indem wir die Tradition wiederaufleben lassen<br />

Deixa falar 20 , ô... ô... Laßt uns sprechen, ô... ô...<br />

Deixa falar Laßt uns sprechen<br />

Relembrando aquele tempo und uns an die Zeit erinnern<br />

Que não pode mais voltar Die nicht mehr zurückkehren kann<br />

samba-enredo1980 der Sambaschule Unidos de São Carlos<br />

Die ersten ranchos, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts am<br />

Karneval von Rio de Janeiro teilnahmen, wurden von aus Bahia stammenden<br />

Familien gegründet (vgl. Moura 1983: 61). Der rancho Ameno Resedá,<br />

gegründet 1907, war hauptverantwortlich für eine grundlegende Änderung des<br />

Straßenkarnevals: er führte den Luxus, die Poesie, den Chorgesang und das<br />

Orchester ein und bediente sich dazu der Mitarbeit der Künstler und<br />

Intellektuellen seiner Zeit (vgl. Efegê 1965). Das Orchester, das die TänzerInnen<br />

und SängerInnen begleitete, spielte mit Perkussionsinstrumenten,<br />

Blasinstrumenten, Gitarre und cavaquinho, einem Ukulele-artigen Instrument,<br />

sogenannte marchas-rancho, die schneller waren als die Märsche der cordões.<br />

Die ranchos stellten bei jedem Karneval mit Hilfe von Kostümen, geschmückten<br />

Wägen und einer Choreographie ein Thema aus der griechischen oder der<br />

römischen Mythologie oder eine Legende dar. Die Darbietung der ranchos war<br />

19 Bezirk von Rio de Janeiro.<br />

20 Deixa Falar war der Name der ersten Sambaschule..


22<br />

streng strukturiert, der Reihe nach präsentierten sich (vgl. Pereira Dutra 1985:<br />

21f.):<br />

Pede-Passagem "Verlangt-Freie-Bahn"; sollte dem<br />

Comissão de Frente<br />

rancho Platz in der Menge machen und<br />

begrüßte das Publikum.<br />

Mitglieder des Direktoriums des rancho<br />

und Ehrenmitglieder an der Spitze.<br />

Figurantes Gruppen von Frauen, die im Zug der<br />

Darstellung des Themas eine Rolle<br />

spielten.<br />

Alegoria Papierskulptur, die das Thema<br />

repräsentierte.<br />

Mestre de Manobra Verantwortlicher für das desfile.<br />

Grupo Infanto-Juvenil "Kindergruppe"; präsentierte eine<br />

Choreographie.<br />

Baliza und Porta-estandarte Solotänzer und "StandartenträgerIn".<br />

Primeiro Mestre de Canto "Erster Gesangsmeister"; Tenor, der den<br />

Marsch eine Oktave höher als der Chor<br />

sang.<br />

Coro Feminino "Chor der Frauen", die pastoras, also<br />

Hirtinnen genannt wurden.<br />

Segundo Baliza und Porta-estandarte Zweiter Solotänzer und "Zweite/r<br />

StandartenträgerIn".<br />

Segundo Mestre de Canto "Zweiter Gesangsmeister"; Bariton, der<br />

den Marsch eine Oktave tiefer als der<br />

Chor sang.<br />

Corpo Coral Masculino "Männerchor".<br />

Orquestra "Orchester".<br />

Carregadores de Fogos de Bengala begleiteten den rancho an der Seite mit<br />

Lichtquellen.<br />

Puxadores de Corda hielten das Seil, das auf polizeiliche<br />

Anordnung hin den rancho umschließen<br />

mußte.<br />

Noch wurden die Lieder nicht speziell für den Karneval produziert, bis die<br />

Komponistin Chiquinha Gonzaga 1899 für einen der cordões in ihrer<br />

Nachbarschaft den Karnevalsmarsch "Abre Alas" komponierte (vgl. de Souza et<br />

alii 1988: 104). Ab 1910 wurden unzählige Lieder eigens für den Karneval


23<br />

geschrieben, das Genre Karnevalsmusik starb jedoch um 1950 unter anderem<br />

wegen fehlender staatlicher Unterstützung aus.<br />

1917 tauchte die Bezeichnung Samba das erste Mal in einem schriftlichen<br />

Dokument auf: das Musikstück "Pelo Telefone" wurde unter der Bezeichnung<br />

"Samba Carnavalesco" registriert. 21 "Samba hat es in Wirklichkeit schon<br />

gegeben, aber erst ab jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn durch den<br />

Erfolg, der ihm die endgültige Weihe als die typischste und repräsentativste<br />

populäre urbane Lied- und Tanzform des Landes geben sollte." (Alencar bei<br />

Tupy 1985: 43). Die ranchos erlebten ihre Blütezeit von 1920 bis 1930, mußten<br />

sich dann aber den Sambaschulen geschlagen geben und verschwanden von<br />

der Bildfläche (vgl. Empresa de Turismo 1991: 170).<br />

1928 wurde die Deixa Falar ("Laßt uns sprechen") im Bezirk Estácio als erste<br />

Karnevalsorganisation unter der Bezeichnung Sambaschule gegründet. Estácio<br />

war damals als gefährliche Gegend berüchtigt, wo sich Arbeitslose,<br />

Gelegenheitsarbeiter, Spieler und Prostituierte (also malandros) vom morro de<br />

São Carlos aufhielten. Für die Gründer der Deixa Falar, die sich an der<br />

Organisation der ranchos orientierten, da diese unter Polizeischutz standen, war<br />

mit Sicherheit der Wunsch nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher<br />

Anerkennung ein ausschlaggebendes Motiv.<br />

Die Sambaschule nahm wie die ranchos mit einer comissão de frente, einem<br />

Frauenchor der pastoras, den Solotänzern mestre-sala und porta-estandarte<br />

und einem Orchester namens bateria, bestehend aus Perkussionsinstrumenten,<br />

Gitarre, cavaquinho und Mandoline, am Karneval teil. Ihre Sambas hatten aber<br />

einen schnelleren Rhythmus als die marchas, der dramaturgische Aspekt fehlte<br />

ihr, und sie führte die ala das baianas ein, eine Gruppe von Männern und<br />

Frauen, deren Kostüm an die Tracht der ehemaligen Sklavinnen aus Bahia<br />

erinnerte. Die Deixa Falar selbst existierte nur drei Jahre, doch fast gleichzeitig<br />

mit ihr entstanden in anderen Bezirken weitere Sambaschulen, und um 1930<br />

fand bereits der erste Sambaschulwettbewerb statt (Empresa de Turismo 1991:<br />

185).<br />

Die Sambaschulen präsentierten in ihrer Anfangszeit meistens zwei Sambas,<br />

einen beim Kommen, und einen während der eigentlichen Vorführung. Der erste<br />

Teil des Sambatextes war traditionellerweise vorgegeben und wurde von den<br />

21 vgl. Kapitel 3.4.


24<br />

pastoras gesungen, während der zweite Teil von Solosängern improvisiert<br />

wurde. Die ZuschauerInnen fungierten als Jury und trafen ihre Entscheidung,<br />

indem sie sich der Sambaschule anschlossen, die ihnen am besten gefiel. 1931<br />

stellte die Sambaschule Portela als erste einen enredo, ein Thema, in den<br />

Mittelpunkt und verwendete dazu eine alegoria.<br />

Der Wettbewerb der Sambaschulen war ein so großer Erfolg, daß er bereits<br />

1933 Teil des offiziellen Programmes des Karnevals wurde, den die Prefeitura<br />

do Distrito Federal (Gemeindeverwaltung) und der Touring Club unter der<br />

Schirmherrschaft der Tageszeitung O Globo organisierten. Aus diesem Anlaß<br />

wurde das erste Reglement erstellt, das bis heute Gültigkeit hat:<br />

Blasinstrumente waren verboten, und die ala das baianas wurde obligatorisch<br />

(Empresa de Turismo 1991: 196). Die Sambaschule Mangueira stellte im selben<br />

Jahr einen Samba ohne Improvisationsteil vor, der heute als erster sambaenredo<br />

bezeichnet werden kann. Es handelt sich dabei um einen Samba, in<br />

dessen Mittelpunkt das Thema steht, das von der Sambaschule im Karneval<br />

präsentiert wird. Diese Form des Samba war für Radiopublikum leichter<br />

konsumierbar und setzte sich deshalb langfristig durch. 22<br />

1934 wurde die erste Dachorganisation der Sambaschulen, die União das<br />

Escolas de Samba gegründet. Ein Jahr später mußten sich die Sambaschulen<br />

auf der Delegacia de Costumes e Diversões ("Polizeikommissariat für Bräuche<br />

und Vergnügungen") unter der Bezeichnung "Grêmio Recreativo Escola de<br />

Samba", kurz GRES, als "sociedade civil de cultura e lazer, sem finalidades<br />

lucrativas", also als gemeinnütziger Kulturverein registrieren lassen, wenn sie<br />

am Wettbewerb teilnehmen wollten. Der Staat hatte seine Fühler ausgestreckt.<br />

Jede registrierte Sambaschule erhielt 300.000 Réis Subvention von der<br />

Präfektur (Gemeindeverwaltung) (vgl. Gardel 1967: 33) und wurde von einer<br />

Jury anhand der Kategorien Originalität, harmonia (Harmonie in Rhythmus und<br />

Gesang), bateria und Standarte bewertet. Die offizielle Anerkennung brachte<br />

Neuheiten mit sich. Die Mitglieder der Sambaschulen waren noch nicht<br />

einheitlich kostümiert, doch sie respektierten die Farben ihrer Sambaschule. Die<br />

Sambaschule Portela führte bewegte alegorias ein. Von den ranchos wurden<br />

nun auch die später eingeführten destaques, die reichere Kostüme trugen,<br />

übernommen, und es war üblich, passistas (SolotänzerInnen) zu präsentieren.<br />

22 vgl. Kapitel 3.3.


25<br />

1939 übernahm die Präfektur von Rio de Janeiro die Verantwortung für die<br />

Organisation der desfiles der Sambaschulen. Um sich für den Wettbewerb<br />

einschreiben zu können, mußten die Sambaschulen nachweisen, daß sie nach<br />

den Regeln des gemeinnützigen Kulturvereins organisiert waren und ein<br />

ausgeglichenes Budget hatten. Innerhalb von zehn Jahren waren die<br />

Sambaschulen zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil des Karnevals von<br />

Rio de Janeiro geworden und hatten dafür mit der Kontrolle durch die<br />

Autoritäten bezahlt. "Andererseits waren ihm [dem sambista] die Institutionen<br />

oder Organe, die ihn unterdrückten und/oder am morro verfolgten, jetzt zu<br />

Diensten: Die Polizei, die ihn sonst festnahm, machte den Weg frei, damit die<br />

Sambaschule defilieren konnte […]" (C. Moura zit. bei Tupy 1985: 75).


26<br />

3. <strong>DIE</strong> SAMBASCHULE ALS SOZIALER NUKLEUS<br />

3.1. Organisation Sambaschule<br />

Através dos tempos, Im Laufe der Zeit,<br />

Que os nosso samba despontou, Entstand unser Samba,<br />

Trazido pelos africanos, Gebracht von den Afrikanern,<br />

Em nosso país se alastrou. breitete er sich in unserem Land aus.<br />

Foi Donga que tudo começou Es war Donga, der alles begann<br />

Com um lindo samba Mit einem schönen Samba<br />

(Pelo telefone) se comunicou (Per Telefon) verständigte er sich<br />

E, no limiar do samba, Und, an der Schwelle zum Samba<br />

Que beleza, que fascinação! Welche Schönheit, welche Faszination!<br />

Na casa da tia Ciata Im Haus von Tia Ciata<br />

Oh? Como o samba era bom! Oh? Wie war der Samba gut!<br />

Dança o batuque Tanze den Rhythmus<br />

Ao som da viola, Zum Klang der Gitarre,<br />

Cai no fandango, Tanze den fandango,<br />

Dá umbigada Berühre mit dem Bauchnabel<br />

Na dança de roda. im Tanz im Kreis.<br />

Grandes sambistas Große sambistas<br />

Mostraram o seu valor: Zeigten ihren Verdienst:<br />

Ismael Silva, Carmem Miranda, Ismael Silva, Carmem Miranda,<br />

Noel e Sinhô; Noel und Sinhô;<br />

Mas, surgiram Aber, es entstanden<br />

As escolas de samba, Die Sambaschulen,<br />

O Ponto alto de nosso carnaval, Der Höhepunkt unseres Karnevals,<br />

E o nosso samba evoluiu Und unser Samba entwickelte sich<br />

E se tornou marca registrada do Brasil. zum Markenzeichen von Brasilien.<br />

samba-enredo 1977 der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel<br />

Wie bereits erwähnt, boten die Häuser der tias baianas, der religiösen und<br />

kulturellen Führerinnen der ehemaligen SklavInnen, den notwendigen<br />

geschützten Raum für die sambistas, und auch die Geschichte der meisten<br />

Sambaschulen begann in den Refugien der tias. Sie stellten nicht nur Platz,<br />

Verpflegung und musikalisches bzw. dichterisches Können zur Verfügung,<br />

sondern leiteten auch blocos für "Töchter aus gutem Haus", die die polizeiliche<br />

Erlaubnis hatten, am Karneval teilzunehmen, mit denen sie die Basis für die<br />

Legalisierung der Sambaschulen legten. Viele tias waren prestigeträchtige<br />

Gründungsmitglieder der Sambaschulen und gelten heute als "lebendiges<br />

Archiv" der Sambaschulen.<br />

Tia Neném oder ihre Mutter Tia Martinha taufte die Sambaschule Portela (vgl.<br />

Araújo und Candeia Filho 1978: 12). Tia Dodô war mehr als 25 Jahre porta-


27<br />

bandeira der Portela, heute ist sie Präsidentin einer ala, einer Gruppe der<br />

Sambaschule23 , verwaltet die Boutique der Sambaschule und organisiert die<br />

religiösen Feste der Portela (vgl. Jornal do Brasil, Domingo 23. 2. 1992). Tia<br />

Eulália, die Mutter des ersten Präsidenten der Sambaschule Beija-Flor, suchte<br />

Name und Farbe für sie aus (vgl. do Pazo Ferreira 1982: 174). Tia Marta war<br />

sambista in den Karnevalsorganisationen Rainha das Pretas, Corações Unidos<br />

de Rocha Miranda und Prazer da Serrinha, später baiana der Sambaschule<br />

Império Serrano (vgl. Teixeira Valença 1981: 7). Dona Eulália war pastora der<br />

ranchos Caprichosos da Estopa und Recreio das Flores und pastorinha von<br />

Dona Lucinda, und ihr Vater leitete blocos in der Sambaschule Prazer da<br />

Serrinha. In ihrem Haus wurde die Sambaschule Império Serrano gegründet, sie<br />

hatte Kontrollfunktion, war Mitautorin eines enredo und puxadora, Interpretin<br />

des samba-enredo (vgl. Teixeira Valença 1981: 30ff.). Dona Florinda und Dona<br />

Líbia von der Sambaschule Prazer da Serrinha und später der Império Serrano,<br />

Dona Euzébia de Oliveira (Dona Zica) und Dona Néuma von der Mangueira, Tia<br />

Zezé und Tia Paula von der Salgueiro und Tia Clodomira von der Imperatriz<br />

Leopoldinense wird von den Sambaschulangehörigen ebenfalls große<br />

Bedeutung zugemessen. Sie werden auch heute noch mit großem Respekt<br />

behandelt und angehört, denn der Umgang mit diesen "folkloristischen" Figuren<br />

erhöht die Glaubwürdigkeit der Präsidenten der Sambaschulen. Es wird ihnen<br />

aber immer seltener das Recht auf Mitbestimmung bei der Auswahl des enredo,<br />

des Samba oder der porta-bandeira zugestanden, und ihre Macht ist meist auf<br />

den repräsentativen und den sozialen Bereich beschränkt. Das gilt für die<br />

meisten Frauen, die sich in einer Sambaschule engagierten.<br />

Die Deixa Falar, die als erste Karnevalsorganisation die Bezeichnung<br />

Sambaschule verwendete, ließ ihre Sambas, die für den nächsten Karneval<br />

komponiert worden waren, immer vom Frauenchor, den pastoras, testen und<br />

das Publikum aus der Nachbarschaft entscheiden, welche beiden am besten für<br />

den Wettstreit mit den anderen Sambaschulen geeignet waren. "Wenn die<br />

Gruppe ihren Samba ausgewählt hat, beginnt sie, ihn zu lernen, wiederholt ihn<br />

lange Zeit, erfindet einen Schritt, um seine Ausführung zu begleiten, und dann<br />

wird es notwendig, die Kostüme zu zeichnen. […] Monate um Monate vergehen<br />

bei diesen Proben, die Ersparnisse verfliegen in den Kosten der luxuriösen<br />

Kostüme und des Spiels der Lieder (wenn nicht ein Politiker, gierig nach<br />

Wählerstimmen, seinen Beitrag zur Erhaltung der »Sambaschule« spendet) [...]"<br />

(Bastide 1959a: 134f.). Um effektiver Geld auftreiben zu können, rief die Deixa<br />

23 s. Kapitel 7.2.


28<br />

Falar zwei Ämter ins Leben: das des Präsidenten und das des Schatzmeisters.<br />

Der Schatzmeister mußte die spärlichen Mittel der Sambaschule verwalten und<br />

verteilen: jedes Mitglied der Sambaschule zahlte 5.000 Réis in einen Fond, um<br />

auch Mittellosen zu ermöglichen, kostümiert am Karneval teilzunehmen. Am<br />

Donnerstag, Samstag und Sonntag in den Monaten vor dem Karneval wurden<br />

Bälle in den Häusern der tias veranstaltet, da die Sambaschulen noch kein fixes<br />

Stammquartier hatten, und Spenden waren immer willkommen. Die meisten<br />

sambistas aber konnten ihre Sambaschule nur "tatkräftig" unterstützen: die<br />

Näherinnen des Bezirkes stellten die Kostüme her, es wurde ohne Bezahlung<br />

der Treffpunkt der Sambaschule saubergehalten, gekocht, ausgeschenkt usw.<br />

Als die Sambaschulen sich als Vereine bei der Polizei registrieren ließen, waren<br />

sie gezwungen, ein Statut aufzusetzen, das im Wesentlichen folgendermaßen<br />

lautete:<br />

Die Ziele einer Sambaschule sind es, Brasiliens populäre Musikform, den<br />

Samba, zu fördern und zu verbreiten und Erholungs-, soziale, sportliche und<br />

kulturelle Aktivitäten für ihre Mitglieder zu veranstalten. Jede Sambaschule hat<br />

vier Organe:<br />

assembleia geral: die Generalversammlung tritt regelmäßig alle 6 Monate und<br />

bei Bedarf außerordentlich zusammen und kann jede Entscheidung von<br />

diretoria, conselho deliberativo und conselho fiscal modifizieren oder annulieren,<br />

Wahlen abhalten und Mitglieder suspendieren oder hinauswerfen.<br />

diretoria: das Direktorium wird alle zwei Jahre von der Generalversammlung<br />

gewählt und besteht aus Präsident, Vizepräsident, Erstem und Zweitem<br />

Sekretär, Erstem und Zweitem Schatzmeister und Erstem und Zweitem Direktor<br />

des Sozialdepartements. Alle anderen Ämter werden vom Präsidenten besetzt.<br />

conselho deliberativo: der kleine Senat, der meist aus 7 Mitgliedern besteht, hat<br />

beratende Funktion und muß die Entscheidungen des Direktoriums bestätigen.<br />

conselho fiscal: der Finanzausschuß.<br />

(vgl. dazu Gardel 1967: 63ff.).<br />

Von diesem Zeitpunkt an – und wir sehen, daß er sehr bald auf die<br />

Sambaschulen zukam – zentralisierte und monopolisierte das Direktorium alle<br />

Entscheidungen, die die Sambaschule betrafen, und übernahm die Macht im<br />

Namen von höheren Interessen. "Eine Oligarchie spezieller Art, die sich ihnen<br />

von Beginn an aufzwang, […] regiert die Sambaschulen – diejenigen, die dem<br />

Samba am meisten ergeben sind unter denen, die die Sambaschule finanziell<br />

unterstützen können, sei es mit ihrem Geld, sei es mit ihrer Aktivität, um es zu


29<br />

bekommen, haben die Kommandoposten inne." (Carneiro 1974: 111). Diese<br />

Machtpositionen waren und sind heute noch außerordentlich prestigeträchtig:<br />

"Für viele Mitglieder ist es eine Frage des Status, bestimmte Aufgaben zu<br />

erfüllen, nicht nur in Bezug auf die Sambaschule, sondern auch auf ihre<br />

comunidade24 . Das Sambaschulmitglied kann über seine Aufgabe ohne größere<br />

Schwierigkeiten Zugang zu öffentlichen Autoritäten haben, ein Platz, der durch<br />

den Samba erobert wurde und der ihm Möglichkeiten gibt, sich selbst<br />

gegenüber seinen Angehörigen und der Gesellschaft im allgemeinen zu<br />

bestätigen." (Urbano et alii 1987: 82f.).<br />

Der Grund, warum die Sambaschule hierarchisch organisiert wurde, lag also<br />

auch darin, daß sie akzeptabel und darüber hinaus auch attraktiv für eine<br />

andere Gesellschaftsschicht gemacht werden sollte. "Die organisatorischen<br />

Charakteristika der neuen Volksinstitutionen, bereits in Sorge, sich gegenüber<br />

dem Staat zu legitimieren, indem sie in ihrer internen Struktur einige seiner<br />

Regeln akzeptierten, zeigen die Beachtung der neuen Führer für ein Prinzip der<br />

Realität, das auch Allianzen dieser Gruppen mit einzelnen Individuen der<br />

Oberschicht bestimmen sollte, die fähig waren, für sie zu bürgen und sie vor den<br />

Verfolgungen der Polizei zu schützen und Geld für ihre Karnevalsausgaben<br />

aufzutreiben." (Moura 1983: 60).<br />

"Die Unterstützung von Volksereignissen war übrigens eine verbreitete Praktik,<br />

die von den religiösen Feiern selbst ausging, deren Feste immer – wie auch<br />

heute noch – Gruppen von Organisatoren und Financiers hatten, die von den<br />

vertrauenswürdigsten Personen der Pfarre gebildet wurden. Die Finanzierung<br />

des Karnevals durch Wohltäter dehnte den Brauch immer auf profane Feste<br />

aus." (Mineiro 1992: 13). Abgesehen von der geringen staatlichen Subvention,<br />

die den Sambaschulen ab 1935 zustand, konnten sie noch mit der<br />

Unterstützung durch die Zeitungen von Rio de Janeiro rechnen, die im Kampf<br />

um die Leser auch Wettbewerbe außerhalb der Karnevalszeit veranstalteten,<br />

wie zum Beispiel Jornal do Brasil, O Globo, Correio da Manhã und Gazeta de<br />

Notícias. Auch das Radio stellte bisweilen Geldbeträge zur Verfügung.<br />

Privatspenden der lokalen Bevölkerung und hier vor allem der Gesachäftsleute<br />

wurden im sogenannten livro de ouro, dem Goldenen Buch der Sambaschule<br />

mit dem Spendernamen und der Betragshöhe eingetragen. Eine solche Spende<br />

erhöhte nicht nur das Ansehen, es brachte auch neue Kunden: "Die<br />

Sambaschulen wurden zu wichtigen Kunden des Handels, nicht nur zur Zeit des<br />

24 Nachbarschaftsgruppe, s. Kapitel 3.2.


30<br />

Karnevals, sondern das ganze Jahr hindurch. Das Bar-Service in den quadras<br />

oder an irgendeinem Ort, der von den sambistas benutzt wird, verlangt große<br />

Mengen an Getränken, vor allem Bier und Erfrischungsgetränke, und alle Arten<br />

von Zutaten für die Herstellung von Snacks, darunter Fleisch. Wimpel, Kappen,<br />

speziell bedruckte Hemden und Autoaufkleber sind auch unter den großen<br />

Konsumartikeln der sambistas." (Rodrigues de Moraes 1978: 145).<br />

Mit dieser beginnenden Kommerzialisierung verringerte sich die<br />

"Opferbereitschaft" der Sambaschulangehörigen. "Seit sie von den<br />

Subventionen erfahren haben, glauben sich die Mitglieder, die sich früher<br />

abgesehen von seltenen Ausnahmen selbst um ihr Kostüm kümmerten, nun im<br />

Recht, Hilfe von ihren Sambaschulen zu verlangen. Diese Hilfe wurde dann<br />

durch die Versorgung mit dem Stoff, der für das Nähen des Kostüms bestimmt<br />

war, geleistet. Das nennen sie »dar o pano« [den Stoff geben]. Andererseits<br />

wurde dazu übergegangen, für die verschiedenen Arbeiten, die früher gratis als<br />

Hilfe für die Sambaschule durchgeführt wurden, etwas zu verlangen, wie es bei<br />

den Schneiderinnen, den Herstellern der alegorias und anderen der Fall ist."<br />

(Rodrigues de Moraes 1978: 95). Trotzdem blieben die Sambaschulen aufgrund<br />

der für die Mehrheit der Vorstadtbevölkerung unverändert schwierigen<br />

Lebensbedingungen zu einer der wichtigsten Organisationen der<br />

Arbeiterbevölkerung der Vortadtbezirke und zu einem Symbol der Solidarität.


3.2. Örtlichkeit und Nachbarschaft<br />

31<br />

Mangueira teu passado de glória Mangueira, deine glorreiche<br />

Vergangenheit<br />

Está gravado na história ist in die Geschichte eingeprägt<br />

É verde-rosa a cor da tua bandeira Grün-rosa ist die Farbe deiner Fahne<br />

Pra mostrar a esta gente Um diesen Leuten zu zeigen<br />

Que o samba é lá em Mangueira Daß der Samba dort in Mangueira lebt.<br />

Enéas B. Silva, Alóisio Augusto Costa 1956<br />

Die Entwicklung der Sambaschulen ist eng mit dem Wachstum der Vorstädte<br />

von Rio de Janeiro verknüpft. Man muß sich vor Augen halten, daß die<br />

Wachstumsrate dieser Viertel von 1950 bis 1970 340% betrug (vgl. Pereira de<br />

Queiroz 1986: 215). In jedem dieser Bezirke lassen sich zwei Zonen<br />

unterscheiden: das zentrale Gebiet, in dem die lokale Verwaltung und der<br />

Handel situiert sind, die wohlhabenderen Leute wohnen, und das als sicherer<br />

gilt; und die Peripherie, an der die ärmere Bevölkerung lebt und die durch<br />

Unsicherheit, Instabilität, Gewalt und Verbrechen geprägt ist (vgl. Pereira de<br />

Queiroz 1986).<br />

Die ersten Sambaschulen wurden fast alle nach dem Vorstadtviertel benannt, an<br />

dessen Rand sie entstanden waren. Das bestätigten ihre GründerInnen in<br />

zahlreichen Interviews, wie z.B Ismael Silva: "[…] es gab keine Sambaschule,<br />

aber die Orte existierten bereits, nicht wahr, der Bezirk, Portela, Mangueira.<br />

Meine Musik verbreitete sich dort überall und auch in der Stadt […]" (Ismael<br />

Silva zit. bei Medeiros de Carvalho 1980: 80) oder Cartola: "Sambaschule<br />

Mangueira und morro Mangueira sind für mich dasselbe." (Cartola zit. bei Moura<br />

1988: 22). Mit dem Bekanntheitsgrad der Organisation wuchs der<br />

Bekanntheitsgrad des marginalisierten Gebietes, in dem sie ihren Sitz hatte, und<br />

das im positiven Sinn. Die Bedeutung einer solchen Imageverbesserung des<br />

Lebensbereiches für die ansässige Bevölkerung ist nicht hoch genug<br />

einzuschätzen. "Die Repräsentation des Ortes ist eine der wichtigsten in der<br />

Ideologie des urbanen Armen dieser Stadt." (Zaluar 1986: 37).<br />

Diese Tatsache spielt auch bei den jüngeren Sambaschulen eine Rolle. Die<br />

Vizepräsidenten der Sambaschule Vizinha Faladeira, die 60 Jahre nach ihrer<br />

ersten Gründung 1992 revitalisiert wurde, gab für ihr Engagement folgenden<br />

Grund an: "Am Beginn stand die Idee, den Bezirk zu fördern, verstehst du. Den<br />

Bezirk zu fördern, den Ort bekannt machen, denn das war eine sehr lokale<br />

Arbeit, z.B. die Beija-Flor de Nilópolis, Nilópolis wurde erst bekannt durch die


32<br />

Beija-Flor selbst. Und die anderen Sambaschulen ebenfalls. Und unsere war<br />

auch diese… den Bezirk zu… weil es ist schon ein Bezirk mit einer<br />

Karnevalstradition." (E5).<br />

Der Ruf des Vorstadtbezirkes hängt mit dem Erfolg des Spektakels zusammen,<br />

das von der Sambaschule im Karneval präsentiert wird. Die Sambaschule hat<br />

also die Funktion, die dort lebende Bevölkerung außerhalb des Bezirkes zu<br />

repräsentieren. Ihr Auftreten in anderen Stadtteilen, gegenseitige Einladungen<br />

und Besuche kreieren einen immensen Tauschkreislauf zwischen diesen<br />

Organisationen (vgl. Zaluar 1986: 38). Er ermöglicht eine Form der<br />

Kommunikation, die sonst in Ermangelung der Zugriffsmöglichkeiten der<br />

Unterschichte auf die Medien kaum zu bewerkstelligen wäre25 .<br />

Den Sambaschulen kommt aber vor allem auch für die interne Entwicklung ihres<br />

Standortes fundamentale Bedeutung zu. Sie war nicht nur in der Vergangenheit<br />

die oft einzige Freizeiteinrichtung neben den Fußballclubs, die für die<br />

Lokalbevölkerung zugänglich war. Soninha, ehemalige porta-bandeira der<br />

Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel, erinnerte sich, wie sie<br />

in ihrer Kindheit von ihrem Vater in die Sambaschule mitgenommen wurde:<br />

"Also ging ich hinauf, ich mochte es nicht besonders […]. Aber ich hatte auch<br />

keine Möglichkeit, anderes kennenzulernen. Weil mein Vater lebte als »Gast<br />

des Samba«, also hatte ich, ob ich wollte oder nicht, als einzige<br />

Freizeitbeschäftigung das, die Sambaschule." (E8). Die Sambaschule ist ein<br />

wesentlicher Faktor der lokalen Verbesserung und der Ordnung, und sie drängt<br />

die Gewalt aus ihrem Einzugsbereich zurück. "Der Samba macht seine<br />

Organisatoren berühmt und kreiert einen Mittelpunkt der Macht, der die<br />

Beziehungen des Ortes mit der Polizei, mit dem Staat, mit den anderen nahen<br />

oder entfernten Orten, mit den Politikern wie auch mit den Verbrechern<br />

verändert." (Zaluar 1986: 42). Die interne Organisationsstruktur ist also nicht nur<br />

als Ausdruck des Integrationswunsches zu sehen, sondern auch als Versuch,<br />

die Lebensbedingungen innerhalb der marginalisierten Gesellschaftsschicht zu<br />

verbessern. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in der moralischen Strenge, mit<br />

der die Sambaschulen geführt werden. "Nicht weniger markant ist das<br />

bürokratische und formalistische Funktionieren des Direktoriums und der alas,<br />

dessen sich die Mitglieder genau bewußt sind und das sie stolz erwähnen."<br />

(Pereira de Queiroz 1986: 15). Auch die im Laufe der Zeit immer wichtiger<br />

werdenden Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der sambistas (und später vor<br />

25 Diese Art des Kontaktes ist allerdings auf Konkurrenz aufgebaut, vgl. dazu Kapitel 5.1.


33<br />

allem auch der BesucherInnen aus der wohlhabenderen Südzone Rios und der<br />

TouristInnen) fallen in diesen Bereich. "Zur Ehre der Sambaschulen, die aus<br />

einer Zone stammen, die durch maßlose Gewalt charakterisiert ist, gehört es,<br />

jede vereinfachende Angleichung zwischen ihrem Bild und Gruppen mit<br />

unsagbarem Benehmen zu vermeiden." (Pereira de Queiroz 1986: 14).<br />

Das Stigma der favela konnte von den BewohnerInnen der Vorstadtbezirke<br />

teilweise überwunden werden, indem sie sich an kollektiven Aktivitäten in ihrer<br />

Nachbarschaft beteiligten und so neben der Marginalisierung durch die<br />

dominante Gesellschaft die Einbindung und Anerkennung als Mitglied einer<br />

comunidade erlebten. Der Begriff comunidade begegnet uns oft im Diskurs über<br />

die Sambaschulen von Rio de Janeiro, er bezeichnet für gewöhnlich die<br />

Nachbarschaftsgruppe in einem Vorstadtviertel, deren sozialen und kulturellen<br />

und teilweise auch politischen und ökonomischen Mittelpunkt eine Sambaschule<br />

bildet. Dona Neuma sagte zum Beispiel über "ihre" Sambaschule Mangueira:<br />

"Wir sind eine Sambaschule des morro, wo die comunidade spart, um ihr<br />

Kostüm zu kaufen. Hier gibt es kein Geschäft mit dem Samba, wie es in<br />

anderen Sambaschulen existiert." (O Povo na Rua 21. 2. 1991: 13), oder der<br />

ehemalige carnavalesco26 der Sambaschule Beija-Flor de Nilópolis meinte über<br />

den sambeiro, also den "falschen" sambista: "[…] er ist nicht die comunidade,<br />

diese comunidade des Samba, diese bedürftigere comunidade…" (Trinta in<br />

Trinta 1985: 27). Die Frage der Zugehörigkeit der an den Sambaschulen<br />

beteiligten Individuen und Gruppen zur comunidade wird uns im weiteren noch<br />

beschäftigen.<br />

26 künstlerischer Leiter, dessen Funktion es erst seit den 60er Jahren gibt, s. Kapitel 4.1.


34<br />

3.3. Die Plattenindustrie entdeckt den Samba<br />

Músicos, atores, escultores Musiker, Schauspieler, Bildhauer<br />

Pintores, poetas e compositores Maler, Dichter und Komponisten<br />

expoentes de um grande país Exponenten eines großen Landes<br />

Mostraram ao mundo o perfil brasileiro Zeigten der Welt das brasilianische Profil<br />

Malandro, bonito, sagaz e maneiro Malandro, schön, schlau und locker<br />

Que canta e dança, pinta e borda e é feliz Der singt und tanzt, alles versucht und<br />

glücklich ist<br />

E assim transformaram os conceitos sociais Und veränderten die sozialen Begriffe<br />

E resgataram pra nossa cultura Und retteten für unsere Kultur<br />

A beleza do folclore Die Schönheit der Folklore<br />

E a riqueza do barroco nacional Und den Reichtum des nationalen<br />

Barocks<br />

Modernismo, movimento cultural Modernismus, kulturelle Bewegung<br />

No país da tropicália Im Land der tropicália<br />

Tudo acaba em carnaval. Mündet alles in den Karneval.<br />

samba-enredo 1992 der Sambaschule Estácio de Sá<br />

Welche Veranlassung konnte nun die Oberschicht haben, den Samba als<br />

Musikstil und damit indirekt die Sambaschulen zu fördern? Der Aspekt der<br />

Kontrolle war wie bereits erwähnt ein wichtiger, aber nicht der einzig<br />

ausschlaggebende. Ebenfalls von großer Bedeutung war die Bewegung des<br />

brasilianischen Modernismus in den 20er Jahren gewesen. Die Modernisten<br />

postulierten die Notwendigkeit eines nationalen kulturellen Produktes, und die<br />

Komponisten begannen sich auch unter dem Gesichtspunkt "weiß ist gleich<br />

europäisch ist gleich antinationalistisch" für die musikalische Tradition der<br />

ehemaligen SklavInnen zu interessieren (vgl. Mattos da Matta 1981: 129 ff.).<br />

Der Samba als typisch urbaner Musikstil, der über die Stadt und ihre<br />

BewohnerInnen erzählte und den neuen Lebensstil ausdrückte, schien ideal für<br />

diese Zwecke geeignet. Freilich wurde er für den Geschmack des Mittelschichtund<br />

Oberschichtpublikums, das angesprochen werden sollte, adaptiert. So<br />

entstanden verschiedene Sambatypen, auf die hier nicht näher eingegangen<br />

werden soll27 , und der Samba der 20er Jahre wurde durch Plattenaufnahmen<br />

und Radioprogramme bald zur wichtigsten nationalen Musikform.<br />

Borges Pereira nennt drei Faktoren, die den Prozeß der Umdefinierung des<br />

Samba von der "Negermusik" zur Música Popular Brasileira charakterisieren:<br />

27 vgl. dazu u.a. de Souza et alii 1988.


35<br />

1) die Dominanz des Rhythmus über Melodie und Harmonie in der okzidentalen<br />

Musik seit der Zeit des 1. Weltkriegs, die auch den Erfolg des Jazz<br />

mitbeeinflußte;<br />

2) der Gegensatz zwischen der bisherigen Nationalkultur, die durch die<br />

Nostalgie eines ruralen Brasiliens gekennzeichnet war, und den strukturellen,<br />

ökonomischen und politischen Transformationen, die das Land im Zuge der<br />

Urbanisierung durchgemacht hatte;<br />

3) die Suche nach brasilianischer Authentizität und nationalistischer<br />

Übertreibung (vgl. Tupy 1985: 59).<br />

Das Studio Casa Faulhaber nahm mit "Em casa da baiana" (instrumental) 1911<br />

und "A viola está magoada" 1914 die ersten Vertreter dieses musikalischen<br />

Genres auf Platte auf, allerdings unter anderen Bezeichnungen. 1917 wurde<br />

"Pelo telefone" als erster Samba unter Nennung von Donga als einzigem Autor<br />

in der Casa Edison aufgenommen, obwohl er von mehreren Personen<br />

komponiert worden war28 . Damit entstand gleichzeitig die soziale Figur des<br />

Sambakomponisten. Bisher, "[...] wenn sich die sambistas-Komponisten trafen,<br />

[…] gab es die individuelle Figur des Sambakomponisten nicht. Die Kreation, die<br />

Autorenschaft war kollektiv." (Caldas 1985: 35) 29 . Mit "Pelo telefone" begann die<br />

Praxis der Aneignung des bisher oral tradierten, kollektiv hergestellten Samba<br />

durch einzelne KomponistInnen.<br />

Der Samba verlor noch andere Charakteristika: der Improvisationsteil wurde<br />

weggelassen und die Musik vom Tanz getrennt. Derartig verändert nahm er den<br />

gleichen Weg wie der Jazz und entwickelte sich von der Musik der unteren<br />

Gesellschaftsschichten über die stilisierte, orchestrierte Tanzmusik der<br />

Mittelschicht zur "wertvollen" Musik einer intellektuellen Minderheit. Mit Hilfe der<br />

Plattenindustrie und des Radios konnte er von Rio aus in andere Städte<br />

exportiert werden und entwickelte sich zum Massenphänomen, so rasch waren<br />

sein Popularitäts- und sein Prestigeanstieg.<br />

Der Erfolg des – modifizierten – Samba löste auch Veränderungen des Milieus,<br />

aus dem er stammte, aus. Es bot sich plötzlich eine Möglichkeit für schwarze<br />

28 Die Tatsache, daß Donga den Samba nur unter seinem Namen registrieren ließ, löste damals<br />

große Empörung unter seinen FreundInnen und KollegInnen aus, vgl. dazu z.B. Moura 1983:<br />

76ff., Mattos da Matta 1981: 116ff., Schreiner 1985: 137 ff.<br />

29 Es ist interessant zu beobachten, daß die meisten KritikerInnen, die die mangelnde<br />

Authentizität der Sambaschulen heute beklagen, auch die Vielzahl der Sambakomponisten pro<br />

Samba als Verfälschung verurteilen.


