Einsicht-13
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Sowjetunion zu bringen. Er wollte einen Separatfrieden aushandeln<br />
und sich auf diese Weise sowohl sein SS-Imperium erhalten<br />
als auch politische Macht sichern. 6 Gezielt setzte Himmler dabei<br />
jüdische Häftlinge als Faustpfand ein; mit ihnen als Geiseln wähnte<br />
er sich im Besitz einer Manövriermasse, um in Verbindung mit den<br />
Westalliierten zu treten. Zur selben Zeit begann in Auschwitz-Birkenau<br />
die letzte Hochphase der Massenvernichtung: Etwa 438.000<br />
Juden aus Ungarn wurden zwischen Mai und Juli 1944 ins Lager<br />
deportiert. Noch nie waren dort innerhalb so kurzer Zeit so viele<br />
Menschen umgebracht worden. Himmler zögerte also nicht, seinen<br />
Verhandlungswunsch umzusetzen und gleichzeitig die Massenvernichtung<br />
gezielt voranzutreiben.<br />
Die Befreiung von Auschwitz<br />
Im Juli 1944 durchbrachen sowjetische Truppen in Galizien und<br />
Südpolen die deutschen Linien. Sie befreiten das (von der SS nun<br />
überstürzt verlassene) Lager Majdanek, überquerten die Weichsel<br />
und näherten sich Auschwitz. Im dortigen Lagerkomplex war zu<br />
dieser Zeit der höchste Belegungsstand erreicht: Rund 155.000<br />
Häftlinge warteten darauf, von der Roten Armee befreit zu werden.<br />
Zehntausende von ihnen wurden jedoch in der Räumungsphase zwischen<br />
Juli 1944 und Januar 1945 mit Zügen und auf Lastwagen in das<br />
Innere des Deutschen Reiches befördert. Etwa die Hälfte gelangte<br />
bis zum Herbst 1944 in die zunehmend überfüllten Konzentrationslager<br />
Buchenwald, Flossenbürg, Ravensbrück, Dachau, Mauthausen,<br />
Groß-Rosen, Bergen-Belsen, Natzweiler, Sachsenhausen und Neuengamme.<br />
7 Viele, die Auschwitz überstanden hatten, starben dort bald<br />
an Hunger, Seuchen und todbringenden Bedingungen.<br />
In Auschwitz änderte sich auch während der Auflösungsaktivitäten<br />
nichts an der täglichen Routine: Nach wie vor mussten Häftlinge<br />
zur Zwangsarbeit ausrücken. Im Stammlager, dem Komplex<br />
Auschwitz I, wurden neue Gebäude in Betrieb genommen; in den<br />
Nebenlagern, die zu Monowitz, dem Bereich Auschwitz III gehörten,<br />
setzten Aufbauarbeiten ein, sogar eine Reihe neuer Außenlager entstand.<br />
In Birkenau, Auschwitz II genannt, begann die SS damit, das<br />
6 Vgl. Karl-Günter Zelle, Hitlers zweifelnde Elite: Goebbels, Göring, Himmler,<br />
Speer, Paderborn 2010, S. 218–233.<br />
7 Vgl. Andrzej Strzelecki, Endphase des KL Auschwitz. Evakuierung, Liquidierung<br />
und Befreiung des Lagers, Oświęcim 1995 (polnische Erstveröffentlichung<br />
1982); ders., »Der Todesmarsch der Häftlinge aus dem KL Auschwitz«, in:<br />
Herbert, Dieckmann, Orth (Hrsg.), Die nationalsozialistischen<br />
Konzentrationslager, Bd. II, S. 1093–1112; Wacław Długoborski, Franciszek<br />
Piper (Hrsg.), Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrationsund<br />
Vernichtungslagers Auschwitz, 5 Bde, hier Bd. 5: Epilog, Oświęcim 1999<br />
(polnische Erstveröffentlichung 1995); Danuta Czech, Kalendarium der<br />
Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek bei<br />
Hamburg 1989.<br />
Gelände zu erweitern und einen dritten Bauabschnitt einzurichten, im<br />
Häftlingsjargon »Mexiko« genannt. Das Gelände war so riesig, dass<br />
es das ohnehin kaum zu überblickende Lager beinahe verdoppelt<br />
hätte. Die Bauvorhaben sind ein Indiz für die Mordpläne, die das<br />
NS-Regime selbst zu diesem Zeitpunkt noch hegte. Fertiggestellt<br />
