Einsicht-13
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einzusetzen. 24 Er traf sich mehrmals mit Graf Folke Bernadotte, dem<br />
Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes. Der Kontakt war<br />
entstanden, nachdem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz<br />
sich aus Sorge um die KZ-Häftlinge an die Amtsgruppe D des SS-<br />
Wirtschafts-Verwaltungshauptamts gewandt hatte. Bernadotte forderte<br />
Himmler auf, alle skandinavischen Lagerninsassen freizulassen.<br />
Tatsächlich wurden sie Mitte März 1945 zunächst ins KZ Neuengamme<br />
verlegt und von dort Ende April von einer Sanitätskolonne<br />
des Schwedischen Roten Kreuzes (»die Weißen Busse«) zusammen<br />
mit einer Gruppe jüdischer Häftlinge über Dänemark nach Schweden<br />
gebracht. Im Zuge der »Aktion Bernadotte« kamen insgesamt rund<br />
20.000 Häftlinge frei, davon 8.000 aus Skandinavien. 25<br />
Amerikanische Truppen befreiten im April 1945 die Lager Buchenwald<br />
und Mittelbau-Dora. Kurz darauf wurde im Rahmen eines<br />
lokalen Waffenstillstands das Lager Bergen-Belsen den britischen<br />
Truppen übergeben, die auf dem von Epidemien verseuchten Gelände<br />
fast nur noch Sterbende vorfanden. Was in den folgenden Tagen<br />
geschah, prägte für lange Zeit das Bild, das sich die westalliierten<br />
Befreier von Deutschland und den Deutschen machten: Über die<br />
verheerenden Zustände waren sie entsetzt. Überall in den befreiten<br />
KZs entdeckten sie Leichenberge und erlebten, wie auch noch diejenigen<br />
Häftlinge starben, die bis dahin halbwegs am Leben geblieben<br />
waren. Die Einstellung der Alliierten gegenüber den Deutschen<br />
verhärtete sich rasch. 26<br />
Offensichtlich hatte Himmler eine solche Reaktion nicht erwartet.<br />
Erst jetzt wurde ihm klar, dass er keinerlei Aussicht darauf besaß,<br />
sich mit den Diplomaten der westlichen und neutralen Länder zu<br />
verständigen. Sein Umgang mit den KZ-Insassen wurde fortan noch<br />
radikaler. Bitten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die<br />
Konzentrationslager den Befreiern zu übergeben, lehnte er rundweg<br />
ab. Insassen aus Buchenwald ließ er zu Zehntausenden unter katastrophalen<br />
Verhältnissen nach Dachau und Flossenbürg in Marsch<br />
setzen. Mehr als die Hälfte von ihnen brach unterwegs erschöpft zusammen,<br />
verhungerte oder wurde erschossen. Etwa 2.000 kamen in<br />
Transportwaggons zusammengepfercht in Dachau an. Dort blieb der<br />
Zug im Durcheinander der Lagerauflösung auf einem Gleis unbeachtet<br />
stehen; die Amerikaner entdeckten später die Toten. 27 In Dachau<br />
24 Zu Himmlers Geiselpolitik vgl. Alexandra Wenck, Zwischen Menschenhandel<br />
und »Endlösung«: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Paderborn u.a. 2000.<br />
25 Vgl. Sune Persson, Åke Svenson u.a., Rettung im letzten Augenblick. Die Weißen<br />
Busse. Folke Bernadotte und die Befreiung Tausender KZ-Häftlinge durch die<br />
Aktion »Weiße Busse«, Berlin 2011.<br />
26 Vgl. Norbert Frei, »›Wir waren blind, ungläubig und langsam‹. Buchenwald,<br />
Dachau und die amerikanischen Medien im Frühjahr 1945«, in: Vierteljahrshefte<br />
für Zeitgeschichte, Jg. 35 (1987), H. 3, S. 385–401.<br />
27 Vgl. Jürgen Zarusky, »That is not the American Way of Fighting. Die Erschießung<br />
gefangener SS-Leute bei der Befreiung des KZ Dachau«, in: Dachauer<br />
Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager,<br />
Jg. <strong>13</strong> (1997), H. <strong>13</strong>, S. 27–55.<br />
und Flossenbürg ging Mitte April 1945 Himmlers fernschriftlicher<br />
Befehl ein, die Lager seien aufzulösen. Ein Zusatz lautete, dass kein<br />
Häftling lebend in die Hände der Alliierten fallen dürfe. 28<br />
Ende April 1945 bestanden noch die Konzentrationslager Flossenbürg,<br />
Dachau, Mauthausen, Sachsenhausen, Ravensbrück und<br />
Neuengamme. Überall setzten Todesmärsche ein. Zurück ließ die<br />
SS nur einige wenige kranke und sterbende KZ-Insassen. Zwei<br />
Marschrouten zeichneten sich ab: die Südroute mit der sogenannten<br />
Alpenfestung; dorthin wurden die Häftlingskolonnen aus Dachau<br />
und Flossenbürg geschickt. Auf die Nordroute gingen die Häftlinge<br />
aus Sachsenhausen, Ravensbrück und Neuengamme, sie führte<br />
