Einsicht-13
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selbst das Weite suchte, ermordete er diejenigen als »Defaitisten«,<br />
die weiß flaggten oder Panzersperren öffneten. Nachdem er am<br />
Morgen des 6. April die Akten der Kreisleitung samt Parteifahne<br />
hatte verbrennen lassen, machte er sich mit einem SA-Obertruppführer<br />
Oskar Bordt, dem HJ-Bannführer und seinem Fahrer auf<br />
den Weg. An einigen Häusern hatten die Bewohner schon weiße<br />
Fahnen aus den Fenstern gehängt. Drauz ließ seinen Fahrer anhalten<br />
und brüllte seine beiden Begleiter an: »Raus, erschießen, alles<br />
erschießen!« In einem der Häuser töteten sie einen Stadtamtmann,<br />
dessen Ehefrau und einen Pfarrer. Nebenan waren zwei Frauen<br />
sofort bereit, die weißen Fahnen einzuholen, dennoch eröffneten<br />
die Männer hinterrücks das Feuer. Nur weil beide sich tot stellten,<br />
kamen sie mit dem Leben davon. Im letzten Haus, das die beiden<br />
bestürmten, öffnete eine Frau, der Bordt aus nächster Nähe in die<br />
Brust schoss. 25<br />
Das ist das Grundproblem, das der Widerstand gegen die Fortsetzung<br />
des Krieges im eigenen Land, in der eigenen Stadt und im<br />
eigenen Dorf zu überwinden hatte: Wo schon ein einzelner überzeugter<br />
Nationalsozialist oder Durchhaltefanatiker genügen konnte, Initiativen<br />
zur Kriegsbeendigung zum Scheitern zu bringen und deren<br />
Protagonisten mit dem Tod zu bedrohen, waren nur entschlossene<br />
Einzelne oder kleine Gruppen vor Ort in der Lage, die Risiken abzuwägen,<br />
unsichere Kantonisten einzubinden und potenzielle Gegenkräfte<br />
notfalls zu neutralisieren, die ja häufig über weit überlegene<br />
Machtmittel verfügten. Nur auf der lokalen Ebene war die Einschätzung<br />
dieses überall verschiedenen, mitunter schon von einem<br />
Nachbardorf zum andern stark variierenden Kräftefeldes möglich.<br />
Zu kleinteilig und komplex, ja chaotisch war die Situation in den<br />
letzten Tagen und Stunden vor dem Einrücken der alliierten Truppen,<br />
in denen das Schicksal von Orten und Städten vor der Entscheidung<br />
stand. Und selbst dann, wenn sich in einem Ort alle relevanten Kräfte<br />
pragmatisch zur Übergabe zusammenfanden, blieben viele Faktoren<br />
unkalkulierbar, wie die zahlreichen Einheiten von Wehrmacht,<br />
Waffen-SS und Polizei auf dem Rückzug. Beredtes Beispiel hierfür<br />
sind nicht nur die Polizeikampfgruppe Trummler, sondern auch die<br />
zahlreichen Endphasenverbrechen, die dem XIII. SS-Armeekorps<br />
im württembergischen, fränkischen und nordschwäbischen Raum<br />
zuzurechnen sind. 26<br />
25 Vgl. Urteil des LG Heilbronn vom 3.7.1947, KLs 49-51/47, in: JuNSV, Bd. I,<br />
Nr. 23, Zitate S. 508 f., sowie Urteil des LG Heilbronn vom 24.5.1947, KLs<br />
4-6/47, in: JuNSV, Bd. I, Nr. 19<br />
26 Vgl. Keller, Volksgemeinschaft, S. 384–406, zur Kampfgruppe Trummler S. 245–<br />
247; zum XIII. SS-Armeekorps vgl. Franz Josef Merkl, General Simon. Lebensgeschichten<br />
eines SS-Führers: Erkundungen zu Gewalt und Karriere, Kriminalität<br />
und Justiz, Legenden und öffentlichen Auseinandersetzungen, Augsburg 2010,<br />
