Einsicht-13
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entweder verwehrt blieb oder das zu erreichen aussichtslos erschien,<br />
verfügt über dramatische Anziehungskraft, weil sich dieses<br />
»Wir« lediglich auf die Religionszugehörigkeit bezieht, über die<br />
sie meistens bereits verfügen und zu der sie einfach »dazugehören<br />
bzw. dazugehören können«. Nicht zuletzt durch die gegenwärtige<br />
Omnipräsenz des Islam in den Medien scheint sich hier dem<br />
Suchenden eine neu entdeckte Identitätsfläche zu eröffnen. Jene<br />
radikalen Bilder islamistischer Terroranschläge bieten Adoleszenten<br />
radikale Projektionsfolien/Ablösungsmuster von Familie,<br />
Schule und Mehrheitsgesellschaft.<br />
Hinzu kommt ein scheinbar klares Weltbild, das die Ordnung<br />
der Dinge, die Geschlechterrollen und -aufgaben nicht mehr in<br />
Frage stellt. Damit sind diese Fragen nicht mehr Gegenstand von<br />
Auseinandersetzungen. Durch die Sunna 8 ist ein für alle Mal festgelegt,<br />
wie sich der Gläubige zu verhalten hat. Die Frage nach einem<br />
eigenen Lebensentwurf, der sich der Adoleszente im Verlauf der<br />
Persönlichkeitsentwicklung stellen muss, entfällt unter dem Dogma<br />
der Sunna. Die biografische Wahlfreiheit des Individuums, die sich<br />
in einer pluralistischen, demokratischen und hoch individualisierten<br />
Gesellschaft stellt, kann ebenso als Zwang und Druck zur Auseinandersetzung<br />
empfunden werden. Diesem Aushandlungsprozess<br />
entflieht der Gläubige unter Bezug auf die Dogmatik seines Islamverständnisses.<br />
Ein weiterer Aspekt für Jugendliche mit schwierigen Schulbiografien<br />
ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Mit der Aufnahme<br />
in einem radikalen religiösen Zirkel geht häufig auch die Übernahme<br />
neuer Aufgaben innerhalb dieser Gruppe einher. Dadurch kann es<br />
zur erstmaligen Wahrnehmung/Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit,<br />
die möglicherweise dem Jugendlichen bislang verwehrt<br />
war, kommen. Das Gefühl, »ich kann etwas bewirken, ich bin dem<br />
Verlauf der Dinge nicht machtlos ausgeliefert«, kann ein äußerst<br />
attraktives Motiv für weitere Aktivitäten darstellen und ist zugleich<br />
anschlussfähig für die Internalisierung neuer Rollen und Aufgaben.<br />
In diesem Sinne kann von einem individualpsychologischen<br />
Emanzipationsprozess gesprochen werden, auch wenn dieser einen<br />
anderen Wertekanon vertritt.<br />
Ebenso ist die Vorstellung oder Phantasie, einen Heldenstatus<br />
ohne besondere schulische Leistungen und ungeachtet der sozialen<br />
und ethnischen Herkunft lediglich durch den Einsatz für die »wahre<br />
Sache« zu erreichen, für Heranwachsende ein aufregendes Abenteuer.<br />
Es ließe sich mit der Metapher »Superman-Syndrom« beschreiben.<br />
Dass dieser »Superman« den angestrebten sozialen Status mit<br />
seinem Leben und mit dem Verlust von Familie und vielem mehr<br />
8 »Arabisch ›gewohnte Handlung, eingeführter Brauch‹ bezeichnet im Islam die<br />
prophetische Tradition, die in der islamischen Glaubens- und Pflichtenlehre die<br />
zweite Quelle religiöser Normen nach dem Koran darstellt.« Elger (Hrsg.), Kleines<br />
Islam-Lexikon, S. 305<br />
bezahlen wird, ist den meisten zu Beginn der Idealisierungsphase und<br />
des Einstiegs möglicherweise nicht bewusst. Der Tod wird ohnehin<br />
durch den strikten Glauben an das Jenseits relativiert und erfährt<br />
eine Umdeutung.<br />
Missbraucht wird im besonderen Maße das Gerechtigkeitsgefühl<br />
Heranwachsender, indem die Indoktrinierung ihnen vorgaukelt,<br />
dass sie sich für eine »gerechte Sache« einsetzen, ja,<br />
sich sogar dafür aufopfern können. Wie Superman wollen sie die<br />
Welt retten. Diese naive Kinderphantasie wird durch ihre mögliche<br />
Beteiligung am »heiligen Krieg« greifbar und verwirklichbar.<br />
In diesem Zusammenhang sagen Jugendliche, die sich zum<br />
heiligen Krieg aufmachten: »Wie kann ich hier in Ruhe leben,<br />
wenn dort [Syrien] meine Schwestern und Mütter vergewaltigt<br />
und unschuldige Kinder ermordet werden!« Diese Aussage deutet<br />
auch darauf hin, dass die Indoktrinierung auf das Ehrverständnis<br />
(Männlichkeits-Konstruktion) zielt. Sie fühlen sich im Recht<br />
und sie glauben, sich für eine gerechte Sache einzusetzen, weil<br />
im Verlauf der Indoktrinierung ihr bisheriges Wertegefüge einer<br />
Umdeutung unterworfen wurde.<br />
Die Idee einer Bruderschaft, auf die sich der Gläubige nun<br />
stets verlassen kann, verspricht feste Bindungen und Solidarität.<br />
Die Glaubensbrüder lösen durch intensive Kommunikation nach<br />
und nach die familiären Bindungen ab. Ebenso findet eine Loslösung<br />
ehemaliger Freundschaften und sozialer Kontakte statt. Der<br />
religiöse Zirkel übernimmt die Rolle der Familie und avanciert zum<br />
neuen Bezugsrahmen in der Lebenswirklichkeit des Gläubigen. Dies<br />
