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156 IV.1. Beobachtungsprotokoll zum Interview 2: Petra Wiesow Tag ...

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Bürgerin in ihrer Sicht über den „goldenen Westen“ bestätigt, der nicht hält, was<br />

er verspricht, ihr vielmehr eine Phase der Arbeitslosigkeit nach der anderen<br />

beschert. Ihre Rollenambivalenz bestätigt sich im widerstreitenden<br />

Nebeneinander innerhalb eines Interaktionsmusters.<br />

Ihre geschilderte Gemütsverfassung am <strong>Tag</strong> der Maueröffnung zeugt von ihrer<br />

tief empfundenen Leere, von Enttäuschung und Trauer, keinesfalls von<br />

aufkommender Freude über die veränderten Bedingungen, die plötzlich allen<br />

Menschen ermöglichten, so zu leben, wie es auch <strong>Petra</strong> W. nach ihrer Ausreise<br />

in die Bundesrepublik wollte. Diese Enttäuschung beruht vor allen Dingen auf<br />

ihrem zerstörten Traum des Andersseins, als andere Menschen. Als <strong>Petra</strong> W.<br />

im Rundfunk hört, dass die Sektorengrenze geöffnet ist, kann sie es nicht<br />

fassen. Nur akustisch versteht sie, was geschehen ist, ohne sich über die<br />

Tragweite im klaren zu sein. Erst als sie eine andere Hausbewohnerin trifft, die<br />

spontan ihre unbändige Freude über diese tiefgreifende Veränderung bekundet<br />

und äußert, wie wunderbar das doch auch für <strong>Petra</strong> W. sei, wird dieser klar,<br />

dass sie nun nicht mehr ausreisen muss, um ihre Wünsche und Ziele zu<br />

realisieren. Der Anblick dieser Frau lässt Wut in <strong>Petra</strong> W. hochkommen,<br />

erinnert sie daran, dass gerade diese Mitbewohnerin immer gegen ihre<br />

Ausreise war und dass nun auch sie vom Wandel profitieren wird.<br />

Mit der Maueröffnung zerplatzt der Traum wie eine Seifenblase, sich von der<br />

Masse der DDR-Bürger abzuheben und auszureisen. Unabhängig von <strong>Petra</strong><br />

W´s sofortiger Teilnahme an einer ABM-Maßnahme breitet sich bei ihr wie ein<br />

schleichendes Gift die Erkenntnis aus, wieder einmal zu spät gehandelt, die<br />

Initiative zur eigenen Lebensgestaltung verloren zu haben und erneut von den<br />

gesellschaftlichen Bedingungen prozessiert worden zu sein.<br />

Mit ihrer Kritik an der Veränderung der gesellschaftspolitischen Bedingungen<br />

bestätigt <strong>Petra</strong> W. die Vermutung, bei ihr handele es sich eher um einen<br />

verhinderten Wirtschaftsflüchtling. Sie war keine Systemgegnerin; ihr<br />

Entschluss zur Ausreise war nicht vom Widerstand gegen gesellschaftliche oder<br />

allgemeinen Lebensbedingungen, politische Vorgaben oder vom Wunsch, das<br />

05.05.1999. Stand der deutschen Einheit. Magdeburger Zeitung. 06.05.1999.

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