LINGUAMED - Adipositas Spektrum
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Im Brennpunkt<br />
Tatsache ist seit vielen Jahren in der<br />
Adiposiologie akzeptiert. Sie hat zur<br />
Folge, dass <strong>Adipositas</strong>-Experten keine<br />
Anstrengung unternehmen, die Energieaufnahme<br />
quantitativ im Einzelfall<br />
zur Beurteilung therapeutischer Konsequenzen<br />
zu ermitteln. Die Energieaufnahme<br />
eines Patienten ermittelt<br />
man, in dem man den Energieverbrauch<br />
misst. Bei Gewichtskonstanz<br />
(im steady-state) ist Energieverbrauch<br />
= Energieaufnahme. Einzelheiten der<br />
Zusammenhänge habe ich in meinem<br />
Buch „<strong>Adipositas</strong>: Ätiologie, Folgekrankheiten,<br />
Diagnostik, Therapie“,<br />
Springer-Verlag, 3. Auflage 2008 auf<br />
den Seiten 85-92 dargestellt. Die Auflage<br />
der Barmer, der Patient möge ein<br />
Ernährungstagebuch über 14 Tage<br />
führen, ist für die Indiaktionsentscheidung<br />
zu einem adipositas-chirurgischen<br />
Eingriff irrelevant.<br />
Pharmakotherapie<br />
Die 3 auf dem Markt befindlichen<br />
effektiven Pharmaka Orlistat, Sibutramin<br />
und Rimonabant reduzieren das<br />
Körpergewicht im Mittel zwischen 3<br />
und 6 kg. Bei extrem Adipösen besteht<br />
im Regelfall ein Therapieziel mit<br />
einer Gewichtsabnahme von mehr als<br />
20 kg; eine Pharmakotherapie muss<br />
daher bei dieser Klientel als nicht ausreichend<br />
charakterisiert werden.<br />
Abgesehen davon erstatten die<br />
gesetzlichen Krankenkassen diese<br />
Pharmaka nicht, da sie den § 34a im<br />
SGB V rigide auslegen. Mir ist daher<br />
unverständlich, weshalb nach der<br />
Pharmakotherapie gefragt wird.<br />
Ausschluss anderer Ursachen<br />
Grundsätzlich muss bei jedem Adipösen<br />
eine Hypthyreose ausgeschlossen<br />
werden, was mittels einer Blut-<br />
analyse und der Messung von basalem<br />
TSH gelingt. Diese Untersuchung<br />
kann von jedem niedergelassenen<br />
Arzt simpel und einfach durchgeführt<br />
werden. Selbstverständlich muss sich<br />
jeder Arzt fragen, ob es weitere Ursachen<br />
für eine <strong>Adipositas</strong> gibt. Dies<br />
können Medikamente oder auch andere<br />
seltene Krankheiten sein (Seite<br />
120-127 in „<strong>Adipositas</strong>“). Keinesfalls<br />
ist es jedoch gerechtfertigt, wie es regelmäßig<br />
geschieht, dass die Patienten<br />
die Auflage erhalten, sich bei einem<br />
Endokrinologen untersuchen zu lassen.<br />
Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit<br />
sollten daher die Krankenkassen<br />
unbedingt auf diese Auflage verzichten.<br />
Die Abklärung einer endokrinologischen<br />
Ursache wird von der DAG<br />
in der Leitlinie nicht gefordert.<br />
Verhaltenstherapeutische<br />
Behandlung<br />
Die Vorlage einer Bescheinigung für<br />
eine solche therapeutische Maßnahme<br />
kann nur den Hintergrund haben, dass<br />
inzwischen eine verhaltenstherapeutische<br />
Behandlung der <strong>Adipositas</strong> erfolgt<br />
ist. Die <strong>Adipositas</strong> ist grundsätzlich<br />
keine psychische Erkrankung und<br />
bedarf keiner Psychotherapie. Adipöse<br />
sind psychisch gesehen Menschen wie<br />
Nicht-Adipöse mit dem Unterschied,<br />
dass Depressivität und Ängstlichkeit<br />
bei ihnen häufiger vorkommen.<br />
Depressivität und Ängstlichkeit<br />
sind im Regelfall Ausdruck des beeinträchtigten<br />
Selbstwertgefühls und<br />
gestörten Body-Images; sie werden<br />
durch Gewichtsabnahme im Regelfall<br />
korrigiert Für eine Psychotherapie<br />