erklärt, weshalb die Eltern ihre Kinder nicht mehr erreichen und<br />
weshalb die indoktrinierten Kinder nicht mehr für Gespräche mit<br />
Außenstehenden zugänglich sind. Dies führt häufig zu Überforderung<br />
und Hilflosigkeit der Eltern.<br />
Innerhalb der Gleichaltrigengruppe oder in den Schulklassen<br />
können nun Indoktrinierte anderen Jugendlichen imponieren, indem<br />
sie vorgeben, die reine Wahrheit über den Islam zu wissen und über<br />
die häufig damit einhergehenden Verschwörungstheorien Bescheid<br />
zu wissen. Sie geben sich als der Experte des wahren Islam aus. Von<br />
diesem »Expertengehabe« geht eine besondere Gefahr für weitere<br />
Missionierungsopfer aus. Dem gilt es in den Schulen den Boden<br />
zu entziehen, indem durch ausgebildete Lehrkräfte über den Islam<br />
aufgeklärt wird.<br />
Die Sensibilisierung der Lehrkräfte für ihr eigenes Selbst- und<br />
Weltbild ist von entscheidender Bedeutung und muss bereits während<br />
des Studiums verpflichtend angeboten werden. Normalitätsvorstellungen<br />
dürfen nicht reduziert werden auf die soziale Zusammensetzung<br />
der Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr sollte die Bandbreite<br />
diverser Perspektiven aufgenommen, denkbar und diskutierbar sein.<br />
Dies impliziert die Institutionalisierung einer Pädagogik der Vielfalt<br />
in der Lehrerausbildung, die postkoloniale und postnationalsozialistische<br />
Perspektiven aufdeckt und Lehrkräfte in Vorbereitung auf<br />
ihre zukünftige Schulwirklichkeit vorbereitet.<br />
Wie bereits eingangs ausgeführt, ist der Kampf gegen die<br />
Instrumentalisierung des Antisemitismus als Indoktrinierungsideologie<br />
zur Rekrutierung gewaltbereiter Islamisten eine besondere<br />
gesellschaftliche und pädagogische Herausforderung, der<br />
sich alle an der Bildung von Jugendlichen Beteiligten stellen<br />
müssen. Im schulischen Alltag ist im Kontext aktueller terroristischer<br />
Anschläge durch Islamisten ein offener Judenhass und<br />
unverhohlener Antisemitismus – der sich häufig in Form von Verschwörungstheorien<br />
zu erkennen gibt – deutlich wahrnehmbar.<br />
Die Verunsicherung vieler Lehrkräfte hinsichtlich der pädagogischen<br />
Thematisierbarkeit der Erstarkung dieses Antisemitismus<br />
führt häufig zur Sprachlosigkeit und Ignoranz. Allerdings<br />
wäre es dringend notwendig, genau hier und jetzt verstärkt in die<br />
Präventionsarbeit einzusteigen. Hierzu sind nicht nur die Lehrkräfte<br />
angehalten, sondern ganz besonders auch die Imame und<br />
Prediger in ihren Moscheegemeinden und Sozialpädagog/-innen<br />
in ihren Einrichtungen. Von diesem neuen und allgegenwärtigen<br />
Antisemitismus, der geradezu islamistische Attentate befeuert<br />
(siehe Anschläge auf jüdische Einrichtungen), geht jetzt und in der<br />
Zukunft ein erhöhtes Risiko für ein friedliches Miteinander aus.<br />
Daher müssen alle pädagogischen Interventionsmöglichkeiten,<br />
die interreligiöse Bildungsarbeit und/oder interreligiöse Begegnungsmöglichkeiten<br />
bieten (Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />
von Judentum, Christentum und Islam) und Lernarrangements, die<br />
eine kritische Aufarbeitung von Geschichte (Nationalsozialismus,<br />
totalitäre Herrschaft etc.) sowohl im schulischen als auch im außerschulischen<br />
Kontext ermöglichen, hinreichend genutzt werden.<br />
Dies bedeutet vor allem, dass gerade auch in Lerngruppen mit<br />
heterogener Religionszugehörigkeit und Herkunft der Holocaust<br />
thematisiert werden muss. Hierzu bieten das Pädagogische Zentrum,<br />
die Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen pädagogische<br />
Angebote, die auf die jeweilige Zielgruppe speziell zugeschnitten<br />
werden. Der Holocaust in seiner Singularität ist Teil der Menschheitsgeschichte<br />
und betrifft daher jeden!<br />
Hubert Kiesewetter<br />
Von Richard Wagner zu Adolf Hitler<br />
Varianten einer rassistischen Ideologie<br />
Die Wirkungsgeschichte von Wagners Antisemitismus zwischen 1883<br />
und 1945 ist nach wie vor umstritten, auch wenn die Wagner-Literatur<br />
kaum noch zu überblicken ist. In diesem Buch wird eine Interpretation<br />
angeboten, die zwar Wagners Judenfeindschaft rassistische Tendenzen<br />
bescheinigt, aber keine Identität zwischen Wagners und Hitlers Rassismus<br />
konstatiert. Der Bayreuther Wagnerclan war entscheidend daran<br />
beteiligt, daß der wagnerbegeisterte Hitler und viele Nationalsozialisten<br />
in ihrem Judenhaß seit 1923 mit einer umfassenden ideologischen Unterstützung<br />
der Wagnerfamilie rechnen konnten.<br />
Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 47<br />
259 Seiten, 2015<br />
ISBN 978-3-428-14543-0, € 29,90<br />
www.duncker-humblot.de<br />
60 <strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />
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