wurde »Mexiko« jedoch nicht mehr, denn im Oktober 1944 endeten<br />
sämtliche Bauarbeiten.<br />
In der Stadt Auschwitz, die seit dem Bau der IG-Farben-Fabrik<br />
zu einem »Bollwerk des Deutschtums« und einer »Musterstadt«<br />
der deutschen Ostsiedlung geworden war, setzte zur selben Zeit der<br />
Auszug der deutschen Zivilisten ein, vor allem Frauen und Kinder<br />
verließen den Ort. 8 Mitte Januar 1945 machten sich auch Verwaltungsfunktionäre<br />
und IG-Farben-Manager mit Sonderzügen auf in<br />
Richtung Altreich. Noch in den Wirren des Aufbruchs blieb dabei<br />
die »rassische« Ordnung gewahrt: Die flüchtenden Reichsdeutschen<br />
hatten auf Straßen und Schienen Vorrang vor den Konzentrationslagerhäftlingen<br />
und den in Marsch gesetzten Kolonnen der Kriegsgefangenen<br />
und Zwangsarbeiter.<br />
Auf Himmlers Befehl, die Vernichtungsaktionen einzustellen,<br />
wurden in Auschwitz im November 1944 sämtliche Vergasungsanlagen<br />
stillgelegt. Die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos hatten<br />
die Einrichtungen zu demontieren und die Spuren der Verbrechen<br />
zu beseitigen. 9 Nach einer Offensive bei Krakau kesselte die Rote<br />
Armee im Januar 1945 die deutschen Truppen ein und übernahm<br />
das oberschlesische Industrierevier. Erst in dieser Situation befahl<br />
Fritz Bracht, Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar von<br />
Oberschlesien, die Gauhauptstadt Kattowitz und den gleichnamigen<br />
Regierungsbezirk, zu dem Auschwitz gehörte, zu evakuieren. Bis<br />
dahin hatte er noch eisern an seiner Politik des Ausharrens festgehalten.<br />
Umfangreiche Richtlinien, die Ende Dezember 1944 erlassen<br />
worden waren, regelten die Räumung des Lagerkomplexes. Ziel war<br />
es, die Häftlinge in Marschkolonnen zunächst zu Fuß, später mit der<br />
Eisenbahn Richtung Westen zu schicken. Zwei Wegstrecken wurden<br />
für die Insassen von Stammlager und Birkenau festgelegt, auf einer<br />
dritten mussten die Häftlinge aus Monowitz und den Nebenlagern<br />
marschieren. Am 17. Januar 1945 begann nach diesen Plänen die<br />
zweite Phase der Räumung: Rund 58.000 Häftlinge wurden nun<br />
auf den Todesmarsch geschickt. Nur wenige brachte man mit Zügen<br />
in Güterwaggons fort, die meisten waren in der Winterkälte zu<br />
8 Vgl. Sybille Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz. Judenmord und<br />
Germanisierung in Ostoberschlesien, München 2000; dies., Auschwitz.<br />
Geschichte und Nachgeschichte, München 2015, 3. Aufl. (zuerst 2004); Bernd C.<br />
Wagner, IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers<br />
Monowitz 1941–1945, München 2000.<br />
9 Vgl. Gideon Greif, Wir weinten tränenlos ... Augenzeugenberichte der jüdischen<br />
Sonderkommandos in Auschwitz, Köln u.a. 1995; Eric Friedler, Barbara Siebert,<br />
Andreas Kilian, Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando<br />
Auschwitz, Lüneburg 2002.<br />
oben: Nach der Befreiung des Vernichtungslagers<br />
Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee:<br />
Überlebende Kinder werden von Betreuerinnen aus<br />
dem Lager gebracht. Die Aufnahme des Fotografen B.<br />
Fischmann wurde im April 1945 für die<br />
Militärberichterstatter gestellt.<br />
Foto: ullstein bild - Nowosti<br />
links: Häftlinge dämmern auf dem Betonboden ihrem<br />
Ende entgegen – undatiert, nach der Befreiung von<br />
Auschwitz am 27. Januar 1945.<br />
Foto: ullstein bild<br />
34 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />
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