36<br />

MusikerInnen, auf dem Weg der Professionalisierung das bestehende System<br />

der Rassendiskriminierung zu durchbrechen. Plattenaufnahmen und Radio<br />

boten berufliche Alternativen, wo sie sich, verglichen mit anderen<br />

Arbeitsbereichen, relativ leicht etablieren konnten. Doch auch in dieser neuen<br />

Nische blieb die ökonomische Diskriminierung wie auch in den Bereichen Kunst,<br />

Show, Sport, Militär und Kirche, in denen sich die Schwarzen einen Platz erobert<br />

hatten, unvermindert erhalten bzw. trat noch stärker hervor (vgl. dazu Lopes<br />

1981). Der soziale Aufstieg blieb Utopie. Ebenso blieb den Frauen der Einstieg<br />

in dieses Metier verwehrt, was natürlich auch daran lag, daß sie im Rahmen der<br />

Sambaschulen nicht zur Teilnahme am musikalisch kreativen Teil zugelassen<br />

wurden: die einzigen bekannten Komponistinnen sind Zilda do Zé und Ivone<br />

Lara. Sie war mit dem Sohn des Präsidenten der Sambaschule Prazer da<br />

Serrinha verheiratet und jahrelang porta-bandeira, mußte aber ihre<br />

Kompositionen von ihren Cousins in die quadra der Nachfolgesambaschule<br />

Império Serrano bringen lassen und wurde erst 1965 als erste Frau in die ala<br />

dos compositores, der Gruppe der KomponistInnen aufgenommen (vgl. Teixeira<br />

Valença 1981: 114). Abgesehen von diesen Ausnahmen blieb der Einfluß<br />

schwarzer Frauen auf den re-produzierenden Aspekt der Sambaindustrie<br />

beschränkt.<br />

Wir nähern uns nun dem dritten Grund (neben Kontrolle und Erschaffung einer<br />

Nationalkultur), aus dem es sich für die Oberschicht auszahlte, den Samba zu<br />

fördern: dem ökonomischen. Abgesehen von den Tonstudios verdienten die<br />

SängerInnen, die Stars der Goldenen Radioära, auf Kosten der<br />

SambakomponistInnen. Als Beispiel soll hier Ismael Silva bemüht werden. Der<br />

Mitbegründer der ersten Sambaschule Deixa Falar, der auch rei do Estácio<br />

(König von Estácio), professor de samba (Professor des Samba) und pai do<br />

samba carnavalesco (Vater des Karnevalssamba) genannt wurde, geboren<br />

1905 oder 1906, frequentierte zur gleichen Zeit den Kreis der sambistas in<br />

Estácio und die Kreise der Bohemiens im Zentrum der Stadt. Dort lernte er den<br />

Sänger Francisco Alves kennen, mit dem er sein Leben lang verbunden sein<br />

sollte. Ismaels Sambas wurden nie von der Deixa Falar gesungen, da er bereits<br />

professioneller Komponist war. Alves bot ihm eine Partnerschaft an, bei der er<br />

Silvas Kompositionen aufnahm im Tausch gegen das Aufscheinen seines<br />

Namens als Co-Autor. Besonders in Krisenzeiten (1935 – 36 Gefängnis wegen<br />

versuchten vorsätzlichen Totschlags, 40er und 50er Jahre Arbeitslosigkeit,<br />

starke Konkurrenz durch die importierte amerikanische Musik) "half" er Ismael


37<br />

aus, wobei er dann ab und zu vergaß, Ismael überhaupt als Autor zu erwähnen<br />

und auf Exklusivität bestand (vgl. Mello Soares 1985).<br />

Trotzdem konnte Ismael sich noch glücklich schätzen, viele seiner Kollegen<br />

wurden einfach mit einem Trinkgeld abgespeist, und ihr Name schien nirgends<br />

auf, weshalb sie überhaupt keine Einnahmen aus den Autorenrechten hatten.<br />

Doch auch die Mitglieder der SBTA (Sociedade Brasileira de Autores Teatrais),<br />

die 1920 gegründet worden war, konnten kaum mit großen Summen rechnen,<br />

der Löwenanteil ging an die Tonstudios, Partiturendruckereien und die SBTA<br />

selbst, für die Komponisten blieben nur ca. 20% des Gewinns, und auch das<br />

entzog sich meist ihrer Kontrolle. Auch die Nachfolgeorganisationen UBC (União<br />

Brasileira de Compositores), gegründet 1944, und SBACEM (Sociedade<br />

Brasileira de Autores, Compositores e Editores de Música), gegründet 1946<br />

verbesserten die Stellung der Komponisten nur unwesentlich (vgl. dazu Mello<br />

Soares 1985).<br />

Wenden wir uns nun wieder den Sambaschulen im Speziellen zu. Der erste<br />

samba-enredo wurde erst im Jahr 1956 auf Platte aufgenommen. 1967 wurde<br />

zwischen der Associação das Escolas de Samba da Guanabara30 AESEG und<br />

der Firma Top Tape ein Abkommen geschlossen, das 1968 die erste LP mit den<br />

sambas-enredo der Sambaschulen der Ersten Gruppe ermöglichte. Ab 1970<br />

erschien die Platte jährlich unter dem Siegel der AESEG. Der samba-enredo<br />

eroberte definitiv die Ballsäle und wurde zur größten Quelle der Autorenrechte<br />

des ganzen Karnevalsfestes (vgl. Moura 1986: 34). Der interne Wettstreit um<br />

den besten samba-enredo bekam eine neue Dimension: "Die Zeiten, in denen<br />

ein Komponist seinen Samba elegant aus dem Wettbewerb zurückzog, da er<br />

erkannte, daß ein Konkurrent mehr Inspiration hatte, waren endgültig vorbei.<br />

Samba-enredo wurde ein Kriegsanlaß, gegründet auf die Daten, die von der<br />

SDDA verbreitet wurden, dem Organ, das damals die Autorenrechte<br />

kontrollierte." (Moura 1986: 40). Ebenfalls in den 70er Jahren begannen<br />

professionelle Komponisten, sich dem Geschäft des samba-enredo anzunähern.<br />

1975 erreichte die Kommerzialisierung einen Höhepunkt, als auch<br />

Plattenaufnahmen von sambas gemacht wurden, die beim internen Wettstreit<br />

verloren hatten und traditionellerweise nicht mehr gespielt werden dürften.<br />

Heute hat die LP mit den sambas-enredo der Spezialgruppe, produziert und<br />

30 Die Stadt Rio de Janeiro gehörte zum Bundesstaat Guanabara, bis dieser 1975 in den<br />

Bundesstaat Rio de Janeiro eingegliedert und die Stadt Rio de Janeiro zur Hauptstadt des<br />

Bundesstaates wurde.


38<br />

vertrieben von der Liga das Escolas de Samba LIESA mehr als 1 Million<br />

Auflage. Wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, soll im folgenden<br />

Kapitel untersucht werden.


39<br />

4. KOMPOSITION IN SCHWARZ-WEISS<br />

4.1. Invasion der weißen Mittelschicht<br />

Bis in die 60er Jahre beschränkte sich das Interesse der Mittelschicht von Rio<br />

de Janeiro an den Sambaschulen meist auf die Zeit des Karnevals bzw. auf<br />

einen Besuch der Sambaschulen kurz vorher. Für sie waren die Sambaschulen<br />

eine Art Club der Schwarzen, zu dem man sich aber im Gegensatz zu den<br />

elitären Clubs der Weißen durch das Zahlen des Eintrittspreises Zugang<br />

verschaffen konnte (vgl. Harris 1950). Abgesehen von den bereits erwähnten<br />

Allianzen mit finanziell oder politisch potenten Personen waren Reiche und<br />

damit Weiße sowohl in der Organisation als auch bei den desfiles der<br />

Sambaschulen kaum präsent. "[…] zu dieser Zeit war die Sambaschule eine<br />

radikalere Sache. […] Für einen weißen Buben eine Sambaschule zu<br />

besuchen… nicht daß ein Rassismus existiert hätte. Aber… die Leute mit<br />

Wurzeln in der Sambaschule mochten es nicht besonders. Es war eine Person<br />

oder zwei. Und ich hatte keine Wurzel im Samba." (E7), kommentiert Alexandre<br />

Louzada, der Karriere in den Sambaschulen machen sollte, seine<br />

Kindheitserlebnisse31 .<br />

Auf ideologischer Ebene hingegen hatten sich die sambistas nicht nur angepaßt,<br />

sondern hatte die dominante Gesellschaft bald nach der Gründung der<br />

Sambaschulen massiv eingegriffen, indem sie 1937 vorschrieb, daß nur<br />

Themen in Zusammenhang mit der brasilianischen Geschichte, um nicht zu<br />

sagen der Geschichte der Herrschenden, präsentiert werden durften (vgl. Tupy<br />

1985: 96). Im Gegensatz zu den ersten von den Sambaschulen vorgestellten<br />

Sambas, die mit kurzen, einfachen Texten und Improvisationen die soziale<br />

Realität der sambistas beschrieben hatten, besaßen die thematisch<br />

gebundenen Sambas nichts mehr von der ursprünglichen Spontaneität. Der<br />

samba-enredo etablierte sich, das heißt, der Samba beschrieb ein Thema, das<br />

von der Sambaschule im Karneval präsentiert wurde. Die Komponisten<br />

gestalteten ihre Texte immer länger und komplizierter, um zu beweisen, daß sie<br />

fähig waren, das "Niveau" der Kultur der Weißen zu erreichen, die nun im<br />

Mittelpunkt der enredos stand (vgl. Teixeira Valença 1983: 41). Die<br />

Rassenthematik wurde zwar mit Blick auf die Vergangenheit im Sinn<br />

31 Der Hinweis auf den angeblich nicht vorhandenen Rassismus ist symptomatisch für die<br />

Kontaktsituation von Weißen und Schwarzen in Brasilien. Für einen Exkurs zur speziellen<br />

Ausformung des brasilianischen Rassismus s. Kapitel 4.3.


40<br />

Herr/Weißer und Sklave/Schwarzer nicht ausgeklammert, doch sie wurde<br />

jeweils durch eine/n weiße/n HeldIn (z.B. Castro Alves, Prinzessin Isabel)<br />

erörtert und vermittelt (vgl. de Castro Cavalcanti 1989: 9).<br />

Nachdem das Genre Samba von der brasilianischen Mittel- und Oberschicht<br />

anerkannt und in ein Nationalgut umdefiniert worden war, begann sie sich<br />

verstärkt für die Sambaschulen zu interessieren. Das Schlüsselelement des<br />

Eintritts der Weißen in die Sambaschulen ist die Figur des carnavalesco. Die<br />

Sambaschule Salgueiro engagierte den an der Universität ausgebildeten<br />

Bildhauer Fernando Pamplona, um "den nächsten Karneval zu machen" (vgl.<br />

Rodrigues 1984: 44). Das bedeutete, daß die gesamte künstlerische Konzeption<br />

und die Ausführung der Präsentation des nächsten Jahres in die Hände einer<br />

Person, die nicht aus der comunidade kam, gelegt wurden: der carnavalesco<br />

bestimmt den enredo, nimmt Einfluß auf den samba-enredo, zeichnet die<br />

Kostüme, entwirft die carros alegóricos, beaufsichtigt die Herstellung der<br />

Kostüme und die Montage der carros und hat auch bei allen Angelegenheiten<br />

ein Mitspracherecht. Pamplona legte naturgemäß sein Hauptaugenmerk auf die<br />

visuelle Komponente und hatte damit großen Erfolg bei der Jury – "Schließlich<br />

identifizierten sich die Juroren zum ersten Mal mit ihren eigenen kulturellen<br />

Werten, ihrer sozialen Realität, ihrem eigenen Konzept von »gutem<br />

Geschmack«." (Rodrigues 1984: 47), und andere Sambaschulen folgten dem<br />

Beispiel des Salgueiro. Pamplona hatte einen Arbeitsmarkt für Spezialisten aus<br />

der weißen Mittelschicht geöffnet, und diese Spezialisten wurden im Gegensatz<br />

zu allen anderen von der Sambaschule Beschäftigten fürstlich bezahlt.<br />

Gleichzeitig mit dem Auftreten der carnavalescos läßt sich eine neue Tendenz<br />

bei den enredos beobachten. Es kam zu dem Paradoxon, daß ein fremdes<br />

Element einer Gruppe einen "authentischen" Diskurs aufsetzte: unter der<br />

künstlerischen Leitung der Weißen wurde plötzlich einer anderen Version der<br />

Rassenthematik Platz gegeben, nämlich der Lobpreisung der Kultur der<br />

Schwarzen, die sich trotz bestehender Konflikte in die Kultur der Weißen<br />

integrierte (vgl. de Castro Cavalanti 1989). Diese Form der Rückbesinnung auf<br />

die eigene Kultur ging also nicht auf einen Bewußtseinsprozeß der<br />

ProtagonistInnen der Sambaschulen zurück, sondern auf eine Initiative der<br />

carnavalescos.<br />

Die Mitwirkung der carnavalescos an den Sambaschulen machte diese sofort<br />

gesellschaftsfähig. Als Arlindo Rodrigues, Mitarbeiter von Pamplona, 1964


41<br />

Isabel Valença, gekleidet mit ihrem Sambaschulkostüm aus dem Vorjahr, in den<br />

Vorraum des Stadttheaters mitnahm, wo jährlich ein Luxuskostümwettbewerb<br />

stattfand, an dem nur Weiße teilnehmen durften, wurde sie auf Wunsch des<br />

anwesenden Gouverneurs des Staates von Guanabara, Carlos Lacerda,<br />

hereingebeten und gewann den 1. Preis. Nun waren auch die Sambaschulen in<br />

den Schoß der Nationalkultur aufgenommen, woran sich die sambistas erst<br />

gewöhnen mußten. Soninha, ehemalige porta-bandeira, berichtete von einem<br />

Erlebnis an ihrem Arbeitsplatz: "Mein Vater erzählte: »Wenn wir gesagt hätten,<br />

daß wir sambistas sind, hätten wir keine Arbeit bekommen«. Bei meiner ersten<br />

Anstellung, am Tag, als der Chef zu mir kam und sagte: »Sie waren schön auf<br />

der Avenida«, fiel ich fast in Ohnmacht, ich sagte mir: »Das war’s, er wird mich<br />

rausschmeißen, weil er herausgefunden hat, daß ich sambista bin«, hahaha."<br />

(E8).<br />

Die Betonung des "visuellen" Karnevals durch die carnavalescos, die neuen<br />

künstlerischen Leiter, hatte nicht nur ästhetische Auswirkungen, sondern auch<br />

politische: um den gewünschten Effekt bei der Präsentation der Sambaschulen<br />

zu erzielen, mußten Massen aufgeboten werden, die nicht aus den<br />

comunidades allein rekrutiert werden konnten. Da die carnavalescos binnen<br />

kurzer Zeit unentbehrlich für die Sambaschulen geworden waren und daher eine<br />

der machtvollsten Positionen besetzten, stellte es für sie kein Problem dar, den<br />

Zutritt für Personen, die nicht aus dem Sambamilieu stammten, sogenannten<br />

sambeiros, zu öffnen. Das gelang umso leichter, da die Sambaschulen ihrerseits<br />

schon längst Kontakte geknüpft hatten und einer Beteiligung von<br />

Mittelschichtangehörigen durchaus positiv gegenüberstanden. "Sambeiros,<br />

then, with their special ideas of the samba, samba schools, and carnival, have<br />

become an important channel through which ressources are directed to<br />

sambistas, their institutions, and their art. […] Sambeiros, as administrators,<br />

organizers, and opportunists are welcomed by most sambistas necessary to<br />

provide the numbers believed to impress the official carnaval judges." (Taylor<br />

1982: 308). Nachdem die herrschende Gesellschaft von Anfang an indirekt über<br />

das Reglement der desfiles in die Sambaschulen eingegriffen hatte, war nun der<br />

Weg für die direkte, personelle Intervention geebnet.


4.2. Der Kern bekommt Sprünge<br />

42<br />

Die ensaios, die früher Übungsabende für die Vorbereitung des desfile im<br />

Karneval gewesen waren, entwickelten sich zu Bällen, an denen bald<br />

mindestens so viele Menschen aus der Südzone von Rio de Janeiro teilnahmen<br />

wie BewohnerInnen der Vorstadtbezirke. Die Sambaschulen konnten ihre<br />

Einnahmen auf diese Weise um ein Vielfaches steigern, doch der<br />

Massenandrang vergnügungssüchtiger ZuschauerInnen nahm derart Überhand,<br />

daß die Wochenenden in der Regel ganz den BesucherInnen überlassen<br />

wurden und die tatsächlichen Proben auf einen Wochentag verlegt werden<br />

mußten. Um die neuen Menschenmengen aufnehmen zu können,<br />

verschuldeten sich die Sambaschulen und bauten größere quadras, also<br />

Stammquartiere mit den Ausmaßen von wahren Tanzpalästen. Die früher so<br />

persönlichen Kontakte konnten nicht auf alle neuen BesucherInnen der<br />

Sambaschulen ausgedehnt werden, deren Anwesenheit durch Fragmentierung<br />

und Fluktuation gekennzeichnet war (vgl. Rodrigues 1984: 81ff.).<br />

Die Mittelschichtangehörigen begnügten sich nicht lange mit ihrer Rolle als<br />

ZuschauerInnen und Verstärkung der Sambaschulen. "Wenn eine Sambaschule<br />

wichtig wird aufgrund der Anzahl ihrer Mitglieder und des Umfangs ihrer<br />

Ressourcen, dann entgleitet die Direktion den Händen der alten Gründer und<br />

ihrer Verwandtschaft, um in die Macht der »Doktoren« und der<br />

»Geschäftsleute« zu fallen..." (Pereira de Queiroz 1985: 15). Im Tausch gegen<br />

weiteren Prestigegewinn und zusätzliche Kanäle zu Geld und politischer Macht<br />

wurden die administrativen Führungspositionen an die neuen Liebhaber der<br />

Sambaschulen vergeben, ohne besonderen Protest bei der comunidade<br />

hervorzurufen, wie zum Beispiel Soninha, porta-bandeira der Mocidade<br />

Independente de Padre Miguel, über ihre Sambaschule erzählte: "Die Mocidade<br />

hatte den ersten weißen Mann, er war ein Freund der Mocidade Independente,<br />

ein Herr, zum Glück ist er noch unter uns, Olímpio Correa, o Gaúcho. Gaúcho<br />

wurde 1973 von meinem Vater zur Mocidade gebracht, der sein Auto repariert<br />

hatte, er lud ihn in die Sambaschule ein. Und zu dieser Zeit gab es einen<br />

fürchterlichen Streit, weil niemand einen weißen Mann an der Spitze der<br />

Sambaschule haben wollte. Aber Dank Gaúcho und der Hilfe von Dr. Gardel,<br />

dieser Mann war Jurist und half den sambistas sehr. […] mit der Hilfe dieser<br />

Herren kaufte die Mocidade diese ersten Grundstücke, wo sie die Sambaschule<br />

begannen." (E8).


43<br />

Es kam zu einer Aufgabenteilung innerhalb der Sambaschulen, die die<br />

gesamtgesellschaftliche Machtverteilung reproduzierte: "Den Schwarzen obliegt<br />

der technische Teil, das eigentliche Samba tanzen; den Weißen die Leitung, die<br />

Kontrolle. Durch die Verstärkung des Stereotyps der Überlegenheit des<br />

Schwarzen bei bestimmten Aktivitäten verlieh die dominante Gruppe der bereits<br />

erwähnten Kompensationsideologie Nachdruck." (Rodrigues 1984: 11). Die<br />

ursprüngliche Intention der Sambaschulangehörigen erfuhr eine Umkehrung, die<br />

desfiles "werden Schritt für Schritt von Personen, die seiner [des sambista]<br />

sozialen Realität und seiner »rassischen« Identität fremd sind, programmiert,<br />

wobei den Schwarzen der schwere Teil der Ausführung der Projekte und die<br />

effektive Masse, die am desfile teilnimmt und der Sambaschule dabei Körper<br />

verleiht, bleiben." (Rodrigues 1984: 42).<br />

Daß es in einer solchen Situation zu Konflikten beim Kontakt zwischen der<br />

schwarzen Vorstadtbevölkerung und den weißen Mittelschichtangehörigen<br />

kommt, würde sich von selbst verstehen. Beide Gruppen negieren jedoch das<br />

Vorhandensein jeder Form von Rassendiskriminierung, sie argumentieren beide<br />

mit der Ideologie der "Rassendemokratie Brasilien", obwohl in den<br />

Sambaschulen zwei völlig unterschiedliche soziale Realitäten<br />

aufeinandertreffen, und verhindern so einen Ausbruch dieser explosiven<br />

Konstellation (vgl. Rodrigues 1984: 107ff.).<br />

Sowohl die Gefühle der Ablehnung, die das Rassenvorurteil charakterisieren,<br />

als auch die wirkliche Absicht hinter der "Weißmachung" solcher Feste, ihrer<br />

kommerziellen Ausbeutung und ihrer Integration in eine Nationalkultur bleiben<br />

trotz geschickter Tarnung den Schwarzen nicht verborgen, doch ihr kritisches<br />

Bewußtsein "[…] scheint nur sporadisch und versteckt über individuelle<br />

Erfahrungen auf, die ihm das Charakteristikum eines ausbrechenden Kampfes<br />

einer dominierten Gruppe nehmen." (Rodrigues 1984: 109). Da die Schwarzen<br />

aufgrund der speziellen Ausformung des brasilianischen Rassismus keine<br />

Gruppenidentität entwickelten, gelingt es den Einzelnen nicht zu bemerken, daß<br />

die Ausbeutung nicht nur sie individuell betrifft. Der Fatalismus gegenüber den<br />

bestehenden Machtverhältnissen, der das Verhalten der diskriminierten<br />

Bevölkerung auch außerhalb der Sambaschulen bestimmt, wird von der<br />

herrschenden Gesellschaftsschicht ausgenützt (vgl. Rodrigues 1984: 110ff.).


4.3. Rassismus Marke Brasilien<br />

O índio deu a Terra Grande Der Indio gab das Große Land<br />

O negro trouxe a noite na cor Der Schwarze brachte die Nacht in seiner Farbe<br />

O branco a gargalhada Der Weiße das Gelächter<br />

E todos traziam amor Und alle brachten Liebe<br />

Tinham encontro marcado Sie hatten ein festgelegtes Zusammentreffen<br />

pra fazer uma nação. Um eine Nation zu erschaffen.<br />

44<br />

samba-enredo 1972 der Sambaschule Imperatriz Leopoldinense<br />

Werfen wir vor dem Hintergrund dieser Ausführungen einen Blick auf die<br />

Entstehungsgeschichte und die Funktionsweise des Rassismus in Brasilien, der<br />

das geschilderte Szenario ermöglicht.<br />

Da Matta widerspricht in seinem Essay über Rassismus der auch im deutschen<br />

Sprachraum gern zitierten These von Gilberto Freyre32 , wonach der Kontakt der<br />

Portugiesen mit den Mauren in Portugal den nationalen Charakter für eine<br />

offene und gleichwertige Interaktion mit Indios und Schwarzen in Brasilien<br />

prädisponierte. Die portugiesische Gesellschaft war im Gegenteil zur<br />

Kolonialzeit extrem hierarchisch strukturiert und in sozialer Segregation geübt.<br />

Die Unabhängigkeit Brasiliens konfrontierte die nationale und lokale Elite mit der<br />

"[…] Notwendigkeit, ihre eigenen Ideologien und Rationalisierungsmechanismen<br />

für die internen Differenzen des Landes zu erschaffen" (da Matta1984: 68).<br />

Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 orientierte sich die Elite<br />

Brasiliens, das vor der industriellen Revolution stand und Hilfe aus Europa<br />

notwendig hatte, an den rassistischen Ideen, die in Europa in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts entstanden und deren Vertreter mehrheitlich<br />

Rassenmischung mit Degeneration der in ihren Augen überlegenen weißen<br />

Rasse gleichsetzten.<br />

Diese Theorien stellten Brasilien allerdings vor ein großes Dilemma: die<br />

Bevölkerung war bereits "vermischt". Die nationalen Rassentheoretiker<br />

propagierten also das "branqueamento", die "Weißwerdung" der brasilianischen<br />

Gesellschaft durch zukünftige Vermischung mit Weißen als Lösung für die<br />

Probleme Brasiliens, die durch die "Degeneration" verursacht worden waren<br />

(vgl. Mattos da Matta 1981: 37 ff.). In diesem Sinne wurde 1890 ein Dekret<br />

erlassen, das allen arbeitsfähigen Menschen außer AsiatInnen oder<br />

AfrikanerInnen freien Eintritt in Brasilien gewährte. Bis in die Ära des<br />

32 Freyre, Gilberto: Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft,<br />

München 1990 (1982).


45<br />

Präsidenten Vargas (1930 – 1945) stand die Politik Brasiliens im Zeichen der<br />

Anregung der europäischen Einwanderung, um "die vorteilhaften Charakteristika<br />

in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zu wahren und<br />

weiterzuentwickeln" (vgl. Hofbauer 1989).<br />

Gleichzeitig wurde die Existenz eines Rassismus in Brasilien negiert, was da<br />

Matta die "Fabel von den drei Rassen" nennt. Das Bild vom "Rassendreieck"<br />

Brasiliens, bestehend aus Schwarzen, Weißen und Indios, verhindert eine<br />

historische und soziale Sicht der Entstehung der brasilianischen Gesellschaft.<br />

"Daß die drei sozialen Elemente – weiß, schwarz und indigen – für uns wichtig<br />

waren, ist offensichtlich, da sich die Bestätigung oder Entdeckung dessen quasi<br />

auf eine empirische Banalität gründen. [...] Aber es gibt einen signifikanten<br />

Unterschied zwischen der empirischen Präsenz der Elemente und ihrem<br />

Gebrauch als ideologische Faktoren bei der Konstruktion der sozialen Identität,<br />

wie es das im brasilianischen Fall war." (da Matta 1984: 62f.). Der Mythos von<br />

der "Rassendemokratie" ist eine subtile Form, die tatsächlich existierende<br />

extreme Hierarchisierung der Gesellschaft und die soziale Diskriminierung der<br />

Schwarzen, Indios und Mulatten zu verstecken. Es war in Brasilien "[…] nicht<br />

notwendig, den Mestizen, den Mulatten, den Indio und den Schwarzen<br />

abzusondern, da die Hierarchien die Überlegenheit des Weißen als dominante<br />

Gruppe garantieren." (a.a.O.: 75). Voraussetzung für ein solches System ist das<br />

Vertrauen darauf, daß jede/r innerhalb desselben ganz genau weiß, wo sein<br />

Platz ist.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Abrücken der brasilianischen Elite von den<br />

europäischen Rassismustheorien zu bemerken, die Theorie des<br />

"branqueamento" wurde als diskriminierend abgetan und das Bild von der<br />

"Rassendemokratie Brasilien" weiter kultiviert, um damit die "moralische"<br />

Überlegenheit Brasiliens gegenüber den sogenannten entwickelten Ländern<br />

unterstreichen zu können (vgl. Mattos da Matta 1981: 59 ff.).<br />

Nach 1950 deckte eine neue WissenschafterInnengeneration in Brasilien den<br />

Nutzen des Mythos von der Rassendemokratie für die dominante<br />

Gesellschaftsschicht auf: die weiße Bevölkerung hat sich der Verantwortung für<br />

die ehemaligen SklavInnen enthoben; die Schwarzen scheinen selbst für ihre<br />

ökonomische und soziale Situation verantwortlich; und die BrasilianerInnen<br />

haben ein verzerrtes Bild von der Realität in Brasilien, das die Entwicklung einer<br />

tatsächlich demokratischen Sozialordnung verhinderte (vgl. a.a.O.: 62).


46<br />

Die Verleugnung des Vorhandenseins eines Rassismus erlaubt die<br />

Klassifikation zwischen Weißen und Schwarzen anhand einer unbegrenzten<br />

Anzahl von anderen Kriterien, von denen die Hautfarbe am häufigsten<br />

gebraucht wird. Diese Form der Diskriminierung aufgrund des Aussehens<br />

unterscheidet sich grundlegend vom System der Diskriminierung aufgrund der<br />

Herkunft, wie es zum Beispiel in den USA praktiziert wird, wie Alvim 1955 in<br />

einer Übersicht zusammengefaßt hat33 . Rassendiskriminierung in den USA<br />

basierte auf rigider Segregation, die zwischenmenschliche Beziehungen<br />

zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen verbot und sozialen Aufstieg<br />

der Diskriminierten unabhängig von ihren persönlichen Konditionen (mit<br />

Ausnahme weniger Sektoren wie Sport, Musik und Kirche) verunmöglichte. Das<br />

Bewußtsein über das Vorhandensein des Vorurteils war permanent und führte<br />

zur Ausbildung einer Gruppensolidarität und zu kollektiven Reaktionen. Die<br />

Ideale des brasilianischen Systems hingegen sind kulturelle Assimilation und<br />

"branqueamento", zwischenmenschliche Beziehungen zwischen den Gruppen<br />

sind also erwünscht, die Gruppenzugehörigkeit ist nicht streng definiert, sozialer<br />

Aufstieg ist indirekt proportional zur Intensität der Merkmale der diskriminierten<br />

Gruppe oder durch Kompensation der Merkmale durch spezielle Fähigkeiten<br />

möglich. Das Bewußtsein über das Vorhandensein des Vorurteils setzt teilweise<br />

aus bzw. versuchen die Angehörigen der diskriminierten Gruppe, es individuell<br />

zu überwinden (vgl. Alvim 1955).<br />

Im brasilianischen Portugiesisch finden sich wegen dieses Vorurteils aufgrund<br />

des Aussehens unzählige Bezeichnungen für die Hautfarbe34 , deren Zuordnung<br />

auffallend flexibel und subjektiv vorgenommen wird (vgl. Harris 1950: 113). So<br />

wird zum Beispiel ein höherer sozio-ökonomischer Status mit einer helleren<br />

Hautfarbe gleichgesetzt, das heißt Geld und Erfolg "bleichen aus", und vice<br />

versa. Diese diffizile Form der Zuordnung lenkt das Potential kollektiver<br />

Aktionen der Schwarzen auf die individuelle Hoffnung auf sozialen Aufstieg um,<br />

in ihr ist der Hauptgrund für das Fehlen einer Widerstandsbewegung der<br />

Schwarzen wie etwa in den USA zu sehen.<br />

Während die Weißen in den USA ihre offizielle Segregationspolitik aufgeben<br />

mußten und die von Alvim aufgezählten Strategien heute nur mehr teilweise<br />

33 vgl. auch da Matta 1984 und 1989.<br />

34 vgl. Stephens 1989, der auf 113 Seiten die rassische und ethnische Terminologie im<br />

brasilianischen Portugiesisch aufzählt.


47<br />

angewendet werden, hat sich die Situation der Schwarzen in Brasilien kaum<br />

geändert. Die Gespräche, die ich als weiße Frau während meiner Feldforschung<br />

mit Sambaschulangehörigen führte, spiegeln alle die bitteren Erfahrungen mit<br />

der Diskrimination und Hoffnung der Schwarzen auf sozialen Aufstieg durch<br />

Kontakt mit hellhäutigeren Personen wider. So wurde ich mehrmals freundlich<br />

aufgefordert, aus der Sonne zu gehen, um nicht so schwarz wie sie zu werden.<br />

Der Wunsch, mich nach Österreich zu begleiten, war meistens mit der<br />

Bemerkung verbunden, man werde sich weiß waschen, um niemanden zu<br />

erschrecken. Rassistische "Witze" der Art "Ein Schwarzer geht mit einer weißen<br />

Deutschen auf der Straße. Hinter ihm sagt jemand: »Dieser Neger ist wie ein<br />

Straßenköter, nur zur Verunreinigung der Rasse zu gebrauchen« wurden mit<br />

Vorliebe in meiner Gegenwart zum Besten gegeben, um meine Reaktion zu<br />

testen. Die meisten wollten wissen, ob ich einen Freund habe, und viele Männer<br />

signalisierten mir deutlich ihr Interesse an einer näheren Bekanntschaft. Dialoge<br />

wie der folgende wiederholten sich mehrmals fast gleichlautend:<br />

X - "Meine Frau ist fast so hell wie du."<br />

Y - "Meine Freundin ist auch dunkel [also nicht schwarz, Anm. der Verf.]. Ich<br />

weiß nicht, mit Schwarzen hat es nie geklappt."<br />

X - "Genau."<br />

ich - "Woran liegt das?"<br />

X - "An nichts, es ist so, schwarze Männer mögen weiße Frauen, weiße Männer<br />

dunkle Frauen, und dunkle Männer mögen schwarze Frauen... es bringt ja auch<br />

nichts, ein Schwarzer mit einer Schwarzen."<br />

Y - "Ja, sonst bleibt es immer dasselbe."


5. POLITIK <strong>UND</strong> SAMBA SIND WIE WASSER <strong>UND</strong> ÖL 35<br />

48<br />

5.1. Domestikation der urbanen Masse<br />

"Politik und Samba sind wie Wasser und Öl" (E8) – mit diesem Ausspruch<br />

versinnbildlichte Soninha, porta-bandeira der Mocidade, den Zusammenhang<br />

zwischen Samba und Politik: Die beiden vermischen sich ständig, bilden aber<br />

doch keine Einheit. Tatsächlich besteht seit ihrer Entstehung ein Interesse der<br />

Politik an den Sambaschulen, das sich in Vereinnahmung und Kontrolle dieser<br />

Organisationen und ihrer Mitglieder äußerte. Da sich der Samba nicht ausrotten<br />

ließ, machte ihn sich die herrschende Gesellschaftsschicht zu eigen. "Wenn der<br />

Samba früher von der Polizei verfolgt und als »Sache der Marginalisierten«<br />

angesehen wurde, wird er heute vom Staat unterstützt, aber kontrolliert." (Zaluar<br />

1986: 41).<br />

Die Sambaschulen mußten für ihre Popularität einen hohen Preis bezahlen: "Es<br />

scheint, als hätte das kapitalistische System gelernt, die Subkultur der<br />

Unterdrückten zu nützen: Sie wird populär gemacht, verbreitet und schließlich –<br />

unter Aufrechterhaltung der rassistisch begründeten Grundstrukturen – in die<br />

Nationalkultur integriert, wodurch allerdings auch die ihnen ursprünglich<br />

inhärente Ausdruckskraft, ihr Widerstandscharakter gedämpft wird." (Hofbauer<br />

1989: 36). Wenn die Sambaschule also auf den ersten Blick wie eine Form des<br />

Widerstandes aussieht, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß sie im<br />

Gegenteil durch die Übernahme der Wertvorstellungen der herrschenden<br />

Schichte (die keineswegs nur unfreiwillig und unbewußt vor sich ging) zur<br />

Bestätigung deren Dominanz beitrug.<br />

Es geht jedoch nicht nur um kulturelle Hegemonie36 . "So sieht man, wie die<br />

Bemühungen der desorganisierten Masse der unteren Schichten im Versuch,<br />

selbst Struktur und Formen von Soziabilität herzustellen, die mit einer immer<br />

komplexeren urbanen Gesellschaft vereinbar sind, und die Vorgehensweise der<br />

höheren Schichten, die sich der Gefahr bewußt sind, die von der Zahl und der<br />

Quantität der weniger Reichen repräsentiert wird, im Versuch, sie zu<br />

domestizieren über den Weg der Verwertung von spontan geformten<br />

35Zitat von Soninha, porta-bandeira der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel<br />

(E8).<br />

36vgl. dazu Gramscis Hegemoniekonzept, das er im Zuge seiner Analyse des<br />

italienischenEinigungsprozesses im 19. Jahrhundert entwickelte, in Gramsci, Antonio:<br />

Gefängnishefte, Bd. 3. Hamburg 1991.


49<br />

Organisationen, zeitlich übereinstimmen. Indem man die Bewohner des<br />

Vorstadtbezirkes im genau kontrollierten Netz der Sambaschulen umschließt,<br />

würde es möglich sein zu verhindern, daß sie gänzlich in die Situation von<br />

»gefährlichen Klassen« abgleiten, und sie so stark wie möglich im harmlosen<br />

Zustand von »Arbeiterklassen« zu belassen." (Pereira de Queiroz 1985: 30).<br />

Pereira de Queiroz begreift die Sambaschulen als einen mächtigen "Faktor der<br />

Integration der gewalttätigen Vorstadtbezirke in die nationale Gesellschaft"<br />

(a.a.O. 1985: 29). Nicht die Reichen sind die Gegner einer Sambaschule,<br />

sondern die anderen Sambaschulen. Diese Rivalität führt zur Solidarität der<br />

unterschiedlich bemittelten Bevölkerung innerhalb eines Vorstadtbezirkes, aber<br />

gleichzeitig auch zur Dissoziation aller Vorstadtbezirke. "Der wilde Kampf, der<br />

sich zwischen ihnen [den Sambaschulen] im Moment des Festes entfesselt und<br />

der, etwas gemildert, während des ganzen Jahres beibehalten wird, bildet<br />

Unterstützung und Garantie für das Fortdauern der momentanen Gesellschaft."<br />

(a.a.O. 1985: 34).<br />

Als sichtbares Bindeglieder zwischen den Vorstadtbezirken und der Südzone,<br />

dem Sitz der reicheren Bevölkerung, fungieren berühmte Persönlichkeiten, die<br />

im Rahmen einer Sambaschule am desfile mitwirken. Daß sich die Begeisterung<br />

vieler sambistas für eine solche Beteiligung in Grenzen hält, ist leicht<br />

verständlich.<br />

Die zunehmende politische Kontrolle, der die Sambaschulen ausgesetzt waren,<br />

soll in den folgenden Kapiteln nachgezeichnet werden.