S. 316–370; Keller, »Elite«.<br />
Symbolischer Abschied aus der »Volksgemeinschaft«<br />
Die weiße Fahne, die die Bewohner vieler Städte und Dörfer im<br />
Reich im Frühjahr 1945 hissten, um die sinnlose Verteidigung und<br />
damit Zerstörung ihrer Heimatorte zu verhindern, war ein Symbol:<br />
Sie versinnbildlichte nicht nur den Willen, den Krieg zu beenden,<br />
sondern war gleichzeitig eine offene Distanzierung vom Nationalsozialismus<br />
und der militarisierten, wehrhaften »Volksgemeinschaft«<br />
– bei manchem freilich ein Sinneswandel in letzter Minute und erst<br />
im Angesicht der sich immer deutlicher abzeichnenden Kriegsniederlage<br />
des Deutschen Reiches.<br />
Die Wurzeln der nationalsozialistischen Gesellschaftsutopie<br />
der »Volksgemeinschaft«, die den Deutschen eine bessere Zukunft<br />
mit nationalem Wiederaufstieg, sozialer Harmonie und materiellem<br />
Wohlstand versprach, lagen im Ersten Weltkrieg. Besonders wichtig<br />
war die spezifische Interpretation der Niederlage von 1918: Damals,<br />
so sahen es die Nationalsozialisten, hatte die Heimatfront versagt und<br />
den »Dolchstoß« in den Rücken der Front geführt. Verantwortlich<br />
gemacht wurde dafür der Gegner im Innern, allen voran die Juden:<br />
Sie hätten Deutschland verraten und den Willen zum Durchhalten<br />
»zersetzt«. Deshalb war die »Volksgemeinschaft« nicht nur Verheißung<br />
für die »Volksgenossen«. Sie schloss gleichzeitig all diejenigen<br />
aus, die politisch verdächtig waren, als »asozial« stigmatisiert<br />
wurden oder als »fremdrassig« galten: Sie wurden marginalisiert,<br />
drangsaliert, verfolgt und vernichtet. Im Zweiten Weltkrieg war<br />
die Idee der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« eine Art<br />
Garantie für die Stabilität der Heimatfront und damit eine Garantie<br />
gegen eine Wiederholung der Niederlage. 27<br />
Angesichts der sich zuspitzenden Krise ist es nicht erstaunlich,<br />
dass die Bindungskraft der integrativen Aspekte der »Volksgemeinschaft«<br />
nachließ. Gleichzeitig jedoch blieb die »Volksgemeinschaft«<br />
für diejenigen, die weiterhin an sie glaubten, handlungsleitend – ja, sie<br />
bot ihrer inneren Logik gemäß den einzigen Ausweg aus der Krise. Und<br />
so galten weiterhin vor allem Konzentrationslagerhäftlinge und ausländische<br />
Zwangsarbeiter als Bedrohung, vor allem gegen sie richtete sich<br />
weiterhin die nationalsozialistische Gewalt. Zuletzt mussten aber auch<br />
Angehörige der »Volksgemeinschaft«, die am Sieg (ver-)zweifelten,<br />
sich den Kriegsanstrengungen entzogen, unter den physischen und<br />
psychischen Belastungen des Kriegsalltags zusammenbrachen oder<br />
in Apathie versanken, die desertierten oder kapitulierten, mit mörderischen<br />
Konsequenzen rechnen. Sie wurden vom »Volksgenossen« zum<br />
»Volksverräter«, zum »Defaitisten« und zum »Wehrkraftzersetzer«.<br />
Ihr »Versagen« schloss sie aus einer »Volksgemeinschaft« aus, die<br />
sich gerade als nationale Wehr- und Kampfgemeinschaft definierte.<br />
27 Vgl. Sven Keller, »Volksgemeinschaft and Violence. Some Reflections on Interdependencies«,<br />
in: Martina Steber, Bernhard Gotto (Hrsg.), Visions of community<br />
