Einsicht-13
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widmet, behandelt das Phänomen als einen Bestandteil all der Mordtechniken,<br />
die die Nationalsozialisten bei der Implementierung ihrer<br />
Politik der Endlösung nutzten. Todesmärsche, so Goldhagen, seien<br />
seit der Besetzung Polens eine gebräuchliche Vernichtungstechnik<br />
gegen die Juden gewesen und in drei verschiedenen Perioden eingesetzt<br />
worden. 6<br />
Da es sich aber bei den Lagerhäftlingen in diesen Monaten um<br />
eine sehr heterogene und komplexe Opfergruppe handelte, die in<br />
den letzten Kriegsjahren aufgrund besonderer Bedingungen und<br />
Entwicklungen entstanden war und in der die Juden nur eine, wenn<br />
auch große Untergruppe bildeten, kann man die Phase der Todesmärsche<br />
weder allein als Ergebnis der ideologischen Infrastruktur,<br />
die zur Endlösung führte, noch aus der Historiographie der Konzentrationslager<br />
erklären. Obwohl die Opfer der Evakuierungen und<br />
der Todesmärsche KZ-Häftlinge waren, vollzogen sich diese Taten<br />
außerhalb des traditionellen Bereichs des Terrors, in dem sie gelebt<br />
hatten und gestorben waren. Was mit den evakuierten Häftlingen auf<br />
den Todesmärschen geschah, wie sie die neue Lage bewältigten und<br />
um ihr Überleben kämpften – das alles muss anders erzählt werden<br />
als das Leben der Häftlinge im Lager. Während die Population der<br />
Todesmärsche weiterhin aus KZ-Häftlingen und Wärtern bestand,<br />
veränderten sich sowohl der territoriale Ort der Gewalt als auch<br />
Wesen und Zielsetzungen des Terrors. Insofern sollten die Todesmärsche<br />
vor allem als letzte Phase der Nazi-Völkermorde (Plural!)<br />
betrachtet werden, die in die Geschichte der Konzentrationslager<br />
verwoben ist. Dazu müssen wir die Entscheidungsprozesse bei den<br />
Morden, die Motive der Täter und die kollektive Identität der Opfer<br />
untersuchen.<br />
II. Der gesellschaftliche und zeitliche Rahmen des Massakers<br />
Die Evakuierung der Konzentrationslager und die Todesmärsche<br />
sind Teil des endgültigen Zusammenbruchs des Dritten Reichs und<br />
fanden unter Verhältnissen statt, die von Gewalt an der Heimatfront,<br />
der Zerstörung der nationalen Infrastruktur und Millionen von<br />
Toten auf dem Schlachtfeld und in der Zivilbevölkerung geprägt<br />
wurden.<br />
Vom Herbst 1944 bis zum Kriegsende zerstörten die Bomben<br />
der Alliierten rund 12 Prozent der wirtschaftlichen Infrastruktur<br />
und rund ein Viertel aller Wohngebäude in Deutschland. Zwischen<br />
August 1944 und Ende Januar 1945 fielen an den verschiedenen<br />
Fronten schätzungsweise 1,4 Millionen Soldaten. 7 Über 10 Millionen<br />
6 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996, Kap. <strong>13</strong> und<br />
14.<br />
7 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg,<br />
München 1999, S. 239.<br />
Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und dem Balkan strömten in<br />
Deutschlands zerstörte Städte und Dörfer, und ihre Unterbringung<br />
und Ernährung brachte ungeheure Probleme mit sich. 8 Deutschland<br />
zerfiel in einen Staat des Mangels, die Städte lagen in Trümmern,<br />
und unter der Leitung einer fanatischen Führung, die die Realität<br />
nicht mehr erkannte, vergoss das Land im hoffnungslosen Versuch<br />
zu überleben weiterhin sein Blut.<br />
Das schwindende Vertrauen in den Sieg und die immer deutlicheren<br />