5.2. Populismus und Samba<br />

50<br />

Die 30er und 40er Jahre Brasiliens sind politisch eng mit dem Namen Getúlio<br />

Vargas verknüpft, und auch das Schicksal der Sambaschulen steht in<br />

Zusammenhang mit diesem Präsidenten. Präsident Vargas kam 1930 durch<br />

einen Staatsstreich an die Macht, der das Ende der Alten Republik und damit<br />

offiziell auch das der Macht der Großgrundbesitzer bedeutete. Eine Koalition der<br />

städtischen Mittelschicht mit der städtischen Arbeiterschaft sollte die Führung im<br />

Staat übernehmen. Im Zuge seiner fortschrittlichen Sozialgesetzgebung<br />

gründete Vargas das Ministério do Trabalho, das Arbeitsministerium, und führte<br />

erstmals den salário mínimo, den Mindestlohn ein. Verbunden mit diesen<br />

Maßnahmen war jedoch ein autoritäres System der Herrschaftssicherung, das<br />

1937 in einen neuerlichen Staatsstreich mündete. Vargas ließ die neu<br />

ausgearbeitete Verfassung aufheben, den Kongreß auflösen und alle politischen<br />

Parteien verbieten. Der Estado Novo, ein diktatorisches und zentralistisches<br />

Regime, konnte sich bis 1945 halten, ehe Vargas aufgrund des fortschreitenden<br />

Demokratisierungsprozesses in Lateinamerika vom Militär zum Rücktritt<br />

gezwungen wurde (vgl. Nohlen 1989: 108 und Waldmann 1982: 63).<br />

Die Sambaschulen, seit 15. 1. 1933 in der União das Escolas de Samba do<br />

Brasil UESB organisiert und seit 1935 von der Präfektur unterstützt, entwickelten<br />

sich zu einem wichtigen Kommunikationskanal zwischen Politik und armer<br />

Bevölkerung, und beide Seiten wußten ihn bald zu nutzen. So konnte zum<br />

Beispiel die Sambaschule Azul e Branco 1933 vermitteln, als den 7000<br />

Bewohnern des Morro do Salgueiro die Aussiedelung drohte (vgl. Nosso Século:<br />

14).<br />

Vargas, dessen Führungsstil sich durch eine Mischung aus Paternalismus und<br />

Unterdrückung auszeichnete, strukturierte auch seine Kontakte zu den<br />

Sambaschulen nach diesem Prinzip. Zunächst betrafen die neuen Gesetze<br />

einen Großteil der sambistas und stellten eine tatsächliche Verbesserung für sie<br />

dar, Vargas war und ist bis heute beliebt bei ihnen. "Die bedeutendsten Namen<br />

des Grêmio Recreativo Escola de Samba Império Serrano haben den Hafen von<br />

Rio de Janeiro als Arbeitsplatz. Daß sie Mitglieder der Resistência, dem<br />

organisierten und mächtigen Syndikat der Hafenarbeiter waren, hat sicher die<br />

Auswahl einiger enredos der Sambaschule beeinflußt, wie den von 1951, mit<br />

dem man die Person des brasilianischen Staatsmannes Getúlio Dornelles<br />

Vargas ehren wollte […]" (Teixeira Valença 1981: 43).


51<br />

Vargas sicherte sich aber auch die Unterstützung der sambistas in ihrer<br />

Eigenschaft als MusikerInnen, indem er etwa die Auszahlung der Autorenrechte<br />

gesetzlich regeln ließ, sie 1934 bezüglich der Radioausstrahlung vergrößerte<br />

und 1939 den Dia da Música Popular Brasileira, den Tag der brasilianischen<br />

Volksmusik einführte.<br />

Gleichzeitig übte Vargas von Anfang an über staatliche Organe eine genaue<br />

Kontrolle über die Sambaschulen aus. Nach seiner Machtübernahme im Jahr<br />

1930 war zunächst das Departamento Oficial de Publicidade37 DOP für die<br />

Sambaschulen zuständig. 1934 ging diese Aufgabe an das Departamento de<br />

Propaganda e Difusão Cultural38 über. Der Estado Novo bekommt seinerseits<br />

ein neues Departamento de Propaganda39 DNP. Im selben Jahr 1937 wird eine<br />

Verordnung herausgegeben, die die Sambaschulen dazu verpflichtet, enredo<br />

(Thema) und alegorias (Wägen) "inspiriert" von patriotischer Thematik zu<br />

kreieren. So findet sich ab 1938 der Passus in den Statuten der<br />

Dachorganisation der Sambaschulen UGES, daß enredos von den Fakten und<br />

Gestalten der brasilianischen Geschichte zu handeln haben. Diese massive<br />

Einschränkung, nur wenige Jahre nach der Entstehung der Sambaschulen<br />

beschlossen, gilt bis heute (vgl. Tupy 1985: 96f.)!<br />

Im Jahr 1939 übernahm die Präfektur von Rio de Janeiro die Schirmherrschaft<br />

und die Verantwortung für die Organisation der desfiles. Im selben Jahr, in dem<br />

die Sambaschulen eine neue Dachorganisation gründeten, die União Geral das<br />

Escolas de Samba do Brasil UGESB (Generalunion der Sambaschulen von<br />

Brasilien), wurden sie dem neugegründeten Departamento de Imprensa e<br />

Propaganda40 DIP zur Kontrolle unterstellt, und diesmal bedeutet Kontrolle<br />

gleichzeitig Zensur (a.a.O.: 97).<br />

Mittlerweile hatten die USA wegen der steigenden Identifikation der autoritären<br />

Regimes in Lateinamerika mit dem europäischen Faschismus mit ihrem<br />

"Kreuzzug" für Demokratie begonnen und im Zuge einer<br />

Annäherungskampagne an Brasilien Figuren wie die Sängerin Camem Miranda<br />

und die Comicfigur Zé Carioca berühmt gemacht. 1942 erklärte Brasilien den<br />

Faschisten den Krieg, der Beginn der Untergrabung des Estado Novo.<br />

37 "Offizielle Abteilung für Öffentlichkeit".<br />

38 "Abteilung für Propaganda und kulturelle Verbreitung".<br />

39 "Abteilung für Propaganda".<br />

40 "Abteilung für Presse und Propaganda".


52<br />

Nichtsdestotrotz wurde 1943 die Avenida Presidente Vargas, die Prunkstraße<br />

des Diktators, eröffnet, wodurch der Praça Onze, bisheriges Refugium der<br />

Sambaschulen, nicht nur seine ursprüngliche architektonische Form, sondern<br />

auch seine Bedeutung für den Karneval von Rio de Janeiro verlor. Die Präfektur<br />

beschloß, nur mehr den "wirklich populären" Karneval zu unterstützen und<br />

besiegelte damit den Niedergang der sociedades und der Bälle in den Theatern<br />

und großen Hotels (vgl. Tupy 1985: 99ff.).<br />

Es war kein Zufall, daß die Sambaschulen ihre Rolle als wichtigste<br />

Vertreterinnen des Karnevals mit den sogenannten carnavais de guerra, den<br />

"Kriegskarnevals" in den Jahren 1943 bis 1945 zu spielen begannen. Die<br />

desfiles dieser Jahre, bei denen sich die Sambaschulen für den Krieg und die<br />

Demokratie einsetzten, wurden von der Liga de Defesa Nacional, der Liga der<br />

Nationalen Verteidigung, und der União Nacional dos Estudantes, der<br />

Nationalen Studentenunion unterstützt, die 1944 und 1945 auch die Jury stellten<br />

(vgl. Empresa de Turismo 1991: 200). Im Mai 1945 wurde das DIP aufgelöst.<br />

Wenden wir uns noch einmal den desfiles der Jahre 1941 bis 1947 zu. Die<br />

Siegerin aller sieben Sambaschulwettbewerbe hieß Portela. Portela<br />

perfektionierte den vom Staat eingeforderten Typus des nationalistischen<br />

enredos und feierte mit folgenden Titeln Triumphe:<br />

1941 Dez Anos de Glória ("Zehn Jahre Ruhm"; eine Hommage an Präsident<br />

Vargas)<br />

1942 A Vida do Samba ("Das Leben des Samba"; der Ursprung des Samba und<br />

sein Ansehen im Ausland)<br />

1943 Carnaval de Guerra ("Kriegskarneval")<br />

1944 Motivos Patrióticos ("Patriotische Motive")<br />

1945 Brasil Glorioso ("Ruhmreiches Brasilien")<br />

1946 Alvorada do Novo Mundo ("Morgendämmerung der Neuen Welt")<br />

1947 Honra ao Mérito ("Ehre, wem sie gebührt"; eine Hommage an den<br />

brasilianischen "Vater der Fliegerei", Santos Dumont).<br />

"Die Bedeutung der sieben Siege der Portela von 1941 bis 1947 lag in der<br />

Festigung eines Modells des desfile. Verschieden je nach den Vorbildern jeder<br />

Epoche, Stil jeder Sambaschule und den Regeln des desfile, aber immer mit<br />

enredos, die nationalen, historischen und chauvinistischen Charakter haben."<br />

(Tupy 1985: 109). Wenn auch diese Ausrichtung der thematischen Auswahl im


53<br />

Laufe der Zeit noch modifiziert41 werden sollte, so blieb der "nationalistische"<br />

Paragraph den Statuten der Dachorganisation der Sambaschulen erhalten42 .<br />

Im Zuge der Redemokratisierung Brasiliens zeigten die nun wieder<br />

zugelassenen Parteien verstärktes Interesse an den Sambaschulen. 1946<br />

beispielsweise, im Jahr des "Karnevals des Sieges", entdeckte die Arbeiterpartei<br />

Partido Trabalhista Nacional in Paulo da Portela, einem der<br />

Gründungsmitglieder der Sambaschule Portela, einen charismatischen<br />

Arbeiterführer und übernahm sein "Unterstützungsprogramm" für den Samba<br />

(vgl. dazu Barboza da Silva und Santos 1989: 132). Die Kommunistische Partei<br />

Brasiliens PCB finanzierte über ihre Zeitung Tribuna Popular am 15. November<br />

1946 ein desfile der Sambaschulen und einen Wettbewerb für Botschafter und<br />

Botschafterin des Samba. Als Folge der Teilnahme der UGESB an diesem<br />

desfile, die von der Regierung mit Mißfallen beobachtet wurde, gründete Major<br />

Trotta am 2.1.1947 die Federação Brasileira das Escolas do Samba FBES, um<br />

den Einfluß der PCB (die übrigens noch im selben Jahr verboten wurde) zu<br />

neutralisieren. Die Dissidentenorganisation hatte ihren Sitz bei der Partido<br />

Orientador Trabalhista POT. Die Präfektur unterstützte 1948 nur die FBES, die<br />

der UGES angehörenden Sambaschulen erhielten keine finanzielle Hilfe aus der<br />

öffentlichen Hand.<br />

Im Jahr 1950 wurde die União Cívica das Escolas de Samba von Dissidenten<br />

der UGESB gegründet, sie wurde aber nie vom Departamento de Turismo e<br />

Certames anerkannt und bestand nur zwei Jahre lang. Major Trotta unterstützte<br />

neuerlich die Gründung einer weiteren Dachorganisation durch Dissidenten der<br />

UGESB und der FBES am 7. 9. 1951, die Confederação Brasileira das Escolas<br />

de Samba CBES benannt wurde. Am 5. 3. 1952 schlossen sich die UGESB und<br />

die FBES zur Associação das Escolas de Samba do Brasil AESB zusammen.<br />

Die CBES weigerte sich aber, sich zugunsten einer einzigen Dachorganisation<br />

dieser Fusion anzuschließen, und bestand bis 1980 als höchste offizielle<br />

Repräsentantin aller Sambaschulen aus ganz Brasilien weiter. Die AESB<br />

hingegen änderte ihren Namen bald auf Associação das Escolas de Samba do<br />

Estado da Guanabara AESEG und schränkte damit auch ihr Betätigungsfeld auf<br />

Rio de Janeiro und Umgebung ein. 1965, im Zuge der politischen Fusion im<br />

Staat Rio de Janeiro, wurde der auch heute noch aktuelle Name Associação<br />

41 s. Kapitel 4.3.<br />

42 vgl. dazu Kapitel 5.4., Carta do Samba 1962 und LIESA 1990.


54<br />

das Escolas de Samba da Cidade do Rio de Janeiro AESCRJ gewählt (vgl.<br />

dazu Empresa de Turismo 1991: 178f.). 43<br />

Die Sambaschulen und die Politiker hielten aber nicht nur über ihre<br />

Organisationen Kontakt miteinander. Von ganz entscheidender Wichtigkeit<br />

waren hingegen die persönlichen Kontakte der Einzelpersonen. "Unzählige<br />

Beweise und Dokumente nehmen Bezug auf die wahrhaftigen Transaktionen,<br />

die zwischen Gründern der Sambaschulen und politischen Führern auf<br />

verschiedenen Ebenen, Kandidaten für verschiedene Posten, hohen Beamten<br />

auf der Suche nach Prestige vor sich gingen. Von diesen verlangten die<br />

Gründer der Sambaschulen Verbesserungen und Privilegien für sich gegen eine<br />

bestimmte Anzahl von Stimmen zum Zeitpunkt der Wahlen; und sie bekamen,<br />

was sie wünschten." (Pereira de Queiroz 1985: 21). Auf die Strukturierung<br />

dieser Kontakte soll im nächsten Kapitel eingegangen werden.<br />

43 In den Sekundärquellen sind hierzu unterschiedliche Versionen zu finden.<br />

Souza et alii machen folgende Angaben:<br />

1947 Confederação das Escolas de Samba CBES<br />

1949 Federação das Escolas de Samba FBES<br />

1952 AESB (vgl. Souza et alii 1988: 149f.),<br />

Chinelli wiederum spricht von<br />

1947 Federação das Escolas de Samba FBES<br />

1947 Confederação das Escolas de Samba CBES<br />

1952 AESB (Chinelli 1991: 11).


5.3. Totalitarimus und Samba<br />

55<br />

Die Beziehung PolitikerInnen/potentielle WählerInnen ab Mitte der 60er Jahre<br />

wird von den brasilianischen AutorInnen unter der Bezeichnung clientelismo<br />

político beschrieben. Die PolitikerInnen versuchen, durch ihre Präsenz in einer<br />

bestimmten Region und die Unterstützung der dort lebenden Menschen<br />

Wählerstimmen zu bekommen. Sie wollen möglichst große Loyalität zwischen<br />

sich und den potentiellen WählerInnen aufbauen. Viele von ihnen haben<br />

regelrechte "Büros" für Sozialhilfe und vergrößern damit ihren Einfluß und ihre<br />

Macht im jeweiligen Gebiet. "Es existiert daher ein Interesse der lokalen Führer,<br />

die Tauschbeziehungen zwischen Kandidaten und lokalen Bewohnern nicht<br />

direkt vor sich gehen zu lassen, um ihre Führung zu stärken." (Zaluar 1986: 61).<br />

Damit ihre Strategie Erfolg hat, haben die Aktionen der PolitikerInnen aber ein<br />

wesentliches Merkmal zu tragen: sie müssen von den WählerInnen als<br />

Geschenke verstanden werden. Trotzdem können sich die PolitikerInnen des<br />

Wahlverhaltens ihrer KlientInnen nicht sicher sein, diese agieren bzw. reagieren<br />

völlig unterschiedlich. Die Beziehung PolitikerInnen/KlientInnen kann also als<br />

Tauschprozeß charakterisiert werden, bei dem die Bevölkerung "versucht, den<br />

maximalen Nutzen aus der klientelistischen Beziehung zu ziehen, ohne damit<br />

irgendeine Art von Wahlversprechen zu machen" (Zaluar 1986: 46). Die<br />

Umworbenen wenden sich gemäß dieser Logik oft auch an mehrere<br />

PolitikerInnen gleichzeitig. Die Beziehung wird von den KlientInnen innerhalb<br />

des Freundschaftscodes gedacht, und Freundschaft existiert zwischen<br />

gleichberechtigten Partnern. Die PolitikerInnen befinden sich somit in einer<br />

Zwickmühle: wenn sie von ihren KlientInnen als FreundInnen angesehen<br />

werden, ist es für sie unmöglich, allen Bedürfnissen und Wünschen<br />

nachzukommen; werden sie aber nicht als FreundInnen betrachtet, so sind sie<br />

uninteressant für die Menschen, die sie ansprechen wollen. Erschwerend<br />

kommt hinzu, daß Geld, das aus dem Staatsetat organisiert wird, von den<br />

KlientInnen nicht als Erfolg der PolitikerInnen gewertet wird, es gehört in ihren<br />

Augen ohnehin dem Volk. Um zu beeindrucken, muß die Hilfe möglichst aus<br />

eigener Tasche bezahlt werden – auch das nahezu unmöglich (vgl. Zaluar<br />

1986). Diese Ansicht der KlientInnen zeigt einerseits, daß sie sehr wohl<br />

politisches Bewußtsein haben, andererseits finden wir hier einen der Gründe für<br />

den Erfolg der banqueiros im Karneval44 !<br />

44 vgl. dazu Kapitel 6.2. und 6.3.


56<br />

Wenden wir uns nun der Bedeutung dieses politischen Klientelismus konkret für<br />

die Sambaschulen zu. Es reicht schon lange nicht mehr aus, daß sich die<br />

PolitikerInnen nur für ein Gesichtsbad in die Sambaschulen begeben. Sie<br />

müssen mit konkreten Verbesserungen für die Sambaschulen und ihre<br />

Mitglieder aufwarten können, wie materielle Unterstützung (z.B. neue<br />

Instrumente), finanzielle Unterstützung, oder auch Einflußnahme auf politische<br />

EntscheidungsträgerInnen zugunsten der sambistas (vgl. Zaluar 1986: 45f.).<br />

Das führte zunehmend dazu, daß PolitikerInnen hohe Positionen in den<br />

Sambaschulen einnahmen. Für die PräsidentInnen der Sambaschulen<br />

wiederum gilt es, ihre Organisation zu stärken, um das Interesse der<br />

PolitikerInnen auf sie zu lenken. Feste und andere interne Veranstaltungen<br />

sollen die Sambaschulen für die PolitikerInnen attraktiv machen, der Erfolg beim<br />

desfile der Sambaschulen ist unbedingte Voraussetzung für die Unterstützung<br />

von Seiten der PolitikerInnen (vgl. Zaluar 1986: 59). 45<br />

Neben dem clientelismo político, der vor allem auch von<br />

OppositionspolitikerInnen verfolgt wird, bleiben die Sambaschulen für<br />

prestigeträchtige Aktionen der Regierung interessant. Als Beispiel mag ein<br />

Vorfall aus dem Jahr 1963 dienen: Das Jornal do Brasil veröffentlichte einen<br />

Artikel über die prekäre Raumsituation der Sambaschule Império Serrano. Zwei<br />

Tage später wurden Mano Décio, bekannter Komponist der Império, und Alfredo<br />

Costa, Präsident der Império, vom Gabinete do Secretário de Obras do Rio de<br />

Janeiro, das für die Bautätigkeit in Rio zuständig war, eingeladen. Wenig später<br />

wurden in Absprache mit dem Verantwortlichen für Tourismus Verbesserungen<br />

auf dem Gelände durchgeführt, wo die ensaios der Império Serrano stattfanden.<br />

Die Sambaschule bedankte sich öffentlich mit ihrem enredo "Rio de Ontem e de<br />

Hoje" ("Rio gestern und heute"), der ein Lob für die Regierung beinhaltete (vgl.<br />

Teixeira Valença 1981: 65).<br />

Die Sambaschulen waren mittlerweile so prominent, daß sie sogar internationale<br />

Aufmerksamkeit auf sich zogen. 1960 stellte die Sambaschule Império Serrano<br />

vor dem Karneval ihren enredo "Retirada da Laguna" ("Rückzug aus der<br />

45 Damit eine Sambaschule beim desfile Erfolg hat, muß sie über hohe Geldmittel verfügen<br />

können. Da weder die eigenen Einnahmen noch die staatliche Unterstützung ausreichend sind,<br />

müssen sich die Sambaschulen andere Geldgeber suchen, die heute zumeist aus der illegalen<br />

Glücksspielszene kommen. Bei der häufigen Kritik an der fortschreitenden Kommerzialisierung<br />

der Sambaschulen wird der politische Aspekt meist völlig ausgeblendet.


57<br />

Lagune") vor, der vom Krieg zwischen Brasilien und Paraguay46 handelte. Die<br />

paraguayische Botschaft protestierte, da der damalige Präsident ihres Landes<br />

Solano Lopez im Sambatext Diktator genannt wurde. Die brasilianische<br />

Regierung, interessiert am Fortschreiten der Operation Pan-Amerika, übte auf<br />

Mário Saladine, den Direktor des Departamento de Turismo e Certames do Rio,<br />

Druck aus, den dieser an die Império Serrano weitergab. Der enredo wurde auf<br />

"Confraternização Brasil – Paraguai" ("Verbrüderung Brasilien – Paraguay")<br />

abgeändert, in dem Lopez verherrlicht wurde. Kurz darauf legte sich die<br />

Sambaschule endgültig auf den Titel "Medalhas e Brasões" ("Medaillen und<br />

Wappen") fest – sie feierte die Verbrüderung Lateinamerikas, Lopez fand keine<br />

Erwähnung mehr (vgl. Teixeira Valença 1981: 59ff.). Möglicherweise war auch<br />

dieser Gehorsam ausschlaggebend für die einmalige Entscheidung der Jury, die<br />

nach Tumulten und Polizei- und Militärpolizeieinsatz bei der Bekanntgabe des<br />

Ergebnisses – erstmals in der Geschichte waren Punkte abgezogen worden,<br />

Portela war als Siegerin hervorgegangen – schließlich die fünf Erstplazierten,<br />

unter ihnen Império Serrano, zu Siegerinnen erklärte47 (vgl. Teixeira Valença<br />

1981: 59ff.).<br />

Die Sambaschulen reagierten auf die zunehmende Kommerzialisierung und<br />

hielten 1962 den 1. Sambakongreß in Rio de Janeiro unter der Schirmherrschaft<br />

von CBES, ABES, Campanha da Defesa do Folclore Brasileiro (Kampagne zur<br />

Verteidigung der brasilianischen Folklore), Conselho Nacional de Cultura<br />

(Nationaler Rat der Kultur) und Ordem dos Músicos do Brasil OdM (Vereinigung<br />

der Musiker Brasiliens) ab. Folgende Themen standen auf der Tagesordnung:<br />

1) Bewahren der traditionellen Charakteristika des Samba<br />

2) Tanz<br />

3) Möglichkeit der Fusion der Dachorganisationen der Sambaschulen<br />

4) Schutz der Autorenrechte<br />

5) Verbreitung des Samba im Ausland<br />

6) Konstruktion eines Sambapalastes<br />

Wie man aus dem Abschlußdokument entnehmen kann, wurden neben anderen<br />

folgende Forderungen aufgestellt:<br />

46 Paraguay griff Brasilien1865 unter dem Vorwand der Verteidigung der Integrität Uruguays an,<br />

um sich einen direkten Zugang zum Meer zu schaffen. Der Krieg dauerte bis 1870 und führte zur<br />

völligen Verwüstung und zu Gebietsverlusten Paraguays.<br />

47 vgl. Kapitel 5.4.


58<br />

ad 1)<br />

Sambakomponisten und -interpreten sollen sich an nationale Plattenfirmen<br />

wenden. Der OdM soll sich für ein Gesetz einsetzen, das die Schallplattenfirmen<br />

verpflichtet, 60% brasilianische Musik aufzunehmen, und die Radio- und TV-<br />

Stationen, 60% brasilianische Musik zu spielen. Der OdM soll auch gegen die<br />

kommerzielle Instrumentierung und Orchestrierung brasilianischer Musik<br />

intervenieren.<br />

ad 2)<br />

Die passistas der Sambaschulen sollen keine Gruppen bilden, die eine<br />

Choreographie vorführen, sondern als SolotänzerInnen auftreten. Baianas,<br />

abre-ala, porta-bandeira und baliza sollen als charakteristische Elemente<br />

erhalten bleiben. Auch die Exklusivität des Schlages der Bateria muß gepflegt<br />

werden, und die alas sollen mehr Autonomie bekommen.<br />

Außerdem mögen die Sambaschulen, um sich in den Karneval zu reintegrieren,<br />

- auf Gewinne und Prämien verzichten, das Geld soll zu<br />

gleichen Teilen aufgeteilt werden<br />

- auf carros alegóricos verzichten<br />

- mehr Platz für das desfile bekommen<br />

- öfter im eigenen Bezirk defilieren<br />

- eine einzige Dachorganisation haben<br />

(vgl. Carta do Samba 1962).<br />

Am 31. 3. 1964 putschte das Militär in Brasilien und übernahm für die nächsten<br />

zwanzig Jahre die Macht. Vor dem Hintergrund wachsender Repressionen und<br />

Menschenrechtsverletzungen fand die Erfolgsstory der Sambaschulen ihre<br />

Fortsetzung. Das Regime nützte nicht nur das politische, sondern auch das<br />

ökonomische Potential der Stars des so werbewirksamen brasilianischen<br />

Karnevals. Die staatliche Tourismusorganisation stellte die Weichen für die<br />

nächsten Jahrzehnte.<br />

Bereits 1962 hatte das Departamento do Turismo erstmals Zuschauertribühnen<br />

für das desfile der Sambaschulen errichtet und Eintrittskarten für diese verkauft.<br />

1965 eroberten die Sambaschulen die Avenida Presidente Vargas, und die<br />

Tourismusorganisation führte Innovationen ein:<br />

- Entlang der Av. Presidente Vargas wurden Stufen aufgebaut, von denen das<br />

Publikum kostenlos zusehen konnte.<br />

- Am Ende der Av. wurden Tribünen für die Angehörigen der Sambaschulen<br />

errichtet.


59<br />

- Fixe Konstruktionen für TV- und Radioaufnahmegeräte wurden installiert.<br />

- Die Fotografen bekamen eigene Tribünen.<br />

Im selben Jahr wurden alle politischen Parteien verboten.<br />

1966 fand auf Initiative des Conselho Municipal de Turismo das 1. Samba-<br />

Symposium in Santos statt. Zwar waren wie 1962 die beiden<br />

Dachorganisationen der Sambaschulen CBES und AESB und einzelne Vertreter<br />

von Sambaschulen, Komponisten, Interpreten u.a. anwesend, aber an erster<br />

Stelle standen die Secretaria dos Negócios do Turismo do Estado de São Paulo<br />

und die Secretaria de Turismo do Estado de Guanabara. Auch die erklärten<br />

Ziele des Symposiums lesen sich anders:<br />

"a) den Samba als Musik und Tanz rühmen;<br />

b) Maßnahmen vorschlagen, die die Verteidigung der Interessen der<br />

Sambaschulen und der Vertretungsorgane bezwecken oder das Ziel haben, ihre<br />

künstlerische und soziale Organisation zu perfektionieren und ihre ökonomische<br />

und finanzielle Situation zu verbessern; […]"<br />

(zit. bei Muniz Jr. 1976: 113f.).<br />

Das Abschlußdokument listet vor allem Einschränkungen als Ergebnisse auf:<br />

° Die Sambaschulen sollen in Zukunft häufiger an Festen teilnehmen. Am<br />

Karsamstag und Ostersonntag soll ein Sambafest veranstaltet werden.<br />

° Die Posaune darf nicht im Sambaschulorchester verwendet werden.<br />

° Statt der Standarte soll die Fahne das Symbol aller Sambaschulen sein.<br />

° Jede Sambaschule muß einen enredo mit historischem und folkloristischnationalem<br />

Thema haben und ihn 20 Tage vor den Wettbewerben den<br />

Organisatoren derselben vorstellen.<br />

° Das Wettbewerbsergebnis soll am Aschermittwoch verlautbart werden.<br />

(vgl. Muniz Jr. 1976: 113 – 121).<br />

In den Jahren 1967 und 1969 organisierte die Secretaria de Turismo ein 2. und<br />

3. Samba-Symposium.<br />

Die politische Situation in Brasilien verschärfte sich weiter, 1968 wurden dem<br />

Präsidenten mit dem Ato Institucional 5 diktatorische Vollmachten verliehen. Die<br />

Sambaschulen genossen die besondere Aufmerksamkeit der Geheimpolizei, die<br />

über ihre Abteilung DOPS die öffentlichen Äußerungen der BrasilianerInnen<br />

zensurierte (vgl. Moura 1986).


60<br />

Noch gelang es manchen Sambaschulen, ihre Kritik an den Vorgängen in<br />

Brasilien offen zu formulieren, doch es waren die letzten Versuche bis zum<br />

Beginn der Öffnung ein Jahrzehnt später. 1967 hatte die Sambaschule<br />

Salgueiro wegen ihres provokativen enredos "A história da liberdade no Brasil"<br />

("Die Geschichte der Freiheit in Brasilien") Probleme mit DOPS und Militär,<br />

durfte ihn aber beibehalten und belegte den 3. Platz im desfile (vgl. Moura 1986:<br />

24ff.). 1969 konnte die Sambaschule Império Serrano fast nicht am desfile<br />

teilnehmen wegen ihres enredos "Heróis da liberdade" ("Helden der Freiheit"),<br />

die Komponisten Silas de Oliveira und Mano Décio wurden vom DOPS verhört,<br />

die Sambaschule belegte den 4. Platz. Salgueiro präsentierte den Samba<br />

"Bahia de Todos os Deuses" ("Bucht aller Götter"), dessen nationalistischer Titel<br />

die Zensur offenbar irreführte, da Salgueiro den ersten Platz belegen konnte,<br />

obwohl die Hauptfiguren des enredo Personen waren, die vom Regime verfolgt<br />

wurden (vgl. Moura 1986: 27ff.)!<br />

Ab 1970 war es dann obligatorisch, vor dem Karneval auch die Skizzen der<br />

Kostüme und alegorias der Zensur vorzulegen. Im selben Jahr führte der<br />

Secretário de Turismo das Zeitlimit für das desfile der Sambaschulen ein. 1971<br />

wurde Travestie beim desfile verboten (Moura 1986: 30ff.).


5.4. Riotur proudly presents<br />

61<br />

1972 wurde die Tourismusorganisation Riotur gegründet, in deren<br />

Verantwortung die Organisation des desfile von da an fiel. Das Hauptinteresse<br />

des Staates am Karneval war von der politischen in die ökonomische Sphäre<br />

gerückt, und die Ausbeutung des Marktes für das Produkt Sambaschule ist<br />

durch die Tatsache, daß es zum Großteil durch unbezahlte Arbeit ermöglicht<br />

wird, außerordentlich lukrativ (vgl. Rodrigues 1984: 86). Die Bemühungen um<br />

eine Vergrößerung des finanziellen Gewinnes drückten den Sambaschulen<br />

ihren Stempel auf, wie das folgende Zitat zeigt: "Dank der Arbeit einer<br />

erfahrenen Mannschaft war das perfekteste desfile jenes von 1972 in Rio, als<br />

das generelle Schema mit Präzision funktionierte, das folgendes umfaßte:<br />

wunderbare Verbindung zwischen der Associação das Escolas de Samba und<br />

der Secretaria de Turismo, neue und verständnisvoll ausgesuchte Jury,<br />

Kontrolle des Zeitpunktes von Beginn und Ende (mit der Präsenz des gesamten<br />

Publikums bis zum Schluß), kurz gesagt, eine Koordination, die keine Fehler<br />

zuließ." (Ruy Pereira da Silva, damaliger Präsident der Confederação Brasileira<br />

das Escolas de Samba, in seinem Vorwort zu Muniz Jr. 1976: 15).<br />

1974, als die Sambaschulen wieder einmal umquartiert werden mußten, diesmal<br />

wegen des U-Bahnbaus auf der Avenida Presidente Vargas, begann die<br />

Diskussion über die Möglichkeit einer fixen Piste für das desfile der<br />

Sambaschulen (vgl. Moura 1986: 41). 1978 machte Brasilien die ersten<br />

zaghaften Schritte in Richtung politische Öffnung. Unter Präsident Figueiredo<br />

(1979 – 1985) wurde 1979 den politischen Gefangenen Amnestie gewährt, die<br />

BrasilianerInnen konnten auf ein neues Kapitel in der Geschichte ihres Landes<br />

hoffen, und auch Soninha, porta-bandeira der Sambaschule Mocidade<br />

Independente de Padre Miguel, erinnert sich an die damalige<br />

Aufbruchsstimmung: "Ich habe den Samba repräsentiert neben dem Herrn<br />

Präsidenten der Republik, João Batista de Figueiredo. Ich habe am Fest zum<br />

Amtsantritt des Präsidenten der Republik 1979 teilgenommen und den Samba<br />

repräsentiert. Ich gab ihm die Fahne meiner Sambaschule, ich sprach im<br />

Namen meiner Leute, 400 sambistas, die anwesend waren [...]. All das ist kein<br />

Grund für mich, stolz zu sein, aber für den Samba war es wichtig. Weil es eine<br />

Verletzung des Protokolls war. Denn die Alten erzählen uns: Der Samba wurde<br />

verfolgt." (E8).


62<br />

Die politische Entspannung bringt auch einen Rückgang der Zensur mit sich.<br />

"[…] politically there is now a freedom of expression that did not exist during the<br />

period from 1964 to 1979. This change is felt in the parades of the Escolas-de-<br />

Samba in the elements of caricature in the allegoric floats. Political and<br />

sociological criticism are now shown explicitly that were formerly only<br />

suggested." (Rector 1984: 153). Die Diskussion über ein sambódromo, einen<br />

definitiven Ort für das "größte Spektakel der Welt", wurden immer konkreter, und<br />

1984 war es soweit. Der Gouverneur von Rio de Janeiro Leonel Brizola setzte<br />

sich selbst ein Denkmal und beauftragte den Architekten Niemeyer mit dem<br />

Projekt, der einen Sambapalast aus Beton für 59.092 ZuschauerInnen mit einer<br />

700m langen Piste und einem Platz an ihrem Ende konzipierte (s. Abb. 1).<br />

Entlang der einen Seite ziehen sich in 7 Sektoren Betonstufen ähnlich einem<br />

Stadion hinauf, an der anderen Seite befinden sich große Logen, die während<br />

des ganzen Jahres als Schulräume genutzt werden (vgl. Empresa de Turismo<br />

1991: 393).<br />

Mit einem Schlag war das desfile nur mehr für die 59.092 Personen zu sehen,<br />

die genug Geld hatten, um sich eine Eintrittskarte zu leisten. Zwar hatten die<br />

Sambaschulen nun eine neue Heimat, die finanziell weniger potente<br />

Bevölkerung war aber endgültig ausgeschlossen worden. Jorginho, der im<br />

barracão der Sambaschule Caprichosos de Pilares abeitete, sagte: "Ich habe<br />

schon das desfile der Mocidade und der Unidos do Cabuçu gesehen, nur war<br />

das nicht so im sambódromo, ich hab es schon von einem Baum aus gesehen.<br />

Ich bin auf den Baum geklettert und habe es gesehen. Aber so im sambódromo<br />

selbst hab ich es noch nicht gesehen." (E2).<br />

Während die Piste selbst noch bis auf einige Ausnahmen den BrasilianerInnen<br />

vorbehalten war, standen die Zuschauertribünen vor allem den Touristen zur<br />

Verfügung. Den Sambaschulen wurden zwar gewisse Kartenkontigente für ihre<br />

comunidade zugestanden, diese Gäste der ProtagonistInnen mußten sich aber<br />

mit den schlechtesten (und damit billigsten) Plätzen in den Sektoren 1 und 13<br />

zufrieden geben, wo sie meist unter sich waren. Die Logen wurden von den<br />

Reichen und Berühmten Brasiliens und des Auslandes für sich beansprucht.<br />

Diese Aufteilung der ZuschauerInnen blieb bis heute erhalten und wird von<br />

Danda, Sekretärin des barracão der Mocidade Independente de Padre Miguel,<br />

wie folgt kommentiert: "Du fühlst gar nichts, weißt du, du fühlst diese Vibration<br />

des Volkes nicht, das heißt die bleibt meistens im Sektor 1 und im Sektor 13. In<br />

diesen Sektoren in der Mitte bleiben nur das heißt Leute, die Geld haben,


63<br />

Touristen und alle diese Sachen, und das tut mir sehr weh, denn ich finde, daß<br />

man teilen müßte. In jedem Sektor, weißt du, schwarz, weiß, arm, reich. Damit<br />

der Reiche und der Tourist die Spannung des Volkes, des Armen fühlen, und<br />

damit sie sich auch packen lassen. Denn sie sitzen in den Logen und werfen<br />

Trauben, werfen Äpfel, werfen Bierdosen, Getränkedosen… für mich ist das…<br />

Ich gehe vorbei und schaue nicht einmal, ich gehe weg, weil ich das für den<br />

größten Blödsinn halte. Ich denke, diese Logen sollten zwei bis drei Arme dort<br />

haben, damit sie diese Leute dort unterrichten, die Touristen, wie man Spaß hat,<br />

wie man dem Karneval dezent beiwohnt." (E4).<br />

Die Trennung in ZuschauerInnen und aktive TeilnehmerInnen war nun definitiv<br />

und nicht mehr umkehrbar. "Die scharfe räumliche Trennung des Festes ist<br />

nichts als eine Fortsetzung der vorhandenen Trennung im alltäglichen urbanen<br />

Raum." (Pereira de Queiroz 1985: 26). Was Umberto Eco analysierte: "If the<br />

ancient, religious carnival was limited in time, the modern mass-carnival is<br />

limited in space: it is reserved for certain places, certain streets, or framed by<br />

the television screen." (Eco 1984: 6), kommentierte das Jornal do Brasil bissig:<br />

"… das sambódromo war perfekt: es schloß die Massen ein, genau nach dem<br />

populistischen Führergeschmack derer, die es inspirierten. […] Die Straße ist<br />

reserviert für die "unteren" Schichten, […] die Zuschauer sind die wohlhabenden<br />

Schichten, die die teuren Eintrittskarten für die Tribünen und Logen bezahlen.<br />

Das Volk sieht per TV zu…" (Jornal do Brasil 5. 3. 1992).<br />

Es stellte sich bald heraus, das dieser Umstand nicht der einzige war, der sich<br />

negativ für die sambistas auswirkte. Die Praça da Apoteose, der Platz am Ende<br />

der Piste, der von Vizegouverneur und Ethnologen Darci Ribeiro kreiert worden<br />

war, um die Sambaschulen zu einer abschließenden Kundgebung am Ende<br />

ihres desfile zu bewegen, wurde von den sambistas nie goutiert und konnte sich<br />

nur von 1984 bis 1986 im Reglement halten. Der graue Beton am Boden und die<br />

Seiten hinauf, der ursprünglich dafür gedacht war, jährlich dekoriert zu werden,<br />

dämpft die Farbenpracht des Spektakels. Besonders gravierend war auch die<br />

Tatsache, daß sich die meisten barracões nicht in der Nähe des sambódromo<br />

befanden und befinden, das bedeutet, daß der notwendige Transport der carros<br />

alegóricos zum Ort des Geschehens Grenzen setzt, die das sambódromo selbst<br />

nicht setzen würde, und daß vieles auf dem Weg kaputt geht. Regina,<br />

Vizepräsidentin der Sambaschule Vizinha Faladeira, meinte 1992 zum<br />

sambódromo: "Ich finde, daß dieser aufgestellte Beton dort sehr gut ist, aber<br />

sehr kalt, verstehst du. Er wurde nicht von einem sambista gemacht. Denn


64<br />

Niemeyer […], von dem ich glaube, daß er wirklich der größte Architekt der Welt<br />

ist, aber ich finde, daß das dort ein bißchen von Leuten des Samba haben<br />

müßte." (E5).<br />

Das Interesse der LokalpolitikerInnen an den Sambaschulen blieb auch in den<br />