über Mecklenburg nach Schleswig-Holstein zur »Festung Nord«. 29<br />
Die gleichen Wege wählten auch hohe SS-Funktionäre, um sich in<br />
Sicherheit zu bringen: Himmler, Höß und viele andere, darunter<br />
ein Großteil des Personals des Reichssicherheitshauptamtes, nahmen<br />
die Nordroute. Oswald Pohl und seine Mitarbeiter aus dem<br />
SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt brachen mit ihren Familien<br />
über Dachau nach Süden in Richtung »Alpenfestung« auf. Die »Alpenfestung«<br />
spielte in der nationalsozialistischen Propaganda eine<br />
bedeutende Rolle. Gemeint war damit der Bau einer gigantischen<br />
Festungsanlage zwischen Bayern, Oberitalien, der Schweiz und<br />
Oberösterreich. Ein Rückzugsrevier für die NS-Führung sollte entstehen,<br />
eine uneinnehmbare Trutzburg im »Endkampf«, mit unterirdischen<br />
Produktionsanlagen, Unterkünften, Waffen- und Lebensmitteldepots.<br />
Die in Marsch gesetzten KZ-Häftlinge hatten vermutlich<br />
die Aufgabe, sie aufzubauen. Jedoch blieb die »Alpenfestung« bis<br />
zum Ende ein Phantom. Ob für die »Festung Nord« ähnliche Pläne<br />
bestanden, ob überhaupt ein Ort dafür bestimmt worden war, lässt<br />
sich nicht feststellen; unklar ist auch, zu welchem Zweck die Häftlinge<br />
dorthin getriebenen wurden.<br />
In der Agonie des »Dritten Reiches« verloren auch Zivilisten<br />
jede Hemmmung im Umgang mit Menschenleben, was die Vorgänge<br />
in Mauthausen exemplarisch zeigen. Aus dem KZ waren Anfang<br />
Februar 1945 rund 400 sowjetische Häftlinge geflohen. Volkssturm<br />
und Hitlerjugend machten sich zusammen mit der SS daran, die<br />
Fliehenden zu verfolgen. Bestialisch wurden sie ermordet, nur etwa<br />
ein Dutzend von ihnen überlebte das Massaker, zeitgenössisch<br />
»Mühlviertler Hasenjagd« genannt. Ähnliche Vorgänge sind auch<br />
aus anderen Orten des Deutschen Reiches überliefert, beispielsweise<br />
das »Zebra-Schießen« in Celle, so bezeichnet wegen der gestreiften<br />
Kleidung der Häftlinge. 30<br />
28 Vgl. Stanislav Zámečník, »›Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes<br />
fallen‹. Zur Existenz des Himmler-Befehls vom 14./18.April 1945«, in: Dachauer<br />
Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen<br />
Konzentrationslager, Jg. 1 (1985), H. 1, S. 219–231.<br />
29 Vgl. Orth, System, S. 303–336.<br />
30 Vgl. Matthias Kaltenbrunner, Flucht aus dem Todesblock. Der Massenausbruch<br />
sowjetischer Offiziere aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und die<br />
Reaktionen der Alliierten<br />
Die Alliierten verhehlten ihr blankes Entsetzen nicht: In Radiosendungen,<br />
Bildreportagen und Filmen machten sie die Schrecken der<br />
Konzentrationslager weltweit bekannt. Die Verbrechen waren entscheidend<br />
für ihre Überlegungen, wie mit den besiegten Deutschen<br />
umzugehen sei. Die zivile deutsche Bevölkerung, die ein solches<br />
Inferno in ihrer unmittelbaren Umgebung geduldet hatte, wurde<br />
mitverantwortlich für das Geschehen gemacht. In Weimar, Dachau<br />
und anderswo zwangen die Befreier örtliche Zivilisten dazu, die<br />
Leichenberge anzuschauen, um sich der Verbrechen in den Lagern<br />
bewusst zu werden. In Dachau zog der Psychological Warfare Branch<br />
der US-Army im Mai 1945 den bitteren Schlus, es gebe dort wohl<br />
»niemanden, der nicht das Gefühl hatte, daß am Rande seiner Stadt<br />
etwas faul, fürchterlich faul war«. 31<br />
In den USA war eine klare Vorstellung vom NS-Unrechtsregime<br />
kaum vorhanden gewesen. Amerikanische Medien hatten dem<br />
nationalsozialistischen Umgang mit Regimegegnern verhältnismäßig<br />
wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Überhaupt blieben politische<br />
Nachrichten aus Deutschland dort rar. Genaue Beschreibungen des<br />
Verfolgungssystems gelangten eher zufällig in die US-Presse, etwa<br />
durch ehemalige polnische KZ-Häftlinge, die emigrieren konnten.<br />
Nicht selten wurden Nachrichten über systematische Tötungen auch<br />
heruntergespielt, was zumal an Vorbehalten gegenüber Darstellungen<br />
lag, die schier unfassbar erschienen. Durch Gerhart Riegner,<br />
einem Vertreter des World Jewish Congress in Genf, der durch<br />