in Nazi Germany. Social engineering and private lives, Oxford 2014, S. 226–239.<br />
Auch wenn die weiße Fahne von besonderer symbolischer Kraft<br />
war und zu den Ikonen des Kriegsendes zählt, war sie freilich nicht<br />
die einzige Form der Distanzierung in den letzten Kriegstagen. Ein<br />
Schild, das ein Bürger in Wetzlar an seiner Haustür befestigt hatte,<br />
brachte drei wichtige Ausgangspunkte »defaitistischen« Handelns in<br />
der Kriegsendphase auf den Punkt: »Schütze mein Heim. Wir sind<br />
keine Nazi. Wir begrüssen die Befreier.« Diese Worte umfassten<br />
den Unwillen, den Kampf fortzusetzen, die Angst um die eigene<br />
Heimat und den eigenen Besitz, die Abgrenzung vom Nationalsozialismus<br />
und die Hoffnung, die in den »Feind« gesetzt wurde. Alle<br />
drei Punkte mussten auf überzeugte, zur Fortsetzung des Kampfes<br />
entschlossene Durchhaltefanatiker provozierend wirken. In diesem<br />
Fall sah sich ein Unteroffizier herausgefordert, der sich zur Genesung<br />
in einem Lazarett in der Stadt befand. Er meldete das Schild: Er, der<br />
er als Soldat »seine Knochen 6 Jahre lang hingehalten« habe, könne<br />
derartigen »Verrat« nicht dulden. 28 Der denunzierte Hausbesitzer<br />
bezahlte mit seinem Leben: Wilhelm Haus, der NSDAP-Kreisleiter<br />
von Wetzlar, telefonierte mit der Gauleitung, wo angeblich ad hoc<br />
ein Standgerichtsurteil erging, und erhängte den Mann anschließend<br />
zusammen mit einigen Volkssturmmännern an einem Baum auf dem<br />
städtischen Friedhof.<br />
Überall im Reich wurden die Spuren der eigenen Verstrickung<br />
mit dem Regime und der eigenen Begeisterung für das »Dritte<br />
Reich« getilgt. So ist es nicht erstaunlich, dass der eben noch verehrte<br />
»Führer« Anlass zu tödlicher Gewalt lieferte: In kaum einer Handlung<br />
bündelte sich die Symbolik des angesichts der näher rückenden<br />
alliierten Kampfverbände nun eiligen Abschieds vom Regime stärker<br />
als in der Beseitigung der eben noch allgegenwärtigen Hitlerbilder.<br />
Der Hitler-Mythos und das »Dritte Reich« wurden abgehängt und<br />
nicht selten gleich hinter dem Haus buchstäblich begraben. 29<br />
Botschaften der Gewalt<br />
Das Regime und all diejenigen, die noch an ihrer nationalsozialistischen<br />
oder einer militärisch-soldatischen Identität festhielten, die die<br />
Kapitulation verbot und die Eidestreue bis zuletzt forderte, mussten<br />
sich durch jede einzelne weiße Fahne, von jeder »dafaitistischen«<br />
Handlung herausgefordert fühlen. Und je näher das Kriegsende rückte,<br />
je häufiger weiße Fahnen gehisst wurden, je unaufhaltsamer das<br />
alliierte Vorrücken wurde und je deutlicher die Kriegsmüdigkeit des<br />
eigenen Volkes zu Tage trat, desto gewalttätiger war die Antwort.<br />
Der symbolischen Abkehr von der »Volksgemeinschaft« antworteten<br />
das Regime und seine Protagonisten durch reale, aber nicht minder<br />
28 Vgl. Urteil des LG Limburg vom 2.12.1947, 2 Ks 1/47, in: JuNSV, Bd. III, Nr. 39,<br />
Zitat S. 124.<br />
29 Vgl. Keller, Volksgemeinschaft, S. 406–417.<br />
symbolhaft aufgeladene Gewalt, die sich gleichzeitig gegen und<br />