80er Jahren bestehen. Sie nutzen die Publikumswirksamkeit der Sambaschulen<br />

außerhalb der quadras und engagieren beispielsweise Teile der bateria als<br />

musikalische Unterstützung. Luizinho, mestre, also Leiter der bateria der<br />

Sambaschule Caprichosos, erzählte: "Wir hatten einen Abgeordneten und so,<br />

einen Freund von Fernando, der auch Politiker war, nicht, also begleiten wir<br />

diese politischen Kampagnen von ihm, spielen, wenn es eine Kundgebung gibt,<br />

aber alles bezahlt von ihm, alles bezahlt. Weißt du, gratis, nicht einmal daran<br />

denken." (E10).<br />

Auch die Mitglieder der Sambaschulen selbst sind als potentielle WählerInnen<br />

nach wie vor wichtige AnsprechpartnerInnen. So gilt die Sambaschule Beija-Flor<br />

als Basis der Partido Democrático Social PDS im Bezirk Nilópolis. Sie hat sich<br />

durch die Finanzierung von Kinderkrippen, Kunsthandwerks- und Nähkursen,<br />

den Kauf von Medikamenten, Lebensmitteln, Decken, Brillen, Rollstühlen, die<br />

Bereitstellung von kostenloser juristischer Beratung und Stipendien in diesem<br />

Vorstadtbezirk um die Stimmen der Sambaschulmitglieder verdient gemacht, zu<br />

denen die PDS-Politiker Jorge David und Simão Sessim einen besonderen<br />

Draht haben, da sie mit Nelson Abraão David, dem Präsident der Beija-Flor, und<br />

seinem Bruder Anísio Abraão David, banqueiro und Gönner der Beija-Flor,<br />

verwandt sind (vgl. dazu do Pazo Ferreira 1982: 149f.).<br />

Es wird von den PolitikerInnen also für sinnvoll gehalten, in den quadras der<br />

Vororte präsent zu sein. In der Sambaschule Caprichosos de Pilares lagen<br />

Flugzettel der PDS mit Wahlwerbung für ihren Kandidaten Amaral Netto auf (s.<br />

Abb. 2). Auch der umgekehrte Weg scheint erfolgversprechend zu sein: Olímpio<br />

Correia, Präsident der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel,<br />

warb mit dem Slogan "Die Hoffnung des Bezirkes. Ich bin dreifacher Samba-<br />

Gewinner, ich möchte Stimmen-Gewinner sein, ich zähle auf dich, Olimpio<br />

Corrêa, »Gaucho«." an der Wand der Sambaschule für seine Kandidatur zum<br />

Stadtrat (s. Abb. 3).<br />

Besonders attraktiv ist es für PolitikerInnen, eine Funktion in einer Sambaschule<br />

zu übernehmen und so noch näher an der Quelle zu sitzen. Fernando,


65<br />

Präsident der Sambaschule Caprichosos de Pilares, schilderte seine<br />

Sambaschulkarriere, die typisch für einen Neueinsteiger ins "Karnevalsfach" ist:<br />

"Ich war Politiker, ich war 24 Jahre lang Abgeordneter. […] Ein Politiker geht<br />

während seiner Kampagnen natürlich zu allen Orten, die die Öffentlichkeit<br />

frequentiert, was bei den Sambaschulen der Fall ist, die ein großes Publikum<br />

haben. Also war ich in der Caprichosos, um eine Wahlkampagne zu machen.<br />

Das war so 1980, vor ca. 12 Jahren. Ich war dort und fühlte mich wohl in der<br />

Sambaschule, verstehst du, ich fühlte mich wohl in der Sambaschule, und ich<br />

begann… die Sambaschule regelmäßig zu besuchen. Daher haben sie mich<br />

gebeten, die Sambaschule zu verwalten. Der Präsident bat mich bei<br />

Gelegenheit: »Du bist Abgeordneter, du könntest mir helfen und… die<br />

Sambaschule verwalten, denn ich habe hier keine… passenden Leute, mit<br />

Zugang zur Stadt usw.«. […] Der Präsident war ein bescheidener Bursche, und<br />

er hatte nicht so richtig große Möglichkeiten, die Sambaschule zu sichern, das<br />

Wachstum eingeschlossen. Als ich also begann zu verwalten, war ich<br />

Abgeordneter und erreichte es mit einigen Freunden, diese quadra zu<br />

konstruieren, denn es gab keine quadra." (E1).<br />

Das beiderseitige Interesse ist klar ersichtlich: die Sambaschule bietet Prestige<br />

und WählerInnenstimmen im Tausch gegen Protektion und Vergünstigungen.<br />

Welche Seite das ihre besser vertreten kann, hängt wohl vom diplomatischen<br />

Geschick der Beteiligten ab. Sicher ist, daß in der Politik tätige<br />

Sambaschulmitglieder ihre Macht geschickt auszunutzen wissen, wie Danda,<br />

Chefsekretärin des barracão der Sambaschule Mocidade Independente de<br />

Padre Miguel andeutete: "Jeder Präsident oder jeder Direktor [einer ala] hat so<br />

und soviele Plätze nur für die Sambaschule. Aber ich weiß nicht, wie das<br />

ausgewählt wird, wie ihr Prozeß ist, verstehst du, ob das Leute sind, die für sie<br />

während des Wahlkampfes arbeiten, Abgeordnetengeschichte, diese Sachen,<br />

weißt du, oder ob es Leute sind, die seit vielen Jahren mit der Sambaschule<br />

mitgehen, oder es sind Leute, die ihnen in irgendeiner Form helfen, verstehst<br />

du. Daher mit dem Verdienst gehen sie und schenken der Person ein Kostüm,<br />

damit sie defilieren können." (E4).<br />

Auch die heftigsten Bemühungen einzelner PolitikerInnen um eine<br />

Verbesserung der finanziellen Situation der Sambaschulen brachten nicht den<br />

erhofften Erfolg. Die Subventionen der öffentlichen Hand für die Sambaschulen<br />

wurden drastisch gekürzt, und Gouverneur Brizola verhinderte die Auszahlung<br />

der Autorenrechte. Indem sich der Staat also zurückzog, überließ er das Feld


66<br />

einer Interessensgruppe, deren Einfluß in der brasilianischen Gesellschaft seit<br />

den 60ern kontinuierlich zugenommen hatte: den banqueiros de bicho, den<br />

Männern, die durch das illegale Glücksspiel jogo do bicho reich geworden<br />

waren.<br />

Als am 23. 7. 1984 die LIESA, die Liga Independente das Escolas de Samba,<br />

als Repräsentanz für die Sambaschulen der Spezialgruppe gegründet wurde,<br />

hatten die banqueiros ihre Hand im Spiel. Der Gründungszeitpunkt war nicht<br />

zufällig gewählt worden: der Geldrückfluß an die Dachorganisation der finanziell<br />

am besten ausgestatteten Sambaschulen war nun durch das sambódromo<br />

gesichert, was die Beteiligung am Management nicht nur aus machtpolitischer,<br />

sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht interessant machte. Im selben Jahr<br />

wurde mit der Privatisierung des desfile begonnen, die Riotur ließ sich<br />

verdrängen. Selbst Kritiker der LIESA wie der carnavalesco Luis Fernando<br />

müssen zugeben, daß sie höchst erfolgreich agiert: "Ich bin für die Partizipation<br />

des Staates bei allen Aktivitäten. Also finde ich, daß die Riotur, die den Staat<br />

repräsentiert, die Stirn dessen [des Karnevals] sein sollte und nicht eine<br />

Privatfirma. Und die Liga ist eine Privatfirma, und sie kämpft für<br />

Privatinteressen, also finde ich, die Riotur sollte dabei sein. Allerdings ist der<br />

brasilianische Staat abgewertet, ohne jedes Ansehen. […] Das heißt, wo die<br />

Associação das Escolas de Samba gemeinsam mit der Riotur etwas<br />

organisierten, nicht, das heißt die Riotur hat die Bewertung organisiert, und es<br />

war ein furchtbares Durcheinander, eine entfesselte Sache. Mit der Liga hat sich<br />

das ziemlich verbessert." (E 11).<br />

Daß die Präsidenten der LIESA Castor de Andrade (1984), Aniz Abraão David<br />

(1986) und Ailton Guimarães Jorge (1988, 1990) zu den Köpfen der<br />

Glücksspielmafia zählen, ist ein offenes Geheimnis48 . "Sie [die LIESA] stellt den<br />

Knecht dar, der die Macht der banqueiros über die Sambaschulen bestätigt und<br />

sie mit der Staatsmacht verknüpft. […]" (Chinelli 1991: 6).<br />

Die LIESA übernahm von der staatlichen Tourismusorganisation unter anderem<br />

die Verantwortung für die Bewertung des desfile der Sambaschulen. Eine kurze<br />

Zeit lang, solange die Umzüge nur marginal organisiert waren, wählte das<br />

Publikum eine Sambaschule zur Siegerin, indem es mit dieser mitzog, -sang<br />

und -tanzte. Wer die meisten Leute begeistern konnte, war Königin des<br />

Karnevals. Diese Praktik wurde jedoch bald durch die Bewertung des desfile von<br />

48 s. Kapitel 6.2.


67<br />

einer Jury ersetzt, und mit dem Beginn der Reihung der Sambaschulen<br />

aufgrund der Entscheidung einiger weniger Leute fing auch die nie enden<br />

wollende Polemik um die Korrektheit und Fairneß des Ergebnisses an, die jedes<br />

Jahr während der Verlesung ihren Höhepunkt erreicht und bis zum nächsten<br />

Karneval von den VeliererInnen gegenüber der Öffentlichkeit immer wieder<br />

aufgenommen wird, innerhalb der Sambaschule sogar jahrelang für<br />

Diskussionen sorgt. Die gute Plazierung beim desfile ist für die Sambaschule<br />

von fundamentaler Wichtigkeit, von ihr hängen Prestige und finanzielle<br />

Unterstützung ab.<br />

Die Bewertung der ersten desfiles der Geschichte wurde meist von<br />

Zeitungsreportern vorgenommen, da die Juroren von den Sponsoren<br />

ausgesucht wurden. Doch bereits 1937 nahm Alves vom Departamento de<br />

Turismo (Abteilung für Tourismus) an der Jury teil, und 1939 wurde die<br />

Kommission vom Tourismus- und Propaganda-Direktor nominiert. Später war<br />

der Conselho do Turismo (Tourismusrat) für die Auswahl der JurorInnen<br />

zuständig (vgl. Empresa de Turismo 1991: 24ff. und 196ff.).<br />

Da sich die Anzahl der teilnehmenden Sambaschulen sukzessive vergrößerte,<br />

der Ort des Geschehens oft verlegt wurde, immer wieder neue<br />

Dachorganisationen gegründet wurden und die Verantwortung für Ablauf und<br />

Bewertung des desfile durch viele Hände ging, wurden das Reglement für das<br />

desfile der Sambaschulen und die Form der Bewertung durch die Jury ständig<br />

verändert. Im Laufe der Jahre bewerteten unterschiedlich viele JurorInnen<br />

(1933: 3, 1992: 30) verschiedene Kategorien mit unterschiedlich vielen Punkten.<br />

Verschiedene Kriterien berechtigten unterschiedlich viele Sambaschulen zur<br />

Teilnahme und zum Auf- oder Abstieg49 in unterschiedlich viele Gruppen (1932:<br />

1, 1952: 2, 1960: 3, 1970: 4). Die Gewinnausschüttung an die Sambaschulen<br />

und die Bezahlung der JurorInnen veränderten sich ebenfalls mit der Zeit (vgl.<br />

Empresa de Turismo 1991: 196 ff.).<br />

1983 genehmigte die Kammer der Stadträte eine Gesetzesverordnung, die<br />

einen Lehrgang für die Ausbildung von JurorInnen einsetzen sollte, aber<br />

Bürgermeister Alencar legte sein Veto ein! Als 1984 die Coordenação de<br />

49 Auf- und Abstieg sind ähnlich wie in einer Fußballiga geregelt. Eine gewisse Anzahl der<br />

letztplazierten Sambaschulen der ersten Gruppe muß absteigen, während die bestplazierten der<br />

zweiten Gruppe aufsteigen dürfen. Da sich die Zahl der TeilnehmerInnen aber ständig änderte<br />

und zeitweise das desfile nicht stattfinden konnte oder abgebrochen wurde, wurde das System<br />

oft geändert, d.h. es gab manchmal keine Absteigerinnen u.ä.


68<br />

Jurados, die Koordination der JurorInnen, von Hiram Araújo gegründet wurde,<br />

entschloß man sich dennoch, einen ersten Ausbildungslehrgang zu<br />

veranstalten, der vor dem Karneval 1985 stattfand, bei dem das desfile der<br />

Sambaschulen der Spezialgruppe zum ersten Mal in die Verantwortung der<br />

LIESA fiel. 1987 übernahm die LIESA auch die Verantwortung für den Ablauf<br />

der Bewertung. Araújo, Koordinator der JurorInnen der Riotur, akkumulierte<br />

gleichzeitig Funktionen innerhalb der LIESA, bis 1989 das "Reglement der<br />

Karnevalsaktivitäten der Basisgruppen" unter Berücksichtigung folgender<br />

Tatsachen konsolidiert wurde:<br />

daß<br />

"° die desfiles der Karnevalsvertreter die wichtigsten Aktivitäten der<br />

Hauptmanifestation der Populärkultur von Rio de Janeiro sind,<br />

° der Karneval das ökonomische Leben der Stadt signifikant beeinflußt<br />

und<br />

° ein normatives Instrument für die Disziplinierung der desfiles und<br />

Wettbewerbe des Karnevals noch notwendig ist […]"<br />

(Empresa de Turismo 1989: 1).<br />

Die Definition der Sambaschule ist signifikant für die Ausdrucksweise der<br />

Autoren dieses Dokumentes: "Die Sambaschule wird von einem humanen<br />

Kontingent gebildet, durchschnittlich zusammengesetzt aus tausend bis<br />

fünftausend Personen, die SAMBISTAS genannt werden, in Prozessionsform<br />

defilieren und in zwei Kategorien50 eingeteilt sind: componentes (die nur am<br />

desfile teilnehmen) und dirigentes (die zu den Mitgliedern der Sambaschule<br />

gehören)." (a.a.O. 1989: 108). Weiter heißt es im selben Dokument: "Für die<br />

Bewertung müssen die desfiles als eine Manifestation der Volkskunst<br />

verstanden werden: MUSIK, POESIE, TANZ, KOSTÜMIERUNG, mit keinem<br />

gelehrten oder akademischen Urteil oder einer solchen Bewertung vereinbar.<br />

Unter Hervorhebung der natürlichen und unvermeidlichen Evolution, die diese<br />

Künste erleiden können, ist es der Wunsch der <strong>RIO</strong>TUR, die ursprünglichen<br />

Werte der desfiles zu konservieren, indem sie die Authentizität und die Tradition<br />

eines Spektakels bewahrt, das vom Volk für das Volk geboren wurde." (a.a.O.<br />

1989: 89).<br />

Eine ganze Reihe von Verboten läßt erkennen, wie die Riotur ihre Aufgabe<br />

wahrnehmen wollte:<br />

50 s. Kapitel 7.1.


69<br />

"Es ist den Sambaschulen ausdrücklich verboten:<br />

a) eine kulturelle, künstlerische, sportliche, Freizeit-, Karnevals oder religiöse<br />

Vertretung oder Vereinigung zu verhöhnen, sowie auch die Duchführung von<br />

Handlungen, die eine Verhöhnung des Publikums oder sogar der<br />

TeilnehmerInnen beinhalten;<br />

b) enredos zu präsentieren, die nicht auf ausschließlich nationalen Motiven<br />

beruhen;<br />

c) alas oder destaques auf der Piste rückwärts gehen zu lassen;<br />

d) Blasinstrumente in der bateria zu verwenden;<br />

e) mit weniger als 50 Instrumenten in der bateria aufzutreten;<br />

f) einen ersten mestre-sala und porta-bandeira zu präsentieren, die im selben<br />

Jahr schon am desfile einer anderen Vereinigung teilgenommen haben;<br />

g) mit weniger als 50 baianas und 50 Kindern in der Gruppe I aufzutreten […];<br />

h) die comissão de frente aus mehr als 15 und weniger als 10 Teilnehmern in<br />

der Gruppe I zusammenzusetzen, […]. Die comissão de frente kann uniformiert<br />

oder kostümiert auftreten;<br />

i) ohne alegorias oder abre-alas aufzutreten;<br />

j) mit weniger als 3 oder mehr als 20 alegorias aufzutreten, wobei alles als<br />

alegoria verstanden wird, was Räder hat. Die Dekorationen, die mit der Hand<br />

getragen werden, sind frei;<br />

l) carros alegóricos zu benutzen, die folgende Maße überschreiten: Gruppe I<br />

und II – Höhe von bis zu 8,00 m, Breite 8,50 m fix und 10,00 m abmontierbar<br />

[…];<br />

m) carros mit Zugtieren oder lebenden Tieren zu benutzen;<br />

n) einen motorisierten Wagen zu verwenden, ohne daß er in die erwähnten<br />

alegorias eingebaut wäre;<br />

o) mit alegorias und Dekorationen aufzutreten, die in anderen desfiles<br />

verwendet wurden, auch wenn sie aus anderen Gruppen sind;<br />

p) es zu unterlassen, der <strong>RIO</strong>TUR bis 30 Tage vor dem desfile 40 Kopien des<br />

"Scripts" des enredo und des Textes des samba enredo zu präsentieren […]."<br />

(a.a.O. 1989: 15f.).<br />

Es wurde festgelegt, daß jede Sambaschule genau 80 Minuten Zeit hat, um sich<br />

dem Publikum und der Jury bestehend aus 30 Personen zu präsentieren. Um<br />

die Einhaltung des Zeitlimits überprüfen zu können, wurden neben der<br />

Bewertungskommission noch eine Kommission zur Kontrolle des Beginns des<br />

desfile, eine zur Kontrolle der Zeitmessung und eine zur Kontrolle der<br />

concentração, einem abgesperrter Bereich vor dem sambódromo, in dem sich


70<br />

die Sambaschule auf ihr desfile vorbereitet, eingesetzt. Für den Eintritt der<br />

Sambaschule in die concentração zum vorgegebenen Zeitpunkt und die<br />

Zerstreuung nach dem desfile wurden je 5 Gutpunkte vergeben, für 5 Minuten<br />

Verspätung wurden 2 Punkte, für jede weitere Minute 1 Punkt abgezogen. Die<br />

Sambaschule erhielt 10 Gutpunkte, wenn sie nicht gegen die Verbote verstieß. 51<br />

Folgende 10 Kategorien wurden von je 3 JurorInnen mit je 5 – 10 Punkten<br />

bewertet:<br />

BATERIA (Perkussionsgruppe):<br />

SAMBA-ENREDO (Samba, der den<br />

enredo musikalisch und literarisch<br />

Rhythmus<br />

verarbeitet): Text und Melodie<br />

HARMONIA (Harmonie): Zusammenspiel von Rhythmus und<br />

Gesang<br />

EVOLUÇÃO (Entwicklung): Bewegung der TeilnehmerInnen und<br />

Kohäsion des desfile<br />

ENREDO (Thema): Konzeption und Realisierung<br />

CONJUNTO (Gesamtheit):<br />

ALEGORIAS E A<strong>DE</strong>REÇOS<br />

(allegorische Wägen und<br />

Gesamteindruck der Sambaschule<br />

Dekorationen): Konzeption und Realisierung<br />

FANTASIAS (Kostüme): Konzeption und Realisierung<br />

COMISSÃO <strong>DE</strong> FRENTE (Kommission<br />

an der Spitze): Präsentation und Kostüme<br />

MESTRE-SALA E PORTA-BAN<strong>DE</strong>IRA<br />

(Zeremonienmeister und<br />

Fahnenträgerin): Präsentation und Kostüme<br />

Wie in den vergangenen Jahren gab es auch in den kommenden<br />

Veränderungen bezüglich der bewerteten Kategorien und der Anzahl der<br />

JurorInnen und Punkte.<br />

Im folgenden soll ein Beispiel für die Anleitung zur Analyse der einzelnen<br />

Kriterien einer Kategorie, wie sie den JurorInnen 1991 nahegelegt wurde,<br />

gegeben werden:<br />

51 zum Vergleich: Das erste Reglement im Jahr 1933 schrieb vor, daß jede Sambaschule eine ala<br />

das baianas präsentierte und keine Blasinstrumente verwendete.


"ENREDO<br />

<strong>DE</strong>R JUROR SOLL BEACHTEN:<br />

<strong>DIE</strong> KONZEPTION<br />

2 BIS 4 PUNKTE<br />

72<br />

KONZEPTION ist die Idee des enredo.<br />

KONZEPTION ist die künstlerische Kreation des enredo als literarisches Stück,<br />

das das desfile einer Sambaschule zum Ziel hat.<br />

Folgende Faktoren begrenzen die Analyse der Konzeption des enredo:<br />

- seine "brasilidade", das heißt, seine Wurzeln und/oder Einflüsse der<br />

brasilianischen Kultur;<br />

- seine Originalität, das heißt, seine Kapazität, kreativ, fantasievoll und/oder<br />

erfinderisch zu sein;<br />

- sein Argument, das heißt, sein Vorschlag, sein Inhalt, die Begründung seiner<br />

Idee; und<br />

- sein Ablauf, bedenkend, daß er es ist, der die Form des enredo definiert, seine<br />

Entwicklung in Sequenzen, die Verknüpfung der unterschiedlichen Teile (alas,<br />

alegorias, Gruppen etc.) und seine Kapazität, das vorgeschlagene Argument zu<br />

entwickeln.<br />

<strong>DIE</strong> REALISATION<br />

3 BIS 6 PUNKTE<br />

REALISATION ist die Konkretisierung der Idee des enredo.<br />

REALISATION ist die künstlerische Kreation des enredo auf der Piste.<br />

Folgende Faktoren begrenzen die Analyse der Realisation des enredo:<br />

- seine Adäquatheit gegenüber dem Argument und dem Ablauf, das heißt, die<br />

harmonische Abwicklung des Themas als Spektakel (desfile der Sambaschule);<br />

- seine Klarheit, das heißt, seine Kapazität des leichten Verständnisses und der<br />

leichten Assimilation; und<br />

- seine Verwertung, das heißt die Ausschöpfung und Bereicherung des Themas.<br />

Einen schweren Fehler stellt das Faktum der Nicht-Präsentation von alegorias<br />

im desfile dar, die zum von der Schule bekanntgegebenen Ablauf gehören,<br />

wenn das Fehlen dieser alegoria(s) das perfekte Verstehen des enredo<br />

verändern.<br />

<strong>DE</strong>R JUROR DARF NICHT IN BETRACHT ZIEHEN:<br />

* Die mögliche Einbeziehung von jeglicher Art "Merchandising" (explizit oder<br />

implizit) in enredos;


73<br />

* Kleine eventuelle Unterschiede zwischen dem schriftlichen Ablauf und dem,<br />

der wirklich im desfile präsentiert wird, wobei als solche diejenigen verstanden<br />

werden, die nicht das "Rückgrat" des Inhaltes des enredo verändern; und<br />

* Fragen, die mit anderen Bewertungskriterien verknüpft sind, besonders die<br />

Sicht des "conjunto" des desfile jeden Vereins."<br />

(Transkription aus LIESA 1990: 32f.).<br />

Die JurorInnen, die jeweils im Februar für die Bewertung einer Kategorie<br />

eingeschult werden, erhalten vor dem desfile von jeder Sambaschule eine<br />

schriftliche Präsentation der Abfolge "ihres" Karnevals (s. Abb. 4). An den Tagen<br />

des desfile muß sich jede/r JurorIn in ihrer/seiner individuellen Kabine entlang<br />

der Piste einfinden, die Kategorie, für die sie/er eingeschult wurde, bei jeder<br />

Sambaschule bewerten und die Punkteanzahl in eine Liste eintragen (s. Abb. 5).<br />

1993 verdiente jede/r Juror/in 3,5 Millionen Cruzeiros bei einem Mindestlohn von<br />

1.250.700 Cruzeiros (vgl. Jornal do Brasil 21. 2. 1993). Am Aschermittwoch wird<br />

das Ergebnis bekanntgegeben.<br />

Trotz dieses Versuchs einer "Objektivierung" der Bewertung bilden die<br />

jährlichen Proteste der Verliererinnen nach der Bekanntgabe des Ergebnisses<br />

einen integralen Bestandteil des Rituals Karneval. Vor allem die JurorInnen<br />

müssen sich oft den Vorwurf der Parteilichkeit und der Bestechung gefallen<br />

lassen. Es ist offensichtlich, daß die erfolgreichsten Sambaschulen heute einen<br />

banqueiro hinter sich haben. Natürlich ist es diesen Sambaschulen möglich, am<br />

meisten Geld auszugeben, doch nicht immer können die Fantasie des<br />

carnavalesco oder der carnavalesca und der Enthusiasmus der Mitglieder<br />

mithalten. Deshalb sind die meisten Beteiligten davon überzeugt, daß die<br />

Siegerin schon vor dem desfile feststeht, nominiert von den Drahtziehern der<br />

LIESA, den banqueiros. Carnavalesco Luis Fernando meinte: "[…] die Liga wird<br />

vom jogo… von den bicheiros kommandiert. Und die Wertungsrichter werden<br />

von den bicheiros berufen über den Präsidenten der Liga. Es ist klar, daß diese<br />

Juroren die Tendenz haben, eher die Leute des bicho zufriedenzustellen."<br />

(E11).<br />

Sambaschulen, die nicht mit der Unterstützung eines banqueiros rechnen<br />

können, haben praktisch keine Chance, die Konkurrenz für sich zu entscheiden.<br />

Luizinho, mestre der bateria der Sambaschule Caprichosos de Pilares, klagte:<br />

"Also glaube ich, es geht mehr nach dem Namen der Sambaschule, die Leute:<br />

»Die Caprichosos, ah…«, verstehst du, ich glaube… sie ist eine beliebte


74<br />

Sambaschule, aber keine wie eine Beija-Flor, wie eine Mangueira, die einen<br />

banqueiro de bicho hat, sodaß sich die Leute sogar fürchten, eine Note zu<br />

geben, sie haben sogar Angst, einem banqueiro de bicho eine niedrige Note zu<br />

geben, sie haben sozusagen Angst. Hier gibt es keinen banqueiro de bicho […]"<br />

(E10).<br />

Seit der Einfluß der staatliche Zensur nach dem Ende des Militärregimes 1984<br />

zurückgegangen war, hatte die LIESA in gewisser Weise diese Funktion<br />

übernommen, indem sie das Reglement des desfile der Sambaschulen<br />

kontrolliert. Zwar war es nun wieder möglich, Kritik am politischen Geschehen in<br />

Brasilien zu äußern52 , doch die LIESA ist besorgt um das Ansehen des<br />

Karnevals von Rio im Ausland und den davon abhängigen Gewinnen aus dem<br />

Verkauf der Eintrittskarten und der Fernsehrechte. So wird zum Beispiel eine<br />

neue Form von Moralismus exerziert, wenn es um das Auftreten nackter<br />

TeilnehmerInnen beim desfile geht, was seinen bisherigen Höhepunkt im Jahr<br />

1992 fand: "Die Beija-Flor beschloß, es noch einmal zu wagen. Die<br />

Sambaschule entzündete während ihres desfile wieder die Polemik über das<br />

unbedeckte Genital, indem sie auf dem zehnten Carro Alegórico – Wissenschaft<br />

und Kultur – ein Paar ohne Kleidung zeigte. Das Wagnis kostete allerdings den<br />

Verlust von zwei Punkten, laut Präsident der LIESA […]. Das Reglement<br />

verbietet die frontale Nacktheit auf der Piste" (O Globo/3.3.1992).<br />

Diese Art der Zensur veranlaßte den carnavalesco der Beija-Flor, Joãosinho<br />

Trinta, zum Rücktritt. Die Angelegenheit zog sogar noch weitere Kreise, wie aus<br />

dem folgenden Zeitungsauschnitt erkennbar ist: "Beim gestrigen Start der<br />

Kampagne der Brüderlichkeit 92 in dieser Hauptstadt verurteilte der Primas von<br />

Brasilien, Erzbischof Dom Lucas Moreira Neves, was er für den Fortschritt der<br />

Verderbtheit und der Pornographie im Karneval hält, indem er die Episode<br />

zitierte, in der ein männliches Model, das in der Sambaschule Beija-Flor de<br />

Nilópolis defilierte, das Genital zeigte. […] In diesem Fall ist das keine Kunst<br />

mehr, das ist ein Appell an die Instinkte des Menschen, mit Erniedrigung für<br />

52 Beispiele sind der enredo 1986 der Sambaschule Caprichosos de Pilares "Brasil com Z não<br />

seremos jamais" ("Brasilien mit Z geschrieben werden wir niemals sein"), der sich gegen die<br />

kulturelle Dominanz der USA richtete, der enredo 1989 der Sambaschule Beija-Flor de Nilópolis<br />

"Ratos e Urubus larguem a minha fantasia" (Ratten und Geier, laßt meine fantasia los), der die<br />

Armut der Bevölkerung von Rio de Janeiro anprangerte, oder der enredo 1990 der Sambaschule<br />

Unidos do Cabuçu "Será que votei certo para Presidente?" (Habe ich den Richtigen zum<br />

Präsidenten gewählt?").


75<br />

beide Seiten, für die Leute, die sich dafür hergeben, wie für die, die es<br />

unterstützen und ermuntern." (O Globo 5. 3. 1992) 53 .<br />

1993 provozierte das carro abre-alas der Sambaschule Caprichosos Polemiken,<br />

das als Symbol für die Südzone Rio de Janeiros eine Prostituierte und einen<br />

Straßenjungen, der einen Touristen überfällt, zeigte. Nach der Veröffentlichung<br />

des Fotos dieses Wagens in den Zeitungen folgte postwendend Kritik vom<br />

Präsidenten der Riotur, Júlio César Mariz: "Der Präsident der Riotur hält »die<br />

Initiative des carnavalesco für bedauerlich« und protestierte bereits gemeinsam<br />

mit der Liga Independente das Escolas de Samba. »Es ist schade, daß zu<br />

einem so wichtigen Zeitpunkt, zu dem man die Umkehrung des Bildes von Rio<br />

bemerkt, vor mehr als 30.000 Touristen, abgesehen vom Fernsehpublikum, eine<br />

Szene aufgestellt werden soll, die in Rio nicht mehr passiert. […]«" (Jornal do<br />

Brasil 28. 1. 1993). Daraufhin machte der juristische Direktor der Caprichosos,<br />

Rechtsanwalt Newton Cordeiro, am 3. Februar eine Eingabe im Rathaus mit der<br />

Bitte um Entlassung von Mariz, José Eduardo Guinle (Stadtkoordinator des<br />

Tourismus) und Luís Tadeu Raja Gabaglia de Toledo (Kabinettschef) wegen<br />

"Einmischung in die Ausübung der kulturellen Rechte" (Jornal do Brasil 3. 2.<br />

1993). Der Wagen wurde ohne Konsequenzen beim desfile präsentiert.<br />

An erster Stelle der Kontrollmechanismen steht die finanzielle Unterstützung der<br />

Sambaschulen durch die staatlichen Subventionen, die die Sambaschulen fast<br />

seit Beginn ihres Bestehens abhängig machten. 1975 mußten die<br />

Sambaschulen einen vierjährigen Vertrag mit der Riotur unterschreiben, der sie<br />

verpflichtete, bei allen von der Riotur programmierten Aktivitäten mitzumachen,<br />

wenn sie die Subventionen nach Gruppen gestaffelt erhalten wollten. 1983<br />

verlangten die Sambaschulen doppelt so viel Unterstützung, wie Riotur für einen<br />

neuen Vertrag zahlen wollte. Als jedoch im November das sambódromo<br />

fertiggestellt worden war, konnte ein neues Verhandlungsergebnis erzielt<br />

werden. Die neue Vertragsdauer betrug von nun an jeweils ein Jahr, und die<br />

Subventionen wurden je nach Höhe der Inflation erhöht. Bis 1989 wurde der<br />

Gewinn in der Spezialgruppe gleichmäßig an alle angehörigen Sambaschulen<br />

ausbezahlt, ab 1990 proportional zur erreichten Qualifikation (vgl. Empresa de<br />

Turismo 1991: 27). Seit der Gründung der LIESA im Jahr 1984 gelang es dieser,<br />

die Gewinne für die Sambaschulen zu maximieren. So erhielt die LIESA 1986<br />

die Senderechte für das desfile, was der Associação all die Jahre nicht<br />

gelungen war, nicht zuletzt, da der Staat kein Interesse gezeigt hatte, in dieser<br />

53 zum Thema Nacktheit s. auch Kapitel 7.2.


76<br />

Angelegenheit etwas zugunsten der Sambaschulen zu unternehmen. Sehen wir<br />

nun die Verträge zwischen Riotur und LIESA seit 1987:<br />

1987:<br />

Riotur LIESA<br />

Verk. d. Eintrittskarten 65% 35%<br />

Vermarktung 50% 50%<br />

Übertragung - 100%<br />

(vgl. Empresa de Turismo do Município do Rio 1991: 27)<br />

1988:<br />

Riotur LIESA<br />

Verk. d. Eintrittskarten 60% 40%<br />

Vermarktung 60% 40%<br />

Übertragung 60% 40%<br />

(vgl. Empresa de Turismo do Município do Rio 1991: 28)<br />

1989:<br />

Riotur LIESA<br />

Verk. d. Eintrittskarten 60% 40%<br />

Vermarktung 65% 35%<br />

Übertragung 10% 90%<br />

(vgl. Empresa de Turismo do Município do Rio 1991: 28)<br />

1990:<br />

Riotur LIESA<br />

Verk. d. Eintrittskarten 50% 50%<br />

Vermarktung 100% -<br />

Übertragung - 100%<br />

(vgl. Empresa de Turismo do Município do Rio 1991: 28)<br />

Der Karneval wurde zum Millionengeschäft. 1992 ermöglichte der Karneval laut<br />

Angaben der Tageszeitungen Geschäfte um die 50 Millionen US-Dollar (vgl.<br />

Folha de São Paulo 1. 3. 1992). Die Riotur investierte 10 Millionen US-Dollar in<br />

ihr touristisches Zugpferd. Wer eine Loge mieten wollte, mußte bis zu 18,2<br />

Millionen Cruzeiros auf den Tisch legen (vgl. Jornal do Brasil 21. 2. 1992). Die<br />

Ausgaben der großen Sambaschulen steigen ins Unermeßliche, die Mocidade<br />

soll eine Milliarde Cruzeiros in Wägen und Kostüme umgewandelt haben. Der


77<br />

Preis eines solchen Kostüms lag bei ca. 250.000 Cruzeiros (vgl. Jornal do Brasil<br />

5. 1. 1992). Der Mindestlohn im September 1991 betrug im Vergleich dazu<br />

lächerliche 42.000 Cruzeiros.<br />

Trotz der verbesserten Verhandlungssituation für die Sambaschulen sind die<br />

offiziellen Unterstützungen und Gewinne in einer Zeit, in der die Inflation bis zu<br />

30% im Monat beträgt, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die staatliche<br />

Tourismusmaschinerie Brasiliens nützt die Abhängigkeit der Sambaschulen für<br />

sich aus, indem sie sie rigiden Kontrollen unterwirft und sie als<br />

Dienstleistungsbetriebe mißbraucht. Der Samba schwimmt wie Öl als Aufputz<br />

auf dem trüben Wasser der Geschäftemacherei, das sein Feuer auszulöschen<br />

droht. Um sich dieser Gefahr zu entziehen, wenden sich die Sambaschulen<br />

immer stärker den banqueiros de bicho, den Glücksspielbaronen zu. Dieses<br />

Phänomen soll in Kapitel 6. näher beleuchtet werden.


78<br />

6. DAS LEBEN IST EIN GLÜCKSSPIEL<br />

6.1. Jogo do Bicho<br />

Sonhar com anjo é borboleta Träumen von einem Engel ist<br />

Schmetterling<br />

Sem contemplação – sonhar com rei dá leão Ohne Bedenken – träumen von einem<br />

König ergibt Löwe<br />

Mas nesta festa de real valor não erre não Aber bei diesem Fest von wahrem Wert<br />

irre dich nicht<br />

O palpite certo é Beija-Flor – Beija-Flor Der richtige Tip ist Beija-Flor – Beija-Flor<br />

Cantando e lembrando em cores Die singt und in ihren Farben an<br />

Meu Rio querido, dos jogos e flores Mein geliebtes Rio der Spiele und<br />

Blumen erinnert<br />

Quando o Barão de Drumond criou Als der Baron de Drumond erfand<br />

Um jardim repleto de animais, então lançou Einen Garten voller Tiere erfand und<br />

dann<br />

Um sorteio popular e para ganhar Eine Verlosung für das Volk lancierte,<br />

und um zu gewinnen<br />

Vinte mil réis com dez tostões Zwanzigtausend Réis mit zehn Tostões<br />

O povo começou a imaginar begann das Volk zu fantasieren,<br />

Buscando no belo reino dos sonhos Indem es im schönen Reich der Träume<br />

Inspiração para um dia acertar Inspiration suchte, um eines Tages<br />

richtig zu tippen<br />

Sonhar com filharada é o coelhinho Träumen von einer Kinderschar ist Hase<br />

Com gente teimosa na cabeça dá burrinho Von furchtsamen Leuten ergibt es Esel<br />

am ersten Platz<br />

E com rapaz todo enfeitado Und von einem geschmückten Jüngling<br />

O resultado pessoal é pavão ou veado Ist das persönliche Ergebnis Pfau oder<br />

Hirsch<br />

E assim... Und so...<br />

Desta brincadeira Von dieser Spielerei aus<br />

Quem tomou conta em Madureira Wer die Macht in Madureira übernahm<br />

Foi Natal o bom Natal War Natal, der gute Natal<br />

Consagrando sua escola Der seine Sambaschule weihte<br />

Na tradição do Carnaval In der Tradition des Karnevals<br />

Sua alma hoje é águia branca Sein Geist ist heute ein weißer Adler<br />

Envolta no azul de um véu Umhüllt im Blau eines Schleiers<br />

Saudada pela majestade o samba Gegrüßt von der Hoheit des Samba<br />

E sua brejeira corte Und seinem einfachen Hof<br />

Que lhe vê no céu Der dich im Himmel sieht.<br />

samba-enredo 1976 der Sambaschule Beija-Flor de Nilópolis<br />

Das jogo do bicho, übersetzt etwa "Tierlotto", wurde bereits im vorigen<br />

Jahrhundert in Rio de Janeiro eingeführt. Baron José Batista Vianna de<br />

Drummond legte sich im Jahr 1888 einen Privatzoo im Bezirk Vila Isabel zu, der<br />

mit der Unterstützung des damaligen Regenten Pedro II rechnen durfte.