Anzeichen, dass viele Deutsche die Führung für die Katastrophen<br />
verantwortlich machten, die über das Land gekommen<br />
waren, stellten für das Regime eine spürbare Bedrohung dar. 9 Die<br />
schweren Bombenangriffe auf die Städte und der Mangel an geeigneten<br />
Schutzräumen trugen zur Vertrauenskrise und zur Entfremdung<br />
vom Regime bei. Berichte des SD zeigen, dass die Bevölkerung<br />
sowohl in den Städten als auch auf dem Land fürchtete, es könne<br />
bald keine für Menschen bewohnbaren Gebäude mehr geben. 10 Das<br />
Misstrauen verstärkte sich im Winter 1944/45. Der Groll gegen die<br />
NSDAP, gegen die politischen Funktionäre und die Propaganda<br />
ließ sich nicht länger verbergen. 11 Aber trotzdem hielt die deutsche<br />
Gesellschaft noch Monate durch, bis sie endlich kapitulierte.<br />
Hans Mommsen bemerkte, es sei unmöglich gewesen, die Führungsebene<br />
des Regimes zur Annahme der Bedingungen der Alliierten<br />
für eine Beendigung des Krieges zu bewegen, solange Hitler am<br />
Leben war. Goebbels Schlüsselrolle in der Führung nach dem Juli<br />
1944, die Einrichtung des Volkssturms wenige Monate später 12 und<br />
die Ernennung der Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren<br />
(RVK) <strong>13</strong> stehen sinnbildlich dafür, in welche Richtung die nationalsozialistische<br />
Führung die deutsche Gesellschaft drängte. Die Partei<br />
kehrte zur Kampfzeit der frühen 1920er Jahre zurück. Die Schwäche<br />
der deutschen Gesellschaft und die militärischen Rückschläge, so<br />
hieß es, wurzelten darin, dass Bürokraten oder wenig überzeugte<br />
Militärs, denen die politische und militärische Führung nicht trauen<br />
konnte, die Macht übernommen hätten. Um die Kampffähigkeit der<br />
8 Klaus-Dietmar Henke, »Deutschland – Zweierlei Kriegsende«, in: Ulrich Herbert,<br />
Axel Schildt (Hrsg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen<br />
Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948, Essen<br />
1998, S. 339<br />
9 Maris Steinert, Hitlerʼs War and the Germans, Athens 1977, S. 285.<br />
10 Ian Kershaw, Popular Opinion and Political Dissent in the Third Reich: Bavaria<br />
1933–1945, Oxford 1983, S. 310–311.<br />
11 Christoph Kleßmann, »Untergänge – Übergänge. Gesellschaftsgeschichtliche<br />
Brüche und Kontinuitätslinien vor und nach 1945«, in: ders. (Hrsg.), Nicht nur<br />
Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, Düsseldorf 1989, S. 85.<br />
12 Vgl. David K. Yelton, Hitlerʼs Volkssturm: The Nazi Militia and the Fall of Germany<br />
1944–1945, Lawrence 2002; Burton Wright, Army of Despair: The German<br />
Volkssturm 1944–1945, Dissertation, Florida State University 1982; Klaus Mammach,<br />
Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45, Köln 1981.<br />
<strong>13</strong> Vgl. Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland<br />
1944/45, München 2002, S. 45.<br />
In der Isenschnibbener Feldscheune bei Gardelegen<br />
wurden am <strong>13</strong>. April 1945 1.016 KZ-Häftlinge von<br />
der SS ermordet und anschließend verbrannt. Sie<br />
gehörten zum KZ Mittelbau-Dora (Buchenwald)<br />
und Hannover-Stöcken (Neuengamme). Einwohner<br />
von Gardelegen beerdigen unter amerikanischer<br />
Aufsicht die Toten in Massengräbern.<br />
Fotos: bpk<br />
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<strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />
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