an die »versagenden Elemente« der »Volksgemeinschaft« richtete.<br />
Zum einen nahm sie schnell den Charakter der Rache an: Es<br />
wurde Vergeltung an denjenigen geübt, die angeblich die Heimat<br />
destabilisierten und der Front (erneut) in den Rücken fielen. Die nationalsozialistische<br />
Untergrundorganisation »Werwolf« etwa war in<br />
den letzten Kriegstagen weniger eine Guerillatruppe im Rücken des<br />
Feindes, sondern viel eher ein Propagandakonstrukt zur Gewaltlegitimation,<br />
dessen Ideologie in der Tradition der Femegerichtsbarkeit<br />
stand und auf das sich jeder berufen konnte.<br />
Zum anderen war die Drohung mit der Gewalt ein letztes Mittel<br />
der Kommunikation, mit dem das Regime noch hoffte, die »Volksgenossen«<br />
zu erreichen: Neben der bis zuletzt geschürten Furcht<br />
vor dem Feind und den Folgen der Niederlage sollte auch sie die<br />
»Volksgenossen« mobilisieren. Die Gewalt wurde so zur Ultima<br />
Ratio nationalsozialistischer Propaganda. 30 Sie transportierte klare<br />
Botschaften und diente der Abschreckung: Hinrichtungen wurden<br />
in den noch immer erscheinenden Zeitungen bekannt gemacht<br />
oder durch Maueranschläge verkündet. Häufig wurden den Opfern<br />
Pappschilder umgehängt, auf denen ihr »Vergehen« vermerkt war;<br />
die Leichname der Opfer sollten nicht bestattet werden, sondern in<br />
archaisch anmutender Weise zur Abschreckung sichtbar bleiben.<br />
Die Botschaft blieb nicht ohne Wirkung: Die Radikalität und<br />
die Gewalt trugen zur Reststabilität des NS-Regimes in seiner Endphase<br />
erheblich bei. Es signalisierte damit sowohl denjenigen, die<br />
auf Distanz gingen, als auch denjenigen, die zum Durchhalten und<br />
Weiterkämpfen entschlossen waren, fortdauernde Handlungsfähigkeit.<br />
Die Zeit vor dem Kriegsende war eine Phase der Uneindeutigkeit<br />
und des Übergangs – während die einen sich demonstrativ<br />
vom Regime und dessen Durchhalteterror verabschiedeten, sich<br />
dem nationalsozialistischen »Volkskrieg« entzogen und versuchten,<br />
ihr Leben und ihre Heimat über das Kriegsende hinwegzuretten,<br />
waren andere dazu (noch) nicht bereit. Die Gewalt gegen »Defaitisten«<br />
und Übergabewillige war auch ein Klammern an das eigene<br />
Weltbild, an die eigene Rolle darin und an bisherige Gewissheiten,<br />
deren Auflösung und Zusammenbruch man ansonsten weitgehend<br />
machtlos gegenüberstand. Mit der Gewalt gegen die vermeintlichen<br />
Feinde der »Volksgemeinschaft« ließ sich ein letztes Zeichen der<br />
Ordnung und der Stärke setzen, auch gegen Zweifel, Selbstzweifel<br />
und Unsicherheit. So diente die Gewalt im Namen der »Volksgemeinschaft«<br />
in der Endphase des »Dritten Reiches« einer letzten<br />
Selbstvergewisserung der Täter.<br />
30 Vgl. dazu Andreas Elter, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt<br />
am Main 2008, der in seiner Studie über die RAF und deren Verhältnis zu<br />
den Massenmedien zwischen der »Propaganda des Wortes« und der »Propaganda<br />
der Tat« unterscheidet.<br />
22 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />
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