79<br />

Nachdem aber 1889 die Republik ausgerufen worden war, versiegte diese<br />

Geldquelle, und Baron Drummond mußte sich nach einer anderen Möglichkeit<br />

umsehen, um seinen Zoo erhalten zu können. Er machte ihn für die<br />

Öffentlichkeit zugänglich und verlangte ab 1893 den Eintrittspreis von 1.000<br />

Réis. Um mehr Publikum anzuziehen, wurde jede Eintrittskarte auf der<br />

Rückseite mit einem Zootier versehen, und am Ende des Tages wurde ein Tier<br />

ausgelost. Der Besitzer der passenden Eintrittskarte konnte einen Preis von<br />

20.000 Réis in Empfang nehmen. Das Spiel war ein voller Erfolg und wurde bald<br />

außerhalb des Zoos kopiert. Das jogo do bicho war geboren (vgl. Jório und de<br />

Araújo 1975: 60).<br />

Der Talon des jogo do bicho besteht aus 25 Tieren, die durchnumeriert sind. Zu<br />

jedem Tier bzw. jeder Zahl gehören 4 "Zehnergruppen", die man erhält, indem<br />

man die Zahl mit 4 multipliziert und die drei vorhergehenden Zahlen<br />

berücksichtigt. 54 Auch Hunderter- und Tausendergruppen, bestehend aus drei<br />

und vier Ziffern, können gesetzt werden. Durch Gruppenbildung, Umkehrung,<br />

Wiederholung etc. entstehen unzählige Kombinationsmöglichkeiten, die je nach<br />

Anzahl der Tips mit unterschiedlich viel Einsatz gesetzt werden können. Die<br />

Auslosung findet täglich in geheimen Lotterien statt, die banqueiros machen sich<br />

aber auch die offiziellen Ziehungen der staatlichen Lotterie zu Nutze, das<br />

bedeutet, die Bevölkerung erfährt aus dem Radio, ob sie beim illegalen jogo do<br />

bicho Glück gehabt hat.<br />

Der Riesenerfolg des jogo do bicho läßt sich einerseits durch den geringen<br />

Einsatz – bereits wenige Cruzeiros werden angenommen –, andererseits durch<br />

die Einfachheit des Setzens – die KundInnen können kompliziertere<br />

Rechnungen dem apontador überlassen, bei dem sie setzen und der ihre<br />

"Tierwünsche" in Zahlen übersetzt – erklären. Ausschlaggebend für einen Tip ist<br />

oft ein außergewöhnlicher Vorfall, der mit Zahlen in Verbindung steht. Der<br />

Geburtstag der Freundin, die Toranzahl des favorisierten Fußballvereins oder<br />

die Startnummer der "Sambaschule des Herzens" werden ebenso ausprobiert<br />

wie die Nummer des Grabes der verstorbenen Ehefrau, mit der Arsénio,<br />

Sambakomponist und Türbewacher im barracão der Mocidade, am Tag nach<br />

dem Begräbnis sein Glück versuchte.<br />

In den meisten Fällen wird aber ein Traum herangezogen, dessen Inhalt in Tiere<br />

uminterpretiert werden muß. Ein Lexikon für diese Art von Traumdeutung, die<br />

54 Die zum Kamel = 8 gehörigen dezenas beispielsweise lauten 29,30, 31 und 32.


80<br />

von Generation an Generation weitergegeben und in rudimentären Zügen von<br />

fast jeder/m beherrscht wird, kann gemeinsam mit einer Spielanleitung an allen<br />

Zeitungskiosken käuflich erworben werden (vgl. Jogo do Bicho. Como jogar e<br />

ganhar, o.J. und É fácil jogar no bicho, o.J.). Wenn man beispielsweise von<br />

einem König träumt, muß man auf den Löwen setzen. Natürlich kann die/der<br />

versierte SpielerIn auch in diesem Fall eine simpatía55 anwenden: "Die Person<br />

taucht ein brennendes Zündholz in ein Kaffeeglas; wen das Zündholz ausgeht,<br />

formt der Ruß ein Bild im Glas, das mit einem der 25 Tiere des Spiels<br />

identifiziert werden kann." (Jogo do Bicho. Como jogar e ganhar, o.J.: 18).<br />

Ein erster Kontakt zwischen Samba und jogo do bicho wurde anläßlich der<br />

Kampagne der Wochenzeitschrift "A Noite" im Jahr 1913 gegen das immer<br />

populärer werdende Glücksspiel in Rio de Janeiro geknüpft. Die Journalisten<br />

beschuldigten den damaligen Polizeichef der Inkompetenz und Mitschuld, und<br />

der Text des berühmten Samba "Pelo Telefone", der 1916 großen Erfolg beim<br />

Publikum und während des Karnavals feiern konnte, wurde inspiriert von den<br />

damaligen Ereignissen:<br />

O chefe da polícia Der Polizeichef<br />

Pelo telefone ließ per Telefon<br />

Mandou avisar mitteilen,<br />

Que na Carioca daß es auf der Carioca<br />

Tem uma roleta ein Roulette gibt,<br />

Para se jogar. wo man setzen kann.<br />

Als Donga den Samba aber 1917 registrieren ließ, zensurierte er den Text aus<br />

Angst vor Repressionen selbst, und auch auf der Platte ertönt die zahme<br />

Version:<br />

O chefe da folia Der Chef der Zerstreuung<br />

Pelo telefone ließ mir per Telefon<br />

Manda avisar, mitteilen,<br />

Que com alegria, daß es mit Fröhlichkeit<br />

Não se questione, außer Frage stehe,<br />

Para se brincar. ob man sich amüsieren dürfe.<br />

(vgl. Moura 1983: 76ff.)<br />

Die Ausbreitung des jogo do bicho in den Vorstadtbezirken von Rio de Janeiro<br />

fand gleichzeitig und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wachstum der<br />

Sambaschulen statt. Je dichter ein Vorstadtbezirk bevölkert war, mit desto mehr<br />

55 Ritual, das ausgeführt wird, oder Objekt, das verwendet wird, um eine Krankheit zu vermeiden<br />

oder zu heilen oder eine mißliche Situation zu vermeiden oder zu verbessern (vgl. auch Aurélio<br />

1986: 1587).


81<br />

Einnahmen konnte der bicheiro rechnen, und desto reicher war die<br />

Sambaschule des Bezirkes. Ein erfolgreicher banqueiro de bicho mußte neben<br />

guter Bewaffnung vor allem über organisatorisches Geschick verfügen, um sein<br />

Geschäft zu führen. Natal, Gönner der Sambaschule Portela, die 1923 im<br />

Hinterhof des Gartens seines Vaters gegründet wurde und deren Held Paulo da<br />

Portela sein Cousin war, organisierte das jogo im von ihm kontrollierten Bezirk<br />

folgendermaßen:<br />

Die Kunden setzten ihr Geld bei den pontos, den Annahmestellen an allen<br />

Ecken von Madureira. Als bicheiro wird derjenige bezeichnet, der am ponto das<br />

Geld entgegennimmt. Er wird von einem gerente, der für den ponto<br />

verantwortlich ist und mit 20% – 30% am Gewinn beteiligt ist, überprüft. Der<br />

mapeiro sammelt mehrmals täglich das Geld an den verschiedenen pontos ein<br />

und liefert es beim caixa, dem Kassier ab, der so den Überblick über Anzahl und<br />

Höhe der Einsätze behält. Der Besitzer des ponto und damit der Gewinner ist<br />

schließlich der banqueiro de bicho (vgl. Natal zit. bei Jório und de Araújo 1975:<br />

60). Im heutigen Sprachgebrauch werden sowhl die Person, die die Einsätze<br />

annimmt, als auch der banqueiro als bicheiro bezeichnet.<br />

Natal spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Sambaschulen. Er<br />

begann nach seinem Unfall, bei dem er einen Arm verlor, für einen banqueiro zu<br />

arbeiten und diente sich hoch. Prototyp der späteren patronos, der<br />

Schirmherren der Sambaschulen, kontrollierte er bald selbst das gesamte<br />

Einzugsfeld des Bezirkes Madureira und machte "seine" Sambaschule zu einer<br />

der wichtigsten von Rio de Janeiro (vgl. Jório und de Araújo 1975). Der Adler,<br />

das edelste Tier im jogo do bicho, ist sicher nicht zufällig im Wappen der Portela<br />

vertreten.<br />

Am 30. 4. 1946 ließ Marechal Dutra das Glücksspiel verbieten. Die Großen<br />

Gesellschaften, Karnevalsorganisationen, die das ganze Jahr hindurch als<br />

Männerclubs mit Glücksspiel funktionierten, waren auch aufgrund dieses<br />

Verbotes ab 1946 dem rapiden Verfall ausgesetzt (vgl. Pereira de Queiroz 1986:<br />

21). Das jogo do bicho existierte jedoch im Untergrund weiter, und Regierung<br />

und Polizei legen bis heute Unentschlossenheit im Umgang mit den banqueiros<br />

an den Tag. Wir haben schon im vorigen Kapitel festgestellt: "Die unterirdische<br />

Verbindung des bicheiro mit der Sambaschule sicherte für diesen die<br />

Unterstützung einer gewissen Wählermasse, die es ihm möglich machte, mit<br />

Politikern zu verhandeln, mit der Polizei, mit Mitgliedern der Regierung, mit dem


82<br />

Ziel, die Straflosigkeit seiner geheimen Aktivitäten sicherzustellen." (Pereira de<br />

Queiroz 1985: 22).<br />

Obwohl der Staat mit beträchtlichen Einnahmen rechnen könnte – gemäß einer<br />

Erhebung der MPM-Rio spielen 82% der Cariocas jogo do bicho (vgl. Jornal do<br />

Brasil 20. 10. 1991) – hatte bisher noch keine Regierung den Mut oder das<br />

Interesse, den Filz aus illegalem Glücksspiel, Waffen- und Drogenhandel sowie<br />

Bestechung zu beseitigen.


83<br />

6.2. Finanzierung und Kontrolle des Karnevals<br />

Mit ihren Investitionen im Bereich der Sambaschulen gelingt es den banqueiros<br />

de bicho, den Eindruck zu vermitteln, sie seien so natürlich im Karneval von Rio<br />

verankert wie die ala das baianas. Wie konnte es dazu kommen?<br />

Tatsächlich waren die banqueiros seit dem Beginn der Organisation des Samba<br />

in den Sambaschulen präsent, bzw. waren auch immer einige sambistas im<br />

Umfeld des Glücksspiels tätig, da bicheiros und sambistas aus der gleichen<br />

Gesellschaftsschicht stammten (vgl. dazu Chinelli 1991: 17). Die bicheiros<br />

wurden also im Gegensatz etwa zu prominenten destaques nicht als<br />

Eindringlinge angesehen. Der carnavalesco Joãosinho Trinta erzählte über<br />

seinen Arbeitsplatz, die Sambaschule Beija-Flor: "In Nilópolis hatte die<br />

Sambaschule nicht diese Kraft einer Sambaschule vom morro, wie eine<br />

Mangueira, wie die Salgueiro zum Beispiel. […] Allerdings hatte ich die<br />

Erleichterung, daß Nilópolis erstens eine comunidade mit großer Zahl, aber mit<br />

kleiner Ausdehnung ist, und vor allem, daß die Beija-Flor ein Direktorium hat,<br />

das sehr mit dieser comunidade verbunden ist, das sind die »Zoomakler«. Die<br />

Zoomakler durchdringen sie tief, vor allem weil sie nicht von außen kommen.<br />

Anisio und Nélson wurden dort in Nilópolis geboren. Nélson ist verheiratet mit<br />

der Tochter einer der Gründerinnen der Beija-Flor. Sie sind keine Personen, die<br />

von außen kamen, um das jogo do bicho einzurichten. Sie sind sehr verwurzelt<br />

in Nilópolis, und das erleichterte mir diese Arbeit der Einrichtung der<br />

Sambaschule sehr." (Psicanálise da Beija-Flor 1985: 34).<br />

Während die Sambaschulen aber durch ihre Institutionalisierung den Status der<br />

Legalität erlangten, wurde das jogo do bicho in die Illegalität gedrängt. Nach<br />

dem allgemeinen Glücksspielverbot verfolgten die banqueiros verschiedene<br />

Strategien, um sich mit dem Repressionsapparat zu arrangieren. Eine davon<br />

war ihr Engagement in den Sambaschulen, das als öffentliche und zumindest<br />

akzeptable Seite des jogo do bicho angesehen wird.<br />

Die 60er Jahre markieren den Beginn der Beziehung Sambaschulen –<br />

banqueiros auf institutionaler Ebene. Was bisher das "Privatvergnügen" einiger<br />

sambabegeisterter bicheiros war, wurde nun systematisiert, viele Sambaschulen<br />

bekamen einen Schirmherren, einen patrono. Ab den 70er Jahren entledigten<br />

sich die Schirmherren zusehends ihrer Vorsilbe und spielten nun in einem<br />

ausgedehnten Machtbereich die Rolle des dono (vgl. Chinelli 1991: 1f.). Trotz


84<br />

der Wichtigkeit ihrer Figur wurde die konkrete Beziehung zu den Sambaschulen<br />

immer unpersönlicher: "[…] die Schirmherrschaft wird jedes Mal über eine<br />

umfangreichere Skala von institutionell organisierten Hilfestellungen, die nur<br />

eine indirekte Verbindung mit den banqueiros-patronos unterhält, ausgeübt."<br />

(Chinelli 1991: 4).<br />

Ihr Engagement in den Sambaschulen lohnt sich für die banqueiros nicht nur<br />

aus Öffentlichkeitsgründen, sondern auch für die interne Struktur des jogo do<br />

bicho. "[…] Die Sambaschulen waren Elemente, die die lebenswichtige<br />

ökologische Basis für die Definition der räumlichen Grenzen der Organisationen<br />

des jogo do bicho bildeten." (Chinelli 1991: 22). Wer dono einer Sambaschule<br />

ist, kontrolliert automatisch ihr Einzugsgebiet und kann mit der Loyalität der<br />

lokalen Bevölkerung rechnen bzw. diese erzwingen.<br />

Die "Unabhängigkeit" der Sambaschulen, die keinen dono haben, ist nur relativ,<br />

da auch sie von der Gewinnausschüttung der LIESA leben. Dazu kommt, daß<br />

die Chancen der Unabhängigen immer schlechter stehen, was ihnen keine<br />

große Zukunft verspricht. Luis Fernando, carnavalesco, über die Sambaschule<br />

Caprichosos de Pilares: "Die finanzielle Grenze muß man auch sehen. Die<br />

Caprichosos hat viel weniger Möglichkeiten als andere Sambaschulen. Eine<br />

Sambaschule mit bicheiro hat viel mehr Geld. Obwohl ich glaube, daß die<br />

Sambaschule das sehr… sehr klar zugibt, und das ist sehr gefährlich. Zugeben,<br />

daß man kein Geld hat, ist eine armselige Sache. Und die Leute beginnen, das<br />

zu wissen." (E11).<br />

Die Finanzspritzen der banqueiros ermöglichen es der Sambaschule, Ausgaben<br />

kurz nach dem letzten Karneval zu tätigen, wenn sie noch keine offizielle<br />

Unterstützung erhalten. Hier spielt natürlich wieder die Inflation eine große<br />

Rolle. "Das Geschäft mit den Stoffen und anderen Artikeln, die von den<br />

sambistas verwendet werden, verändert sich mit dem Herannahen des<br />

Karnevals. Die Leiter des Samba wissen, je näher die Regierung Momo56 rückt,<br />

desto höher werden die Preise dieser Artikel sein. Deshalb versuchen die<br />

Sambaschulen, wann immer es die finanziellen Bedingungen erlauben, ihre<br />

Einkäufe möglichst im voraus zu erledigen." (Rodrigues de Moraes 1978: 143).<br />

Die finanziellen Vorteile für die banqueiros selbst sind leicht erkennbar:<br />

Spenden müssen nicht versteuert werden, und Geld, das zu ihnen zurückfließt,<br />

56 König Momo "regiert" während des Karnevals die Stadt Rio de Janeiro.


85<br />

ist reingewaschen. Vor allem aber beträgt der geschätzte Aufwand der<br />

banqueiros für den Karneval weniger als 2% ihres Jahresumsatzes (vgl. de<br />

Souza 1992: 47), sodaß diese Summe angesichts der bereits oben genannten<br />

Vorteile sicher gut investiert ist.<br />

Den Höhepunkt ihrer Einflußnahme auf die Sambaschulen erreichten die<br />

banqueiros mit der Gründung der LIESA im Jahr 198457 . Wenn man heute einen<br />

Blick auf die Präsidenten der Sambaschulen wirft, bekommt man eine Liste der<br />

Köpfe des jogo do bicho (vgl. de Souza 1992: 44ff.).<br />

Name Funktion Organisation<br />

Aílton Guimarães Jorge (Capitão Guimarães) Präsident LIESA<br />

Valdemiro Garcia (Miro) Präsident Salgueiro<br />

Luiz Pacheco Drumond (Luizinho) Präsident Imperatriz<br />

Aniz Abraão David-Anísio Präsident Beija-Flor<br />

José Carlos Monassa Präsident Viradouro<br />

Carlos Teixeira Martins (Carlinhos Maracanã) Präsident Portela<br />

Castor de Andrade Silva Schirmherr Mocidade<br />

José Petrus (Zinho) Schirmherr Estácio<br />

Alle hier genannten werden immer wieder mit Verbrechen in Verbindung<br />

gebracht bis auf Zinho, der sich selbst als Sprecher der banqueiros bezeichnet.<br />

Capitão Guimarães, Präsident der LIESA, ist wegen seiner Grausamkeit<br />

während der Militärdiktatur bekannt. In den 70er Jahren wurde er gemeinsam<br />

mit anderen angeklagt, Mitglied einer quadrilha, einer paramilitärischen Gruppe<br />

zu sein, das Militärgericht sprach ihn aber frei. Guimarães verließ das Militär und<br />

stellte mit Hilfe von Castor de Andrade Kontakt zum damals reichsten banqueiro<br />

Rios her. 1977 wurde eine Untersuchung gegen Guimarães wegen Mordes in<br />

Zusammenhang mit illegalem Glücksspiel plötzlich abgebrochen. 1989 wurde<br />

Guimarães im Rahmen der "Operation Dinosaurier" für 14 Tage inhaftiert (vgl.<br />

Meinel 1993: 50ff.). 1992 klagte die Staatsanwaltschaft 14 banqueiros in Rio<br />

wegen Bandenbildung zur Unterstützung des Glücksspiels mit Mord, Entführung<br />

und Folter an.<br />

Trotz dieser "schiefen" Optik, in die auch die Sambaschulen mithineingezogen<br />

werden, sind die Investitionen der banqueiros gefragt wie nie zuvor. Die<br />

Sambaschulen können es sich leisten, Geld anzunehmen, ohne zu fragen,<br />

57 s. Kapitel 5.4.


86<br />

durch welche Art von Geschäften es erwirtschaftet wurde. In den Augen ihrer<br />

Mitglieder macht sie sich dadurch in keiner Weise schuldig, wie ich in vielen<br />

Gesprächen feststellen konnte, die alle ähnlich wie das folgende verliefen:<br />

"Die Mocidade wird wieder siegen, denn sie hat alles, was sie braucht."<br />

"Was bedeutet »alles«?"<br />

"Sie hat Geld."<br />

"Die Sambaschule hat einen bicheiro, oder?"<br />

"Schau, Castor de Andrade borgt der Mocidade Geld, aber die Sambaschule hat<br />

nichts mit dem jogo do bicho zu tun. Nach dem Karneval gibt sie alles zurück."<br />

"Wie schafft sie das?"<br />

"Mit Shows und all dem …"<br />

Diejenigen, die von der Arbeit für die Sambaschule leben, haben ein ganz<br />

pragmatisches Interesse daran, daß die banqueiros sich nicht wieder<br />

zurückziehen. Sie wissen, daß nicht nur der Erfolg der Sambaschule, sondern<br />

auch ihr Arbeitsplatz ohne den patrono gefährdet wäre. Danda, Chefsekretärin<br />

des barracão der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel,<br />

erklärte: "Was würde aus der Sambaschule, aus uns werden, wenn es keinen<br />

bicheiro gäbe? Wer würde herkommen? Wenn sie eines Tages weggehen<br />

wollten, wie werden wir unsere Sambaschule erhalten? Das heißt es ist nicht<br />

gut, es ist super, daß sie hier sind. Denn wenn er morgen oder später plötzlich<br />

kommt: »Ich bin der Sambaschule müde, ich werde aufhören mit der<br />

Sambaschule« – was dann? Wer wird die Mocidade nehmen wollen? Und<br />

wieviel werde ich dann verdienen? Ich bete zu Gott daß wir sie viele, viele Jahre<br />

hier haben." (E4).<br />

Wir können beobachten, wie die banqueiros im Diskurs der Verantwortlichen<br />

einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Ihr Verdienst ist nicht mehr auf die<br />

finanzielle Ebene beschränkt, Fernando, Präsident der Sambaschule<br />

Caprichosos, bezeichnete sie gar als Träger einer kulturellen Entwicklung:<br />

"Manchmal erhalten sich die Sambaschule von Rio de Janeiro auf Kosten von<br />

reichen patronos, den banqueiros, vor allem den banqueiros de bicho, die die<br />

momentan großen Verantwortlichen für den Erfolg des desfile der<br />

Sambaschulen, denn in Wirklichkeit investieren sie viel Geld, viel mehr als der<br />

Gewinn der Sambaschule ist, und damit haben sie das desfile der<br />

Sambaschulen in ein desfile verwandelt, das heute so internationalen Ruf hat.<br />

Die ganze Welt spricht heute vom desfile der Sambaschulen. Das ist<br />

offensichtlich diesen Leuten zu verdanken, die investieren, weil sie den Samba


87<br />

mögen, oder weil es… notwendig ist, ihre Kompetenz anhand, unabhängig vom<br />

jogo do bicho, auch anhand einer anderen Aktivität zu zeigen. Und damit<br />

beteiligen sie sich an der Kultur, denn die Sambaschule ist Kultur, die<br />

brasilianische Musik, der Samba ist das Herz der Kultur, und es ist<br />

offensichtlich, daß sie der brasilianischen Musik Dienste mit… diesen Spenden<br />

erweisen, die sie ihren Sambaschulen machen… […]" (E1).<br />

Es wird nachvollziehbar, wie der banqueiro, der illegale Geschäfte macht, als<br />

legale Person begriffen wird. Chiquinho, Chef des barracão der Sambaschule<br />

Mocidade Independente, meinte: "Ich sehe den bicheiro nicht als Verbrecher an.<br />

Ich finde, bicheiro ist ein Beruf wie jeder andere. Also ziehe ich es vor,<br />

folgendes zu sagen, daß diese Leute Unternehmer sind. Der den Sambaschulen<br />

und ihren comunidades, wo er seine Geschäfte macht, viel hilft." (E3).<br />

Indem die Sambaschulen mit banqueiros de bicho verbunden sind, fungieren sie<br />

als Bindeglied zwischen der "Gesellschaft des Verbrechens" und der<br />

"Gesellschaft der Ordnung". Die banqueiros nutzen die Trennung in arm und<br />

reich geschickt für sich aus, und die schon oben erwähnte Rivalität zwischen<br />

den Vorstadtbezirken, die von den Sambaschulen im Wettbewerb ausgetragen<br />

wird, "entwickelt sich zum wirkungsvollen Instrument ihrer Integration [der<br />

banqueiros] in die Gesellschaft von Rio" (Pereira de Queiroz 1985: 33).<br />

Aufgrund dieser Situation haben die PolitikerInnen keine Schwierigkeit, sich mit<br />

den banqueiros in aller Öffentlichkeit zu arrangieren. Die banqueiros sind wie<br />

die Sambaschulen in das Netz des politischen Klientelismus eingebunden. Da<br />

sich die PolitikerInnen mit den Sambaschulen verbinden wollen, müssen sie das<br />

automatisch auch mit den bicheiros tun. Diese haben sich quasi<br />

zwischengeschaltet, der Kontakt PolitikerInnen – Sambaschulen muß in vielen<br />

Fällen den Umweg über die donos machen. Gegen die Zusicherung, das jogo<br />

do bicho relativ ungestört abwickeln zu können, vermitteln sie Wählerstimmen.<br />

"The bicheiro’s "donations" can be credited to a politician who will promise the<br />

bicheiro protection from the law in exchange for the votes which samba school<br />

members give to the political figure whom they see as their benefactor." (Taylor<br />

1982: 304).<br />

Mitte der 80er Jahre bekam die Zusammenarbeit zwischen Politik und<br />

Glücksspiel eine neue Qualität. "Mit dem [Wahl-]Sieg von [Gouverneur] Leonel<br />

Brizola begannen die bicheiros, einen neuen Raum in den Beziehungen mit den


88<br />

Behörden auszunützen, deren Aufgabe es war, den Karneval zu verwalten. [...]<br />

Der Staat erkannte es offiziell als Verdienst dieser Herren an, daß das<br />

Karnevalsfest dorthin gekommen war, wo es hingekommen war." (Souza et alii<br />

1988: 157). Staatspräsident Itamar Franco setzte dieser Beziehung die Krone<br />

auf, als er 1993 die Köpfe des jogo do bicho in Brasília empfing. "In einer kurzen<br />

improvisierten Rede rechtfertigte Präsident Itamar Franco das Treffen mit<br />

Präsidenten und Repräsentanten der 14 größten Sambaschulen von Rio –<br />

deren Großteil von bicheiros kommandiert wird – und sagte, er halte es für<br />

Heuchelei, wenn eine Autoritätsperson sie nicht empfangen und danach dem<br />

Karneval von einer Loge aus beiwohnen würde. [...] Die erste Reihe der<br />

Gesetzesübertretung – unter ihnen der Präsident der Liga das Escolas de<br />

Samba, Aílton Guimarães Jorge, Capitão Guimarães; Luizinho Drummond,<br />

Präsident der Imperatriz Leopoldinense; Castor de Andrade, von der Mocidade<br />

Independente; Anísio Abraão David, von der Beija-Flor; und Miro, vom Salgueiro<br />

– konnte nicht bei dem Treffen erscheinen, da die Gesetzesübertreter angeklagt<br />

sind und es ihnen verboten ist, Rio zu verlassen." (Jornal do Brasil 5. 2. 1993)<br />

"»Viele Leute haben Vorurteile gegen diese Menschen«, sagte er zum JORNAL<br />

DO BRASIL. »Sie sind unverzichtbarer Teil der großen Volkskunst«, verteidigte<br />

er sie." (a.a.O.).<br />

Von dieser Aussage des Staatsoberhauptes ist es nur ein kleiner Schritt zum<br />

Mythos vom banqueiro de bicho als sozialen Rebellen.


89<br />

6.3. Glücksspielbarone als Sozialarbeiter<br />

Die Symbiose, die die Vertreter der Ordnung und jene der Gesetzesübertretung<br />

eingegangen sind, kann nach Chinelli als "eine Strategie des Staates im Sinn<br />

einer Entgegnung auf die wachsende Macht und Unabhängigkeit der<br />

Sambaschulen" angesehen werden. "[…] der Staat »erlaubte«, daß die<br />

Sambaschulen zunehmend von den banqueiros kontrolliert wurden […]"<br />

(Chinelli 1991: 26), und mit ihnen generell die unaufhörlich wachsende<br />

Bevölkerung der Vorstadtbezirke von Rio de Janeiro.<br />

"[…] im Netz des bicho wie auch in den Sambaschulen […] findet die arme<br />

Bevölkerung Mittel zur Subsistenz und zum Überleben, mit der Hoffnung auf<br />

eine bessere Zukunft, sozialen Aufstieg oder plötzliches Vermögen" (Pereira de<br />

Queiroz 1985: 23). Der Wirkungsbereich der banqueiros beschränkt sich nicht<br />

auf das jogo do bicho und die internen Angelegenheiten der Sambaschulen. Sie<br />

haben durch ihre Aktivitäten den Arbeitsmarkt der Vorstadtbezirke entscheidend<br />

vergrößert und in vielen Fällen einen Beitrag zur Stadtentwicklung geleistet. Die<br />

Präsenz der banqueiros bedeutet für die lokale Bevölkerung trotz der<br />

alltäglichen Gewalt, die sie mitverursachen, eine spürbare Verbesserung ihrer<br />

Lebensverhältnisse. Zweifellos stehen sie außerhalb des Rechts, aber sie<br />

übernehmen soziale Funktionen, die früher dem Staat oblagen. "Der bicheiro,<br />

Mäzen einer großen Sambaschule und Herr eines Vorstadtbezirkes, wird so<br />

zum großen Spender von Wohltätigkeit an die Bewohner, Ordnungs- und<br />

Stabilitätsfaktor für jene, die ihn unterstützen, und man findet seine Herrschaft<br />

außerodentlich verstärkt." (Pereira de Queiroz 1985: 24).<br />

Natal, patrono der Portela, soll in Madureira 41 Straßen gepflastert und 3<br />

Kirchen erbaut, die umliegenden morros mit Wasser versorgt, in der Favela da<br />

Irmandade São José da Pedra 200 Hütten aufgestellt, Begräbnisse in seiner<br />

Nachbarschaft bezahlt und das Sanatorium Santa Maria in Jacarepaguá, das<br />

Spital Carlos Chagas und das Waisenhaus São José in Méier unterstützt haben<br />

(vg. Jório und de Araújo 1975: 24). Capitão Guimarães, in den 80er Jahren<br />

Präsident der Sambaschule Vila Isabel, unterstützte die Bevölkerung des Morro<br />

do Macaco und des morro Pau da Bandeira finanziell und sorgte für<br />

Telefonleitungen, ein Ambulatorium und die Anwesenheit eines Mediziners<br />

zweimal in der Woche (vgl. Meinel 1993: 107).


90<br />

Vom Geld Anísios, Präsident der Beija-Flor, wurden in Nilópolis, einem<br />

Regierungsbezirk im Norden Rios, Kindergärten, Schulen und Werkstätten<br />

finanziert (vgl. do Pazo Ferreira 1982: 13f.). Die Kehrseite dieser Macht wird aus<br />

einer Aussage des carnavalesco Joãosinho Trinta, der immer offen dazu stand,<br />

mit dem "schmutzigen" Geld seines Gönners Sozialprojekte zu organisieren,<br />

ersichtlich: "Gut, zunächst ging ich schon [zur Beija-Flor], weil ich bei Anísio die<br />

Geneigtheit fühlte, die Sachen zu tun. Um dir besser zu antworten, Osmar<br />

Valença ist so ein Schlappschwanz, daß er der einzige bicheiro ist, dessen<br />

ponto von einem Mitglied der eigenen comunidade überfallen wurde. Dort in<br />

Nilópolis, wenn irgendjemand nur daran denkt, etwas zu tun, wacht er am<br />

nächsten Morgen mit einem Maul voll Ameisen auf. […] Denn nur so kannst du<br />

die Sachen wirklich machen." (Joãosinho in Psicanálise 1985: 39).<br />

Die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter der banqueiros nehmen nicht nur<br />

die prominentesten Positionen beim desfile der Sambaschule ein, sondern<br />

erfüllen ebenfalls soziale Augaben. Soninha, porta-bandeira der Mocidade, sagt<br />

über Beth Andrade, Schwiegertochter des banqueiro Castor de Andrade: "Ich…<br />

ich töte die Leute von der Mocidade mit einer Frage […]. Wer ist wichtiger für die<br />

Mocidade? Ich, Soninha, oder Dona Beth? Da bekommmen sie einen Schreck.<br />

Ich sage: Am wichtigsten für die Mocidade ist Dona Beth. Wenn du fragst, wer<br />

ist sambista – sambista bin ich. Aber wer ist wichtiger für die Mocidade? Dona<br />

Beth. Warum ist Dona Beth wichtiger? Weil Dona Beth Mittel hat, eine Arbeit für<br />

die Sambaschule und die comunidade zu machen, die ich, Soninha, sambista,<br />

nicht habe. Wenn ich also die Mocidade Independente mag, wenn ich den<br />

Bezirk mag, in dem ich lebe, muß ich zurücktreten und Dona Beth unterstützen.<br />

Ich werde nicht Dona sein wollen, ohne die Mittel dazu zu haben. Wir sind in<br />

einem Land, wo das Wichtige das Geld ist. […] Dona Beth hat die Mittel, den<br />

Traum von 300 Kindern zu realisieren, was die Mutter, der Vater, der sehr arm<br />

ist, nicht kann, also geht sie hin, sie verschenkt ein Kostüm, sie gibt ein Fest, sie<br />

verschenkt Guaraná, sie schenkt Glück. Sie macht etwas, was wir nicht machen<br />

können, also müssen wir ihre Freundin sein, sie mögen, ihre Arbeit unterstützen<br />

und ihr helfen."<br />

Daß diese Unterstützung nicht bedeutet, daß sie ihren Stolz aufgegeben hat,<br />

beweist Soninha trotzdem: "Letztes Jahr hat uns Beth zu sich nach Hause<br />

eingeladen. Ich wollte nicht hingehen, sagte, es sei schwierig für mich ohne<br />

Auto, aber sie hat einen Autobus gemietet. Also mußte ich gehen. Aber ich blieb<br />

nur eine Stunde, stell dir vor, ich werde Shrimps an nur einem Tag essen und


91<br />

am nächsten Tag wieder Bohnen mit Reis? Nicht mit mir." (E8). Über Beths<br />

Motive läßt Soninha keine Zweifel: "Sie kann sich nur bei uns wichtig machen,<br />

denn da sie die Schwiegertochter eines Straftäters ist, akzeptieren sie die<br />

anderen nicht. Aber in unserem Milieu kann sie von oben herabschauen." (E8).<br />

Die banqueiros wissen ihr soziales "Engagement" gut zu vermarkten. Da sie<br />

salonfähig geworden sind, steht ihnen auch das Fernsehen zu Verfügung, und<br />

sie können in TV-Diskussionen und Interviews vor einem Millionenpublikum<br />

aussprechen, wie groß ihr Beitrag für eine bessere Gesellschaft sei. Sie<br />

sprechen im Namen des Samba und im Namen des Volkes, und sie werden für<br />

ihre Dienste an beiden belohnt: Die Stadträte von Rio de Janeiro verliehen 1991<br />

die Medaille Pedro Ernesto, die höchste Auszeichnung der Stadt, nach Daniel<br />

Ortega, Chico Mendes, Fidel Castro, Luíza Erundina58 an Carlinhos Maracanã,<br />

banqueiro und Präsident der Portela für "dem Bangu Atlético Clube59 erwiesene<br />

Dienste". Der Stadtrat, der Carlinhos vorgeschlagen hatte, dürfte dies mit einem<br />

Auge auf die bald anstehenden Wahlen getan haben (vgl. Jornal do Brasil 15.<br />

12. 1991).<br />

Die Sambaschulen verwenden das Geld der banqueiros de bicho nicht nur, um<br />

ihren Karneval zu bezahlen, sondern auch um nicht karnevalsabhängige<br />

ganzjährige Aktivitäten in Angriff nehmen zu können. Sie begeben sich dadurch<br />

aber nicht nur in finanzielle Abhängigkeit. Der Druck der banqueiros auf den<br />

kreativen Teil der Sambaschule wird immer größer. Auf die indirekte<br />

Beeinflussung des künstlerischen Ausdrucks über die Bewertung des desfile<br />

wurde bereits in Kapitel 5.4. eingegangen. Doch auch die direkte bei<br />

Versammlungen des Direktoriums und im Bereich des barracão nimmt zu.<br />

Alexandre Louzada, carnavalesco der Sambaschule Grande Rio, sagte: "Es<br />

kommt auf den bicheiro an. Es gibt bicheiros, denen gefällt […] der Karneval an<br />

sich. Es gibt andere, die die Sambaschule nur als Botschaft verwenden, das tun<br />

alle, nicht, sie sind Gesetzesübertreter und benützen die Sambaschule als<br />

Entschuldigung gegenüber der Gesellschaft. Aber sie erfüllen in der Mehrzahl<br />

die soziale Funktion, die alle machen sollten. Was mit den banqueiros heute<br />

passiert ist, daß sie ihre Rolle, nur patrono zu sein, das Kostüm für den zu<br />

zahlen, der es nicht konnte, der Sambaschule zu helfen, aufgaben, um Leiter zu<br />

sein." (E7).<br />

58 Erundina war die erste weibliche Bürgermeisterin in Brasilien in der Stadt São Paulo.<br />

59 Die Sambaschule Portela benützt das Fußballfeld dieses Clubs für die letzten Proben vor dem<br />

desfile.


92<br />

Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen die Sambaschulen kämpfen müssen, ist<br />

ihre Popularität in den 90er Jahren ungebrochen. Wie diese Organisationen<br />

heute einen Karneval vorbereiten, zeigt das nächste Kapitel.


Illustration<br />

93


7. SAMBASCHULE AG 60<br />

94<br />

Superescolas-de-samba S/A, superalegorias Supersambaschulen AG, Superalegorias<br />

Escondendo gente bamba, que covardia Die ihre Tänzer verstecken, welche<br />

Feigheit<br />

Bum, bum, paticumbum, prugurundum Bum, bum, paticumbum, prugurundum<br />

Nosso samba, minha gente, é isso aí Unser Samba, meine Leute, geht so<br />

Bum, bum, paticumbum, prugurundum Bum, bum, paticumbum, prugurundum<br />

Contagiando a Marquês de Sapucaí Der die Marquês de Sapucaí (das<br />

sambódromo) ansteckt<br />

samba-enredo 1982 der Sambaschule Império Serrano<br />

Die großen Sambaschulen der 90er Jahre haben laut Statuten dieselben Ziele<br />

wie die ersten Sambaschulen, die Ende der 20er Jahre in Rio de Janeiro<br />

entstanden sind: die Vorbereitung ihres Auftritts im Karneval. Im Gegensatz zu<br />

ihren Vorgängerinnen müssen sie aber mit zwei verschiedenen<br />

Organisationsmustern fertig werden: die Angehörigen des "Vereins"<br />

Sambaschule, die den Kern bilden, die die Sambaschule das ganze Jahr über<br />

am Leben erhalten und für die diese abgesehen von der Karnevalsvorbereitung<br />

auch andere soziale Bedürfnisse befriedigt, sind schon lange nicht mehr ident<br />

mit den Personen, die am desfile teilnehmen. Um die vielen Menschen, die zum<br />

Teil erst am Tag des Wettbewerbs die Reihen der Sambaschule auffüllen,<br />

organisatorisch einzubinden, mußte eine Art Clubbetrieb in den Monaten vor<br />

dem Karneval bereitgestellt werden, der zu dieser Zeit die interne<br />

Vereinsstruktur überlagert, was immer wieder zu Spannungen führt (vgl.<br />

Rodrigues 1984: 81ff.). Die finanzielle Abhängigkeit von PolitikerInnen und<br />

banqueiros de bicho, auf die bereits in den Kapiteln 5. und 6. eingegangen<br />

wurde, und die Tatsache, daß auch der Kern selbst heterogen<br />

zusammengesetzt ist, verkomplizieren den Sachverhalt zusätzlich.<br />

60 Die in diesem Kapitel getroffenen Aussagen basieren, soweit nicht anders ausgewiesen, auf<br />

meinen Beobachtungen während meines Feldforschungsaufenthaltes und auf den dabei<br />

geführten Gesprächen.


