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Einsicht-13

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Endphasenverbrechen<br />

Ihre Ahndung in den vier Besatzungszonen<br />

von Edith Raim<br />

Edith Raim, PD Dr., geboren 1965<br />

in München, Studium der Geschichte<br />

und Germanistik in München und<br />

Princeton, USA 1984–1991, Promotion<br />

1991 in München mit der Schrift<br />

Die Dachauer KZ-Außenkommandos<br />

Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten<br />

und Zwangsarbeit im letzten<br />

Kriegsjahr 1944/45, Landsberg am<br />

Lech 1992; 1991–1995 Lektorin des<br />

Deutschen Akademischen Austauschdienstes<br />

an der University of Durham,<br />

Großbritannien. Seit 1999 am Institut<br />

für Zeitgeschichte München – Berlin.<br />

2012 Habilitation an der Universität<br />

Augsburg mit dem Werk Justiz<br />

zwischen Diktatur und Demokratie.<br />

Wiederaufbau und Ahndung von<br />

NS-Verbrechen in Westdeutschland<br />

1945–1949, Berlin 20<strong>13</strong>. Verschiedene<br />

Publikationen zu jüdischer Geschichte,<br />

Konzentrationslagern und<br />

zur Rechtsgeschichte.<br />

Das »Dritte Reich« endete, wie es begann:<br />

mit schrankenloser Gewalt. Während der<br />

Terror der Jahre 1933/34 – Schätzungen<br />

zufolge wurden allein 1933 circa 100.000<br />

Menschen verhaftet, mehrere Zehntausend misshandelt und 600–<br />

1000 Personen ermordet 1 – mittlerweile eher in Vergessenheit geraten<br />

ist, stand (und steht) die Willkür gegen Kriegsende sowohl<br />

Zeitgenossen als auch Nachgeborenen deutlich vor Augen. Anders<br />

als die gezielte Verfolgung politischer Gegner von 1933, die mehr<br />

oder weniger ähnlich verlief (Verhaftung, Vernehmung, Misshandlung,<br />

Lagerhaft) und flächendeckend im gesamten Reich stattfand,<br />

kamen Verbrechen der Endphase keineswegs überall vor und wurden<br />

keinesfalls nach einem identischen Muster durchgeführt, sondern<br />

hatten recht individuelle Ausprägungen, ergaben sich vor allem durch<br />

die militärische Lage und waren abhängig von dem jeweiligen lokalen<br />

Verteidigungswillen. In umkämpften Regionen, insbesondere<br />

wenn bereits von den Alliierten überrollte Orte wieder geräumt und<br />

von der Wehrmacht oder NS-Formationen erneut besetzt wurden,<br />

war die Wahrscheinlichkeit für derartige Verbrechen deutlich höher<br />

als in Regionen, die kampflos kapitulierten. 2<br />

Obwohl Gewalt die gesamte NS-Herrschaft kennzeichnete, erreichten<br />

die Gewaltexzesse zu Kriegsende ungeahnte Dimensionen.<br />

Seit Kriegsbeginn wurden mehr und mehr Angehörige der »Volksgemeinschaft«,<br />

ja auch NS-Funktionäre Opfer der Willkür. Am Ende<br />

war jedes im NS-Sinne deviante Verhalten potenziell todeswürdig.<br />

Trotzdem waren in der Endphase wie schon in den Jahren zuvor die<br />

1 Vgl. Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt<br />

2003, S. 11–12.<br />

2 Einen guten Überblick bietet Edgar Wolfrum, Cord Arendes, Jörg Zedler (Hrsg.),<br />

Terror nach innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen<br />

2006; detailliert die Dissertation von Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende.<br />

Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 20<strong>13</strong>.<br />

meisten Opfer KZ-Häftlinge, Strafgefangene oder Fremdarbeiter, die<br />

oft erschlagen, erschossen oder erhängt wurden. Von den Anfang<br />

Januar 1945 registrierten über 700.000 KZ-Häftlingen in 15 Konzentrations-<br />

und über 500 Außenlagern erlebten mindestens 250.000<br />

die Befreiung nicht. Die Zahl der Gefängnisinsassen, die ihr Leben<br />

kurz vor Kriegsende verloren, geht ebenfalls in die Zehntausende. 3<br />

Die Aufmerksamkeit, die diesen Morden zuteilwurde, war deutlich<br />

geringer als die hohe Anzahl der Opfer vermuten ließe. Doch als<br />

in den letzten Kriegsmonaten auch kapitulationswillige deutsche<br />

Soldaten und Zivilisten (darunter auch NSDAP-Funktionäre und<br />

SA- oder HJ-Angehörige) getötet wurden, erregte dies noch während<br />

des Krieges und insbesondere in den ersten Jahren nach dem<br />

Krieg besonderes Entsetzen. Hinzu kam, dass die Menschen oft nur<br />

wenige Stunden vor der Befreiung einen gewaltsamen Tod erlitten,<br />

was ihrem Schicksal eine besondere Tragik zu verleihen schien.<br />

Die Terminologie des Endphasenverbrechens – eine Bezeichnung,<br />

die sich auf die von Christiaan F. Rüter 4 geschaffenen Kategorien<br />

zur Unterscheidung von NS-Verbrechen bezieht – ist unscharf. Das<br />

Endphasenverbrechen bezeichnet weder einen konkreten Straftatbestand<br />

(wie etwa die Kategorie Denunziation), noch definiert es eine<br />

Opfergruppe (wie etwa die Kategorie Fremdarbeiter) oder Tätergruppe<br />

(wie etwa die Kategorie Zentrale Behörden). Lediglich eine<br />

ungefähre Datierung ist in der Definition enthalten. Die Herrschaft der<br />

Nationalsozialisten endete an unterschiedlichen Orten zu recht unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten. Während die Rote Armee die Wehrmacht in<br />

