156 IV.1. Beobachtungsprotokoll zum Interview 2: Petra Wiesow Tag ...
156 IV.1. Beobachtungsprotokoll zum Interview 2: Petra Wiesow Tag ...
156 IV.1. Beobachtungsprotokoll zum Interview 2: Petra Wiesow Tag ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
223<br />
Bürgerin in ihrer Sicht über den „goldenen Westen“ bestätigt, der nicht hält, was<br />
er verspricht, ihr vielmehr eine Phase der Arbeitslosigkeit nach der anderen<br />
beschert. Ihre Rollenambivalenz bestätigt sich im widerstreitenden<br />
Nebeneinander innerhalb eines Interaktionsmusters.<br />
Ihre geschilderte Gemütsverfassung am <strong>Tag</strong> der Maueröffnung zeugt von ihrer<br />
tief empfundenen Leere, von Enttäuschung und Trauer, keinesfalls von<br />
aufkommender Freude über die veränderten Bedingungen, die plötzlich allen<br />
Menschen ermöglichten, so zu leben, wie es auch <strong>Petra</strong> W. nach ihrer Ausreise<br />
in die Bundesrepublik wollte. Diese Enttäuschung beruht vor allen Dingen auf<br />
ihrem zerstörten Traum des Andersseins, als andere Menschen. Als <strong>Petra</strong> W.<br />
im Rundfunk hört, dass die Sektorengrenze geöffnet ist, kann sie es nicht<br />
fassen. Nur akustisch versteht sie, was geschehen ist, ohne sich über die<br />
Tragweite im klaren zu sein. Erst als sie eine andere Hausbewohnerin trifft, die<br />
spontan ihre unbändige Freude über diese tiefgreifende Veränderung bekundet<br />
und äußert, wie wunderbar das doch auch für <strong>Petra</strong> W. sei, wird dieser klar,<br />
dass sie nun nicht mehr ausreisen muss, um ihre Wünsche und Ziele zu<br />
realisieren. Der Anblick dieser Frau lässt Wut in <strong>Petra</strong> W. hochkommen,<br />
erinnert sie daran, dass gerade diese Mitbewohnerin immer gegen ihre<br />
Ausreise war und dass nun auch sie vom Wandel profitieren wird.<br />
Mit der Maueröffnung zerplatzt der Traum wie eine Seifenblase, sich von der<br />
Masse der DDR-Bürger abzuheben und auszureisen. Unabhängig von <strong>Petra</strong><br />
W´s sofortiger Teilnahme an einer ABM-Maßnahme breitet sich bei ihr wie ein<br />
schleichendes Gift die Erkenntnis aus, wieder einmal zu spät gehandelt, die<br />
Initiative zur eigenen Lebensgestaltung verloren zu haben und erneut von den<br />
gesellschaftlichen Bedingungen prozessiert worden zu sein.<br />
Mit ihrer Kritik an der Veränderung der gesellschaftspolitischen Bedingungen<br />
bestätigt <strong>Petra</strong> W. die Vermutung, bei ihr handele es sich eher um einen<br />
verhinderten Wirtschaftsflüchtling. Sie war keine Systemgegnerin; ihr<br />
Entschluss zur Ausreise war nicht vom Widerstand gegen gesellschaftliche oder<br />
allgemeinen Lebensbedingungen, politische Vorgaben oder vom Wunsch, das<br />
05.05.1999. Stand der deutschen Einheit. Magdeburger Zeitung. 06.05.1999.