7.1. Interne Organisationsstruktur<br />

95<br />

Der Kern einer Sambaschule ist in Übereinstimmung mit den Werten und<br />

Prinzipien der Gesamtgesellschaft hierarchisch und autoritär strukturiert. Das<br />

ausgeprägte Bewußtsein aller Regeln, die mit Beibehaltung, Verlust oder<br />

Bedrohung der sozialen Position zusammenhängen, das einem solchen<br />

Gesellschaftssystem inhärent ist, führt auch im Bereich der Sambaschule dazu,<br />

das "alles an seinem Platz sein muß" (vgl. da Matta 1983: 139ff.). Wenn eine<br />

solche Hierarchisierung in der Vergangenheit bedeutete, daß die<br />

Sambaschulangehörigen, die fast alle der minderprivilegierten Unterschicht<br />

angehören, ihre niedrige soziale Position umkehren konnten, indem sie eine<br />

prestigeträchtige Funktion in der Sambaschule ausübten, muß man heute<br />

bemerken, daß zumindest alle entscheidenden Leitungspositionen von<br />

Personen besetzt sind, die nicht aus der comunidade stammen.<br />

Laut Wettbewerbsreglement, das 1989 zuletzt herausgegeben wurde, besteht<br />

eine Sambaschule aus sambistas dirigentes, die stimmberechtigte Mitglieder<br />

sind, und sambistas componentes, die am desfile im Karneval teilnehmen. Die<br />

sambistas dirigentes, auch sócios genannt, bilden in ihrer Gesamtheit die<br />

assembleia geral (die Generalversammlung), die die meist 30 Mitglieder des<br />

conselho deliberativo (der beschlußfassenden Versammlung) wählt. Der<br />

conselho wählt das Direktorium der Sambaschule (vgl. Empresa de Turismo<br />

1989: 108ff.), die sich in der Regel zusammensetzt aus<br />

Präsident der Sambaschule<br />

Vizepräsident der Sambaschule<br />

Sekretär<br />

Vizepräsident des Departamento Financeiro (Finanzabteilung)<br />

Vizepräsident des Dep. do Património (Abteilung Patrimonium)<br />

Vizepräsident des Dep. Jurídico (Juristische Abteilung)<br />

Vizepräsident des Dep. de Eventos oder Dep. Cultural (Kulturelle Abteilung)<br />

Vizepräsident des Dep. de Relações Públicas (Medienabteilung)<br />

Vizepräsident des Dep. Feminino oder Dep. Social (Frauenabteilung [sic!] oder<br />

Sozialabteilung, zuständig für die Feste)<br />

Vizepräsident des Dep. de Esporte (Sportabteilung)<br />

Vizepräsident des Dep. do Carnaval (Karnevalsabteilung, zuständig für alles,<br />

was mit dem desfile zusammenhängt)


96<br />

Vizepräsident des Dep. Musical (Musikabteilung, zuständig für die<br />

KomponistInnen und InterpretInnen)<br />

Vizepräsident der Bateria.<br />

Die Vizepräsidenten der verschiedenen Abteilungen bestimmen ihrerseits<br />

Direktoren, um die Kommunikation zu erleichtern. In der Praxis hat jede<br />

Sambaschule eine unterschiedliche Anzahl von Abteilungen. Auch die Wahlmodi<br />

sind je nach Sambaschule verschieden, und dementsprechend unterschiedlich<br />

können trotz gleichlautender Titel die Machtbefugnisse sein. In der<br />

Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel beispielsweise gibt es<br />

das Amt des Präsidenten des conselho deliberativo, das mehr<br />

Entscheidungsgewalt als das des Präsidenten der Sambaschule hat und sicher<br />

nicht zufällig vom Sohn des patrono, des banqueiros Andrade, bekleidet wird. In<br />

der Sambaschule Caprichosos de Pilares hingegen spielt der conselho nur eine<br />

untergeordnete Rolle, hier bestimmt der Präsident, wer Vizepräsident einer<br />

Abteilung wird. Die im Reglement vorgesehene Trennung in sócios und<br />

componentes wird ebenfalls sehr individuell gehandhabt. So unterscheidet<br />

beispielsweise die Caprichosos statt zwischen sócios und componentes<br />

zwischen stimmberechtigten componentes und nicht stimmberechtigten<br />

componentes, da sócios abgesehen von einem geringen monatlichen Beitrag<br />

keinen Eintritt etc. bezahlen müssen und deshalb "schlecht für das Geschäft"<br />

sind.<br />

Abgesehen vom Präsidenten hat das Direktorium ein Monopol auf alle<br />

endgültigen Entscheidungen. Es kontrolliert den Informationsfluß innerhalb der<br />

Sambaschule und fungiert als Sprachrohr zur Außenwelt. Die häufigen<br />

Sitzungen des Direktoriums und die der Vizepräsidenten mit ihren Direktoren<br />

finden alle unter größter Geheimhaltung statt. Nicht nur Außenstehenden ist aus<br />

Angst der Sambaschulen vor "Betriebsspionage" der Zutritt streng verboten,<br />

sondern auch die "gewöhnlichen" Mitglieder dürfen nicht daran teilnehmen. Die<br />

LeiterInnen der Sambaschulen können ihre übergeordnete Stellung aufgrund<br />

des Informationsvorsprungs stärken und auch legitimieren. Neben den<br />

anfallenden administrativen Belangen werden in den Sitzungen vor allem auch<br />

Personalentscheidungen getroffen. Besonders nach einem Mißerfolg kommt es<br />

häufig zu personellen Veränderungen, die aber selten die absolute Spitze<br />

betreffen. Wie bereits erwähnt, gehören die meisten Präsidenten und<br />

Vizepräsidenten nicht der comunidade an, eine Ausnahme bildet dabei der<br />

Vizepräsident der bateria.


97<br />

Die componentes sind laut Reglement in spezialisierte und nicht spezialisierte<br />

sambistas eingeteilt. Die nicht spezialisierten sambistas sind auf alas, das heißt<br />

auf Gruppen aufgeteilt, die in der Regel aus 100 bis 200 Personen bestehen, die<br />

zum Großteil nicht mit denjenigen ident sind, die den Kern der Sambaschule<br />

bilden, sondern entweder aus der comunidade oder aus der Südzone von Rio<br />

de Janeiro stammen61 . "Die, die wirklich von außen kommen, sind mehr<br />

Personen, die in den alas gehen, und die, die von nahe kommen sind die<br />

Personen, die als passistas gehen, […] die Personen von der Gegend dort, die<br />

wirklich dort in der Nähe wohnen, gehen alle als passistas." (E2).<br />

Unter die Kategorie spezialisierte sambistas fallen<br />

Passistas: SolotänzerInnen,<br />

Ritmistas: Solomusiker, die während des Spielens auch Tanzeinlagen bieten,<br />

Instrumentistas: Mitglieder der bateria,<br />

Compositores: KomponistInnen der Sambaschule,<br />

Puxadores de Samba: InterpretInnen des samba-enredo,<br />

Porta-Bandeira/Mestre-Sala: Fahnenträgerin/Solotänzer,<br />

Baianas: traditionelle und obligatorische ala, die sich aus meist älteren Frauen<br />

zusammensetzt und deren Kostüme an die Tracht der tias baianas erinnern,<br />

Velha Guarda: "Alte Garde", setzt sich aus den Gründungsmitgliedern bzw. den<br />

ältesten Sambaschulangehörigen zusammen,<br />

Destaques: Einzelpersonen, die auf den carros alegóricos die Hauptfiguren des<br />

enredo darstellen.<br />

Die destaques wurden mit dem Eintritt der carnavalescos in die Sambaschulen<br />

extrem aufgewertet und sind nicht nur im desfile die "Stars", sondern werden<br />

auch vorzugsweise mit Stars besetzt. Angehörige der comunidades scheitern<br />

unter anderem auch an den horrenden Preisen für die Luxuskostüme der<br />

destaques. Die anderen hier angeführten spezialisierten sambistas kommen<br />

traditionellerweise aus den comunidades bzw. sind identisch mit den Personen,<br />

die den Kern (ausgenommen die Leitungspositionen) der Sambaschule bilden.<br />

Eindringlinge in diese Bereiche, die der Mittelschicht angehören und meistens<br />

von den Vizepräsidenten oder Präsidenten ohne demokratischen Konsens<br />

eingeführt werden, sind extrem unbeliebt und verursachen Konflikte.<br />

61 vgl. Kapitel 7.2.


98<br />

Ein "Sambaschuljahr" beginnt unmittelbar nach dem Ende des Karnevals Ende<br />

Februar/Anfang März. Das Direktorium tritt zusammen und entscheidet über<br />

personelle Veränderungen innerhalb der Sambaschule. Falls die Sambaschule<br />

nicht den gewünschten Erfolg hatte, wird darüber beraten, was oder wer Schuld<br />

am Punkteverlust hatte. Die Zahl der alas wird vergrößert oder verkleinert, die<br />

porta-bandeira ausgetauscht oder sogar der carnavalesco/die carnavalesca.<br />

Diese Entscheidungen müssen in möglichst kurzer Zeit getroffen werden. Der<br />

enredo für das nächste desfile steht oft schon seit einem halben Jahr fest, und<br />

im barracão, in der Werkstätte, wird ohne Pause gearbeitet62 . Ab April finden<br />

regelmäßige Zusammenkünfte der sambistas, die zum Kern der Sambaschule<br />

gehören, in der quadra statt. Dabei werden interne Wettbewerbe veranstaltet,<br />

um ein neue porta-bandeira und einen neuen mestre-sala oder einen neuen<br />

puxador auszuwählen (s. Abb. 6). Vor allem in den kleineren bzw. nicht ganz so<br />

reichen Sambaschulen kann man in dieser Zeit die sehr persönliche<br />

Atmosphäre erleben, in der alles ein bißchen weniger hektisch und spielerischer<br />

abläuft.<br />

Nachdem das departamento de carnaval endgültig den enredo ausgewählt hat,<br />

wird im Mai eine Zusammenfassung des Themas mit den Schwerpunkten, die<br />

im samba-enredo unbedingt vorkommen müssen, an die Komponisten<br />

ausgeteilt. Diese haben nun ein bis zwei Monate Zeit, ihren samba-enredo zu<br />

komponieren und zu texten, bevor sie ihn intern zum ersten Mal vorstellen. Mit<br />

dem langwierigen Auswahlverfahren für den samba-enredo, das im Oktober<br />

beginnt, beginnt gleichzeitig die Phase der Öffnung für ein großes Publikum. Bis<br />

dahin wird das "Vereinsleben" gepflegt, die Leute setzen sich zusammen, um<br />

miteinander zu plaudern, die Kinder üben auf der fast leeren Tanzfläche ihre<br />

Schritte. Die quadra wird zu dieser Zeit auch für Hochzeitsfeste oder<br />

Geburtstagsfeste vermietet, und die Sambaschule veranstaltet Feste, die nicht<br />

primär auf finanziellen Gewinn ausgerichtet sind, sondern als Dank für die<br />

Unterstützung der comunidade oder zum Vergnügen der Kinder gegeben<br />

werden. Bei diesen Festen präsentieren sich bereits die ala das baianas, die ala<br />

das crianças (Kinder-ala), die bateria und natürlich porta-bandeira und mestresala.<br />

Werfen wir nun einen Blick auf zwei der ältesten und prestigeträchtigsten<br />

Elemente der Sambaschule, die porta-bandeira und die bateria. Porta-bandeira<br />

und mestre-sala werden erst seit 1958 beim desfile bewertet, obwohl sie von<br />

62 vgl. dazu Kapitel 7.3.


99<br />

Anfang an große Bedeutung für die Sambaschulen hatten. Als das desfile noch<br />

turbulenter und weniger geordnet auf der Praça Onze stattfand, konnte sich eine<br />

Sambaschule mit Ruhm bedecken, indem sie der Konkurrentin die Standarte<br />

raubte. Daher wurde die Standarte damals von einem Mann in Frauenkostüm<br />

getragen, um sie besser verteidigen zu können. Die kämpferischen Momente<br />

des desfile wurden aber bald polizeilich verboten, und so ging man dazu über,<br />

die Standarte und später die Fahne von einer weiblichen porta-bandeira<br />

vorantragen zu lassen, der man einen Solotänzer, den mestre-sala, zur Seite<br />

stellte, der ihr während des desfiles "den Hof machen" und sie beschützen soll.<br />

"Gemäß den Geschichten von älteren Personen ist die Fahne das Symbol der<br />

Vereinigung. Und die porta-bandeira ist die Erste Dame, die den Samba<br />

repräsentiert. Die porta-bandeira alleine mit der Fahne repräsentiert die ganze<br />

Vereinigung.", erklärte Soninha, porta-bandeira der Sambaschule Mocidade<br />

Independente de Padre Miguel (E8).<br />

Die porta-bandeira tanzt während des desfile eine spezielle Choreographie, bei<br />

der sie sich vor allem um die eigene Achse dreht (s. Abb. 7), sodaß sich die<br />

Fahne öffnet und das Wappen und die Farben der Sambaschule sichtbar<br />

werden, oder sie präsentiert die Fahne gemeinsam mit ihrem mestre-sala dem<br />

Publikum (s. Abb. 8). "Der Tanz sagt, daß die porta-bandeira eine Blume ist […]<br />

und als ob ihr mestre-sala ein Kolibri wäre." (Soninha in E8). Sie trägt eines der<br />

kostbarsten Kostüme, das ihr von der Sambaschule zur Verfügung gestellt wird,<br />

und jedes Jahr wird eine neue Fahne hergestellt, die vorjährige geht ins<br />

Patrimonium der Sambaschule über.<br />

Im Rahmen der quadra fungiert die porta-bandeira als Bindeglied zwischen dem<br />

Kern der Sambaschule und ihren componentes und Gästen. Wenn sie auftritt,<br />

wird (zumindest ein Teil) der Tanzfläche für sie und den mestre-sala reserviert,<br />

und beide begrüßen mit ihrem Tanz einerseits die wichtigsten VertrterInnen der<br />

Sambaschule, also die Leiter, aber auch die älteste baiana oder den mestre der<br />

bateria, andererseits die Gäste der Sambaschule (s. Abb. 9). Die porta-bandeira<br />

hat auch die Pflicht, besondere Gäste wie zum Beispiel PolitikerInnen,<br />

MäzenatInnen oder die VertreterInnen einer anderen Sambaschule persönlich<br />

willkommenzuheißen. Sie untersteht einem streng geregelten Verhaltenskodex,<br />

soll würdig und deshalb etwas reserviert agieren und darf sich nicht unter die<br />

Menge mischen und Samba tanzen.


100<br />

Die Position der porta-bandeira ist, obwohl sie keinerlei Machtbefugnisse hat,<br />

außerordentlich begehrenswert und heiß umkämpft, da sie sozial sehr hoch<br />

bewertet wird. "Die porta-bandeira ist eine gewöhnliche Person, sie ist eine<br />

gewöhnliche Frau. Nur hat sie in der Sambaschule eine destaque-Position. Sie<br />

ist keine andere Person, aber sie hat den Titel »Erste Dame des Samba«. Sie<br />

ist Köchin, sie ist Wäscherin, sie ist Putzfrau, sie ist eine gewöhnliche Frau, aber<br />

im Samba hat sie eine andere Position, als sambista." (Soninha in E8).<br />

Wenn sie neu besetzt werden muß, da die bisherige porta-bandeira nach<br />

mehreren erfolgreichen Jahren aufhört, wegen Schwangerschaft nicht auftreten<br />

kann oder im letzten Karneval nicht entsprochen hat, wird in der Regel ein<br />

Wettbewerb für porta-bandeira und mestre-sala veranstaltet, an dem vor allem<br />

Paare aus dem Kern der Sambaschule teilnehmen, Nachwuchstalente, oder<br />

auch das bisherige Zweite Paar, aber auch Paare aus anderen comunidades,<br />

die in "ihrer" Sambaschule bisher noch nicht zum Zug kamen und nun in einer<br />

anderen ihr Glück versuchen. Die "fremden" Paare sind aber meistens bereits<br />

bekannt in der Sambaschule, die den Wettbewerb veranstaltet. Der Wettbewerb<br />

wird in den Monaten gleich nach dem Karneval veranstaltet und findet "im<br />

kleinen Kreis" statt, es sind also tatsächlich nur die Personen anwesend, die<br />

zum Kern der Sambaschule gehören. Die Entscheidung trifft allerdings eine<br />

Jury, die sich aus den Leitern und eventuell einer ehemaligen porta-bandeira<br />

oder einer ebenso "traditionellen" Person zusammensetzt.<br />

Wieso die Position der porta-bandeira noch mit Frauen aus den comunidades<br />

besetzt wird, liegt auf der Hand: hier hilft keine akademische Ausbildung, gutes<br />

Aussehen und tänzerisches Können sind gefragt. Dazu kommt wahrscheinlich<br />

die Scheu der Präsidenten, das optische Symbol der Sambaschule mit einer<br />

weißen Mittelschichtangehörigen in Verbindung zu bringen, nicht zuletzt auch<br />

wegen des Images, das die schwarze Frau bei den EuropäerInnen und<br />

AmerikanerInnen hat: "She symbolizes the African dance – la rumba, el son, el<br />

danzon – and she is the instrument which accompanies the dance (maracas,<br />

tambor, bongo)." (Venture Young zit. bei Finn 1988: 181).<br />

Wenden wir uns nun der bateria, dem Herz der Sambaschule zu. "Sagen wir,<br />

die Mutterzelle jeder Sambaschule sind die ala dos compositores und die<br />

bateria. Ohne diese zwei funktioniert sie nicht.", erklärte Paulinho da Mocidade,<br />

Komponist und Interpret der Sambaschule Mocidade Independente de Padre<br />

Miguel (E9). Während die ala der Komponisten, übrigens die einzige, die


101<br />

horizontal organisiert ist, nur selten Versammlungen abhält und eigentlich nur<br />

anläßlich der Auswahl des samba-enredo in der quadra und natürlich beim<br />

desfile in Erscheinung tritt, ist die bateria bei jedem Ereignis in der quadra<br />

präsent. Über die Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel<br />

kursierte in den ersten Jahren ihres Bestehens das Bonmot: "Die Mocidade ist<br />

keine Sambaschule mit bateria, sondern eine bateria mit Sambaschule."<br />

"[...] angesichts der Unwichtigkeit, die den traditionellsten Elementen der<br />

Sambaschulen in den Bewertungen zugeschrieben wird, hat sich die bateria in<br />

die letzte Zitadelle des Widerstands verwandelt." (Moura 1986: 69). Tatsächlich<br />

ist die ala da bateria ebenso wie die der KomponistInnen nach wie vor sehr<br />

schwer zugänglich. Wer Mitglied der bateria werden will, muß in der Regel eine<br />

Probezeit absolvieren und den strengen Ohren des mestre genügen.<br />

Der mestre der bateria ist der künstlerische Leiter der hierarchisch strukturierten<br />

bateria. Seine Position ist extrem wichtig und entsprechend prestigeträchtig, von<br />

seinem Können hängt der Ruf einer Sambaschule entscheidend ab, und die<br />

gelungene Präsentation der bateria ist ausschlaggebend für das gesamte<br />

desfile. Der mestre stammt immer aus der comunidade und ist über die Grenzen<br />

seines Bezirkes hinaus bekannt. Er muß in der Lage sein, alle Instrumente der<br />

bateria zu stimmen, er dirigiert sie in der quadra und beim desfile, er ist aber<br />

auch für den Ankauf und das Stimmen der Instrumente verantwortlich und muß<br />

dafür sorgen, daß sie immer ordnungsgemäß verwahrt werden. Bis auf die<br />

kleinen tamborins gehören alle Instrumente zum Patrimonium der Sambaschule.<br />

Der mestre ist einer der wenigen sambistas, der bezahlt wird, wenn auch oft<br />

unregelmäßig. Er untersteht direkt dem Präsidenten der Sambaschule; der<br />

Vizepräsident des departamento da bateria ist der administrative Leiter der<br />

bateria, steht aber nicht über dem mestre. Die Direktoren der bateria, die dem<br />

Vizepräsident unterstehen, nehmen nicht nur administrative Tätigkeiten wahr,<br />

sondern unterstützen auch den mestre, indem sie für je eine<br />

Instrumentengruppe mitverantwortlich sind und mit den jeweiligen MusikerInnen<br />

separat üben bzw. diese auch während der ensaios und beim desfile dirigieren<br />

(s. Abb. 10).<br />

Eine bateria kann aus 50 bis 300 MusikerInnen bestehen (vgl. Empresa de<br />

Turismo 1989: 109). Sie müssen mit gewisser Regelmäßigkeit zu den ensaios<br />

erscheinen, es gibt aber viele, die in mehreren Sambaschulen in der bateria<br />

spielen und bei denen toleriert wird, daß sie einmal hier und einmal dort am


102<br />

ensaio teilnehmen. Die bateria war früher Männern vorbehalten, mittlerweile<br />

akzeptieren aber alle mestres bis auf den der Sambaschule Mangueira Frauen<br />

in ihren Reihen. Ihre Zahl ist aber immer noch viel geringer als die der Männer.<br />

Den MusikerInnen der bateria werden die Kostüme von der Sambaschule zur<br />

Verfügung gestellt. "Es gibt ein Detail, das man beachten muß, wenn wir sagen:<br />

»Wir schenken die Kostüme«. Wir schenken tatsächlich, daß der Teilnehmer<br />

nichts ausgibt. Er gibt kein Geld aus, aber muß etwas tun, um das zu verdienen.<br />

[…] Wir geben der bateria das Gewand, aber während des Jahres müssen sie<br />

gratis spielen. […] Das heißt, sie bekommen und bekommen in Wirklichkeit<br />

nichts geschenkt. Sie arbeiten dafür." (Juarez da Cruz zit. bei Rodrigues de<br />

Moraes 1978: 96 f.).<br />

Wie setzt sich nun dieses Herzstück der Sambaschule musikalisch zusammen?<br />

Folgende Instrumente werden heute von der bateria einer Sambaschule gespielt<br />

(vgl. Mc Gowan und Pessanha 1991 und Souza et alii 1988: 38f.):<br />

Chocalho: zweiteilige Metallrassel; "Though generally considered to be of<br />

African origin, because the Indians had no metal idiophones when the first<br />

African slaves were brought to Brazil, it is strikingly similar to the maraca and, as<br />

with other rattles, there is not enough evidence for one to be certain of its<br />

origin." (Béhague in Sadie 1980: 229); s. Abb. 11;<br />

indianischen Ursprungs:<br />

Reco-Reco: Instrument mit Kerben, das mit einem Holzstock geschabt wird;<br />

portugiesischen Ursprungs:<br />

Cavaquinho: 4-seitiges, Ukulele-artiges Instrument, gestimmt D-G-B-D;<br />

Caixa de guerra: snare drum; s. Abb. 12;<br />

Repique: zweiköpfige Tenortrommel, die mit zwei Schlegeln gespielt wird; s.<br />

Abb. 13;<br />

Surdo: Baßtrommel, die mit einem hölzernem Schlegel mit filzüberzogenem<br />

Kopf gespielt wird; s. Abb. 14;<br />

Tamborin: einfellige, kleine Rahmentrommel, die mit Schlegel oder<br />

Doppelschlegel gespielt wird und das 16-Schläge lange time-line-pattern angibt;<br />

s. Abb. 15;<br />

Pandeiro: Schellentrommel<br />

afrikanischen Ursprungs:


103<br />

Agogô: Doppelglocke, die mit einem Holzstock geschlagen wird;<br />

Cuíca: kleine Reibtrommel, in deren Inneren ein dünner Stock am Fell<br />

angebracht ist, der mit einem befeuchtetem Tuch gerieben wird, während mit<br />

der anderen Hand durch unterschiedlichen Druck auf das Fell verschiedene<br />

Tonhöhen erzeugt werden; "The Angola/Congo origin of the Brazilian friction<br />

drums known as puita in the State of São Paulo and cuica (Brazilian spellings) in<br />

Bahia is certain." (Kubik 1979: 22); s. Abb. 16;<br />

Die MusikerInnen nehmen sowohl bei den ensaios als auch beim desfile nach<br />

Instrumentengruppen (vgl. Abb. 17) geordnet Aufstellung. In welcher<br />

Reihenfolge die Gruppen gereiht werden, bleibt jedem mestre überlassen. Ein<br />

Beispiel für die Aufstellung einer bateria zeigt Abb. 18.<br />

Die zeitliche Reglementierung des desfile, das jeder Sambaschule unabhängig<br />

von der Anzahl ihrer componentes nur eine bestimmte Zeitspanne zugesteht,<br />

um sich zu präsentieren, machte es notwendig, daß die/der einzelne schneller<br />

das sambódromo durchqueren muß. Das führte zu einer Beschleunigung des<br />

Grundrhythmus der bateria (s. Abb. 19), der 1981 noch im Tempo von 116 –<br />

120 Schlägen, 1991 aber bereits mit 132 – 138 Schlägen pro Minute bei einer<br />

Lautstärke von 110 – 120 Dezibel gespielt wurde (vgl. Jornal da Tarde 29. 2.<br />

1992). Diese "Optimierung" der Zeit nimmt vielen Sambas den<br />

charakteristischen Swing. In einer Zeit, in der jede Sekunde<br />

Fernsehübertragung Geld kostet, "wird die ursprünglich »informelle Zeit« des<br />

Samba, der mit der unterhaltsamen Freizeit der Wochenenden und der Nächte<br />

nach der Arbeit verbunden war, durch die optimierte, straffe, »formelle Zeit« des<br />

orthodoxen produktiven Alltags ersetzt" (Jornal da Tarde 29. 2. 1992).<br />

Sowohl die porta-bandeira als auch der mestre da bateria haben Vorbildwirkung<br />

in der Sambaschule und unterrichten den Nachwuchs. Sie setzen damit eine<br />

alte Tradition fort: "Das Bestehen der Gruppen [der Sambaschulen] wurde<br />

gewährleistet durch direkte Übertragung, das heißt, durch den Kontakt zwischen<br />

den neuen und den alten Mitgliedern und von Eltern zu Kindern, sodaß das<br />

»Know-how« durch Miterleben und Nachahmung erlernt wurde." (Rodrigues de<br />

Moraes 1978: 126). Auch heute noch sichert der Kern der Sambaschule auf<br />

diese Art ihr Überleben: Die "Sprache" des Tanzes, also Bewegungsmuster,<br />

Körperhaltungen, choreographische Elemente, Stil und Virtuosität werden durch


104<br />

Mimesis63 , durch Nachahmung erlernt, die in dieser Form als typisches Element<br />

von Oralkultur angesehen wird 64 . Die Personen, die ein Kostüm einer ala<br />

kaufen und erst am Tag des desfile zum ersten Mal den samba-enredo hören,<br />

entziehen sich aber dieser Art von "learning by doing" und können<br />

dementsprechend tanzen und singen.<br />

Die meisten aktiven Mitglieder einer Sambaschule aber können auf mehrere<br />

sambistas unter ihren Vorfahren zurückblicken oder sorgen dafür, wenn sie die<br />

ersten ihrer Familie sind, die sich für eine Sambaschule interessieren, daß ihre<br />

Angehörigen das ebenfalls tun. Danda, Chefsekratärin im barracão der<br />

Mocidade, zählt stolz auf: "Mein Sohn geht in der ala das crianças. Meine<br />

Tochter ist porta-bandeira mirim [jugendliche porta-bandeira]. Meine Mutter geht<br />

in der ala das baianas. Und meine Schwestern in der ala da comunidade. Alle<br />

gehen mit der Sambaschule. Mein Mann geht in der harmonia, und meine zwei<br />

Cousins in der bateria, mein Bruder auch in der bateria, meine Schwester geht<br />

in einer der alas, da sie Schneiderin der ala ist, hat sie Recht auf ein Kostüm,<br />

also geht sie mit der ala." (E4). An dieser Aussage ist hervorzuheben, daß die<br />

Auswahl der Bereiche nicht zufällig so ausgefallen sein wird – alle<br />

angesprochenen Personen müssen nichts für ihr Kostüm zahlen.<br />

Abschließend soll noch erwähnt werden, daß trotz der identitätsstiftenden<br />

Komponente der Sambaschule ein Wechsel zwischen den Institutionen des<br />

öfteren vorkommt. Es ist üblich, daß eine Person sich in mehreren<br />

Sambaschulen engagiert oder nach einem Streit zur Konkurrenz wechselt (vgl.<br />

auch Hofbauer 1989). Andererseits halten manche sambistas ihrer<br />

Sambaschule auch dann die Treue, wenn sie umziehen und dann einen extrem<br />

weiten Weg zurücklegen müssen. Nicht umsonst sagt man: "Eu sou<br />

Caprichosos", also "Ich bin Caprichosos", und nicht "Ich bin ein Fan der<br />

Caprichosos".<br />

63 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes Mimesis und dem Zusammenhang<br />

zwischen Oralität, Literalität und Mimesis vgl. Gebauer, Gunter und Wulf, Christoph: Mimesis.<br />

Kultur - Kunst - Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1992.<br />

64 Die Sambaschulen weisen auch andere Charakteristika von Oralität auf: Schriftliche<br />

Dokumente wurden kaum archiviert, was mündliche Erzählungen oft zur Hauptquelle für<br />

Informationen über die Vergangenheit dieser Organisationen macht, und auch die Texte der<br />

sambas-enredo wurden bis zur Herausgabe der Begleittexte zu den Plattenaufnahmen durch die<br />

Aufnahmestudios nicht niedergeschrieben, sondern mündlich weitergegeben (vgl. dazu auch<br />

Goldwasser 1975: 106 und Teixeira Valença 1983: 5). Diese Tendenz ist allerdings heute<br />

rückläufig.


Illustration<br />

105


106<br />

7.2. Wir sind alle eine großen Familie 65<br />

Mit der Auswahl des samba-enredo beginnen gleichzeitig die ensaios, die<br />

sogenannten Übungsabende der Sambaschulen für den Karneval. Über die<br />

"Vereinsstruktur" wird nun eine offenere Struktur gestülpt, die die Einbindung<br />

der von außen kommenden componentes ermöglicht. Die quadras nehmen<br />

während der ensaios tausende Menschen auf, was eine tatsächliche Probe<br />

nahezu verunmöglicht, weswegen die Sambaschulen wie bereits erwähnt die<br />

Wochenenden als Feste ansehen, die bis vier Uhr früh dauern, und die<br />

Übungsabende meist auf Donnerstag von neun bis elf Uhr abends verlegen.<br />

Daß bei den ensaios nicht das totale Chaos ausbricht, verhindert unter anderem<br />

die soziale Kodifizierung des Raumes in der quadra. Bestimmte Teile wie der<br />

Platz der bateria, (wenn vorhanden) der Platz der KomponistInnen und der Platz<br />

der InterpretInnen sind den jeweiligen Spezialisten vorbehalten und dürfen nur<br />

in Ausnahmefällen von anderen Personen betreten werden. Andererseits sind<br />

die Aufenthaltsbereiche für BesucherInnen, geladene Gäste und auch die Leiter<br />

der Sambaschule oft erhöht und separiert. Am flexibelsten ist die Tanzfläche, sie<br />

ist gleichermaßen für sócios und componentes offen und ermöglicht die<br />

Erweiterung des Kerns (vgl. auch Goldwasser 1975: 54ff.).<br />

Auch außen hat die Sambaschule in den folgenden Monaten bis zum Karneval<br />

jetzt ein anderes Gesicht (vgl. Abb. 20 und 21). Der Parkplatz ist völlig überfüllt,<br />

entlang der Straße bis zum Eingang der quadra haben Baracken geöffnet, wo<br />

man schnell noch einen billigeren Schnaps als in der quadra trinken oder auf die<br />

Freundin warten und dabei Domino spielen und fernsehen kann. Um die quadra<br />

betreten zu dürfen, muß man jetzt Eintritt bezahlen, Frauen etwas weniger als<br />

Männer. Im Inneren wird man weiter zu Konsum angeregt: Getränke, kleine<br />

Speisen, T-Shirts oder Kappen mit dem enredo der Sambaschule. Dieser<br />

Bereich macht allerdings nur einen kleinen Teil der finanziellen Einnahmen einer<br />

Sambaschule aus. Hauptsächlich verdient sie an den Fernsehrechten, am<br />

Verkauf der Eintrittskarten für das sambódromo, an den Plattenaufnahmen und<br />

an Shows bzw. Auftritten der bateria außerhalb der quadra. Dazu kommen noch<br />

die staatliche Subvention und – wenn vorhanden – die Unterstützung eines<br />

banqueiro de bicho. Woher das Geld genau kommt bzw. wieviel Gewinn mit<br />

65 Zitat von Chiquinho, Chef des barracão und Präsident einer ala der Sambaschule Mocidade<br />

Independente (E3).


107<br />

dem Karneval tatsächlich gemacht wird, wird von den Sambaschulen aber nicht<br />

bekanntgegeben.<br />

Der lose Zusammenhang zwischen der Sambaschule und ihren nicht<br />

spezialisierten alas ist auch aus der Finanzgebarung ersichtlich. Die alas sind<br />

nämlich in der Regel völlig unabhängig von der Sambaschule. An der Spitze<br />

jeder ala steht der/die sogenannte presidente de ala, der/die für die<br />

Zusammensetzung und Ausstattung der ala zuständig ist und sie bei<br />

Versammlungen in der Sambaschule vertritt. Diese PräsidentInnen der alas<br />

suchen sich unter den Kostümentwürfen des carnavalesco/der carnavalesca<br />

denjenigen aus, der ihnen am besten gefällt und bezahlen die Sambaschule für<br />

den Prototyp. Von diesem lassen sie dann auf eigene Kosten in einer<br />

Schneiderei oder privat Kopien herstellen, die sie an die TeilnehmerInnen der<br />

alas – natürlich mit Gewinn – verkaufen. Diese zahlen ihr Kostüm in Raten ab,<br />

die sich im Fall einer Erhöhung des Mindestlohnes ebenfalls erhöhen. Die<br />

Sambaschule erhält nur eine Art Steuer pro componente. Die PräsidentInnen<br />

sind auch für die Choreographie und die richtige Positionierung ihrer ala beim<br />

desfile verantwortlich. Die meisten alas gehen jedes Jahr bei der selben<br />

Sambaschule mit, einige bestehen aber auch nur ein Jahr oder wechseln zu<br />

einer anderen Sambaschule. Bisweilen verweigert auch der Präsident die<br />

Teilnahme, wenn es zu viele alas waren oder eine ala das desfile des letzten<br />

Jahres durcheinandergebracht hat.<br />

Die Auswahl des samba-enredo, den die Sambaschule bei ihrem desfile<br />

präsentieren wird, ist eine der Hauptattraktionen der ensaios. An den ersten<br />

beiden Wochenenden stellen die Komponisten ihre Sambas dem Publikum und<br />

der Jury der Sambaschule vor. Dazu müssen sie bereits im Sommer der bateria<br />

ein Tonband mit einer Aufnahme ihres Samba zur Verfügung gestellt haben,<br />

damit sie den Samba begleiten kann, und eine/n SängerIn engagiert haben,<br />

der/die den Samba interpretiert. Die Jury entscheidet, welche Sambas an der<br />

nächsten Ausscheidungsrunde am folgenden Wochenende teilnehmen dürfen,<br />

der Rest wird ausgeschieden. Dieses Verfahren wird bis Dezember fortgesetzt<br />

und hat seinen Höhepunkt im Finale, bei dem die letzten beiden<br />

übriggebliebenen Sambas die ganze Nacht gespielt werden, bis lange nach<br />

Mitternacht der Sieger verkündet wird.<br />

Die Jury setzt sich aus dem Direktorium der Sambaschule, dem<br />

carnavalesco/der carnavalesca und meist auch einer Person von der


108<br />

Plattenfirma zusammen. Paulinho da Mocidade, Komponist und Interpret der<br />

Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel, der auch hauptberuflich<br />

Musiker ist und mit einer Band Platten aufnimmt, erklärte den Grund dafür: "Die<br />

Schallplattenfirma äußert sich aus folgendem Grund, denn die Schallplatte ist<br />

eine kommerzielle Sache, sie muß die Platte verkaufen, und sie wird sie nur<br />

verkaufen, wenn die Lieder gut sind. Also äußert sich die Schallplattenfirma, sie<br />

geht in bestimmte Sambaschulen oder sogar in alle, […] sie geben ihre<br />

Sichtweise dem Direktorium der Sambaschule bekannt, »Der beste Samba ist<br />

dieser, weil er viel beeinflussen wird durch die Platte«. Dann wird das<br />

Direktorium analysieren." (E9). Für die Auswahl des samba-enredo sind also<br />

nicht nur die drei offiziellen Kriterien – schöne Melodie, Harmonie zwischen<br />

Rhythmus, Melodie und Text und das perfekte Zusammenpassen mit dem<br />

enredo – ausschlaggebend, sondern noch ein viertes: die interne Politik der<br />

Sambaschule. Wenn die Sambaschule einen patrono hat, entscheidet vor allem<br />

dessen persönlicher Geschmack. Doch auch die Entscheidungen in den<br />

Sambaschulen ohne banqueiro de bicho im Hintergrund ziehen fast immer<br />

Tumulte und gegenseitige Beschuldigungen nach sich, nur selten stimmt die<br />

Wahl der Jury mit dem Favoriten der Anwesenden in der quadra überein. Es<br />

gehört aber zu den Spielregeln, daß sich, nachdem sich die erste Aufregung<br />

gelegt hat, die Sambaschule auf den auserkorenen Samba einschwört und auch<br />

die geschlagenen KonkurrentInnen ihre Unterstützung auf ihn konzentrieren.<br />

Für die KomponistInnen bedeutet die Tatsache, den samba-enredo zu stellen,<br />

nicht nur immensen Prestigegewinn, sondern auch finanzielle Vorteile: sie<br />

erhalten Autorenrechte für jede verkaufte Platte der sambas-enredo der<br />

Spezialgruppe und jedes Mal, wenn ihr Samba im Radio gespielt wird. Aus<br />

diesem Grund investieren sie in den internen Wettbewerb in der Sambaschule,<br />

was KomponistInnen aus ärmeren Verhältnissen eindeutig benachteiligt. Der<br />

Text des samba-enredo muß vervielfältigt werden, damit möglichst viele<br />

componentes mitsingen können. Dafür kann oft ein Sponsor aufgetrieben<br />

werden, dessen Name dann auf den Kopien aufscheint (vgl. Abb. 22).<br />

Außerdem versuchen die KomponistInnen, eine möglichst große Fangemeinde<br />

zu organisieren, für die die Fahrtkosten, der Eintrittspreis in die quadra,<br />

zumindest ein Getränk, Spruchbänder, Konfetti etc. bezahlt werden müssen.<br />

Diese Ausgaben stellen für die KomponistInnen eine große Belastung dar.<br />

Um ein größeres Publikum anzusprechen und die Plattenfirma<br />

zufriedenzustellen, waren die KomponistInnen gezwungen, sich anzupassen.