der Sowjetunion seit 1943 zurückdrängte (und bereits erste Prozesse<br />

gegen sowjetische Kollaborateure stattfanden), wurde Ungarn erst<br />

im März 1944 besetzt. Das KZ Lublin-Majdanek wurde im August<br />

1944 befreit, Theresienstadt erst im Mai 1945. Während die Existenz<br />

von Natzweiler-Struthof oder Riga-Kaiserwald 1944 endete, wurden<br />

im selben Jahr viele neue Außenlager im Reich gegründet. Die Todesmärsche<br />

sind mit dem Beginn des Jahres 1945 assoziiert, doch<br />

bereits das KZ Vaivara wurde mit einem Todesmarsch aufgelöst – im<br />

Februar 1944. Was also an einem Ort in die Endphase fiel, war an<br />

einem anderen Ort erst der Auftakt der Vernichtung. Üblicherweise<br />

wird das letzte Kriegsjahr vom Sommer 1944 bis zum Sommer 1945<br />

der Endphase zugerechnet. Für die Einordnung als Endphasenverbrechen<br />

müssen stets die lokalen Umstände berücksichtigt werden.<br />

Für die Endphasenverbrechen gilt wie bei anderen NS-Verbrechen<br />

auch, dass sie durchaus in mehrere Kategorien bzw. Kontexte fallen<br />

konnten: In Ratzenried im Allgäu wurde am 27. April 1945 Wilhelm<br />

K. von zwei Stuttgarter Gestapo-Angehörigen erschossen, die einen<br />

Gefangenentransport von Stuttgart nach Friedrichshafen begleiten<br />

3 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 148, 150.<br />

4 Christiaan F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher<br />

Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Amsterdam<br />

1968 ff.<br />

sollten – vorausgegangen war eine Denunziation aus der Familie<br />

des Opfers, eines vorbestraften Alkoholikers, der seine Angehörigen<br />

misshandelt und terrorisiert hatte. 5 Um die Zahl der Fälle nicht<br />

ins Unüberschaubare anwachsen zu lassen, beschränke ich mich in<br />

diesem Aufsatz auf die Straftaten, die von Deutschen an anderen<br />

Deutschen begangen wurden.<br />

Voraussetzungen für die justizielle Ahndung: Wiederaufbau<br />

der Gerichte, Suche nach Personal, rechtliche Grundlagen<br />

Zur Aburteilung der NS-Verbrechen sollten neben alliierten Gerichten<br />

6 auch deutsche Gerichte zum Einsatz kommen. Deutsche<br />

Amts- und Landgerichte in Ost- 7 und Westdeutschland 8 nahmen<br />

häufig schon im Frühjahr und Sommer 1945 – teils in den Trümmern<br />

der Gerichtsgebäude – ihre Tätigkeit wieder auf, nahezu sofort<br />

begann auch die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen. Die<br />

Suche nach unbelasteten Richtern und Staatsanwälten bereitete den<br />

Justizverwaltungen größte Probleme, die in den vier Besatzungszonen<br />

unterschiedlich gelöst wurden. Die Amerikaner hatten die<br />

anspruchsvollsten Entnazifizierungsstandards, die aber schon bald<br />

aufgegeben werden mussten, um einen Zusammenbruch der Justizverwaltung<br />

zu verhindern. Die Briten und Franzosen waren deutlich<br />

milder und ließen belastetes Personal früher zu. Die sowjetische<br />

Militäradministration pochte auf eine strenge Entnazifizierung des<br />

Justizpersonals. 9 Ab 1948 wurden in Schnelllehrgängen ausgebildete<br />

5 Ravensburg Js 4227/46 = Ks 19-20/45; Ks 2/53, Staatsarchiv (StA) Sigmaringen,<br />

Wü 29/1 Nr. 6051 (Restakt); Parallelüberlieferung unter Archives de<br />

l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche (Colmar), AJ 804, p. 600,<br />

Dossier 16; vgl. auch Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XII,<br />

S. 388.<br />

6 Konziser Überblick bei Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor<br />

Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–<br />

1952, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2000.<br />

7 Vgl. Hermann Wentker, Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und<br />

Rolle ihrer zentralen Institutionen, München 2001; Petra Weber, Justiz und Diktatur.<br />

Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961, München<br />

2000; Dieter Pohl, Justiz in Brandenburg 1945–1955. Gleichschaltung und<br />

Anpassung, München 2001.<br />

8 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und<br />

die NS-Vergangenheit, München 1999; Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-<br />

Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder<br />

eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002;<br />

Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von<br />

NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; Edith Raim, Justiz<br />

zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen<br />

1945–1949, München 20<strong>13</strong>.<br />

9 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ/DDR. Personalpolitik 1945 bis Anfang<br />

der fünfziger Jahre, Köln 1996; Hermann Wentker (Hrsg.), Volksrichter in der<br />

SBZ/DDR 1945 bis 1952, München 1997; Ruth-Kristin Rössler, Justizpolitik in<br />

der SBZ/DDR 1945–1956, Frankfurt am Main 2000.<br />

50 <strong>Einsicht</strong><br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />

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