Verbindungsleute in Breslau sichere Informationen über Auschwitz<br />
erhalten hatte, wurden Amerikaner und Briten im August 1942<br />
per Telegramm alarmiert. Riegner warnte davor, dass alle Juden<br />
aus den deutsch besetzten und kontrollierten Ländern im Lager<br />
Auschwitz konzentriert und ausgerottet werden sollten. »Methoden,<br />
einschließlich Blausäure in Diskussion«, schrieb er. Die Alliierten<br />
schenkten seinem Telegramm allerdings keinen Glauben. Auch<br />
direkt aus dem Lager gelangten Berichte über die systematischen<br />
Morde an die Öffentlichkeit. Sie beruhten auf den Schilderungen<br />
von Alfred Wetzler und Rudolf Vrba (d.i. Walter Rosenberg), zwei<br />
jüdischen Häftlingen aus der Slowakei, denen im April 1944 mit<br />
Hilfe der lagerinternen Widerstandsbewegung die Flucht in ihre<br />
»Mühlviertler Hasenjagd«. Hintergründe, Folgen, Aufarbeitung, Innsbruck 2012;<br />
Bertram Mijndert, April 1945. Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der<br />
KZ-Häftlinge aus Drütte, Celle 1989; ders., »Bombenhagel und ›Hasenjagd‹. Die<br />
Häftlingstransporte von Holzen nach Bergen-Belsen«, in: Detlef Creydt, August<br />
Meyer (Hrsg.), Zwangsarbeit für die »Wunderwaffen« in Südniedersachsen<br />
1943–1945, Braunschweig 1993, S. 226–230<br />
31 Vgl. Sybille Steinbacher, Dachau. Die Stadt und das Konzentrationslager in der<br />
NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt am Main u.a. 1994,<br />
2. Aufl. (zuerst 1993), S. 2<strong>13</strong>–216.<br />
Heimat gelungen war. 32 Ihr Bericht wurde über Ungarn und die<br />
Schweiz an den Jüdischen Weltkongress geleitet, was kompliziert<br />
war und lange dauerte. Kurzversionen davon gelangten an alliierte<br />
Stellen, bald auch in das neutrale Schweden und den Vatikan. Die<br />
BBC sendete einige Details daraus, die Schweizer Presse veröffentlichte<br />
Artikel, ebenso amerikanische Zeitungen und Radiostationen.<br />
Überhaupt häuften sich Mitte 1944 Schreckensnachrichten über<br />
Auschwitz. Die Alliierten gingen gegen die Massenvernichtung allerdings<br />
nicht vor. Die Tötungsanlagen im Lagerkomplex Auschwitz<br />
wurden auch dann nicht bombardiert, als die kriegsstrategischen und<br />
waffentechnischen Voraussetzungen dafür bestanden und Luftaufnahmen<br />
vom Gelände vorlagen. Das US-Kriegsministerium lehnte<br />
eine Operation ab, weil das Lager nicht als militärisches Objekt galt.<br />
Außerdem sei ein Angriff nicht durchführbar, so die Briten, weil<br />
dafür Luftstreitkräfte fehlten. 33 Während die synthetischen Ölraffinerien<br />
in der Umgebung bombardiert wurden und die IG-Farben-Werke<br />
zwischen August 1944 und Januar 1945 wiederholt Ziel alliierter<br />
Angriffe waren, blieben Gaskammern und Schienenwege nach Birkenau<br />
bis zum Schluss unversehrt, was zeigt: Politische Wirkung<br />
besaßen die Nachrichten über Auschwitz nicht.<br />
Noch wenige Tage, bevor die Befreier kamen, trafen Bomben<br />
das Lager Monowitz. Von den nächtlichen Explosionen schreibt<br />
Primo Levi: »Man hörte Fensterscheiben bersten, die Baracke<br />
schwankte, der Löffel, den ich in eine Fuge der Holzwand gesteckt<br />
hatte, fiel zu Boden.« 34 Zwei Baracken brannten im Nu ab; sie waren<br />
leer gewesen. Aus einer anderen, vom Feuer bedrohten, drängten die<br />
kranken Insassen heraus und begehrten Einlass in Levis Unterkunft,<br />
wo jedoch kein Platz mehr war. »Wir mußten die Tür verrammeln.<br />
So schleppten sie sich anderswohin, von den Flammen beleuchtet,<br />
barfuß im schmelzenden Schnee. Viele zogen die aufgegangenen<br />
Verbände hinter sich her.« 35 Dies war in der Nacht, als das elektrische<br />
Licht ausfiel, wohl eine Stunde vor Mitternacht. Uhren gab<br />
es nicht.<br />
32 Rudolf Vrba, »Die mißachtete Warnung. Betrachtungen über den Auschwitz-<br />
Bericht von 1944«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 44 (1996), H. 1,<br />
S. 1–24.<br />
33 Vgl. Martin Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, München 1982 (engl.<br />
Erstveröffentlichung 1981).<br />
34 Levi, »Geschichte von zehn Tagen«, S. 187.<br />
35 Ebd., S. 188.<br />
38 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>13</strong> Frühjahr 2015<br />
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