109<br />

Seit den 70er Jahren läßt sich beobachten, daß die Texte wieder kürzer wurden<br />

und der Refrain als Textelement in das Genre des samba-enredo eingeführt<br />

wurde. Die KomponistInnen zeigen eine Vorliebe für ausgefallene Worte und<br />

komplizierte Formulierungen, die sich deutlich von der Alltagssprache, ganz<br />

besonders von der der Unterschicht, abheben. Der Grund dafür mag in dem<br />

Wunsch des Komponisten liegen, "seine Herkunft zu überwinden, indem er<br />

künstlich eine Sprache übernimmt, die nicht seine eigene ist." (Teixeira Valença<br />

1983: 84). Für die häufigen Wiederholungen von bereits in anderen Sambas<br />

verwendeten Ausdrücken, Pleonasmen und Syntagmen66 ist aber auch der<br />

Umstand verantwortlich, daß die carnavalescos das Thema vorgeben, das zum<br />

Teil wortgetreu in die sambas-enredo übernommen werden muß, das heißt, die<br />

Kreativität der KomponistInnen wird stark eingeschränkt und die Texte aller<br />

Sambas sind sehr ähnlich (vgl. Rodrigues 1984: 68ff.). Allerdings werden<br />

zunehmend Dialektausdrücke, Lautmalereien und Wortneubildungen in die<br />

Texte eingebaut (vgl. Teixeira Valença 1983: 144ff.).<br />

Abgesehen von der Wahl des samba-enredo propagieren die Sambaschulen im<br />

Laufe der Monate vor dem Karneval Ereignisse, um viel Publikum anzuziehen<br />

und die Einnahmen zu erhöhen. So werden meist im November die Prototypen<br />

der Kostüme der Öffentlichkeit präsentiert. Die spezialisierten alas der<br />

Sambaschule übernehmen die Organisation von Festen in ihrem Namen (z.B.<br />

Fest der ala das baianas, Fest der bateria, Fest der KomponistInnen, Fest der<br />

velha guarda), und der Gewinn daraus wird für die Herstellung der Kostüme für<br />

diese alas verwendet. Im Februar werden die ensaios gerais, die Generalproben<br />

veranstaltet, bei denen möglichst alle componentes anwesend sein sollen und<br />

die Menschenmenge in den quadras ein Maximum erreicht. Die Sambaschulen,<br />

die es sich leisten können, mieten ein Fußballfeld o.ä., um die tatsächliche<br />

Reihenfolge, in der die alas und Solisten am desfile teilnehmen werden, ebenso<br />

wie die Interpretation des samba-enredo und eventuelle Choreographien zu<br />

proben. Die weniger reichen Sambaschulen müssen sich damit begnügen, die<br />

bateria in der quadra auf- und abgehen zu lassen und den alas nacheinander<br />

auf der Tanzfläche Platz zu machen.<br />

Die ensaios gerais werden von den sogenannten "Musen" des Karnevals für<br />

einen ersten Auftritt vor dem desfile bevorzugt. Ein Bad in der Menge, das noch<br />

dazu von Fernsehkameras begleitet wird, die die Sambaschulen kurz vor dem<br />

66 für eine detaillierte linguistische Analyse der sambas-enredo der Gruppe 1 von 1972 bis 1982<br />

s. Teixeira Valença 1983: 83ff.


110<br />

Karneval geradezu belagern, hat schon so manche Tür zu einer Karriere im<br />

Model-Geschäft geöffnet. Während die Musen der früheren Zeiten wie Paula<br />

und Isabel Valença vom Salgueiro, Vilma von der Portela, oder Narcisa von der<br />

Mangueira als Solistinnen (porta-bandeira, destaque) mit prunkvollen Kostümen<br />

am desfile teilnahmen, zeichnen sich die heute von den Medien zu Musen<br />

erklärten Frauen vor allem durch möglichst wenig Bekleidung aus. "Muse des<br />

Karnevals ist die Frau, die nackt am besten aussieht." (Albino Pinheiro in Jornal<br />

do Brasil 28. 2. 1992). Und das ist in den meisten Fällen eine der Mulattinnen,<br />

die von den Sambaschulen neben den meist hellhäutigeren Angehörigen der<br />

Mittelschicht als destaques präsentiert werden. Diesen Mulattinnen wird in den<br />

Medien eine Art der Beschreibung zuteil, die einer Fleischbeschau ähnelt:<br />

Größe, Gewicht, Brustumfang, Taille, Hüfte, Oberschenkelweite und Beinlänge<br />

werden detailliert angegeben (vgl. Vieira und Alvarenga 1992: 7ff.). Die Frauen<br />

stammen allerdings nicht aus den comunidades, sondern werden den<br />

Sambaschulen von Modellagenturen und "Mulatinnenjägern" vermittelt. Die<br />

Glorifizierung der Mulattin im Karneval kommt nicht von ungefähr: Sie gilt in der<br />

patriarchalen (brasilianischen) Gesellschaft als Personifizierung von Musikalität,<br />

Erotik, Sex und Sünde und liederlichem Leben. Dieses Stereotyp deckt sich<br />

besser mit dem Ideal des Karnevals als das der weißen Frau, die<br />

Jungfräulichkeit und Reinheit, und dann Ehe und Mutterschaft repräsentiert67 .<br />

Die Aufmerksamkeit, die den Mulattinnen im Karneval zuteil wird, ist also eine<br />

spezielle Form der doppelten systematischen Diskriminierung der Mulattinnen<br />

aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht (vgl. do Pazo Ferreira 1982: 51ff.).<br />

"Das sambódromo ist das größte Schaufenster, das es gibt. Es ist die Zeit des<br />

Jahres, die wir haben, um zu erinnern, daß es uns gibt, daß wir da sind und<br />

arbeiten.", erklärte Luciana Sargentelli, langjährige madrinha da bateria ("Patin"<br />

der bateria, die als Solotänzerin vor der ala da bateria am desfile teilnimmt) der<br />

Sambaschule Estácio gegenüber dem Jornal do Brasil (Jornal do Brasil 28. 2.<br />

1992). Trotzdem wurde sie im Karneval von 1992 durch Monique Evans, die das<br />

ganze Jahr über in den USA als Model arbeitet und kein einziges Mal an einem<br />

ensaio teilgenommen hatte, ersetzt, da sie dem Direktorium der Sambaschule<br />

medienwirksamer erschien. Evans konnte diese Art von Promotion gut<br />

gebrauchen: "Ich wurde zur Touristenattraktion, nachdem ich defilierte." (Jornal<br />

do Brasil Domingo 16. 2. 1992).<br />

67 Als Illustration sei hier ein geflügeltes Wort der BrasilianerInnen zitiert: "Eine Schwarze zum<br />

Putzen, eine Mulattin für’s Bett und eine Weiße zum Heiraten."


111<br />

Die madrinhas tauchen in der Regel alle erst kurz vor dem Karneval in der<br />

Sambaschule auf und werden ohne Rücksicht auf die Meinung der sambistas<br />

vom Direktorium eingesetzt. Die Sambaschule Vila Isabel veranstaltete jedes<br />

Jahr eine Wahl für die madrinha, als das Direktorium aber fürchten mußte, daß<br />

ihre erste Wahl Ana Beatriz die Wahl nicht gewinnen würde, verbot sie die Wahl<br />

und stellte die sambistas vor vollendete Tatsachen. Auch die madrinha der<br />

Sambaschule Caprichosos de Pilares, Model und Schauspielerin Isadora<br />

Ribeiro, wurde nicht auf Wunsch der bateria zu deren madrinha: "Wir Direktoren<br />

müssen auswählen. Aber hier in der Caprichosos nicht, der Präsident verhandelt<br />

die rainha da bateria ["Königin" der bateria = madrinha], und er hat sie einfach<br />

hingestellt und gesagt, daß sie die rainha da bateria sei. […] Aber ich würde es<br />

vorziehen, einen Wettbewerb zu machen […] Es geht nicht, zu kommen und sie<br />

mitzubringen, nur weil sie Künstlerin ist, das hat keinen Zusammenhang,<br />

verstehst du. Von mir aus sogar eine Künstlerin, hat sie gut getanzt, geht sie<br />

dorthin [zu den ensaios], wird sie die rainha da bateria sein. Aber hier… ich<br />

finde, es gibt viele Leute, die gut Samba tanzen können, schöne Mädchen hier,<br />

die einen schönen Körper haben und rainha da bateria sein können." (E10).<br />

Die einseitige Berichterstattung in den Medien, die spärlich bekleidete Frauen<br />

(und manchmal auch Männer), die eigentlich in der Minderheit unter den<br />

TeilnehmerInnen am desfile sind, in den Mittelpunkt stellt, führte zu einer<br />

Radikalisierung des exhibitionistischen Elements im Karneval und verdrängte<br />

das tänzerische Können als primäres Kriterium der Beurteilung.


112<br />

7.3. Die Sambaschule als Arbeitsplatz<br />

Maßgeblich beteiligt an der Betonung der visuellen Komponente des Karnevals<br />

der Sambaschulen wie auch an vielen anderen Veränderungen war wie bereits<br />

erwähnt der carnavalesco68 . Da er weitreichende Kompetenzen innerhalb der<br />

Sambaschule hat und ihm in Bezug auf das desfile meist völlige<br />

Entscheidungsfreiheit gelassen wird, wird in den Medien oft von der "Diktatur<br />

des carnavalesco" gesprochen. Daß sein Agieren nicht so einfach darauf<br />

reduziert werden kann, zeigt schon die Tatsache, daß er von den<br />

Sambaschulen geholt wurde, und auch Luiz Fernando, carnavalesco der<br />

Sambaschule Caprichosos de Pilares, beschrieb die Situation folgendermaßen:<br />

"[…] die Sache passiert praktisch am Niveau des Präsidenten, nicht. Direktor<br />

des Karnevals manchmal… es ist ein kleines Völkchen, das die Sambaschule<br />

kommandiert, das heißt der Dialog geht nicht bis zur Basis, das ist eine Lüge,<br />

Demokratie, das ist eine Lüge, comunidade ist eine andere Lüge. […] In allen<br />

Sambaschulen, in denen ich gearbeitet habe, ist das Verhältnis so. Der<br />

carnavalesco hat seine Macht, und der Präsident hat dieselbe Macht, und die<br />

Diskussion ist immer auf dem Niveau – es ist also entweder der Präsident oder<br />

der Direktor des Karnevals, aber das ist nicht so eine Sache… stell dir vor, ich<br />

würde einen Kostümentwurf machen und ihn dem Direktorium präsentieren.<br />

"Leute, das ist der Entwurf, was haltet ihr davon?" – "Ah, ich finde, das sollte<br />

blau sein, ich finde, das sollte schwarz sein, ich finde, du solltest das<br />

wegnehmen", nicht. Also ist es besser, das im Kopf einer einzigen Person zu<br />

lassen, und diese Person ist der carnavalesco. […] Ich bin eine der Personen,<br />

die gegen die Diktatur des carnavalesco kämpfen. Ich werde dir sagen warum.<br />

Wegen dieser Sache der Demokratisierung des Prozesses, das heißt ich<br />

versuche zu demokratisieren. […] Ich glaube, daß ich eine Arbeit machen muß,<br />

die den Leuten gefällt und nicht mir persönlich. Es bringt nichts, eine Sache zu<br />

machen, die für mich schön ist und für die anderen nicht. […] Aber es gibt ein<br />

Detail, das heißt ich glaube, daß dieselben Leute, die mit dir zusammenarbeiten<br />

in diesem Prozeß des Festlegens, daß die Farbe diejenige ist, die ziehen sich<br />

sofort zurück, wenn es falsch ist. […] Die Leute kreieren die Diktatur des<br />

carnavalesco. Es ist nicht der carnavalesco, der befiehlt, die Leute verlangen,<br />

daß er das macht, verstehst du. Also ist das ein ziemlich komplizierter Prozeß."<br />

(E11).<br />

68 Im Karneval von Rio sind auch Frauen als carnavalescas tätig, allerdings nur einige wenige.<br />

Um die Leserlichkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, wird im folgenden Kapitel nur die<br />

männliche Form des Wortes verwendet.


113<br />

Auch Alexandre Louzada, carnavalesco, verteidigte sich: "Der carnavalesco hat<br />

nicht die Macht, die sich viele Leute vorstellen. Er hat die Ideen, dafür wurde er<br />

angestellt, nicht. Aber wir beschließen nichts, was unerträglich für die<br />

Sambaschule wäre. Wir werden nichts machen, was gegen die Prinzipien der<br />

Sambaschule selbst oder die eines jeden Mitglieds der comunidade wäre." (E7).<br />

Tatsache ist, daß das "Gesamtprojekt" desfile in der Hand des carnavalesco<br />

liegt. Sein Arbeitsplatz ist der barracão, die Werkstätte der Sambaschule. Wenn<br />

der enredo feststeht und der carnavalesco den KomponistInnen eine<br />

Zusammenfassung des Themas übergibt, hat er bereits dessen Umsetzung in<br />

Bilder und damit die Aufteilung der carros alegóricos und alas im Kopf. Luiz<br />

Fernando erklärte den Entstehungsprozeß anhand eines Beispieles:<br />

L.F.: "Sehen wir einmal, woran erinnert dich gelb?"<br />

"An die Sonne."<br />

L.F.: "Sonne. Gut. Mich erinnert es an Bier. Woran kann gelb noch erinnern?<br />

[…] rot, woran erinnert dich rot? Kommunismus, klar, das Volk. Also schau<br />

genau, hast du schon bemerkt, daß ein enredo entstanden ist… ein enredo<br />

entsteht? Woran erinnert dich grün? Klar, Ökologie, grün, Wald. […] Also bin ich<br />

gestern spazieren gegangen und habe begonnen nachzudenken, ich habe<br />

wieder nachgedacht mit dir, habe überlegt, habe es jetzt ausgesprochen und<br />

dachte an ein carro, und daraus entsteht ein enredo, verstehst du. Von den<br />

Farben, der von den Farben erzählt. Woran dich die Farben erinnern, nicht<br />

wahr. Jede Farbe erinnert dich an irgendetwas, braun, schwarz, blau. Ich habe<br />

eine Serie zusammengestellt, also z.B. rot, erinnerte woran – Feuer und<br />

Kommunismus. Also ala des Feuers und ala des Kommunismus. So machst du<br />

einen roten Abschnitt mit 3 roten alas, danach machst du einen Abschnitt mit 3<br />

blauen alas, das erinnert woran – an den Himmel, erinnert an das Meer, also<br />

gibt es die ala des Meeres und die ala des Himmels. Da entsteht schon der<br />

enredo." (E11).<br />

Andere carnavalescos gehen weniger assoziativ vor und betreiben<br />

umfangreiche Bibliotheksstudien, um ein Thema zu bearbeiten69 . Diese Art der<br />

Aufbereitung, die nichts mit der Realität der BewohnerInnen der Vorstadtbezirke<br />

zu tun hat, sehen diese carnavalescos ebenso als "Erziehung" an wie die<br />

bereits besprochene Einbeziehung von Teilen der Geschichte und Kultur der<br />

69 Die Sambaschulen Mangueira und Salgueiro fügten der schriftlichen Zusammenfassung ihres<br />

enredo des Jahres 1991 für die Jury sogar Literaturangeben hinzu (vgl. LIESA 1991).


114<br />

Schwarzen in Brasilien. Der missionarische Eifer ist auch Alexandre Louzada<br />

anzuhören: "Früher hat eine Sambaschule mehr einem venezianischen Ball,<br />

einem Hofball geglichen als einer Sache mit afrikanischer Wurzel. Ich glaube,<br />

daß die carnavalescos dem Karneval den kulturellen Teil gegeben haben. Ein<br />

großer kultureller Beitrag der carnavalescos… Heute hast du in der<br />

Sambaschule Leute, die keine kulturelle Bildung haben und die eine gewisse<br />

Anzahl von Themen haben, die sie durch die enredos der Sambaschulen<br />

kennen." (E7).<br />

Trotzdem hat de Moraes sicher recht, wenn er behauptet: "Es gibt Freiberufler,<br />

Schwarze und Weiße, die perfekt in ihre Vereine eingebunden sind und, wenn<br />

sie Ideen für den Karneval entwickeln, die internen Aspekte ihrer Sambaschulen<br />

in ihre Überlegungen einbeziehen. Bei anderen Gelegenheiten versammeln sich<br />

Intellektuelle und Personen mit rudimentärer Ausbildung für die gemeinsame<br />

Erledigung dieser Aufgaben. Bei dieser Art von Arbeit ist das »Kennen des<br />

Karnevals« sehr wichtig, ein häufig gebrauchter Ausdruck der sambistas. Es<br />

reicht nicht, sehr belesen zu sein oder eine Universität besucht zu haben, man<br />

muß den »Karneval kennen«." (Rodrigues de Moraes 1978: 135). Diese<br />

Kenntnis bezieht sich nicht nur auf die Struktur und den sozialen Hintergrund<br />

der Sambaschulen, sondern auch auf alle "technischen" Aspekte bei der<br />

Herstellung der Kostüme und carros alegóricos. Der carnavalesco muß mit allen<br />

Fertigungsmethoden im barracão vertraut sein und seine Fantasien auf ein<br />

realisierbares Niveau einschränken. Er muß den Effekt und die Kosten der<br />

Materialien einschätzen. Er entwirft alle Kostüme und läßt von jedem einen<br />

Prototyp herstellen. Für die carros alegóricos muß er nicht nur Seiten- und<br />

Vorderansichten, sondern auch einen Horizontalschnitt zeichnen, um den<br />

richtigen Aufbau des Metallgerüstes und danach die Dekoration und die<br />

Herstellung der Figuren zu gewährleisten. "Und wenn du ein Bühnenbild, das im<br />

Fernsehen gut wirkt, nimmst und auf eine alegoria überträgst, wird es nicht so<br />

gut funktionieren wie im Theater, denn das Theater ist ein Kasten, wo die<br />

Leute… wo es eine Bühne gibt, wo die Sachen stillstehen, du kannst 1000<br />

Effekte durch die Beleuchtung haben, während du im Fernsehen nur das zeigst,<br />

was du willst. Im Karneval aber bist du nach allen Seiten ausgestellt, es ist<br />

vierdimensional. Es ist von vorne, von der Seite, von hinten, von oben, von<br />

unten, du mußt eine Vorstellung haben davon, wie die Leute die alegorias von<br />

verschiedenen Punkten aus sehen werden." (Alexandre Louzada, carnavalesco,<br />

in E7).


115<br />

Je nach Persönlichkeit des carnavalesco übergibt er bestimmte Aufgaben an<br />

seine MitarbeiterInnen. Zusätzlich überwacht er den gesamten<br />

Herstellungsprozeß der Kostüme und der carros bzw. überprüft regelmäßig das<br />

Ergebnis, wenn jemand anderer mit der Überwachung betraut ist. Der Erfolg<br />

oder Mißerfolg einer Sambaschule wird zum überwiegenden Teil seinem<br />

Verdienst zugeschrieben, den allerdings nicht alle Leute, die unter ihm im<br />

barracão arbeiten und seinen Ideen mit ihren Händen zur Verwirklichung<br />

verhelfen, so sehen wie das Publikum. So meinte zum Beispiel Jaílson,<br />

Bildhauer der Caprichosos: "Ehrlich gesagt glaube ich, der Schwächste der<br />

Sambaschule ist der carnavalesco. […] Weil der carnavalesco macht gar nichts.<br />

Es gibt wenige carnavalescos, die Zeichner sind, um die Kostümentwürfe zu<br />

zeichnen, nicht, es gibt wenige, die Bildhauer sind, sehr wenige, die kannst du<br />

an den Fingern abzählen, es gibt einen oder zwei, die das machen, es gibt<br />

wenige, die Künstler sind. Also hat er… wie jeder Mensch die Gabe zu denken,<br />

zu entwickeln, er kann sich die Dinge vorstellen, er kann sich treiben lassen, er<br />

kann fantasieren. […] Deshalb braucht keine sensible, der Kunst verbundene<br />

Person, kein Künstler je einen Karneval gesehen haben. Wenn er einen<br />

Karneval machen will, carnavalesco sein möchte, wird er es sein. […] Damit ich<br />

carnavalesco sein kann, werde ich aufhören müssen mit meinen Skulpturen,<br />

weil ich keine Zeit haben werde, da es Interviews geben wird, bababí, bababá,<br />

ein Fest hier, ein Fest da, also werde ich keine Zeit haben, um Skulpturen zu<br />

machen, also werde ich aufhören, ein Künstler zu sein." (E12). Ihre eigene<br />

Handarbeit wird von vielen höher bewertet als die "Kopfarbeit" des<br />

carnavalesco. "Jeder im barracão ist ein größerer Künstler als der<br />

carnavalesco", wurde mir gegenüber nicht nur einmal erwähnt.<br />

An dieser Stelle ist es interessant zu erwähnen, daß die carnavalescos auch im<br />

akademischen Milieu nicht von allen als Künstler angesehen werden, aber aus<br />

dem umgekehrten Grund: "Das akademische Milieu hatte immer ein gewisses<br />

Vorurteil gegen die carnavalescos, die Vorbereitung eines desfile wurde nur als<br />

handwerkliche Arbeit angesehen." (Helenise Monteiro zit. im Jornal do Brasil 21.<br />

2. 1992). Und Lílian Rabelo, carnavalesca der Sambaschule Mocidade<br />

Independente de Padre Miguel, erklärte mir gegenüber: "Die Leute sehen den<br />

Karneval als Volksfest, er wird nicht als Kunst respektiert." Aufgrund dieser<br />

Klassifizierung werden carnavalescos nicht in die SBAT (Sociedade Brasileira<br />

de Autores Teatrais) aufgenommen, obwohl das, wie carnavalesco Alexandre<br />

Louzada bemerkte, "[…] eine Form für die Regierung wäre, von zumindest 14<br />

Brasilianern eine höhere Steuer einzunehmen. Wenn sie das reglementieren


116<br />

würde, wenn es wirklich als Autorenrecht genommen würde. […] Aber die<br />

carnavalescos werden vergessen." (E7). Das dürfte unter anderem am schwer<br />

einzuordnenden Berufsbild der carnavalescos liegen. Für die Sambaschulen ist<br />

es wahrscheinlich ein glücklicher Umstand, denn "Die Funktion des<br />

carnavalesco wäre unbezahlbar, wenn das Ministerium für Arbeit oder die<br />

Gewerkschaft der Technischen Künstler den carnavalesco wirklich als Beruf<br />

anerkennen würden, denn sie müßten den Gewerkschaftsbeitrag einsammeln<br />

oder verdienen in vier spezifischen Gebieten, vom Autor, vom Art Director, vom<br />

Bühnenbildner, vom Bildhauer, verstehst du?" (Alexandre Louzada in E7).<br />

Trotzdem können die carnavalescos nicht klagen, sie zählen zu den<br />

Bestverdienern in Brasilien und zahlen keine Steuern. Wieviel die<br />

Sambaschulen ihren Stars auszahlen, unterliegt strenger Geheimhaltung.<br />

Alexandre Louzada, der monatlich bezahlt wird, verdiente nach eigenen<br />

Angaben im August 1993 2800 US-Dollar. Dazu kommt, daß einige<br />

carnavalescos (wie auch KomponistInnen, InterpretInnen und TänzerInnen)<br />

auch außerhalb der Sambaschulen mit dem Karneval ein Geschäft machen, sei<br />

es im Fernsehen, im Theater oder wie Joãozinho Trinta mit einer eigenen Firma,<br />

die mit componentes der Sambaschule Shows veranstaltet (vgl. do Pazo<br />

Ferreira 1982: 100f.). Fairerweise muß erwähnt werden, daß die carnavalescos<br />

immer mit der Unsicherheit leben müssen, daß sie nicht mehr erwünscht sind,<br />

wenn sie der Sambaschule nicht den Erfolg einbrachten, den sie sich erhofft<br />

hatte. Es gibt aber ebensoviele, die auch bei Erfolg zu einer anderen<br />

Sambaschule wechseln, Streitigkeiten spielen dabei ebenso eine Rolle wie die<br />

Höhe des Gehalts.<br />

Die Möglichkeit, Geld zu verdienen, ist auch ausschlaggebend für alle übrigen<br />

ArbeiterInnen im barracão. Die Zeit, in der die Sambaschulmitglieder alles, was<br />

für das desfile notwendig war, in ihrer Freizeit am Abend oder am Wochenende<br />

herstellten, gehört schon lange der Vergangenheit an. Einerseits ist der<br />

Arbeitsaufwand dermaßen gewachsen, daß selbst die Mannschaft des barracão<br />

nahezu das ganze Jahr hindurch beschäftigt ist, andererseits ist ein Arbeitsplatz<br />

in einem der südlichen Bezirke von Rio de Janeiro oft bis zu drei Fahrtstunden<br />

vom Wohnort im Vorstadtbezirk entfernt, und aufgrund des niedrigen<br />

Lohnniveaus haben viele Angehörige der Unterschicht mehr als eine<br />

Beschäftigung, sodaß sich die Freizeit auf ein Minimum reduziert.


117<br />

Die barracões ihrerseits befinden sich ebenfalls im Süden der Stadt in alten<br />

Lagerhäusern und Docks möglichst nahe dem sambódromo, um den Transport<br />

der riesigen carros alegóricos zu erleichtern. Die Werkstätten wurden völlig aus<br />

den Sambaschulen ausgegliedert und stellen heute einen Arbeitsmarkt für vor<br />

allem nicht spezialisierte ArbeiterInnen dar, die nicht notwendigerweise in die<br />

Aktivitäten der Sambaschulen eingebunden sind. Viele sind AnhängerInnen<br />

einer anderen Sambaschule als der, in deren barracão sie arbeiten, oder sie<br />

mögen den Karneval an sich nicht. Jaílson, Bildhauer der Caprichosos, erklärte:<br />

"Karneval im sambódromo nur für die Arbeit. Ich habe Eintrittskarten zum<br />

Saufüttern und schaue nicht gerne zu. Das ist es nicht wert, es ist sehr<br />

anstrengend. Zu Hause trinke ich ein Bier und sehe fern." (E12). Die meisten<br />

stammen allerdings aus einer Sambaschul-comunidade, da die bereits<br />

Beschäftigten versuchen, ihre Familienangehörigen und FreundInnen ebenfalls<br />

unterzubringen. Bedingt durch die starke Fluktuation zwischen den barracões<br />

finden sich schließlich die Großmutter als Köchin bei der Beija-Flor, die Mutter<br />

als Schneiderin bei der Portela, die Tochter und der Vater als DerkorateurIn bei<br />

der Caprichosos und die Schwester als Schneiderin bei der Vila Isabel.<br />

Es ist definitiv nicht die "Liebe zur Sambaschule", die die Menschen in den<br />

barracões arbeiten läßt, obwohl die Arbeitsbedingungen schwierig und die<br />

Bezahlung gering ist. Die Sambaschulen bezahlen den ArbeiterInnen im<br />

barracão wöchentlich ihren Lohn aus, der sich am jeweiligen Mindestlohn<br />

orientiert. Betrachten wir das Lohnverhältnis im barracão der Sambaschule<br />

Caprichosos de Pilares im Jahr 1991/92. Der monatliche Mindestlohn von<br />

September bis Dezember 1991 betrug 42.000 Cr$. Um die 13<br />

Lebensmittelprodukte des amtlich definierten Warenkorbes an<br />

Grundnahrungsmitteln im September zu kaufen, mußte man 23.163,61 Cr$<br />

bezahlen, im Oktober kosteten die gleichen Produkte 30.816,29 Cr$, das<br />

entspricht einer monatlichen Inflation von 33% (Quelle: Dieese RJ, zit. im Jornal<br />

do Brasil 7. 11. 1991)! Der kleinste Betrag, den die Caprichosos ausbezahlte,<br />

waren 15.000 Cr$ in der Woche, das bedeutet, daß die betreffenden Personen<br />

zirka die Hälfte ihres Monatslohnes für ihre Ernährung verbrauchten. Dazu kam<br />

das Geld für die Busfahrten, das je nach Entfernung bis zu 7.000 Cr$ in der<br />

Woche betrug, also die andere Hälfte. In der Hierarchie höherstehende<br />

ArbeiterInnen erhielten 30.000 Cr$ in der Woche, SpezialistInnen wie<br />

beispielweise der Bildhauer waren besser bezahlt. Die Sambaschulen mit<br />

bicheiro im Hintergrund sind in der Lage, etwas höhere Löhne auszuzahlen.<br />

Zum besseren Verständnis muß gesagt werden, daß sich die Preise in Brasilien


118<br />

praktisch täglich erhöhen und es daher eine Katastrophe ist, wenn der Lohn<br />

nicht zeitgerecht, sondern erst drei Tage später ausbezahlt wird, da das einen<br />

tatsächlichen Verlust an Kaufkraft darstellt. Gleichzeitig wird über die Anpassung<br />

des Mindestlohnes und damit der real ausbezahlten Löhne jeweils monatelang<br />

verhandelt, sodaß die jeweilige Erhöhung nie der Inflation entspricht.<br />

Die ArbeiterInnen der barracões sind nicht angemeldet, was angesichts der<br />

allgemeinen Situation nicht verwunderlich ist: laut Statistischem Jahrbuch<br />

arbeiteten 1989 im Durchschnitt 44,87% der Beschäftigten über 15 Jahre in Rio<br />

de Janeiro ohne Anmeldung (Ministério da Economia, Fazenda e Planejamento<br />

1990: 110). Jorginho, 17 Jahre alt, meinte dazu: "Hier ist es sehr gut, weißt du,<br />

ich arbeite gerne hier, aber wir sind hier nicht angemeldet, wir haben kein INPS<br />

[Krankenversicherung] in Sachen Garantie. Wenn ich heute hinausgeschmissen<br />

werde, würde ich gehen, wie ich bin, ich bekomme nichts. Und wenn du<br />

woanders arbeitest, bist du angemeldet, hast dein INPS." (E6). Er zählte zu den<br />

Jüngsten im barracão, hatte aber vorher bereits in anderen Bereichen gearbeitet<br />

und stellt mit seinem frühen Einstieg ins Berufsleben keine Ausnahme dar. 1988<br />

arbeiteten 1.252.473 Personen von 10 – 14 Jahren in den Städten Brasiliens,<br />

davon 710.320 Personen 40 Stunden pro Woche oder mehr, und 2.640.527<br />

Personen von 15 – 17 Jahren, davon 2.103.597 Personen 40 Stunden pro<br />

Woche oder mehr (a.a.O.). Im barracão verdienen Jugendliche genausoviel wie<br />

die meisten Erwachsenen: zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel.<br />

Wie prekär die finanzielle Situation der Menschen, die im barracão arbeiten und<br />

in den weit entfernten Vorstadtbezirken und/oder in favelas leben, lassen ihre<br />

Handlungsweisen und auch ihre Bemerkungen darüber erahnen, die nur ganz<br />

selten in Klagen oder Schuldzuweisungen ausarten und eher in Form von<br />

nüchternen Feststellungen auftreten. Valentino, verheiratet und Vater einer fünf<br />

Monate alten Tochter, ging, da ihm sein Lohn nicht ausbezahlt wurde, nicht<br />

nach Hause, "dort warten nur Rechnungen auf mich, die ich ohnehin nicht<br />

zahlen kann." Auch Marquinho hatte fest mit der Auszahlung am heutigen Tag<br />

gerechnet, denn sein Geld "endete gestern mit dem Reis auf dem Herd."<br />

Baixinha wurde zum Essen in die Kantinenbaracke neben dem barracão<br />

eingeladen, im Bohneneintopf war viel Fleisch dabei; als ich meine Portion nicht<br />

aufaß, fragte sie, ob sie auch mein Fleisch essen dürfe, sie habe zwar<br />

überhaupt keinen Hunger mehr, aber das Baby brauche Fleisch, und sie könne<br />

sich kein Fleisch leisten. Baixinha war im siebenten Monat schwanger, trotzdem<br />

arbeitete sie bei mehr als vierzig Grad Hitze im barracão und wollte unbedingt


119<br />

am desfile teilnehmen. Am Tag des desfiles suchte ich sie vergeblich, sie erlitt<br />

kurz davor eine Fehlgeburt. So konnte sie diesmal nicht so wie im Vorjahr nach<br />

dem desfile heimlich Stoffreste, die nicht verbraucht wurden, bzw. Teile der<br />

Dekoration der carros alegóricos mitnehmen und damit ihre Einrichtung<br />

vervollständigen.<br />

Für die ArbeiterInnen, deren Wohnsituation besonders schwierig ist, stellt der<br />

barracão mit seiner Infrastruktur eine tatsächliche Verbesserung ihrer<br />

Lebensumstände dar. In jedem barracão gibt es eine Wasserversorgung und<br />

damit auch die Möglichkeit, sich zu duschen. Zur Grundausstattung gehört auch<br />

ein Telefon, und mit viel Überredungskunst gelingt es den ArbeiterInnen<br />

manchmal, es zu benutzen. Wer keinen anderen Platz zum Schlafen hat oder<br />

das Fahrgeld sparen muß, kann auf einem carro alegórico übernachten. Die<br />

reicheren Sambaschulen wie die Mocidade oder die Beija-Flor haben eine<br />

Küche, und wer im barracão arbeitet, bekommt Frühstück, Mittagessen,<br />

Abendessen und in den letzten Wochen vor dem Karneval auch eine<br />

Nachtsuppe.<br />

Die neuen sozialen Beziehungen, die zwischen den Arbeitskolleginnen<br />

aufgebaut werden, bilden die Grundlage für den Austausch verschiedenster<br />

Produkte. Drei Erdäpfel gegen ein Säckchen Waschpulver oder eine<br />

Strumpfhose gegen drei Meter Gummiband helfen den weiblichen<br />

Haushaltsvorständen weiter, ihre Kinder zu versorgen, die während der<br />

Arbeitszeit bei der Tante untergebracht sind, da der Vater entweder ebenfalls<br />

arbeitet, oder aber, was in den meisten Fällen zutrifft, nicht mit der Familie lebt.<br />

Die Situation der (alleinerziehenden) Frauen verkompliziert sich in der<br />

Endphase der Karnevalsvorbereitungen, wenn sie nicht einmal mehr in der<br />

Nacht nach Hause zurückkehren, weil sie bis vier Uhr früh arbeiten. Daß die<br />

Erhaltung der Familie auf den Schultern der Frauen liegt, konnte ich aus den<br />

unzähligen Gesprächen mit den ArbeiterInnen im barracão entnehmen.<br />

Während sich die Aussagen der Männer über ihre Kinder in der Regel auf deren<br />

Anzahl und die Besuche bei ihnen beschränkte, erörterten die Frauen in aller<br />

Ausführlichkeit ihre Verantwortung für Haus und Kinder. Danda beispielweise,<br />

Chefsekretärin des barracão der Mocidade, löst das Problem der<br />

Doppelbelastung auf folgende Art: "Ich habe immer gern in der Nacht gearbeitet,<br />

ich hasse es, tagsüber zu arbeiten. Ich finde, [die Zeit] während des Tages für<br />

mich ist, damit ich mich um meine Kinder kümmere, um das Haus kümmere,<br />

weißt du, ein Mittagessen für den Mann zur rechten Zeit auftischen, diese


120<br />

Dinge, Wäsche waschen, die Kinder sauber, gepflegt, mit gebügeltem Gewand<br />

in die Schule bringen, und wenn du tagsüber arbeitest, hast du diese Zeit nicht."<br />

(E4). Die Frauen waren es auch, die mich einluden, sie und ihre Kinder in ihrem<br />

"casa de pobre", ihrem "Haus armer Leute", zu besuchen, und die ihrer Sorge<br />

um die Zukunft von Brasilien wohl aufgrund ihrer Verantwortung für die Kinder<br />

öfter Ausdruck verliehen als die Männer. Maria Luisa, Schneiderin im barracão,<br />

erzählte, daß sie sich zwei Nächte anstellen mußte, um einen Platz für ihre<br />

Tochter in der Schule zu bekommen, und meinte: "Der Unterricht in Brasilien ist<br />

sehr schlecht. Aber die Regierung will dumme Menschen, braucht dumme<br />

Menschen um weiterzumachen."<br />

Während mir die ArbeiterInnen der barracões der Sambaschulen Caprichosos<br />

de Pilares und Mocidade Independente de Padre Miguel sehr rasch viel Wärme<br />

und Vertrauen entgegenbrachten, durfte ich bestimmte Bereiche der<br />

Werkstätten erst nach einer gewissen Zeit betreten, nachdem die<br />

Verantwortlichen davon überzeugt waren, daß ich keine Spionin sei. Um<br />

Diebstähle oder Zerstörungen, aber auch "Betriebsspionage" der<br />

Konkurrentinnen zu verhindern, bezahlt die Sambaschule Nachtwächter, und<br />

auch tagsüber muß man an einem Torwächter vorbeikommen, wenn man den<br />

barracão betreten will. Nicht einmal den vor allem kurz vor dem Karneval häufig<br />

auftauchenden JournalistInnen werden alle alegorias gezeigt, denn ihre<br />

Reportagen sollen das Publikum zwar beeindrucken, aber nicht alles über das<br />

desfile verraten. Nur in Ausnahmefällen darf ein/e Außenstehende/r den Sitz der<br />

Leitung betreten, in der Mocidade schützt ein Schild den Chef des barracão vor<br />

lästigen Fragen (s. Abb. 23).<br />

Er überwacht die gesamte Produktion der Werkstätte, eine Aufgabe, die in<br />

anderen barracões vom carnavalesco selbst wahrgenommen wird. "Hier gibt es<br />

alle Sektoren, die eine Firma normalerweise hat. Ich habe meinen Kassenraum,<br />

mein Sekretariat, meine Küche, mein Lager, meinen Cheftischler, meinen<br />

Chefschmied, meinen Chefdekorateur, meine Chefschneiderin, das heißt also<br />

im barracão ist jeder Sektor verwirklicht." (E3). Was bedeutet es nun, "einen<br />

Karneval zu machen"?<br />

Sofort nach dem Ende eines Karnevals wird damit begonnen, die carros<br />

alegóricos abzutakeln und das Rohmaterial zu recyclen bzw. Figuren etc., die<br />

die Sambaschule nur einmal präsentieren kann, an kleinere Sambaschulen oder<br />

andere Karnevalsgruppen in anderen brasilianischen Staaten zu verkaufen (s.


