Kescher - Abraham Geiger Kolleg
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Vor 150 Jahren, am 3. April 1862, wurden in<br />
Breslau mit Dr. Moritz Güdemann (1835−1918),<br />
Dr. Joseph Perles (1835−1894) und Dr. Moritz<br />
Rahmer (1837−1904) die ersten in Deutschland<br />
akademisch ausgebildeten Rabbiner ordiniert.<br />
Die drei hatten den ersten siebenjährigen<br />
Studienzyklus am Breslauer Seminar absolviert.<br />
In seiner Ansprache sagte der Seminar di rektor<br />
Rabbiner Zacharias Frankel (1801−1875): „In<br />
diesen drei jungen Männern erblickt das Seminar<br />
die gesegneten Erstlingsfrüchte seines Strebens.<br />
Mit akademischem Wissen geziert hat ihr Geist<br />
sich in das umfangreiche Gebiet der jüdischen<br />
Theologie vertieft. Sie haben durch in vergangener<br />
Woche öffentlich abgehaltene Vor träge,<br />
sowie in einem dreitägigen rigorosen Examen<br />
befriedigende Proben ihres theologischen<br />
Wissens abgelegt, auch durch in der Seminar -<br />
synagoge und an anderen Orten gehaltene<br />
Predigten ihre Befähigung zum Predigtamte<br />
bewährt. Sie wurden daher als reif zum Rabbi -<br />
nate erklärt.“<br />
Carsten Wilke befand 2004 in einem Aufsatz zum<br />
150. Jahrestag der Gründung des Jüdisch-<br />
Theologischen Seminars kurz und knappp: „Die<br />
seit 1862 in Breslau ausgebildeten Rabbiner<br />
konnten auf Anhieb unter den angesehensten<br />
Stellen wählen.“ 1 Dr. Moritz Güdemann etwa<br />
wurde Wiener Oberrabbiner und schließlich auch<br />
Rabbiner des Wiener Stadttempels. In seiner<br />
Rede anlässlich der Entlassung der ersten drei<br />
Absolventen des Breslauer Seminars sagte<br />
Güdemann unter anderem: „[…] Diese Verant -<br />
wortlichkeit lässt es denn auch angemessen<br />
erscheinen, dass ich im Namen derer, welche sie<br />
mit mir tragen, über das Wesen des Berufes, dem<br />
wir unser Leben geweiht, das heißt ‚über die<br />
Stellung und Wirksamkeit des Rabbiners im<br />
Judenthume’, mich vor Ihnen ausspreche.<br />
<strong>Kescher</strong><br />
Vor 150 Jahren entließ das Jüdisch-Theologische<br />
Seminar zu Breslau seine ersten drei Rabbiner<br />
Wenngleich der Beruf des Rabbiners, das heißt<br />
das Amt des mit ihrer religiösen Führung und<br />
Fortbildung von der Gemeinde eigends Betrauten<br />
keine mit dem Judenthume ursprünglich verwachsene<br />
Erscheinung, sondern vielmehr eine<br />
erst im Verlaufe der Zeit hervorgetretene und in<br />
ihrer heutigen Form kaum drei Jahrhunderte<br />
bestehende ist: so ruht er doch als eine aus dem<br />
jüdischen Volksgeiste naturgemäss entwickelte<br />
Institution auf Prinzipien, die in dem innersten<br />
Wesen des Judenthums begründet sind. Demnach<br />
bedingt sich zunächst die Stellung des Rabbiners<br />
durch den Grundsatz, dass im Judenthume der<br />
Schwerpunkt aller in zweifelhaften praktischen<br />
Fragen entscheidenden Autorität nicht in einen<br />
jenseit der menschlichen Vernunft liegenden<br />
Bereich, sondern lediglich in die geistige<br />
Subjectivität des Menschen fällt. Das Judenthum<br />
knüpft nur in seiner Entstehung an eine über die<br />
Grenzen menschlicher Vernunft hinausgehende<br />
göttliche Offenbarung an; in seinem geschichtlichen<br />
Dasein aber erscheint es als ein Fertiges,<br />
Abgeschlossenes und somit zugleich als Object<br />
des vernünftigen Denkens, als der freien<br />
Subjectivität überantwortet.<br />
[…] Von diesem Principe des Judenthums<br />
erscheint die Stellung des Rabbiners innerhalb<br />
desselben wesentlich bedingt. Der Rabbiner des<br />
Judenthums ist weder Priester, noch Geistlicher:<br />
seine Autorität wurzelt nicht in einem von Gott<br />
eingesetzten Amte, sondern ihm selbst; sie ist<br />
daher weder eine übertragene, noch auch eine<br />
unbedingte. Es kann also auch in Judenthume<br />
nicht von, einer zum Lehramte, wie zur Ausübung<br />
religiöser Functionen befähigenden Weihe die<br />
Rede sein.<br />
[…] Vielmehr trat man im Judenthume der<br />
Ausbildung eines auf die Ausübung der Lehre und<br />
der religiösen Functionen gestützten gleichsam<br />
9. Jahrgang | Ausgabe 2<br />
Das Judentum: Eine<br />
Religion der Wissenschaft<br />
‚geistlichen Amtes’ mit aller Energie entgegen.<br />
Man befürchtete oder, wir' können besser sagen,<br />
man sah voraus, dass mit der Bildung eines<br />
eigentlichen religiösen Amtes die Lehre sich in<br />
Einzelnen gewissermassen monopolisire. Die<br />
Lehre aber soll den Principien des Judenthums<br />
gemäss frei sein, sie soll Gemeingut des Volkes,<br />
oder, um mit einem talmudischen Autor zu reden,<br />
‚eine Krone sein, nach der Jeder greifen könne.’<br />
Von diesem Gesichtspunkte aus war man<br />
bestrebt, statt dem Entstehe ‚eines die Lehre in<br />
sich absorbirenden und ihr eine Sonderstellung<br />
anweisenden Amtes Vorschub zu leisten, das Volk<br />
vielmehr auf sein eigenes Gewissen zu stellen<br />
und es im Gebiete des Glaubens und der Lehre im<br />
eigentlichsten Sinne des Wortes selbstherrlich zu<br />
machen. […] Die Stellung des Rabbiners im<br />
Judenthume aber wird durch seine Einsetzung in<br />
ein Amt nicht berührt: sie wird immer gemäss<br />
den ewigen Principien des Judenthums eine solche<br />
bleiben, die den Rabbiner weder als den<br />
geweihten Vertreter eines religiösen, noch gar<br />
eines göttlichen Amtes erscheinen lässt, noch<br />
ihm überhaupt in der Gemeinde Israels einen<br />
anderen Rang anweist, als die durch seine subjective<br />
Geistesfähigkeit bedingte Autorität.<br />
In demselben Sinne ist auch die Berufsthätigkeit<br />
des Rabbiners aufzufassen. Obgleich nach dem<br />
Gesagten von den Principien des Judenthums aus<br />
amtliche, d. h. auf den Rabbiner nothwendig sich<br />
beschränkende Functionen nicht denkbar sind,<br />
so haben doch seit dem Hervortreten eines<br />
Rabbineramtes die Anforderungen des praktischen<br />
Lebens eine Anzahl religiöser Handlungen<br />
in dem Rabbiner concentrirt.<br />
[…] Die grausamen Verfolgungen und die<br />
Lieblosigkeit einer, Dank der göttlichen Gnade,<br />
verschollenen Zeit, welche die Juden in ihre<br />
Ghetto`s einschloss, konnten es entschuldigen,