kommen grundsätzlich nur Patienten<br />
mit einer Psychopathologie<br />
und einer Ess-Störung im Sinne<br />
eines binge eating in Frage; das sind<br />
ca. fünf bis zehn Prozent aller Adipösen,<br />
bei extrem Adipösen ist das<br />
binge eating jedoch häufiger.<br />
Wenn Patienten mit binge eating<br />
psychotherapeutisch behandelt werden,<br />
kommt es häufig zu einer Reduktion<br />
der Essanfälle, einer Besserung<br />
der Stressbewältigung, einer<br />
Steigerung der sozialen Kompetenz<br />
und einer Abnahme von intra- und<br />
interpsychischer Probleme. „Die<br />
Annahme jedoch, dass eine Besserung<br />
psychischer Symptome eine<br />
Gewichtsabnahme nach sich zieht,<br />
bestätigt sich nicht“, wie Herr Professor<br />
Herpertz im Deutschen Ärzteblatt<br />
2003 ausführte. Die Auflage, eine<br />
Bescheinigung über stattgehabte Verhaltenstherapie<br />
beizuholen, impliziert<br />
die Vorstellung, dass jeder Adipöse<br />
vor einem adipositas-chirurgischen<br />
Eingriff psychotherapeutisch behandelt<br />
werden muss, was wissenschaftlich<br />
in keiner Weise gerechtfertigt ist.<br />
Dies wird selbstverständlich von der<br />
DAG in der Leitlinie nicht gefordert.<br />
6 <strong>Adipositas</strong><strong>Spektrum</strong> Kongressausgabe Oktober 2008 4. Jahrgang<br />
VI<br />
Ernährungsberatungen<br />
Das Vorlegen von Bescheinigungen<br />
über durchgeführte Ernährungsberatungen<br />
macht Sinn, da jeder Adipöse<br />
vor einem adipositas-chirurgischen<br />
Eingriff fachkundig ernährungsmedizinisch<br />
beraten sein muss. Die Barmer<br />
fordert weitere Angaben vom Ernährungsberater<br />
zur Compliance und<br />
Motivation. Bei einem extrem Adipösen<br />
besteht auch dann die Indikation<br />
für einen adipositas-chirurgischen<br />
Eingriff, wenn er nicht complianed<br />
und nicht motiviert zur Ernährungsumstellung<br />
und zur vermehrten körperlichen<br />
Aktivität ist. Das BSG führt<br />
im Urteil vom 19.02.2003 unmissverständlich<br />
aus, dass für einen solchen<br />
Eingriff entscheidend die adipositasassoziierten<br />
Krankheiten sind. Ist der<br />
Patient aufgrund der <strong>Adipositas</strong> und<br />
den damit verbundenen Folgen krank,<br />
besteht die Indikation für eine chirurgische<br />
Maßnahme. Das BSG lehnt<br />
sich bei dieser Sicht an vergleichbare<br />
Urteile bei Rauchern oder Alkoholi-<br />
kern an. Auch rauchende und alkoholkranke<br />
Menschen werden in unserem<br />
Gesundheitssystem behandelt,<br />
auch wenn Zigarettenrauch und Alkohol<br />
den Therapieerfolg mindern.<br />
Fachpsychiatrische<br />
Stellungnahme<br />
Die Barmer fordert von jedem<br />
Patienten eine fachpsychiatrische<br />
Stellungnahme zum Ausschluss von<br />
Ess-Störungen und anderen psychiatrischen<br />
Kontraindikationen.<br />
Die DAG empfiehlt in ihrer Leitlinie,<br />
dass eine solche Untersuchung<br />
nur „bei Patienten mit Verdacht auf<br />
Depression,Psychose, Suchterkrankung<br />
oder Ess-Störung wie z.B.<br />
binge eating stattfinden müsse, nicht<br />
jedoch bei jedem Patienten.“<br />
Die vielen, zeitlich aufwändigen und<br />
kostspieligen Auflagen, die Krankenkassen<br />
Kandidaten für einen adipositas-chirurgischen<br />
Eingriff machen,<br />
entsprechen in vieler Hinsicht nicht<br />
den Empfehlungen von Experten und<br />
Fachgesellschaften. Fragt man sich<br />
nach der Absicht solcher Auflagen,<br />
gewinnt man den Eindruck, dass man<br />
das Procedere für einen anstehenden<br />
chirurgischen Eingriff erschweren<br />
will mit dem Ziel, eine solche Maß-