121<br />

Abb. 24 und 25). Der Rest wird weggeschmissen oder verbrannt. Auch von den<br />

Kostümen werden nur einige eingesammelt und gehen ins Patrimonium der<br />

Sambaschule über (aus diesem Grund müssen bestimmte TeilnehmerInnen<br />

bereits vor dem desfile unterschreiben, ihr Kostüm vollständig und gereinigt an<br />

die Sambaschule zurückzugeben). Sie werden für Shows in Nachtclubs oder auf<br />

Reisen in andere Länder benötigt. In dieser Zeit arbeiten nur 10 bis 20 Leute im<br />

barracão, es geht vergleichsweise gemütlich zu, in der Mittagspause ist auch<br />

manchmal Zeit für ein Kartenspiel (s. Abb. 26), und von Nachtarbeit ist noch<br />

keine Rede.<br />

Doch schon bald muß soviel Arbeit bewältigt werden, daß die Anzahl der<br />

Beschäftigten in einem barracão, der wie die Mocidade genug Geld ausgeben<br />

kann, auf über 200 ansteigt. Der barracão ist in verschiedene Zonen aufgeteilt,<br />

in denen das Unmögliche möglich gemacht wird (s. Abb. 27). Die offizielle<br />

Arbeitszeit, die anfangs Montag bis Freitag von 9 Uhr bis 17 Uhr dauert, wird<br />

Ende November/Anfang Dezember auf 9 Uhr bis 22 Uhr ausgedehnt, und im<br />

Jänner wird bis 3 Uhr früh und auch am Wochenende gearbeitet. In dieser Zeit<br />

müssen auch diejenigen im barracão übernachten, die lieber in ihrem eigenen<br />

Bett schlafen würden.<br />

In einem Bereich des barracão werden die carros alegóricos aufgebaut. Gemäß<br />

dem vom carnavalesco entworfenen Grundriß muß zunächst das Grundgestell<br />

aus Eisen zusammengeschweißt werden. Eventuelle Drehmechanismen oder<br />

Stromleitungen werden verlegt, danach werden die Wägen mit Holz verkleidet.<br />

Dann werden sie mit Stoff, Plastik, Leder und vielen anderen Materialien<br />

dekoriert und schließlich die Figuren montiert (s. Abb. 28 – 40). Bis auf die<br />

Herstellung der Dekorationen werden diese Tätigkeiten fast ausschließlich von<br />

Männern ausgeführt.<br />

Die Figuren werden von ein bis drei Spezialisten und ihren Assistenten in einem<br />

anderen Bereich des barracão hergestellt. Diese Bildhauer verdienen besser als<br />

ihre KollegInnen, die beim Fernsehen oder Theater arbeiten, haben aber<br />

keinerlei Vertrag mit der Sambaschule, so wie alle anderen keine Versicherung<br />

und sind eigentlich Saisonarbeiter, die mit dem Geld, das sie während eines<br />

halben Jahres verdienen, das ganze Jahr auskommen müssen. Viele von ihnen<br />

arbeiten deshalb für mehrere Sambaschulen gleichzeitig, wie Jaílson, Bildhauer<br />

der Sambaschule Caprichosos de Pilares erklärte: "Wenn der Karneval naht,<br />

arbeiten wir einfach das Doppelte, das heißt wir ändern nur die Zahl, denn ich


122<br />

will nicht nur die Skulpturen für hier machen, ich will auch welche für andere<br />

Sambaschulen machen, für blocos, Logen, Schilder, wir nehmen also alles, was<br />

mit Kunst zu tun hat und arbeiten für auswärts. Man muß sich nur teilen, ein<br />

bißchen in der Sambaschule und ein bißchen arbeite ich für auswärts, um den<br />

Gewinn zu verdoppeln." (E12). Sie stellen die meterhohen Figuren für die carros<br />

alegóricos auf folgende Weise her:<br />

1) erhalten sie eine Zeichnung mit Maßstabsangabe vom carnavalesco oder<br />

verfertigen diese selbst nach seinen Angaben;<br />

2) übertragen sie falls nötig die Zeichnung in Originalgröße auf Packpapier;<br />

3) reduzieren sie einen Styroporblock mit Hilfe eines vertikal gespannten heißen<br />

Drahtes, der auf abenteuerliche Weise an eine Stromleitung angeschlossen ist,<br />

auf die gewünschte Größe;<br />

4) übertragen sie die Zeichnung mit Hilfe eines Rasters oder mit dem<br />

Packpapier auf den Styroporblock;<br />

5) schneiden sie die Konturen mit dem Draht aus;<br />

6) kleben sie falls nötig mehrere Styroporteile zusammen;<br />

7) bearbeiten sie den (die) Styroporteil(e) mit Messern, Feilen, Nadeln u.ä., um<br />

das Modell für die Figur herzustellen;<br />

8) nehmen sie eine zweiteilige Gipsform vom Modell ab;<br />

9) legen sie die zwei Teile der Gipsform mit Glasfasern und Klebstoff aus (die<br />

Form ist mehrmals verwendbar);<br />

10) setzen sie die beiden Glasfaserhälften mit Glasfasern und Klebstoff<br />

zusammen;<br />

11) schleifen sie die Nähte und Kanten ab;<br />

Danach werden die Figuren noch mit Papierschnitzeln beklebt, bemalt und mit<br />

Glasscherben, Spiegelteilchen, Federn etc. dekoriert (s. Abb. 41 – 43).<br />

Die Prototypen aller Kostüme sowie die Kostüme für die spezialisierten alas der<br />

Sambaschule, die porta-bandeira, den mestre-sala sowie die passistas und die<br />

destaques werden ebenfalls in einem anderen Bereich des barracão hergestellt.<br />

Die Näharbeiten nach den Entwürfen des carnavalesco werden fast<br />

ausschließlich von Frauen durchgeführt, die neben der Arbeit für die<br />

Sambaschule auch oft privat die Herstellung der Kostüme für eine nicht<br />

spezialisierte ala übernehmen. (s. Abb. 44 und 45). Die Rahmenkonstruktionen<br />

aus Draht für die Hüte und Schulteraufsätze werden hingegen von Männern in<br />

einem separaten Bereich hergestellt (s. Abb. 46) und dann von Kollegen mit


123<br />

Hilfe anderer Materialien zu kunstvollen Gebilden verziert (s. Abb. 47) 70 .<br />

Abgesehen von den bereits erwähnten Bereichen befindet sich im barracão<br />

noch das Lager, in dem die Materialien aufbewahrt werden.<br />

Die ArbeiterInnen des barracão müssen bis zur letzten Sekunde Hand anlegen.<br />

Nachdem die carros alegóricos in der Nacht vor dem desfile von eigens dafür<br />

engagierten Männern im Schweiße ihres Angesichtes bis zum sambódromo<br />

geschoben worden sind und dabei einige Beschädigungen erlitten haben,<br />

werden bis unmittelbar vor dem desfile Ausbesserungsarbeiten vorgenommen<br />

bzw. bestimmte Podeste u.ä. überhaupt erst montiert (s. Abb. 48 und 49). Die<br />

Schneiderinnen nähen noch eine halbe Stunde vor dem Start der Sambaschule<br />

die letzten Pailletten an. Trotzdem werden ihre Namen nirgends aufscheinen –<br />

"Wir haben uns schon daran gewöhnt, damit zu leben. Denn es war immer so.<br />

Der carnavalesco denkt, und wir führen aus. Wir wissen, daß unser Name nicht<br />

erscheint." (Jaílson, Bildhauer der Caprichosos, in E12) –, es wird ihnen nur die<br />

kostenlose Teilnahme am desfile in der ala do barracão zugebilligt, wohlgemerkt<br />

nicht in Kostümen, sondern mit einem T-Shirt, das sie als ArbeiterInnen des<br />

barracão ausweist.<br />

Wie es nach dem desfile weitergehen wird, ist für die meisten unklar. Sie<br />

können nicht sicher sein, daß sie in der "heißen Zeit" wieder im barracão<br />

gebraucht werden und müssen sich vor allem bis dahin mit einer anderen<br />

Hilfsarbeit irgendwie über Wasser halten. Jorginho meinte: "Ich glaube, daß es<br />

hier [im barracão] nichts zu lernen gibt, im Karneval nicht. Nur für die Arbeit in<br />

einem anderen barracão, aber hier gibt es nichts zu lernen, was ich außerhalb<br />

machen kann." (E2). Was bleibt, ist die Erinnerung an das sicherlich großartige<br />

Erlebnis, am desfile teilgenommen zu haben, vor allem aber die Enttäuschung<br />

über die fehlende Anerkennung für die geleistete Arbeit. Maria Luisa ließ wie<br />

ihre KollegInnen ihrer Frustration freien Lauf, als sie am ausgemachten letzten<br />

Zahltag nach dem Karneval von 9 Uhr bis 16 Uhr ohne Mittagessen warten<br />

mußte und schließlich wieder nur einen Teil ihres Lohnes erhielt, was bedeutete,<br />

daß sie vier Tage später nochmals Fahrtzeit und Fahrtpreis aufwenden mußte,<br />

um den Rest abholen zu können: "Ich glaube, diese Arbeit hat überhaupt keinen<br />

Wert. Sie wollen, daß du immer 100% gibst, und wenn du 99,9% gibst, wirst du<br />

70 Die Männer, die mit der Verkleidung der Drahtgestelle für die Hüte und Schulteraufsätze<br />

beschäftigt sind, werden von ihren MitarbeiterInnen oft als Homosexuelle bezeichnet. Teilweise<br />

deklarieren sie sich auch als solche, es liegt aber die Vermutung nahe, daß sie in ihrer<br />

Gesamtheit deshalb so genannt werden, weil sie eine Tätigkeit verrichten, die sozial als<br />

Frauenarbeit definiert ist.


124<br />

rausgeschmissen. Das ist Ausbeutung! Du arbeitest Tag und Nacht, vergißt<br />

deine Familie, deine Kinder, und erhältst nicht den geringsten Respekt. Das ist<br />

es nicht wert."<br />

Die entwürdigende Art der Bezahlung ihrer ArbeiterInnen wird, wie so vieles in<br />

Brasilien, von den Sambaschulen mit der ökonomischen Krise begründet, von<br />

der natürlich auch diese Organisationen nicht verschont bleiben. In den letzten<br />

Jahren konnte die Verwendung billigerer Materialien beobachtet werden, die<br />

carnavalesco griffen auf Alteisen, Plastik statt Stoff und Acryl- statt<br />

Straußenfedern zurück. Trotzdem sind die Lohnkosten im Vergleich zu den<br />

Gesamtausgaben lächerlich gering, und Carlinhos, der im Lager der Mocidade<br />

arbeitete, meinte zu Recht: "Diese Verrücktheiten gibt es nicht in Österreich,<br />

oder? Diese Kontraste wie Karneval und Elendsviertel. Dr. Castor [banqueiro de<br />

bicho der Mocidade] zum Beispiel gibt Millionen für den Karneval aus, aber<br />

wenn du ihn um einen Teller Essen bitten würdest, würde er sagen, er hätte kein<br />

Geld. Früher, bevor es den Schatzmeister gab, haben wir Säcke voll Geld<br />

hereinbekommen – und sie an einem Tag ausgegeben."


Illustration<br />

125


8. TRADITION MIT ZUKUNFT?<br />

8.1. Sambistas von morgen<br />

126<br />

Onde andará a Colombina Wohin wird die Colombina gehen,<br />

Que o carnaval esqueceu, Die der Karneval vergaß,<br />

Com seu olhar de menina Mit ihrem Blick eines schlimmen Mädchens<br />

Travessa que deus lhe deu? Den Gott ihr gab?<br />

Onde andará a Colombina? Wohin wird die Colombina gehen?<br />

Onde andará seu Pierrot, Wohin wird Herr Pierrot gehen,<br />

Sempre à procura de um sonho Immer auf der Suche nach einem Traum,<br />

Que nunca realizou? Der sich nie verwirklichte?<br />

Hoje carnaval está mudado Heute ist der Karneval verändert<br />

E o palhaço vai ao baile de blue jeans. Und der Clown geht in Jeans zum Ball.<br />

O arlequim não muda de bermuda Der Harlekin läßt seine Bermuda an<br />

E a Maria Antonieta, nua, é o fim! Und Marie Antoinette, nackt, das ist das Ende!<br />

Não há mais lança-perfume Es gibt keine Duftkugeln<br />

Nem serpentinas no ar. Und auch keine Luftschlangen mehr.<br />

Meu carnaval se resume Mein Karneval beschränkt sich darauf,<br />

Em ver a escola passar. Die Sambaschule vorbeiziehen zu sehen.<br />

Então, repito a pergunta Also wiederhole ich die Frage,<br />

Qque o tempo não respondeu. Die die Zeit nicht beantwortet hat.<br />

O que teria mudado: Wer hat sich verändert:<br />

O meu carnaval ou eu? Mein Karneval oder ich?<br />

Braguinha<br />

Der Wettbewerb der Sambaschulen von Rio de Janeiro steht laut Kommentar<br />

der Riotur einen Schritt vor der Privatisierung. Wenn dieser Schritt vollzogen<br />

wird, bedeutet das wahrscheinlich eine weitere Erhöhung des<br />

Kartenkontingentes für das sambódromo und eine noch besser organisierte<br />

Vermarktung der Sambaschulen für den Tourismus (vgl. O Globo 28. 2. 1993).<br />

Die Entwicklung der Sambaschulen zu einem marktführenden und<br />

konkurrenzfähigen "Produkt" auf dem Sektor der Kulturindustrie führte nicht nur<br />

über fundamentale Änderungen im organisatorischen und ästhetischen Bereich,<br />

sondern machte sie für viele Interessenten aus ihrem ursprünglichen<br />

Haupteinzugsgebiet, den Vorstadtbezirken, fast unerschwinglich. Aufgrund der<br />

hohen Kosten wird es für die Sambaschulen immer schwieriger, ihre Kostüme<br />

an die arme Frau, den armen Mann zu bringen. Um den Verkauf anzukurbeln,<br />

werden Ausstellungen in Einkaufszentren organisiert und Werbung in Zeitungen<br />

und im Radio gemacht.<br />

Dennoch sehen die Angehörigen des Kerns der Sambaschulen zukünftige<br />

Probleme nicht primär in der momentanen Erscheinungsform ihrer Organisation<br />

– finanzielle Probleme gehören zum brasilianischen Alltag und werden nicht als


127<br />

außergewöhnlich wahrgenommen –, sondern sie machen sich Sorgen um den<br />

"ideologischen" Nachwuchs aus den eigenen Reihen. Für die Jugendlichen, die<br />

in den Vorstadtbezirken von Rio de Janeiro aufwachsen, ist die Sambaschule<br />

sogar in ihrer modernen Form nicht modern genug. Diese Tatsache macht sich<br />

auch bereits für die carnavalescos unangenehm bemerkbar: So stellte<br />

Joãosinho Trinta schon vor 10 Jahren fest: "[…] heute, so unglaublich es<br />

scheint, ist es das Schwierigste, einen Schwarzen dazu zu bringen, bei einer<br />

Sambaschule mitzugehen. Der Schwarze heute, die Jugendlichen, sie wollen<br />

Disco, Status, All Star, Tennis, Kleidung, …" (Joãosinho in Psicanálise 1985:<br />

57). Die Konkurrenz der internationalen Musik ist für die Sambaschulen immer<br />

härter geworden, und die Existenz von Diskotheken, Clubs u.ä. in ihrer<br />

Nachbarschaft (die früher nicht vorhanden waren) haben eine viel größere<br />

Anziehungskraft auf das junge Publikum. "Wir sind an einem Punkt<br />

angekommen, die Wurzel des Samba ist eine Sache, die nicht mehr existiert.<br />

[…] Die Leute, die den Samba pflegen sollten, die Tradition der Sambaschule<br />

verfolgen sollten, sie gingen weg zu anderen Sachen. Sie sind viel mehr für<br />

Michael Jackson als für Jamelão [berühmter sambista]." (Alexandre Louzada in<br />

E7).<br />

Unter diesem Aspekt sollte auch die Vielseitigkeit der Aktivitäten in den<br />

Sambaschulen während des Jahres gesehen werden. Sie richten sich<br />

keineswegs an die Mittel- und Oberschichtangehörigen, sondern an die<br />

Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Die Empörung der "TraditionalistInnen",<br />

die sich auch schon früher äußerte: "In der Gier, ihre Gewinne zu vergrößern,<br />

werden die quadras oft für die verschiedensten externen Einflüsse geöffnet.<br />

Zuletzt erlaubten einige Sambaschulen sogar den Eintritt eines Musikgenres,<br />

entfremdet und kommerziell, genannt »Black-Soul«." (Rodrigues de Moraes<br />

1978: 97), ist daher fehl am Platz. Indem eine Sambaschule Mangueira<br />

Funkbälle veranstaltet oder eine Caprichosos de Pilares mit Kindern nicht nur<br />

Sambaschritte, sondern auch Choreographien zu anderer Musik einstudiert,<br />

trägt sie den breiter gestreuten Interessen ihrer Mitglieder Rechnung, ohne<br />

damit automatisch ihre Tradition zu verleugnen.<br />

Das beweist auch die Tatsache, daß die Ausbildung neuer Talente mit<br />

besonderer Sorgfalt betrieben wird. Die Sambaschule Mangueira nimmt hier<br />

eine Sonderposition ein, sie gründete bereits 1934 die Kindergruppe der bateria,<br />

die gemeinsam mit einem minderjährigen Pärchen von mestre-sala und portabandeira<br />

am desfile der Großen teilnehmen durfte. Viele andere Sambaschulen


128<br />

riefen in der Folge Kindergruppen ins Leben, zum Teil mit, zum Teil ohne<br />

spezielle Funktion. In den 60er Jahren verliehen die Sambaschulen Mangueira<br />

und Mocidade Independente de Padre Miguel ihren kleinen Percussionisten<br />

einen besonderen Status: die ersten baterias mirins, also Kinderbaterias durften<br />

ihren Platz beanspruchen.<br />

Seit 1982 ist die Präsentation einer ala das crianças, einer Kinderala, als<br />

obligatorisch im Wettbewerbsreglement für die Sambaschulen der<br />

Spezialgruppe enthalten. Während die Kinder, die im Rahmen dieser ala am<br />

desfile teilnehmen, nicht notwendigerweise in engerem Zusammenhang mit dem<br />

Kern der Sambaschule stehen – für sie gilt dasselbe wie für alle alas, das heißt,<br />

man kann seine Tochter/seinen Sohn einkaufen, indem man den Preis für das<br />

Kostüm bezahlt –, werden parallel weiterhin Kindergruppen für SpezialistInnen<br />

unterhalten, in denen vorzugsweise Kinder aus der Nachbarschaft der<br />

Sambaschule Aufnahme finden. In der Mocidade Independente de Padre Miguel<br />

wurde 1987 unter der Leitung der früheren porta-bandeira Soninha eine<br />

escolinha de mestre-sala e porta-bandeira gegründet. Ihr Ziel ist es, den<br />

Kindern eine Karriere als sambistas sowohl innerhalb als auch außerhalb der<br />

Sambaschulen zu ermöglichen. "Ich bereite diese Mädchen [die porta-bandeira<br />

mirins] nicht nur für die Mocidade vor, ich bereite sie für den Samba vor. Sie<br />

erhalten eine professionelle Vorbereitung. Ich möchte hervorheben, daß dieser<br />

Unterricht gratis gegeben wird, wir wählen nur so aus, wie wir wollen, aber es<br />

gibt keinen Beitrag für einen Beitritt." (E8).<br />

Gleichzeitig wird traditionellerweise auch Wert auf die moralische Erziehung<br />

gelegt, gutes Benehmen und Lernerfolge in der Schule sind Voraussetzung für<br />

eine Teilnahme an der escolinha, sind sie doch auch Voraussetzung für ein<br />

späteres erfolgreiches berufliches Leben auch außerhalb des Sambamilieus.<br />

Die moralische Erziehung war bereits seit Beginn des Bestehen der<br />

Sambaschulen ein integraler Bestandteil, der Ausdruck der Hoffnung auf eine<br />

Generation von "DoktorInnen" aus den Vorstadtbezirken ist (vgl. dazu auch<br />

Goldwasser 1973: 131ff.). "Die Wurzel des Sambas soll konserviert werden. Wir<br />

bilden neue sambistas aus, indem wir ihnen beibringen, wie man sich verhält,<br />

ihnen erklären, daß das Leben eines sambista nicht zur Gänze professionell ist,<br />

daß sie lernen müssen, daß sie arbeiten müssen, daß sie ein eigenes Leben<br />

führen müssen. Daß der Samba ein Vergnügen ist, eine ernste Arbeit, aber daß<br />

sie lernen müssen. Der Samba wird viel Freude bereiten, aber das kann nicht<br />

ewig dauern." (E8), erklärte Soninha ihr Ziel als Lehrerin der kleinen porta-


129<br />

bandeira. Nicht zuletzt bewahrt die moralische Unterstützung einige Kinder vor<br />

dem Abrutschen in die Kriminalität. Soninha erklärte weiter: "Es ist eine Arbeit<br />

des Ursprungs. Und über das Ziel, Professionelle auszubilden, hinaus auch das<br />

Ziel, durch diese Arbeit… es ist keine Neuigkeit für dich, daß die Mehrheit der<br />

Kinder des Samba arme Kinder aus Favelas von sehr armen Familien sind.<br />

Durch den Samba halten sie sich für wichtig, sie sind stolz, sie kommen auf die<br />

Tanzfläche mit ihrem schäbigen Gewand, aber alle sagen zu ihnen: du hast gut<br />

getanzt, sie sind stolz darauf. Da öffnet sich die Tanzfläche weil es tanzen wird.<br />

Also wird dieses Kind von 12, 13, 14, 15 Jahren, das so etwas macht,<br />

schwerlich den falschen Weg einschlagen. Der Samba macht daß… es kann im<br />

schlechtesten Umfeld leben. Weil all das tragen wir in unsere Gruppe. Wir<br />

erlauben nicht, daß sie rauchen, daß sie trinken, über Gift sprechen wir offen.<br />

Sogar wenn es dort lebt, wird es deshalb, wenn jemand sagt, schau, du<br />

bekommst 10 Cruzeiros für das Überbringen von dem da, nicht gehen. Es wird<br />

nicht gehen, weil es weiß, wenn es dort eintritt, tritt es nie mehr in den Samba<br />

ein. Also ist es eine kulturelle und gleichzeitig erzieherische Arbeit." (E8).<br />

1984 gründete die Sambaschule Império Serrano die erste escola de samba<br />

mirim, die erste Kindersambaschule mit dem Namen Império do Futuro (Reich<br />

der Zukunft). Im Jahr 1992 nahmen bereits 10 escolas mirins mit mehr als<br />

10.000 am desfile der escolas mirins teil, das ohne Wertung jedes Jahr am<br />

Freitag vor Beginn des großen Karnevals im sambódromo stattfindet, unter<br />

ihnen:<br />

Caprichosos de Pilares: Inocentes da Caprichosos (Unschuldige der<br />

Caprichosos), 900 Kinder<br />

Estação Primeira da Mangueira: Mangueira do Amanhã (Mangueira von<br />

Morgen), 2000 Kinder<br />

Lins Imperial: Infantes do Lins (Kinder aus Lins), 800 Kinder<br />

Vila Isabel: Herdeiros da Vila (Erben von Vila), 1400 Kinder<br />

Salgueiro: Aprendizes do Salgueiro (Lehrlinge des Salgueiro), 1200 Kinder<br />

Império Serrano: Império do Futuro (Reich der Zukunft), 800 Kinder<br />

Beija-Flor de Nilópolis: Flor do Amanhã (Blume von Morgen), 1200 Kinder.<br />

Die Namen stehen für das Programm. Die Kinder, die bei den escolas mirins<br />

mitwirken, die einen Großteil ihrer Freizeit in der Sambaschule zubringen, sollen<br />

nicht nur die Zukunft ihrer "Mütter" sicherstellen, durch die Zuwendung und<br />

Betreuung, die ihnen im Rahmen der kleinen Sambaschulen zu Teil werden, soll


130<br />

ihnen eine Chance auf eine Zukunft gegeben werden. Als Beispiel soll hier die<br />

Inocentes da Caprichosos herangezogen werden, die am 4. 4. 1991 von einigen<br />

wichtigen Personen (unter ihnen auch der carnavalesco) der Sambaschule<br />

Caprichosos de Pilares gegründet wurde. "Du machst es als sei es eine<br />

Nachkommenschaft, du pflanzt eine Wurzel, und kurze Zeit später ist dieser Ast<br />

dort oben." (E13), beschreibt der Präsident der Inocentes seine Aufgabe. Die<br />

escola mirim hat wie ihre "Mutter" ein Statut und die gleiche Einteilung in<br />

Sektoren. Jedes Kind, das Interesse hat, kann mitmachen, da keine Kosten mit<br />

einem Eintritt verbunden sind: die Kostüme für die bateria, die ala das baianas<br />

und die comissão de frente werden vom Direktorium der escola mirim<br />

gespendet, das aus Erwachsenen besteht und nur administrative Aufgaben<br />

wahrnimmt, die restlichen von PräsidentInnen von alas der Sambaschule.<br />

Voraussetzung für die Aufnahme sind aber die Autorisierung der Eltern, eine<br />

Schulbesuchsbestätigung und am Ende des Jahres der Erfolgsnachweis (vgl.<br />

auch do Pazo Ferreira 1982: 180). Auch Josimar, Präsident der Inocentes da<br />

Caprichosos, sprach die soziale Idee an: "Es ist auch eine Sozialarbeit, weil es<br />

gibt heute viele Kinder, die mitten auf der Straße leben, und wir wollten eine<br />

andere Möglichkeit bieten. Wir wollten dazu beitragen, daß es beginnt, eine<br />

andere Seite des Lebens zu schätzen." (E13). Der Erfolg gibt den<br />

Verantwortlichen Recht, es kommen Kinder aus weit entfernten Bezirken wie<br />

Santa Cruz, Campo Grande und Pavuna nach Pilares.<br />

Die administrative Leitung, die die Verantwortung für die escola mirim nach<br />

außen hin trägt und für eine gewisse Summe an Einnahmen sorgen muß, indem<br />

sie Spenden sammelt und die kleine Subvention der Liga Mirim verwaltet, und<br />

die Position des carnavalesco sind mit Erwachsenen besetzt. Trotzdem wird den<br />

Kindern viel Platz für ihre Ideen eingeräumt, sie sind beispielsweise<br />

verantwortlich für den samba-enredo, für die Auswahl der Kostüme und die<br />

harmonia bei ihrem desfile. Es ist geplant, auch die Funktion des carnavalesco<br />

einem Kind zu übergeben. Während des Jahres werden eine Vielzahl von<br />

Festen gefeiert, die Auswahl des samba-enredo, der Geburtstag der<br />

Sambaschule, das Junifest, die Wahl zur Königin des Karnevals, zur Königin der<br />

bateria, zur Königin des Frühlings etc., und gratis kleine Shows bei festlichen<br />

Gelegenheiten im Bezirk Pilares gegeben. Ein wichtiger Grundsatz der escola<br />

mirim ist die Distanz zur Kommerzialisierung, in die die große Sambaschule<br />

eingebunden ist. "Dieser Professionalismus des Karnevals wächst. Und die Idee<br />

der escola mirim ist auch, diesen Prozeß zu revertieren, oder besser sie [die


131<br />

escola mirim] nicht so groß werden zu lassen vom Gesichtspunkt aus, daß sie in<br />

kurzer Zeit eine große Karnevalsfabrik sein wird." (E13).<br />

Einen Schritt weiter ging Joãosinho Trinta mit seiner Usina da Alegria – Espaço<br />

Flor do Amanhã (Fabrik der Freude – Raum Blume von Morgen). Er gründete<br />

(diesmal ohne finanzielle Unterstützung von banqueiros) auf Basis der escola<br />

mirim der Sambaschule Beija-Flor de Nilópolis auf 7600 m2 ein Schul-,<br />

Berufsbildungs- und Versorgungszentrum für mehr als 1000 Straßenkinder in<br />

einem alten Dock im Bezirk Saúde, dessen Renovierung mit Kosten von ca. 3<br />

Millionen Dollar noch nicht beendet ist, das aber bereits teilweise funktioniert.<br />

Die Kinder bekommen dort zu Essen, werden von freiwilligen HelferInnen<br />

medizinisch versorgt, erhalten Unterricht und können Sport betreiben. Nach<br />

Erhalt von bereits versprochenen staatlichen Zuschüssen und der Beendigung<br />

der Renovierung soll die Usina da Alegria den Straßenkindern auch als<br />

Schlafplatz dienen können. Daneben werden sie im Zuge der Herstellung von<br />

Karnevalsprodukten zu BildhauerInnen, ZeichnerInnen, MalerInnen,<br />

SchweißerInnen usw. ausgebildet, lernen also alle Tätigkeiten, mit denen sie im<br />

barracão, aber auch außerhalb Geld verdienen können (vgl. Jornal do Brasil 20.<br />

10. 1991, 24. 12. 1991 und 19. 3. 1992 und O Globo 3. 3. 1992).


132<br />

8.2. Tradition mit leerem Bauch reicht nicht aus 71<br />

Die Sambaschulen von Rio de Janeiro geben trotz aller Unkenrufe nicht nur im<br />

Karneval kräftige Lebenszeichen von sich. Daß die LeiterInnen dieser<br />

Organisationen, die Dachorganisation, die banqueiros de bicho, die Medien und<br />

der Staat Brasilien kein Interesse an einer Rückkehr zu den Wurzeln des Samba<br />

haben, wurde in den Kapiteln 4 bis 8 ausführlich dargelegt. Es erscheint mir<br />

sehr wichtig, abschließend festzustellen, daß auch die eigentlichen<br />

ProtagonistInnen der Sambaschulen, die der Unterschicht angehören, nichts für<br />

eine Wiedereinsetzung des Status quo der dreißiger Jahre übrig haben.<br />

Einerseits spielt hier die Tatsache eine Rolle, daß die Forderung nach einer<br />

realistischen Darstellung der brasilianischen Verhältnisse im Karneval von einer<br />

intellektuellen Elite ausgeht und sich nicht mit den Bedürfnissen der sambistas<br />

deckt. Joãosinho Trinta, dessen Stellungnahme "Der Arme mag den Luxus, wer<br />

die Armut mag, ist intellektuell" oft zitiert wird, erklärte: "Was die Linke<br />

einforderte, war genau diese Realität des Karnevals, das heißt, der Karneval<br />

sollte die brasilianische Realität zeigen. Sie verstanden nicht, und ich wollte<br />

ihnen vermitteln, daß der Moment des Traumes, der Moment der Schönheit<br />

auch eine brasilianische Realität ist. Wie könnte er es nicht sein? Einmal König,<br />

Prinz zu sein ist ein Recht, das sie [die sambistas] haben…" (Joãosinho in<br />

Psicanálise 1985: 92). Eine Umfrage, die die Marplan im Auftrag des Jornal do<br />

Brasil im Jahr 1972 durchführte, zeigte, daß die Sambaschule Mangueira, die<br />

als traditionellste Sambaschule gilt, die beliebteste der Mittelschicht war,<br />

während die Sambaschule Portela, bekannt für ihre luxuriösen desfiles, am<br />

meisten Sympathie unter den Unterschichtangehörigen erntete (vgl. Moura<br />

1986: 36). 1993 veröffentlichte dieselbe Zeitung eine Studie der Gerp Marketing<br />

Research & Co., die ebenfalls Mangueira und Portela als beliebteste<br />

Sambaschulen ausweist, wobei Mangueira bei Unter- und<br />

Mittelschichtangehörigen gleichermaßen beliebt ist, während die Vorliebe für<br />

Portela nur in den Vorstadtbezirken festgestellt werden konnte (vgl. JB<br />

21.2.1993).<br />

Andererseits ermöglichen die Sambaschulen, wie bereits erwähnt, den Aufbau<br />

einer Infrastruktur in den Vorstadtvierteln, die ein Minimum an sozialer,<br />

juristischer, gesundheitlicher und erzieherischer Unterstützung bietet. Diese<br />

71Zitat von Soninha, porta-bandeira der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel<br />

(E8).


133<br />

Kompetenz bleibt bei den desfiles der Sambaschulen unsichtbar, ist aber ein<br />

wesentliches Element des Ganzjahresbetriebes, und diese Kompetenz wird mit<br />

den Einnahmen finanziert, die nun einmal auf der Kommerzialisierung des<br />

Karnevals basieren.<br />

Den Sambaschulen ist von diesem Gesichtspunkt aus daher nicht die Loslösung<br />

von der Kommerzialisierung zu wünschen, sondern den sambistas mehr Einfluß<br />

auf und Kontrolle über die Vermarktung ihrer kulturellen Produktion. Wann und<br />

wie eine solche Veränderung der Machtverhältnisse stattfinden könnte, ist nicht<br />

zuletzt wegen der instabilen politischen und ökonomischen Situation Brasiliens<br />

unvorhersehbar.<br />

Leichter erreichbar scheint die umstrittene Forderung nach der<br />

Professionalisierung der sambistas. "Der sambista verdient nichts, er ist nicht<br />

wie ein Fußballspieler, er ist ein Künstler, aber er ist es nicht auf sozialem<br />

Niveau. Auf finanziellem Niveau gibt es heute bereits, Gott sei Dank, einige<br />

Veränderungen, weil es sich schon ein bißchen entwickelt hat, er wird selten<br />

bezahlt für die Arbeit, die er macht, oder besser gesagt gut bezahlt für die<br />

Arbeit, die er macht. Heutzutage gibt es schon eine Steigerung in diesen<br />

Dingen, heute machen einige sambistas schon Verträge." (E8), meinte Soninha,<br />

porta-bandeira der Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel. Die<br />

Verbesserung beschränkte sich bisher allerdings auf eine gewisse soziale<br />

Mobilität auf individuellem Niveau und gilt nicht für die Gesamtheit der<br />

Personen, die den Samba produzieren. Die Erschließung eines alternativen<br />

Arbeitsmarktes für die BewohnerInnen der Vorstadtbezirke im Bereich der<br />

Sambaschulen (vgl. Rodrigues 1984: 122ff.), die mit der Professionalisierung<br />

der barracões begonnen hat, würde den Fortbestand der Sambaschulen-Kultur<br />

begünstigen und für sambistas eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse<br />

bedeuten. Tradition mit leerem Bauch reicht dazu nicht aus.


GLOSSAR<br />

134<br />

ala(s) port. "Flügel"; Gruppe von<br />

TeilnehmerInnen am desfile, die alle<br />

das gleiche Kostüm tragen<br />

ala das baianas Gruppe der baianas, die eine spezielle<br />

Choreografie tanzt<br />

ala das crianças Kindergruppe<br />

ala dos compositores Gruppe der KomponistInnen<br />

alegoria(s) s. carro alegórico<br />

baiana(s) ältere Frau der Sambaschule, benannt<br />

und kostümiert nach den tias baianas<br />

baliza Solotänzer, der gemeinsam mit der<br />

banqueiro(s) de bicho<br />

porta-bandeira auftritt; heute mestresala<br />

genannt<br />

Organisator des illegalen Glücksspiels<br />

barracão(-ões)<br />

jogo do bicho<br />

Werkstätte der Sambaschule, in der die<br />

allegorischen Wägen und ein Teil der<br />

Kostüme hergestellt werden<br />

bateria Rhythmusorchester der Sambaschule<br />

batuque Trommeln<br />

bicheiro(s) Bezeichnung für jeden, der in der<br />

Organisation des illegalen Glücksspiels<br />

jogo do bicho eingebunden ist, wird<br />

aber meistens als Synonym für<br />

bloco(s)<br />

banqueiro de bicho verwendet<br />

Gruppe von Personen, die begleitet<br />

von einer Musikgruppe am Karneval<br />

teilnimmt<br />

candomblé afrobrasilianische Religion, die auf dem<br />

Pantheon der Yoruba basiert und sich<br />

von Bahia aus in weiten Teilen<br />

Brasiliens verbreitete.<br />

carnaval(-ais) Karneval<br />

carnavalesco(s), -a(s) künstlerische/r LeiterIn der<br />

Sambaschule<br />

carro(s) (alegórico(s)) allegorischer Wagen


135<br />

carro abre-alas erster allegorischer Wagen, den die<br />

Sambaschule beim desfile präsentiert<br />

comissão de frente Ehrenkommitte der Sambaschule, die<br />

das desfile eröffnet<br />

componente(s) Teilnehmerin am desfile<br />

compositor(es), -a(s) KomponistIn<br />

comunidade(s) Nachbarschaftsgruppe in einem<br />

Vorstadtviertel<br />

congada(s) Fest der SklavInnen, bei dem sie den<br />

König und die Königin des Kongo<br />

"krönten"<br />

conjunto Gesamteindruck des desfile<br />

cordão(-ões) Gruppe von Kostümierten, die mit<br />

Perkussionsinstrumenten,<br />

StandartenträgerIn und Dirigent am<br />

Karneval teilnahmen<br />

departamento(s) Abteilung der Sambaschule<br />

desfile(s) Präsentation der Sambaschule vor<br />

Publikum und einer Jury im<br />

destaque(s)<br />

sambódromo<br />

TeilnehmerIn des desfile, der/die keiner<br />

dirigente(s)<br />

ala angehört, sondern auf einem carro<br />

alegórico eine Hauptfigur des enredo<br />

darstellt<br />

stimmberechtigtes Mitglied der<br />

Sambaschule<br />

dono(s) Herr, Besitzer<br />

enredo(s) Thema, das die Sambaschule beim<br />

ensaio(s)<br />

desfile präsentiert<br />

Probe in der quadra der Sambaschule<br />

entrudo Form des Karnevals, bei dem sich die<br />

Leute in den Straßen von Rio<br />

gegenseitig verprügelten und mit<br />

Wachskugeln mit stinkender Flüssigkeit<br />

bewarfen<br />

escola(s) mirim(-ns) Kindersambaschule<br />

fantasia(s) Kostüm; bedeutet aber auch Fantasie<br />

favela(s) Elendsviertel von Rio de Janeiro


136<br />

harmonia Zusammenspiel von Rhythmus und<br />

Melodie<br />

jogo do bicho illegales Glücksspiel, bei dem man auf<br />

Tiere setzt<br />

madrinha da bateria "Patin" der bateria, die als Solotänzerin<br />

vor der ala da bateria am desfile<br />

malandro(s)<br />

teilnimmt<br />

"Gauner"<br />

mestre-sala Solotänzer, der gemeinsam mit der<br />

mestre<br />

porta-bandeira auftritt<br />

künstlerischer Leiter der bateria<br />

morro(s) Granithügel von Rio de Janeiro, auf<br />

denen sich die favelas ausgebreitet<br />

haben; wird oft als Synonym für favela<br />

nação(-ões)<br />

verwendet<br />

ethnische oder pseudo-ethnische<br />

Gruppen, in die die SklavInnen<br />

zusammengefaßt wurden<br />

passista(s) SolotänzerIn der Sambaschule<br />

pastora(s) weibliches Mitglied des rancho; in der<br />

Anfangszeit der Sambaschule<br />

Chorsängerin und Tänzerin<br />

patrono(s) Schirmherr, Mäzen<br />

porta-bandeira Fahnenträgerin der Sambaschule<br />

porta-estandarte Standartenträgerin der Sambaschule<br />

puxador(es), -a(s) InterpretIn des samba-enredo<br />

quadra(s) Sitz der Sambaschule, wo die ensaios<br />

rainha da bateria<br />

stattfinden<br />

s. madrinha da bateria<br />

rancho(s) Karnevalsorganisation, die mit<br />

Orchester, Chorgesang,<br />

Choreographie, Kostümen und<br />

geschmückten Wägen ein Thema<br />

darstellte<br />

samba(s)-enredo Samba, den die Sambaschule beim<br />

desfile präsentiert und in desen<br />

Mittelpunkt der enredo steht


137<br />

sambeiro(s) Person, die die ensaios der<br />

Sambaschulen besucht, aber nicht<br />

tanzen kann<br />

sambista(s) SambatänzerIn und/oder -musikerIn<br />

sambódromo architektonische Konstruktion, in der<br />

sich die Sambaschulen dem Publikum<br />

und der Jury präsentieren<br />

sociedade(s) Karnevalsgesellschaft der Reichen<br />

sócio(s) s. dirigente<br />

tias baianas ehemalige Sklavinnen aus Bahia, die<br />

in Rio de Janeiro im Mittelpunkt des<br />

sozialen, kulturellen und religiösen<br />

Lebens der freigelassenen SklavInnen<br />

standen<br />

velha guarda "Alte Garde" der Sambaschule,<br />

bestehend aus den<br />

Gründungsmitgliedern und den<br />

ältesten Mitgliedern


ABBILDUNGEN<br />

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Tarde, Jornal do Brasil, O Globo und O Povo na Rua sind im Text angeführt.<br />

Die Dokumentation der Feldforschung, bestehend aus<br />

1) Tonbandinterviews E1 – E13 und Transkription auf Portugiesisch,<br />

2) Tagebuch,<br />

3) Fotoarchiv,<br />

4) Originaldokumenten,<br />

ist bei der Autorin einsehbar.<br />

Die Illustrationen auf Seite 91, 103 und 123 wurden von Marcílio Pinto Ferreira,<br />

Zeichner im barracão der Sambaschule Mocidade Independente de Padre<br />

Miguel, angefertigt.

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